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Silbriger Dunst umgab mich. Hielt mich in dieser unwirklichen Stille gefangen. Ich war allein. Mutterseelen allein. Dicht reihten sich die Tannen des Waldes aneinander, ließen mich nicht hinaus, wiesen mich immer wieder in diese eine Richtung. Und ich folgte ihnen.
Ich wusste nicht, ob ich tiefer in den Wald hineinlief oder bald schon am Waldrand stehen würde.
Mein Herz schlug rasend schnell. Kalter Angstschweiß hatte sich auf meiner Stirn und auf meinem Rücken gebildet. Hektisch sog ich die kalte Novemberluft in meine Lungen. Ich wollte hier raus!
Automatisch beschleunigten meine Schritte sich bei diesem Gedanken. Es war so dunkel!
Tränen sammelten sich in meinen Augen und rannen meinen Wangen hinab. Letztendlich tropften sie auf mein T-Shirt wo sie sich mit meinem frischen, roten Blut vermischten.
Ich presste meine Hand weiter auf die Wunde. Wie ich verletzt wurde wusste ich nicht. Und ich wusste auch nicht, wie ich hierher gelangt war. Und jetzt musste ich hier raus.
Mittlerweile rannte ich fast. Immer den schmalen Weg entlang.
Ein schwacher Lichtschein tat sich vor mir auf. Bläulich. Schimmernd wie ein Engelsflügel, nur kleiner. Zarter. Geborgenheit brach in mir hervor. Wiegte mich eine Zeit lang in Sicherheit.
Ich ging auf das Licht zu und es verblasste in der niemals enden wollenden Dunkelheit.
Schmerzlich vermisste ich es, diesen kleinen Schein von Wärme. Dieses kurze Gefühl von Glück und Wärme war verschwunden.
Die Bäume raschelten bedrohlich im Wind. Trugen Geflüster zu mir heran.
„Hab keine Angst. Keine Angst mein Mädchen. Angst existiert nur in unseren Gedanken, mein Kind. Nur in unseren Gedanken. Dir wird nichts passieren.“
Ein leiser Aufschrei entfuhr mir. Was war das? Sprach jemand mit mir? Nein, unmöglich. Das war keine menschliche Stimme. Es war die Stimme des Waldes.
„Keine Angst, Lyra. Mein Licht bringt dich heim. Vertraue darauf Lyra, mein Kind.“ Säuselte der Wald mit seiner bedrohlichen Stimme.
Kurz darauf erschien das Licht von neuem. Kraftvoll leuchtete es auf der zarten Lichtung.
„Bring mich heim.“ Flüsterte ich aufgelöst. Die Wunde an meinem Brustkorb pochte und nahm mir immer mehr Kraft.
„Ja Lyra, ich bin da Mädchen. Komm, folge mir.“ Hauchte das Licht mit einer kindlichen und reinen Stimme.
Dann schwebte es langsam voran.
Ich hatte Mühe ihm zu folgen. Es war schnell und wendig. Ich fiel ständig über Wurzeln und meine Verletzung machte mir immer mehr zu schaffen.
„Warte! Licht, warte doch!“ Rief ich verzweifelt, doch es blieb nicht stehen. Es verließ mich in der Finsternis.
Weinend sank ich auf die Knie. Ich hatte meine Chance vertan. Wie würde ich nach Hause kommen, ohne dieses Licht.
„Lyra, steh auf. Folge dem Licht!“ Befahl der Wald, doch ich war zu kraftlos und zu müde.
„Nein. Licht. Komm. Zurück.“ Stammelte ich leise vor mich hin.
„Komm weiter Lyra. Schnell. Sonst holt dich die Dunkelheit. Lyra, vertraue niemandem außer mir. Vertraue den bläulichen Lichtern, sie bringen dich heim, die Engelsseelen. Lyra, nimm dich in Acht…“
Abrupt verstummte der Wald. Auch er ließ mich zurück in einer niemals enden wollenden Stille.
Ich schluchzte laut in die Nacht hinein. Bitter vermischten sich meine Tränen weiterhin mit meinem Blut.
„Lyra. Lyra!“ Eine andere Stimme hallte durch die Nacht. Nicht diese liebliche, weibliche Stimme wie zuvor. Nein, es war eine dunkle, gefährliche Stimme.
„Wer bist du?“ Flüsterte ich zitternd.
„Auch ich will dir helfen. Doch nicht mit Lügen. Angst existiert. Sie ist ganz nah bei dir. Sie umgibt dich wie ein dünner Schleier. Aber Angst ist etwas natürliches, Lyra. Lass sie zu. Vertraue auf deinen eigenen Fluchtinstinkt. Er wird dir helfen dem richtigen Licht zu folgen.“
„Bitte. Geh weg! Geht alle weg! Lasst mich allein. Ich will… ich kann nicht mehr.“ Meine Stimme verebbte in einem lang gezogenen Schluchzer.
„Du musst weg von hier, dass ist nicht dein Platz. Komm Lyra. Ich lasse dir ein Licht erscheinen.“
Und auch in diesem Moment tauchte ein Licht auf. Es hatte einen leicht rötlichen Schimmer. Und es war kraftvoller wie das Blaue. Strahlte mehr Stärke aus.
„Was ist das?“ Fragte ich angsterfüllt.
„Meine Hilfe an dich. Es ist warm und stark. Es wird auf dich warten. Wird dich nicht verführen wollen, wie der Wald es zuvor wollte. Lyra, es wird dich heim bringen. Vertraue auf das Licht.“
„Nein! Der Wald sagte mir, ich solle nur ihm vertrauen!“
„Der Wald lügt, Mädchen. Komm mit mir, ich leite dich heim.“ Sagte das Licht. Es hatte eine rauchige Stimme, die mich verwirrte. Ein Funke breitete sich in meinem Bauch aus. Drängte mich zu dem Licht.
„Lyra, hör auf mein Licht. Es mussten schon so viele Unschuldige sterben.“ Meinte die andere Stimme.
Ich gab meinen Widerstand auf, weil ich wirklich Wärme bei diesem Licht empfand.
„Komm mit mir. Ich warte auf dich. Ich lasse dich nicht zurück.“
Ich ging mit dem Licht. Es passte sich meinem Tempo an, erleuchtete mir die Wurzeln.
„Nein! Lyra was tust du nur?! Folgst dem Bösen, folgst der Verführung!“ Vor mir tauchte das blaue Licht wieder auf. Die Engelsseele.
Ich blieb stehen. Das rote Licht mit mir.
„Lyra hör nicht auf sie. Sie sind die Bösen. Sie nennen sich Engelsseelen aber sie sind die Dämonen der Moore. Folge mir, ich bin dein Beschützer. Ich bringe dich heim.“
„Nein! Er lügt. Geh mit mir. Lass dich nicht verführen.“ Zischte die Engelsseele.
„Lyra bitte.“ In der Stimme meines so genannten Beschützers klang ein qualvolles Flehen mit. Es zerriss mir fast das Herz. Zögerlich machte ich einen Schritt auf ihn zu. Wärme und ein unbekanntes Kribbeln erfüllte mich.
„Lyra, fühlst du es nicht? Wie er dich benutzen und verführen will. Seine Wärme, seine wohligen Gefühle. Alles nur ein Trick. Ich bringe dich heim, vertrau mir.“ Auch die Engelsseele klang verzweifelt, aber nicht so.
„Komm mit mir. Ich hole dich hier raus.“ Flüsterte er.
„Er verführt dich und lockt dich in die Moore. Lyra, du bist doch so ein kluges Mädchen. Und noch so jung. Er ist der wahre Dämon. Ich bin das Gute. Ich bringe dich heim. Gib dich nicht seiner Verführung hin, sonst bist du verloren.“
„Nein! Hört auf.“ Ich hielt mir die Ohren zu, um die Stimmen der Lichter nicht mehr zu hören.
„Gehen wir zusammen weiter!“ Befahl ich nach einer Weile. Die Lichter verstummten.
Schweigend setzte ich meinen Weg fort. Rechts von mir die Engelsseele, links von mir der Beschützer. Ich fühlte die Wärme, die von ihm ausging und wollte näher zu ihm. Aber war das nicht der Trick? Wollte er mich nicht in die Sümpfe locken?
Aber er hatte mich nicht allein gelassen! Er ist bei mir geblieben.
Wenig später kamen wir an eine Weggabelung. Die beiden Lichter erhellten sie so, dass ich sehen konnte, dass der Rechte ein befestigter Waldweg und der linke ein schmaler Steg war.
„Komm mit mir Lyra.“ Meinte die Engelsseele und driftete nach Rechts ab auf den Waldweg.
„Nein komm hier lang.“ Flüsterte der Beschützer. Auch er entfernte sich einige Meter von mir und seine Abwesenheit umgab mich wie ein eisiger Wind.
„Lyra, siehst du nicht, wie er dich ins Verderben locken will? Der Weg endet im Moor. Du wirst sterben, wenn du ihm folgst.“
Ich tat einen Schritt auf den Waldweg zu. Der Steg sah mir morsch und wackelig aus. Die Engelsseele hatte Recht. Es würde mein sicherer Tod sein, wenn ich dem roten Irrlicht folgen würde.
„Lyra, nein! Bitte komm mit mir.“ Der süße Schmerz in der Stimme des Beschützers ließ mich anhalten.
„Ich sehe doch welcher Weg fest ist. Der Waldweg ist der Sicherere.“ Redete ich auf das rote Irrlicht ein. Ich wollte ihn nicht verletzen, aber ich wollte auch nach Hause und nicht in den Sümpfen ertrinken.
„Nein. Bitte. Du wirst sterben. Warum vertraust du mir nicht? Ich bringe dich hier raus.“ Flehte mein Beschützer weiter.
„Sei doch endlich still, Dämon. Lass das Mädchen nach Hause gehen und suche dir ein neues Opfer für deinen heimtückischen Mord im Moor.“ Zischte die Engelsseele mit einer Feindseeligkeit, die mich erschreckte. Reflexartig ging ich einen Schritt zurück. Hoffnungsvoll flackerte das rote Irrlicht ein wenig heller auf und schloss mich wieder in seine wohlige Wärme.
Sein Licht fühlte sich wie ein warmes Streicheln auf meiner Haut an. Ich genoss seine Berührungen und wollte, dass es nie endete. Selbst meine Wunde tat nicht mehr so weh.
„Ich gehe mit dir.“ Flüsterte ich ihm zu.
„Nein, Lyra! Du bist verloren!“ Kreischte die Engelsseele hysterisch.
„Danke Lyra. Ich leite dich heim. Und nun komm. Es ist Zeit den Wald zu verlassen.“ Hauchte er.
Unsicher tat ich einen Schritt auf den schmalen Steg. Er knarrte bedrohlich und wankte.
„Ruhig Lyra. Komm weiter. Hast du Angst, meine Maus?“ Säuselte er verführerisch. Hitze durchflutete mich.
„Ja. Ja, ich habe Angst.“
„Dann komm mit. Weiter, noch einen Schritt.“
Ich folgte ihm weiter über den schmalen Steg aus vermoderten Baumstämmen und sonstigem Geflecht.
Sein Licht erhellte die Dunkelheit ein wenig. Ich schaute auf den Boden, um Fehltritte zu vermeiden. Neben dem Steg gab es nichts anderes als schlammige Erde, die nur darauf wartete, dass ich hinein trat und sie mich hinab in das Erdreich zog.
Ich war im Moor! Die Engelsseele hatte Recht gehabt. Ich hätte mit ihr gehen sollen und mich nicht von der Wärme des Dämons verführen lassen sollen!
Erneut liefen Tränen an meinen Wangen hinab.
„Du hast mich angelogen! Du hast mich ins Moor gezerrt!“ Schrie ich das Licht an.
„Lyra.“ Sagte er mit seiner wundervollen, rauchigen Stimme.
„Hör auf! Ich falle nicht mehr auf deine Tricks herein. Bring mich zurück!“
„Nein!“ Entschied er mit fester Stimme.
„Doch!“ Sagte ich, wie ein trotziges Kind.
„Lyra nein! Komm weiter. Du musst hier draußen sein, bevor die Sonnenstrahlen den Horizont erreichen.“
Er kam auf mich zu, umgab mich noch mehr mit seiner Wärme.
Ich schluchzte. Allein und ohne Licht würde ich nie zurück über den Steg kommen, also musste ich ihm folgen.
Verzweifelt lief ich weiter, er schweigend neben mir.
Nach einer halben Ewigkeit hielt er an. „Hier ist der Weg zu Ende. Noch ein Schritt und du bist draußen.“
Ich beäugte den Boden skeptisch. Er glänzte nass in seinem Licht.
„Es ist ein Moor, habe ich Recht? Ich muss sterben.“ Flüsterte ich.
„Nein, bleib stehen!“ Schrie die Engelsseele auf einmal hinter mir. Ich drehte mich ruckartig um.
„Engelsseele!“ Rief ich erfreut.
„Komm mein Kind, ich bringe dich heim.“
Ich tat einen Schritt auf sie zu. Ich musste doch nicht sterben!
„Verschwinde!“ Zischte mein Beschützer die Engelsseele an.
„Nein. Sie gehört mir.“ Säuselte sie.
Ich machte einen weiteren Schritt auf sie zu.
„Lyra bitte nicht. Verlass mich nicht. Bitte.“ Hauchte er. An seiner Stimme erkannte ich, dass er den Tränen nahe war und dass zerriss mein Herz in tausend Teile.
Ich lief mit festen Schritten wieder auf das Ende des Stegs zu.
„Lass dich nicht von ihm verführen.“
„Komm Lyra.“
„Nein!“
„Nur noch ein Schritt.“
Und ich tat den einen Schritt.
Der Boden war matschig und weich. Ich sank einige Zentimeter ein, doch nicht weiter.
Dann erstrahlte alles in einem weißen Glanz. Ich schloss die Augen, weil mich das Licht so blendete und als ich sie wieder öffnete stand ich auf einer von Mond beschienenen Wiese.
Neben mir stand ein Junge. Ungefähr eineinhalb Jahre älter als ich. Er hatte schwarzes, halblanges Haar und stechend grüne Augen. Lächelnd betrachtete er mich.
„Danke Lyra. Danke, dass du mich befreit hast.“ Sagte er mit einer wohl bekannten, rauchigen Stimme. Mein Beschützer.
Ich schaute ihn verwirrt an.
„Lass mich es dir erklären. Als erstes: Du hast den richtigen Weg genommen. Du bist nicht auf die verdeckende Reinheit der Engelsseele hereingefallen, wie es so viele andere taten. Vor Urzeiten, als es weder Wald noch Moor gab, lebten zwei Geschwister. Ein Mädchen von unsagbarer Schönheit, dass sie jeder nur Engelchen genannt hatte und ein Bruder, der so stark war, dass man ihm nachsagte, er könne Bären mit bloßen Händen töten.
Lange lebten sie friedlich miteinander. Wuchsen gemeinsam auf und wurden gemeinsam erwachsen.
Das Mädchen, Bella hatte einen wunderschönen Schimmel namens Jargon. Sein Fell war weißer als Schnee und weicher als Wolken. Und der Junge Tyron hatte einen Adler. Sie hieß Melissa. Sie war der größte weibliche Adler, den es je gegeben hatte.
Und neben Bella und Tyron wuchs auch noch ein anderes Mädchen auf. Madeleine. Sie war alles andere als schön. Kleine Schlangenaugen, bucklig und ungepflegt erschien sie.
Sie war schon immer neidisch auf Bella und ihren Bruder gewesen. Vor allem hatte es ihr aber Jargon angetan. Und so ging sie zu einer Hexe und erlernte das Handwerk der Magie. In der Nacht vom 30. April auf den 1. Mai kam sie zurück aus den Tiefen der Erde und wollte Jargon stehlen. Aber erst verbannte sie Tyron in das Erdreich, wo er zu Mooren wurde und Melissa wurde zu Licht. Rotem Licht um es genau zu sagen. Bella wurde fest an ihren Bruder gebunden und zu Wald.
Den Schimmel erfüllte es mit Trauer, als er merkte, dass seine Besitzerin verschwunden war. Und die Trauer wandelte sich in Wut um. Er war das erste Tier, das hassen konnte. Madeleine setzte sich zu ihrem Siegesritt auf das prächtige Tier, da stieg der Schimmel und überschlug sich mit Madeleine auf dem Rücken. Um ihr Leben zu retten, verwandelte sich Madeleine in blaues Licht. Der Schimmel aber blieb. Mit all seiner Wut suchte er sich nächtliche Wanderer und lockte sie in die Wälder, wo die Geschwister Bella und Tyron unwissend Seelen ins Verderben stürzten. Bella wusste nicht, dass die blauen Lichter zu Madeleine gehörten und ließ die Wanderer durch sie nach Hause bringen, doch sie kamen dort nie an. Während Tyron nur seinem Adler, Melissa vertraute und sie die Wanderer sicher in ihr Heim brachte. Die verlorenen Seelen jedoch lebten in ewiger Qual und jeder, der sich Madeleines Forderungen unter Folter beugte, wurde zu blauem Licht. Die, die durchhielten zu rotem Licht.“
„Du hast durchgehalten.“ Flüsterte ich.
„Ja, ich habe die Hoffnung nicht aufgegeben. Bist du ein blaues Licht, wirst du es auch immer sein. Aber rote Lichter können gerettet werden, indem ihr Seelenverwandter kommt und ihnen vertraut. Und du hast mir vertraut.“ Flüsterte er.
„Ja, ich habe dir vertraut.“
Er kam auf mich zu und schlang die Arme um mich. Ich fühlte mich so wohl in seiner Nähe, so unendlich glücklich.
„Lass mich nie wieder los.“ Schluchzte ich unter Freudentränen.
„Nie wieder Lyra. Nie wieder.“

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Tag der Veröffentlichung: 19.08.2009

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