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Schweigend betrachtete der Engel den Körper zu seinen Füßen. Nie im Leben hätte er sich vorgestellt das zu erleben. Er kniete sich nieder und berührte die Haut des jungen Säuglings.
»Warum musstest du so früh dein Leben lassen?« Schluchzte er. Tränen rannen über sein ebenmäßiges, wunderschönes Gesicht. Das schwarze lockige Haar des Engels hing in wirren Strähnen von seinem Kopf. Seine wunderschönen goldenen Augen waren erfüllt von Trauer und Schmerz.
»Oh bitte, erwache wieder!« Seine Stimme war flehend. Noch nie hatte Arel sich so schwach gefühlt. Er wusste bis vor wenigen Minuten noch nicht einmal was Schwäche überhaupt war. Er war doch der Engel des Feuers!
War, dachte er, war das richtige Wort. Wieso musste er seinen Schützling auch schon so früh verlieren?! Neue Tränen rannen über seine Wangen. Noch immer betrachtete er den friedlichen Jungen. Sieben Monate war er alt geworden. Sieben Monate durfte Arel ein Schutzengel sein! Noch wussten die Eltern nicht vom Tod ihres Kindes. Aber es war nicht die Aufgabe des trauernden Engels, sie darauf aufmerksam zu machen. Bald würden sie eintreffen. Chalyon und Haniel, die Schutzengel der Eltern.
Arel betrachtete das Kind weiter, in der Hoffnung, es würde wieder anfangen zu atmen.
»Ich habe versagt.« Flüsterte er. Warum hatte er das Kind nicht retten können? Gequält von seinen Selbstvorwürfen blickte er auf. Haniel war soeben eingetroffen.
»Es tut mir leid Arel.« Sagte er voller Mitgefühl und blickte den toten Jungen mit dem Namen Fabian an. Mit versteinerter Miene wandte sich Haniel wieder ab und schwebte ins Wohnzimmer, wo die Eltern saßen. Arel spürte, dass Chalyon schon eingetroffen war. Das Ehepaar konnte zwar die Engel nicht sehen, aber fühlen. Und ebenso konnten sie ihnen das Gefühl geben, dass etwas mit ihrem Sohn nicht stimmte.
»Ich schau mal schnell nach Fabian.« Arel hörte eine gedämpfte Frauenstimme. Kurz darauf ging die Tür des Kinderzimmers auf und eine magere Frau mittleren Alters kam herein. Sie ging zum Kinderbett und betrachtete den Jungen. Haniel war bei ihr und Arel wandte sich vom Bett ab.
Ein Blick über die Schulter verriet ihm, dass sie dachte, ihr Kind schliefe. Doch als sie ihm auf die Wange fasste und die Kälte spürte, wusste sie, ihr Kind war tot.
»Liebling wach auf.« Die panische Stimme der Mutter ließ Arel noch mehr zusammenzucken. Sie schüttelte den leblosen Körper, doch Fabian kam nicht mehr zu sich.
»Oh mein Gott!« Rief sie aus und begann zu schluchzen. Haniel hatte seine Hand auf ihrer Schulter abgelegt. Nun kam auch ihr Ehemann, gefolgt von Chalyon.
»Fabian, wo war dein Schutzengel, als du ihn brauchtest?« Fragte die Mutter des Toten leise. Eine unbeschreiblich große Welle des Schmerzes brach über Arel herein und zwang ihn in die Knie. Immer mehr Tränen rannen über seine sanfte Haut. Er vergrub sein Gesicht in seinen Händen. Warum hatte ich ihn nicht retten können? Ich habe versagt!, warf er sich still vor. Der Engel kauerte sich in einer Ecke zusammen und blickte starr die weiße Wand vor ihm an. Dann schloss er die Augen, um nicht noch weitere Tränen zu vergießen.

Als er sie wieder öffnete saß er nicht mehr im dunklen Zimmer von Fabian, den er hätte schützen sollen, sondern auf einem weißen, weichen Teppich. Er blickte sich fragend um. Erst wusste er nicht, wo er war, doch dann erinnerte er sich, dass er hier gewohnt hatte, bevor er ein Schutzengel wurde. Er rollte sich in einer Ecke zusammen und wünschte erneut zu sterben. Ein leises klopfen erklang an seiner Tür. Seine Stimme war zu brüchig um irgendetwas zu sagen, also schleppte er seinen vor Kummer schweren Körper zur Tür und öffnete diese.
Ein Paar tief dunkelblaue Augen sahen ihn voller Wärme und Mitgefühl an.
»Es tut mir leid, ich habe versagt.« Flüsterte Arel dem Erzengel Gabriel zu.
Der Erzengel legte behutsam seine Hand auf seine. Arel musste sich beherrschen nicht noch einmal in Tränen auszubrechen.
»Es war dein erster Auftrag…« begann Gabriel.
»Und es wird auch mein Letzter sein!« Sagte Arel, dessen Stimme nun etwas fester klang.
»Ich weis, es ist schwer für dich ihn schon so früh zu verlieren.« Meinte der Erzengel mitfühlend.
Arel schnaubte. »Du was weist du schon? Dein Schützling ist der Sohn Gottes! Du hast ihn nie verloren.«
Gabriel wusste nicht was er erwidern sollte, also betrachtete er den zitternden Arel eingehend.
»Ruh dich aus Arel.« Meinte er und ließ ihn allein mit seiner Trauer zurück.
Arel schlug die Tür zu und lehnte sich kraftlos dagegen. Mit müden Schritten schleppte er sich zu seinem weichen Himmelbett. Er vergrub das Gesicht in seinem Kissen und begann erneut zu schluchzen. Würde er überhaupt einen neuen Schützling bekommen? Normalerweise, wenn der Schützling so früh stirbt wird der Engel als untauglich eingestuft und verbannt. Was wird aus mir, wenn ich verbannt werde? Fragte Arel sich erschrocken. Die meisten Engel wurden zu dem, was sie so machtvoll bekämpften. Zu einem Dämon, oder gefallenen Engel, wie man es sonst noch nennt. Die bekanntesten unter ihnen waren Luzifer, Leviathan und Beelzebub.
Der Engel schüttelte sich. Nie wollte er zu einer dieser Kreaturen werden!
Lieber würde ich sterben! Dachte er, erinnerte sich aber dann daran, dass er schon seit Jahrhunderten tot war. Wie lebendig man sich doch fühlte, wenn man jemanden zu beschützen hatte. Man konnte noch einmal von Anfang an miterleben, wie ein Mensch aufwuchs. Nie würde Arel das Lachen des kleinen Jungen vergessen. Oder seine großen hellblauen Augen. Nie würde er diese Liebe, die er für den Kleinen empfunden hatte und immer noch empfand auch für einen anderen Menschen empfinden können. Wie sollte er dann einen anderen Schützling akzeptieren?! Arel drehte sein Gesicht nun zur Decke und starrte vor sich hin.
Durch ein weiteres leises Klopfen wurde er aus seinen Gedanken gerissen.
Arel stand langsam auf und öffnete die Tür erneut. Fast jeder wusste, wie schwer es war, einen Schützling zu verlieren, aber keiner akzeptiert, dass man allein sein will. Dachte Arel, als er die Tür öffnet.
»Hallo Arel.« Sagte eine melodische Stimme. Eloa. Einer der wenigen weiblichen Engel. Sie ist aus der Träne Christus entstanden.
»Hallo.« Sagte er einsilbig. Ihre blonden Locken wurden vom immer wehenden Wolkenwind zerzaust. Ihre goldenen Augen glitzerten, doch sah Arel, dass sie voller Mitgefühl waren.
»Was willst du?« Seine Stimme klang schärfer, als eigentlich beabsichtigt.
»Nur schauen wie es dir geht.« Meinte Eloa unbeirrt. Sie kannte Arels Temperament gut, auch wenn heute nur wenig davon zu spüren war.
Arel schluckte und starrte den weichen Boden unter seinen Füßen an.
»Brauchst du irgendetwas?« Fragte sie eindringlich.
Arel schüttelte kraftlos den Kopf.
»Falls irgendwas ist, du kannst immer zu mir kommen, okay?!« Meinte sie schließlich.
Der trauernde Engel nickte.
»Schlaf ein bisschen, das hat auch damals bei mir geholfen.« Sie klopfte ihm auf die Schulter und verschwand wieder.
Die Beine des Engels gaben nach und er knickte ein. Schluchzend rollte er sich vor der Tür zusammen und betete, dass der Schmerz aufhörte.

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Texte: Alle Rechte liegen beim Autor
Tag der Veröffentlichung: 01.06.2009

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Für Andi und Tina!

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