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1. Ein Engel fällt



Langsam zog sich die erschöpfte Kreatur über den Waldboden. Sein Körper zitterte vor Kälte und vor Schmerz. Das weiße Gewand des Engels war blutgetränkt und die weißen Flügel völlig zerfetzt. Mit letzter Kraft schaffte er es, sich unter einen umgeknickten Baumstamm zu legen, bevor ihm sein Bewusstsein entglitt. Viele Träume suchten ihn in diesen zahlreichen Stunden heim. Darunter auch Alpträume aus seiner Vergangenheit.
Er sah sich, kurz vor seinem Tod. Sah sich mit seiner kleinen Schwester spielen. Damals wusste er noch nichts von der Krankheit, die in ihm wütete. Sie schwächte ihn und machte Krankheiten schlimmer. Heute nennt man es Adis. Damals galt man einfach nur als schwach. Er hatte geträumt ein großer Feldherr zu werden, zahlreiche Schlachten zu schlagen. Doch all diese Träume wurden an dem einen Nachmittag zunichte gemacht. Damals war er erkältet, doch das hielt ihn nicht davon ab, sich mit seiner Schwester Stella zu beschäftigen. Dann kam es zu einem Streit. Stella lief weg. Ohne auch nur an seine Krankheit zu denken lief der junge Silvan hinterher. Im Wald bekam er keine Luft mehr. Alles um ihn herum wurde schwarz, dann wachte er in hellem Licht wieder auf. Seit dem war er ein Engel.
Auch von der Schlacht gegen die Vampire, die die Engel kurz vorher verloren hatten, träumte er.
Er sah das blonde, kleine Mädchen vor sich, hilflos und ohne Schutz. Er wollte ihr helfen, doch dann offenbarte das Mädchen was es wirklich war. Er spürte noch immer die blutdurstigen Blicke der roten Augen auf sich. Und auch die Fangzähne, die ihm seine Flügel zerrissen. Wie ein Feigling hatte er sich hinter einen Felsen verkrochen und gewartet. Er hatte zugesehen, wie Anastasia, Königin der Vampire ihren Anführer Apollo vernichtet hatte ohne auch nur irgendetwas zu unternehmen.
Weiter gequält von seinen Träumen merkte Silvan nicht, dass sich ihm jemand näherte. Eine Gestalt mit schwarzem Umhang hob den verletzten Engel auf und brachte ihn in eine kleine Hütte am Waldrand. Die Gestalt verband die Wunden des Engels und setzte sich neben ihn.
Silvan schlug die Augen auf und blickte in zwei tiefschwarze Augen. Angst überfiel ihn. Er blickte in die Augen einer Vampirin.
Erschrocken setzte er sich auf.
»Sch… bleib ruhig, ich tu dir nichts. Bleib liegen, sonst gehen deine Wunden wieder auf.« Sie sprach sanft mit dem Engel.
»Was…? Wer bist du?«
»Ich bin Laila.«
»Wo bin ich hier.« Der Engel sah sich in der geräumigen und gemütlichen Hütte um.
»In einer Hütte, im Wald, ich weis auch nicht genau wo.«
»Was ist passiert? Wie kommst du hierher? Wie kam ich hierher?«
»Also ich habe dich am Rande des Schlachtfelds gefunden und in meine Hütte gebracht. An die Schlacht erinnerst du dich ja, du hast im Schlaf davon geredet.« Immer noch war die Stimme der Vampirin sanft. Unheimlich. Fand der Engel.
»Und wieso brachtest du mich hierher?«
»Hätte ich dich da draußen im Wald liegen lassen sollen?«
»Ähm, nein, ich bin dir auch sehr Dankbar dafür, doch ich finde es sehr ungewöhnlich von dir. Immerhin bin ich dein Feind.«
Sie zuckte nur mit den Schultern. »Wenn jemand verletzt ist unterscheide ich nicht zwischen Freund und Feind.«
Hatte sie schon mehrere gerettet? Andere, männliche Wesen? Silvan mochte den Gedanken nicht.
Er blickte hinauf zu der dunklen Holzdecke und dachte angestrengt nach. Wann würde er hier wieder weg kommen? Würde er es überhaupt schaffen? War er jetzt ihr Gefangener?
Sein Blick wanderte über seinen Körper. Seine Arme und Beine waren in dicken Mullbinden eingewickelt worden. Was war mit seinen Flügeln geschehen?
Als er die Vampirin danach fragte, antwortete sie nicht gleich. Es schien so, als ob sie ihre Worte mit bedacht wählte.
»Ich bin mir nicht sicher, ob du wieder fliegen kannst.«
Diese Worte trafen den Engel wie ein Fausthieb zwischen die Rippen. Nie wieder fliegen, nie wieder nach Hause über die Wolken. Was war er jetzt noch für ein Engel?
Tränen rannen über seine verkrusteten Wangen. Vorsichtig nahm Laila ein sauberes Tuch und wischte sie ab.
»Du kannst jetzt nicht mehr nach Hause, oder?«
Silvan nickte, noch immer war er unfähig auch nur ein Wort zu sagen. Beruhigend strich ihm Laila über das braune Haar.
Um nicht noch mehr Tränen zu vergießen schloss Silvan die Augen. Langsam glitt er in einen ruhigen erholsamen Schlaf.
Als er am nächsten Morgen mit der Sonne erwachte ging es ihm schon besser. Keine der zahlreichen Wunden tat ihm weh. Er setzte sich auf und sah sich genauer um. Er lag auf einem weichen Federbett, das ihm eigentlich viel zu klein war. Etwas weiter weg sah er Laila am Boden schlafen. Vorsichtig stand er auf und ging zu ihr. Er schwankte ein wenig und musste sich an einem kleinen Holztisch abstützen, um nicht umzufallen. Leise kniete er sich neben die schlafende Vampirin. Sacht strich er ihr das goldene Haar aus dem Gesicht und betrachtete sie. Ein Gefühl, so stark, dass es das Bewusstsein des Engels aus dem Gleichgewicht brachte, überfiel ihn. Oft hatte er es schon gesehen, doch nie selbst gespürt. Liebe. Nicht die Liebe, die ein Engel gab, seelisch und rein. Sondern er verspürte die Liebe auch körperlich, wollte nahe bei ihr sein, sie umarmen, sie lieben. Nein, solche Gedanken durfte ein Engel nicht haben. Schimpfte er sich. Und doch waren sie da und sie ließen sich auch nicht wieder abstellen.
Überwältigt von diesen Gefühlen schleppte sich Silvan wieder zurück auf sein Bett und schloss die Augen. Eine solche Form von Liebe durfte er einfach nicht empfinden und doch fühlte es sich nicht falsch, sondern richtig an.
Nach kurzer Zeit war der Engel wieder eingeschlafen. Diesmal träumte er nicht von Verderben und Tod. Seine Träume waren freundlich und wunderschön. Immer wieder tauchte Lailas Gesicht in seinen Träumen auf. So friedlich hatte Silvan schon lange nicht mehr geschlafen.
Ein Geräusch riss ihn aus seinem Schlaf. Fragend blickte der junge Engel sich um.
»Habe ich dich geweckt? Das tut mir leid.« Die sanfte Stimme der Vampirin beruhigte Silvan. Er blickte sich um und entdeckte sie an der Feuerstelle stehen.
»Willst du was essen?« Fragte sie.
Silvan nickte.
»Was essen den Engel überhaupt?«
»Dasselbe, was normalsterbliche auch essen.«
»Und was essen die? Tut mir leid, dass ich so viel fragen muss, aber es ist bei mir einfach zu lange her, dass ich etwas Normales gegessen habe. Ich habe hier eine Packung mit Nudeln, geht das?«
Silvan nickte wieder. Dann drehte sie sich wieder zu dem Topf, der über dem Feuer hing. Still betrachtete er Lailas Rücken. Sie war schlank und ziemlich groß. Das Haar reichte ihr bis zu ihrer Taille. Nach wenigen Minuten wandte sie sich mit einem Teller Nudeln mit Butter wieder Silvan zu und begann ihn zu füttern. Der Engel kam sich klein vor, wie ein Kind, genoss aber auch zugleich ihre Nähe. Wie sehr er sie doch begehrte. Aber er durfte nicht, er musste mit diesen Gedanken aufhören, so lange er ihr noch nicht ganz verfallen war. Er war ein Engel! Rief er sich wieder ins Gedächtnis.
Nachdem er fertig gegessen hatte, blieb Laila an seiner Bettkante sitzen und strich ihm sanft über das Haar. Langsam dämmerte der Morgen wieder.
»Ich muss jetzt schlafen, die Sonne verbrennt mich.« Sagte Laila und gab ihm einen Kuss auf die Stirn. Überrascht von dieser Geste, brachte Silvan nur ein Nicken zu Stande. Lächelnd stand Laila auf und legte sich auf ihr Matzratzenlager. Immer noch spürte Silvan ihre zarten, weichen Lippen auf seiner Haut. Friedlich schlief er ein.
Als er erwachte, bemerkte er, dass die Hütte leer war. Wo war Laila hin? Fragte er sich. Eine Leere machte sich in seinem Herzen breit und ihm wurde kalt. Würde sie zurück kommen? Vorsichtig erhob er sich von seinem Lager und schritt durch die Hütte. Immer wieder blickte er suchend in die Nacht hinaus. Wo war sie nur hingegangen? Der Engel wurde immer panischer. Mehrmals drehte er sich um sich selbst, vielleicht hatte er sie ja übersehen. Nein, ein Engel sah alles. Laila war nicht da. Silvan lies sich zu Boden sinken und stützte den Kopf auf seinen Knien ab.
Schritte kamen auf die Hütte zu. Vielleicht war es Laila, hoffte der junge Engel. Die Tür wurde aufgestoßen und ein männlicher Vampir trat herein. War er Lailas Mann, Freund oder Lebenspartner? Wie ein tiefer Schnitt brannte dieser Gedanke in Silvans Herzen. Böse starrte der Vampir den Engel an. Dann zeichnete sich ein siegessicheres Grinsen auf seinem Gesicht ab und er ging mit festen Schritten auf den wehrlosen Engel zu. Silvan wich zurück und stieß mit seinen Schulterblättern an die Wand. Seine Flügelreste brannten höllisch und er biss sich auf die Lippe, um nicht aufzuschreien. Der Vampir kam näher und stand nun direkt vor Silvan. In seiner Hand hielt er einen schwarzen Dolch. Panisch blickte Silvan die Waffe an. Er konnte die Flammen der Hölle darin aufblitzen sehen. Sie bewegten sich immer schneller, als ob sie nur darauf warten würden, in seinen Körper einzudringen und ihn zu vernichten. Was sollte er, verwundet, gegen diesen großen, mächtigen Vampir schon ausrichten?
»Noch irgendwelche letzten Worte, bevor du verbrennst, Engel?« Die tiefe, unheilvolle Stimme des Vampires lies ihn noch mehr erstarren. Silvan schwieg. Was sollte er auch sagen. Er begann zu zittern. Sein Atem ging nun stoßweise. Immer noch blickte er gespannt auf den Dolch. Der Vampir folgte seinem Blick.
»Ja, ja, der Dolch der Hölle. Geschmiedet in den ewigen Flammen, dazu gemacht um armselige Engel wie dich zu töten.« Der Vampir lachte finster auf. Dann hob er den Dolch und hielt ihn an die Brust des Engels. Silvan hielt die Luft an. Würde es wehtun? Fragte er sich und betete im Stillen, dass es schnell geschehen möge. Der Vampir schnitt Silvans weißes Hemd auf und den Verband darunter durch, so dass die gebräunte Brust des Engels entblößt war.
»Soll ich es schnell machen?« Fragte der Vampir mehr sich selbst, als Silvan. Er lächelte wieder. Dann richtete er seinen Blick auf den zitternden Engel. »Nein, ich lasse dich leiden.« Die Angst lähmte Silvans Gedanken. Er kam sich so unendlich klein und schwach vor. Was war er schon für ein Engel? Nicht mal das konnte er mit Würde ertragen. Aber Silvan kümmerte sich im Augenblick nicht viel um seine Würde. Der Verdammte ritzte die zarte Haut des Engels an und Blut quoll hervor. Die Flammen in dem Dolch zuckten und wollten hinaus, doch sie würden nur frei sein, wenn der Dolch das Herz des Engels durchbohrt hatte. Die Wunde brannte höllisch, obwohl sie nicht tief war. Silvan wollte schreien, er wollte weglaufen, doch der Vampir versperrte ihm jeden Ausweg. Langsam senkte der Vampir wieder den Dolch auf Silvans Haut und zog langsam eine weitere blutige Linie. Silvan bäumte sich vor Schmerz auf und durch diese Bewegung drang der Dolch noch tiefer in seine Haut ein. Der Schmerz nahm zu und Silvan schrie auf. Der Verdammte lachte nur über den wehrlosen Engel, dessen Bewusstsein langsam entglitt. Silvan wollte flehen, dass er erlöst wurde, doch kein Ton kam mehr über seine Lippen. Als ob der dunkle Vampir seine Gedanken erraten hätte, setzte er zum letzten, tödlichen Stoß an. In diesem Moment ging die Sonne auf. Erschrocken wich der Vampir zurück, doch zu spät. Die Sonnenstrahlen hatten ihn bereits erfasst und er brannte lichterloh. Silvan war unfähig sich zu bewegen. Unaufhaltsam rann das Blut über seinen Körper. Noch immer zitterte er. Und dann kam Laila.
Silvan war überglücklich, dass die Sonne sie noch nicht erreicht hatte, sein Herz überschlug sich fast vor Freude. Doch seine Freude verschwand, als er den Ausdruck auf Lailas Gesicht sah. Wut und Entsetzen spiegelte sich in ihrem Gesicht. Dann lächelte sie. Es war dasselbe siegessichere Lächeln, wie das des Vampires, der Silvan zuvor töten wollte. Dann wandte sie sich an den Staubhaufen, der zuvor noch ein Mann gewesen war.
»So wie es aussieht, tötest du doch nicht jeden Engel, kleiner Bruder.« Dann hob sie den Dolch auf und kam auf Silvan zu. Aber solange er in der Sonne stand, konnte sie ihm nichts anhaben. Und das wusste Laila auch. Sie warf den Dolch Richtung Fenster und der Rollladen fiel krachend herunter. Augenblicklich war die Hütte stockfinster. Langsam schritt sie zum Fenster und zog den Dolch wieder aus dem dunklen Holz heraus. Silvan konnte nicht glauben, was gerade passierte. Die Frau, die er liebte, mit der er sein restliches Dasein teilen wollte, wollte ihn umbringen. Sein Herz zog sich schmerzhaft zusammen. Doch diesmal war es ein anderer Schmerz. Es war der Schmerz, den man empfand, wenn man betrogen oder verlassen wurde.
Mit einem Satz stand Laila neben Silvan und er wich zurück. Hektisch blickte er sich in der Hütte um. Dann blickte er wieder flehend zu Laila. Sie grinste siegessicher, wobei sie dadurch ihre Reiszähne entblößte. Ein kalter Schauer fuhr über den Rücken des Engels. Panisch rannte er los, geradewegs auf die Tür zu. Ohne sich umzublicken riss er sie auf. Laila wich zurück und fauchte. Dann warf sie den Dolch und er bohrte sich in Silvans Oberarm. Erschrocken schrie er auf und taumelte aus der Hütte, in die warme Herbstsonne.
Silvan wusste nicht, wie lange er durch den Wald gelaufen war. Auf einmal knickten seine Knie ein und er ließ sich auf den feuchten Waldboden fallen. Tränen rannen über seine Wange. Warum hatte Laila ihm das angetan? Immer wieder stellte er sich die Frage. Sein Oberarm pochte und er würde am liebsten vor Schmerz schreien. Wie viele Stunden waren es, bis die Nacht hereinbrechen würde? Würde sie nach ihm suchen? Verzweifelt versuchte der Engel die Blutung zu stoppen, indem er seine Hand auf die Wunde presste, doch es verursachte nur noch mehr schmerz. Der Engel wollte sterben, er wollte nicht ohne Laila oder seine Flügel leben. Eine weiße Gestalt schritt auf den schluchzenden Engel zu. Silvan blickte auf. Erschrocken hielt er die Luft an. Es lebten also doch noch Engel, hier, vor ihm stand der Beweis. Liam kniete sich neben den schluchzenden Silvan und legte ihm beruhigend seine Hand auf die Schultern.
»Was… was ist passiert?« Fragte Silvan.
»Apollo ist tot, genauso wie Björn und Connor.«
»Und Desiree?«
»Auch. Alle sind tot außer du und ich.«
»Und was wird jetzt passieren?« Verzweifelt blickte Silvan um sich.
»Wir werden nun wieder nach Hause zurückkehren.«
»Nach unserem Gesetz bist du jetzt rechtmäßiger König der Engel, Erzengel Liam.« Silvan verneigte sich vor seinem neuen Herrscher. Liam nickte traurig.
Silvan stand mit Liams Hilfe auf und wollte ihm folgen, doch der Erzengel hielt ihn zurück.
»Silvan, was ist mit deinen Flügeln geschehen?« Entgeistert blickte Liam auf Silvans geschundenen Rücken. Betreten blickte dieser zu Boden.
»Du weist, dass du so nicht mehr zurück kannst.«
Traurig nickte Silvan.
»Normalerweise ist dies dein Todesurteil, das weist du sicher.«
Wieder nickte er, unfähig, auch nur irgendein Wort zu sagen.
»Aber ich bin gnädig, in anbetracht der Umstände.« Liam sammelte Kraft in seinen Händen und schickte sie Silvan. Fragend betrachtete der seinen Rücken.
»Wo sind meine neuen Flügel?« Seine Stimme zitterte.
»Es liegt nicht in meiner Macht dir Flügel zu verleihen, Silvan. Aber ich habe dir etwas anderes gegeben. Ein neues, menschliches Leben.«
Erschrocken starrte Silvan den Erzengel an. »Was?«
»Du wirst nun ein Erdenleben führen, wie du es zuvor getan hast. Deine Krankheit wird nicht wieder ausbrechen. Hier.« Er überreichte dem Neugeborenen ein Päckchen Geld. »Damit du dir was neues zum Anziehen kaufen kannst. Normale sechzehnjährige laufen nämlich nicht in weiß herum.«
Immer noch geschockt starrte Silvan auf das Geld. Dann verschwand Liam plötzlich und Silvan blickte ihm noch lange hinterher. Schweigend lief er durch den Wald, bis er an eine Straße kam. Er folgte ihrem Lauf und kam in eine kleine Stadt. Dort ging er in ein Bekleidungsgeschäft und kaufte sich eine Jeans. Der Stoff fühlte sich komisch auf seiner Haut an. Traurig betrachtete der ehemalige Engel sein Spiegelbild. Kein Leuchten umgab ihn mehr, keine prachtvollen Flügel zierten seinen Rücken und seine Augen waren nicht mehr golden, wie der Sonnenaufgang, sondern strahlend blau, wie der Himmel. Sprachlos über seine neue Gestalt suchte er sich noch ein weißes Hemd und zahlte. Dann setzte er sich auf eine Bank und beobachtete die Menschen. Wenige Jugendliche, wie er jetzt einer war, trugen noch ein Hemd und wenn doch, dann weit aufgeknöpft. Skeptisch öffnete Silvan zwei Knöpfe. Seine Wunde wurde sichtbar und erinnerte ihn wieder an seinen Aufenthalt in Lailas Hütte. Der Gedanke an Laila gab ihm einen erneuten Stich durch sein Herz und Tränen traten wieder in seine Augen, doch er schluckte sie einfach herunter.
Als die Nacht hereinbrach suchte er sich ein kleines heruntergekommenes Hotel und ließ sich dort ein Zimmer geben. Wo sollte er jetzt hin? Wie würde ein sechzehnjähriger Junge Arbeit finden? Verzweifelt legte er sich auf das quietschende Bett und schloss die Augen. Noch immer konnte er sich nicht daran gewöhnen, ein Mensch zu sein. Alles war so neu, und auch gleichzeitig so vertraut.
Auf einmal ertönten Schreie aus dem Zimmer nebenan. Silvan riss erschrocken die Augen auf und sprang vom Bett. Er rannte fast zur Tür und riss sie auf. Ohne daran zu denken, dass er nur noch ein Mensch war, lief er ins andere Zimmer und sah dort einen Mann, Mitte vierzig liegen, der krampfhaft versuchte, eine klaffende Wunde in seiner Brust zuzuhalten. Neben ihm lag ein blutverschmiertes Messer. Aus Gewohnheit legte Silvan seine rechte Hand auf die Wunde und wollte sie heilen, wie es Engel taten, doch nichts geschah. Das Leben wich mit jedem Atemzug mehr aus dem Mann und er blickte Silvan vorwurfsvoll an. »Du hättest noch den Notarzt rufen können!« Sagte er brüchig. Erst jetzt bemerkte Silvan, dass er nicht mehr heilen konnte. Verzweifelt ließ er sich neben den toten Mann fallen und kämpfte krampfhaft gegen die Tränen an. Er hätte ihn noch retten können, wenn er mitgedacht hätte.
Die Polizei stieß die angelehnte Tür gewaltsam auf und sah Silvan, wie er neben dem Toten kniete und in die Leere starrte. Wie in Trance ließ sich der ehemalige Engel abführen. Dann nahmen sie ihn mit aufs Revier und ein älterer, magerer Polizist befragte ihn.
»Wo warst du zur Tatzeit?« Seine Stimme dröhnte in Silvans Ohren.
»In meinem Zimmer, nebenan.«
»Was ist dann vorgefallen?«
»Ich hatte einen Schrei vernommen und bin dann ins andere Zimmer gegangen, um nachzuschauen, was vorgefallen war.«
»Und dann? Was ist dann passiert?« Der Polizist, Officer Brendon haute mit seiner flachen Hand auf den Tisch, der dadurch erbebte.
»Dann sah ich diesen Mann.« Silvan deutete mit einem Kopfnicken auf das Foto des Toten. »Er lag blutend am Boden.«
»Warum hast du nicht den Notarzt gerufen?«
»Ich besitze kein Handy und habe das des Toten auch nicht gefunden.« Die Lüge brannte auf Silvans Zunge.
»Warum hast du nicht irgendwie anders Hilfe geholt?«
»Ich wusste nicht mehr, was ich tun sollte.«
»Schwache Ausrede! Und nun zu deinen Personalien.«
»Mein Name ist Silvan.«
»Weiter, Nachname? Alter? Adresse?«
Der Junge wusste, dass er wieder lügen musste.
»Nachname habe ich nicht, meine Eltern sind gestorben, als ich ein Jahr alt war, dann lebte ich bei einer Zigeunerin namens Magic Mae. Sie ist vor einer Woche gestorben, von da an musste ich mich allein durchschlagen.«
Der Polizist dachte nach. Natürlich war ihm der Todesfall von Magic Mae bekannt. Silvan hatte sie eine Zeit lang begleitet, bis sie gestorben war, damals, als er noch ein Engel war.
»Und wie alt bist du?« Genervt blickte er Silvan an.
»Sechzehn.« Und ein paar Jahrzehnte. Setzte Silvan in Gedanken noch hinten dran.
»Okay. Für mich sieht es so aus, dass du Teilschuld an dem Tod des Mannes hast, weil du keinen Notarzt gerufen hast. Und da du nur umher gezogen bist, kannst du sicher weder lesen, noch schreiben, noch rechnen, oder?«
»Ein bisschen kann ich das schon.« Natürlich konnte Silvan es nicht nur ein bisschen, sondern sehr gut, aber das musste der Polizist ja nicht wissen.
»Okay, dann bist du ein Kandidat für die St. Mary, einer Schule für Waisenkinder, schwer erziehbare und psychisch labile Jugendliche.
Erstaunt blickte der ehemalige Engel den Wachtmeister an. Von so einer Schule hatte er schon gehört. Öfters war er auch dort gewesen, um den Jugendlichen Hoffnung und Glück zu geben, doch sie waren so verschlossen und hatten den Glauben an die Liebe und an das Leben schon aufgegeben, so dass er nicht bis zu ihrer Seele vordrang. Was hatte er auf dieser Schule zu suchen? Er, ein ehemaliger Engel.
Doch er wusste, er durfte ich dem Beamten nicht widersetzen, und so nickte er schwach. Officer Brendon stand auf und Silvan erhob sich ebenso.
»Die Nacht wirst du wohl in einer Zelle verbringen müssen, Junge.« Sagte er trocken und deutete Silvan, ihm zu folgen, was der Sechzehnjährige auch widerstandslos tat. Brendon zog an seinem dicken Schlüsselbund und schoss eine weiße Stahltür auf, und deutete Silvan einzutreten. Zusammengesunken betrat er die Zelle und blickte sich das erste Mal, seit er auf die Wache gekommen war um. Ein hartes Feldbett war an einer Wand befestigt und in der Ecke war eine kleine Toilette. Einen Spiegel gab es nicht und das Waschbecken war zertrümmert. Skeptisch blickte Silvan wieder zu dem Polizisten.
»Tut mir leid, ist die beste Zelle, die wir haben.« Er zuckte mit den Schultern und schloss dann die Türe. Verzweifelt lies sich der Junge auf das steinharte Feldbett fallen und schloss die Augen. Sein erster Tag als Mensch und er hatte es gleich von Anfang an versaut.


Impressum

Texte: Alle Rechte liegen beim Autor
Tag der Veröffentlichung: 15.05.2009

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Für Coco, weil sie immer meine Storys liest, auch wenn manchmal richtig Mist dabei ist! Danke!

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