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Es war schon weit nach Mitternacht. Der blasse Mond hing sichelförmig am schwarzblauen Himmel. Sterne leuchteten zahlreich. Manche heller, manche weniger hell und weiter von mir entfernt.
Ich stand auf einer Wiese. Die Blumen hatten sich schon lange geschlossen und auch die Grillen schwiegen. Die Stimmung war gedrückt in dieser sonst so klaren Nacht. Ich drehte mich um meine eigene Achse. Ich liebte die Nacht einfach. Ihre Geheimnisse, Ihre Schönheit. Es war angenehm kühl. Nicht so, wie am Tag. Keine 30°C im Schatten. Man konnte aber noch im T-Shirt rausgehen. Solche Sommernächte gab es viel zu wenig.
Ich drehte mich zum Wald hinter der Wiese. Kein Wind wehte. Alles war still.
Auf einmal leuchtete ein kleines, schwaches Licht auf. Mitten im Gestrüpp eines Himbeerbusches. Neugierig betrachtete ich es. Es schien so verloren, so einsam. Zögerlich machte ich einen Schritt auf das Licht zu. Waren dies die Irrlichter, die Wanderer in die Moore führten? Fragte ich mich im Stillen. Vermutlich. Aber hier gab es gar kein Moor, das wüsste ich. Ich kannte den Wald so gut, wie kein anderer. Er war immer schon mein Freund und Beschützer gewesen, schon seit ich denken konnte.
Also folgte ich dem Irrlicht. Es sah so verletzlich aus, in der Dunkelheit.
Bald schon ließ ich die Wiese hinter mir. Ich lief auf den Himbeerbusch zu und betrachtete das schwache Leuchten. Auf einmal erlosch es. Verwundert blickte ich noch einige Zeit an die Stelle, an der es aufgetaucht war, dann drehte ich mich wieder zur Wiese.
Vermutlich wäre ich umgekehrt, wenn ich kein Blinken aus dem Augenwinkel vernommen hätte. Das Licht. Es war wieder da. Diesmal lag es ganz dicht an einer Fichte, die neben einem, mit Wurzeln übersäten Waldweg stand. Lächelnd ging ich darauf zu.
Fünf Meter vor der kleinen Kugel aus Licht verharrte ich. Ich wollte nicht, dass das Licht erneut verschwand. Vorsichtig streckte ich die Hand danach aus, doch es wich zurück.
Verzweiflung packte mich. Das Licht durfte nicht gehen, nein! Ich begann zu rennen. Die Kugel trieb vor mir her, in einem unsichtbaren Luftstrom. Um mich herum war es sonst dunkel.
Immer tiefer führte mich das Irrlicht in den Wald hinein, bis ich auf einer Lichtung, auf der ein kleiner Teich stand, herauskam. Hier war ich aber noch nie gewesen, stellte ich verwundert fest.
Erfreut sah ich mich um. In den Büschen und Bäumen, ja sogar im Gras befanden sich kleine Lichtkugeln. Sie erhellten die Wiese und gaben ihr einen weißgoldenen Glanz. Es war so wunderschön.
Und doch war es nichts, im vergleich zu ihm. Er stand an eine Buche gelehnt und starrte mich an.
„Hallo.“ Hauchte er und kam auf mich zu. Ich rührte mich nicht. Sein halblanges, nachtschwarzes Haar reflektierte das Licht der Irrlichter ein wenig, sodass es aussah, als trüge er einen Heiligenschein.
Immer noch sagte ich nichts.
Er blieb zwanzig Zentimeter vor mir stehen.
„Ich habe auf dich gewartet, Stella.“ Flüsterte er. Sein Blick suchte meinen. Seine Augen waren tief schwarzblau, wie der Nachthimmel. Doch hatte er auch helle Akzente darin, die wie Sterne wirkten. Ich ließ meinen Blick über sein Gesicht wandern. Seine Wangenknochen waren hoch, gaben ihm ein leicht arrogantes Aussehen und auf seinen Lippen lag ein Lächeln.
„Wer bist du?“ Fragend sah ich ihn an.
„Ich bin Irian.“ Er streckte die Hand aus und strich durch mein fuchsfarbenes Haar.
„Was… wie…“ Begann ich, doch seine Berührung verursachte in mir so ein wohliges Kribbeln, dass ich keinen klaren Satz formulieren konnte.
Er legte mir einen Finger auf die Lippen. „Komm, setz dich zu mir.“ Sein Finger verschwand und er griff nach meiner Hand.
Zögerlich folgte ich ihm in die Mitte der Wiese. Dort lag eine tiefgrüne Decke, auf die er sich sacht kniete.
„Setz dich, Stella.“ Forderte er mich auf. Ich folgte seiner Anweisung still schweigend.
„Stella. Ich bin Irian, Wächter des nächtlichen Waldes. Meine Aufgabe ist es, jedem Lebewesen Schutz vor Unwettern und anderen Katastrophen zu gewähren. Zumindest nachts.“
„Und was willst du dann von mir?“ Fragte ich ihn etwas verwundert.
Er kam näher zu mir. „Dich. Deine Liebe. Dein Herz. Ich warte schon Jahre auf dich, sehne mich jeden Tag mehr nach dir und jetzt bist du endlich hier.“
Seine Lippen waren nah an meinen. Ich traute mich nicht zu sprechen, geschweige denn zu atmen.
Er kam noch näher. Wenige Millimeter trennten unsere Lippen noch voneinander. Ein erwartungsvolles Kribbeln fuhr durch meinen Körper und verschaffte mir eine Gänsehaut. Er war es. Er, der Junge, von dem ich schon träumte, seit ich ein Kind war. Er war der Grund, wieso ich den Wald und die Nacht so liebte.
Irian überwand die kurze Distanz und seine Lippen verschmolzen mit meinen. Ich seufzte und hatte das Gefühl vor Glück zu explodieren. Seine Hand fuhr durch mein Haar und strich mir über den Rücken. Ich hielt mich an seinen muskulösen Schultern fest.
Erst nach einer kleinen Ewigkeit ließ er wieder von mir ab. Ich sah Tränen in seinen Augen, als ich meine Augen wieder öffnete.
„Irian. Was hast du?“ Fragte ich erschrocken.
„Ich liebe dich, Stella.“
„Ich dich auch. Warum bist du dann traurig?“
„Weil es wahr ist. Die Prophezeiung hat sich bewahrheitet. Du bist es.“
„Ich bin wer?“ Irritiert schaute ich ihn an. In seinen wundervollen Augen lag Kummer.
„Du bist es. Die Herrscherin über den Wald im Tageslicht. Die Nacht ist nicht gut für dich.“
„Aber… das kann nicht sein. Tagsüber ist es mir zu warm, ich liebe die Nacht. Ich liebe dich.“
Er schüttelte traurig den Kopf. „Und uns sind nur wenige Stunden vergönnt. Wir haben nur die Dämmerung. Die Zeit zwischen Tag und Nacht.“
„Das stimmt nicht. Ich bin nicht die Herrscherin über den Wald bei Tageslicht.“ Meinte ich entschlossen.
„Leider doch. Dein Haar ist fuchsfarben. Deine Augen sind moosgrün. Sie strahlen wie die Sonne. Schon morgen wirst du deine Aufgabe übernehmen. Es ist schon vor tausenden von Jahren prophezeit worden, dass die Herrscherin des Tages und der Wächter der Nacht sich auf Ewig ineinander verlieben. Doch können sie nie zusammen sein, außer in der Dämmerung. Ihre einzige, gemeinsame Zeit.“
„Nein. Irian, ich will nicht. Ich will bei dir bleiben. Die ganze Nacht!“
„Stella. Es geht nicht. Ich sterbe schon jetzt tausende von kleinen Toden, wenn ich daran denke, dich nur noch selten zu sehen.“
„Bitte nicht. Ich will nicht.“ Schluchzte ich. Ich hatte gar nicht bemerkt, wie mir Tränen über die Wangen liefen.
„Doch. Ich muss gehen. Es ist Zeit für mich. Gleich geht die Sonne auf. Wir sehen uns wieder. In 12 Stunden. Bis dahin musst du auf mich warten. Bitte versprich mir, dass du nicht wieder gehst.“
„Irian. Ich liebe dich.“
„Und ich liebe dich, meine Liebste. Bis dann.“ Er stand auf. Seine Konturen verblassten.
„Bitte nicht.“ Flehte ich.
„Pass auf dich auf.“ Hauchte er noch.
„Ich werde für immer dein sein.“ Flüsterte ich unter Tränen. Und dann begann ich zu warten. Zu warten auf die Dämmerung.

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Tag der Veröffentlichung: 30.06.2009

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