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DER DICHTER UND DAS PENDEL


Schwer atmend lag der junge Mann in seinem Sterbebett. Der angehende Dichter wusste, dass sein Ende nahte. Er fühlte es mit jedem Pochen seiner Wunde. Ein Biss, ein einfacher Rattenbiss raubte diesem wunderschönen jungen Mann das Leben. Der Dichter stöhnte. So viele Rückschläge hatte er in seinem kurzen Leben schon hinnehmen müssen. Den Tod seiner Eltern, die Entführung seiner Schwester und den Tod seiner über alles geliebten Frau. Sie war im Wochenbett gestorben und das Kind mit ihr. Immer wieder überkamen den jungen Dichter neue Schuldgefühle, sie überrollten ihn wie eine Welle und brachen hin. Brachen seinen Geist, seine Seele und sein leidendes Herz immer wieder aufs Neue.
Jules drehte seinen Kopf auf die Seite. Sein halblanges, schwarzes Haar klebte an seinem schweißnassen Gesicht. Die Augen hatte er halb geöffnet. Das Grün darin leuchtete schon lange nicht mehr. Es war stumpf, gebrochen.
Mühsam streckte er seinen gesunden rechten Arm nach der Schreibfeder aus. Das Blatt Pergament lag schon seit ewigen Tagen an seinem Bett. Doch noch nie hatte er Wörter gefunden, die er zu einem Gedicht fassen konnte. Nie. Und jetzt, wo sein Ende nur noch wenige Stunden entfernt war, fielen sie ihm ein. Er schrieb mit zittriger Hand:

Die sanften Schwingen der Unschuld streicheln mein Gesicht
Und trotz alledem fühle ich die befreiende Wärme nicht.
Ich bin zerrissen von den Ketten der Hölle und warte auf dich
Mein Teufel, mein Engel töte mich.



Jules wollte die Zeilen wieder durchstreichen. Sie waren sinnlos und brutal. Aber sie gefielen ihm. Beschrieben sein Leiden. Die sanften Flügel des Schlafes und die Kälte, die seinen Körper heimsuchte. Wie er sich gespalten fühlte von der entsetzlichen Schuld und seinem tiefen, körperlichen Schmerz. Wie er wartete auf die Erlösung, die der Tod mit sich bringen würde.
Stöhnend legte Jules das Blatt weg und ergriff ein neues:

Ich dränge hinein in das Land
Es ist geheimnisvoll und unerkannt
Und doch vermag es mir nicht, dort zu bleiben
Oh sage mir, warum muss ich noch weiter leiden

Immer wieder fragte er sich, warum er nicht erlöst wurde. Seine Nahtoderlebnisse waren immer so wunderschön gewesen. Wunderschöne Bilder seiner Frau und des kräftigen Kindes in ihrem Arm. Er wollte in das weiße Land der Unschuld. Wollte von seinen Qualen erlöst werden.
Eifrige Schritte ließen Jules innehalten. Sie gehörten zu Emma, der Haushälterin.
Sie kam in Jules Zimmer und schaute ihn verwirrt an.
„Oh, Sir, sie schreiben wieder? Sie sollten sich doch schonen. Dies wird sicher ihre Genesung verlangsamen.“
Jules stöhnte erneut. „Emma, meine Tage sind gezählt, das wissen sie. Also lassen sie mir doch die Inspiration des Sterbens.“
Tränen sammelten sich in Emmas Augen. „Wie sie wünschen, Sir. Soll ich ihnen irgendetwas bringen?“
„Nein, Emma. Alles ist in Ordnung.“
„Rufen sie nach mir, wenn sie etwas benötigen.“ Mit diesen Worten verschwand sie aus dem Zimmer des Dichters.
Jules ergriff ein weiteres Blatt.

Ich fühle deine Abwesenheit mehr und mehr
Meine Gefühle sind taub, mein Herz ist leer
Warum musstest du von mir gehen
Dort wo du jetzt bist kann ich dich nicht mehr sehen

Tränen sammelten sich in den Augen des Dichters, als er an seine verstorbene Frau Katrina dachte. Er sehnte sich nach ihrem kupferfarbenen Haar und ihren kornblumenblauen Augen. Auch wenn dieses dritte Blatt nicht in sein Werk passte, so nahm er es und presste es mit seiner verbliebenen Kraft noch an seine Brust. Auf einmal überfiel ihn ungebändigter Hass. Hass auf sich, Hass auf Gott, Hass auf die ganze Welt. Doch er hielt seine Gedanken Gott gegenüber zurück. Auch wenn er sie am liebsten auf das Pergament gebrannt hätte, er tat es nicht. Stattdessen schrieb er:

Meine Tränen sind gegangen
Ich bin in der Finsternis gefangen
Ich kann nicht sterben, kann nicht sein, wer ich bin
Gott, sag hat mein Leben noch einen Sinn.



Wenigstens eine Frage musste er an den allmächtigen Vater schreiben. Wenn er ihn schon nicht aus seinem qualvollen Leben nahm, dann musste er wenigstens seinen Sinn anzweifeln. Jules keuchte. Sein Atem ging schwerer. Er fühlte das Ende, es war da. Und doch wollte er jetzt nicht gehen. Er musste sein Werk zu Ende bringen. Für Katrina. Katrina, sein Stern, sein Licht, seine Wärme. Sie hatte ihm den Wert des Lebens gezeigt, den es jetzt wieder für ihn verloren hatte, als sie gegangen war. Er war nirgendwo zu Hause gewesen, sondern immer dort, wo er sein wollte. Ein freier und ungebundener Dichter. Oftmals hatte er kein Geld gehabt und musste sich Essen stehlen. Doch niemand hatte ihn jemals gefasst. Flucht und Versteck waren sein Leben gewesen. Er hatte es als vollkommen bezeichnet. Bis Katrina kam.
Alles hatte sie verändert, wirklich alles.

Ihr habt mir mein Licht genommen
Zu schnell ist ihre Zeit verronnen



Jules legte die Feder weg, um zu husten. Blut spritzte aus seinem Mund und benässte die weiße Bettdecke und das dritte Blatt mit den Worten an Katrina, doch er ließ sich nicht beirren. Lange starrte er auf die Zeilen und es war, als hätten seine Augen ein wenig mehr Leuchtkraft bekommen.
Plötzlich zerriss er den Zettel. Es war nicht das, was er schreiben wollte. So etwas hatte er so oft nach Katrinas Tod geschrieben und sie hatten ihn immer tiefer in den Schmerz gezogen. Dieses Blatt legte er auf einen anderen, gehäuften Stapel. Es war der Stapel, den Emma am Ende der Woche verbrennen sollte.
Seine zitternde Hand griff zu der Glocke, mit der er Emma rief. Es dauerte nicht lange und die pummelige Haushälterin kam herein.
„Sir?“ Fragte sie vorsichtig.
„Mehr Pergament Emma.“ Sagte Jules schwach.
„Sir, ich glaube…“ begann Emma, doch der sterbende Dichter unterbrach seine besorgte Haushälterin.
„Mehr Pergament.“
„Wie sie wünschen, Sir.“ Meinte Emma ergeben und beeilte sich das Schlafgemach ihres sterbenden Herrn zu verlassen. Jules atmete flach. Das Ende, es war so nahe. Er hatte es sich doch immer so herbei ersehnt. Und es kam und kam einfach nicht. Aber jetzt, jetzt wo er ein Werk begonnen hatte, da musste die Zeit ihn überholen. Er presste das dritte Blatt noch fester an sich, als Emma mit einem Stapel Pergamentbögen hereinkam. Wortlos stellte sie die Bögen auf den Nachttisch des Dichters und verließ den Raum seufzend wieder.
Jules griff nach dem ersten Blatt:

Ich suche nach einer Stütze, die mich hinüber geleitet
Suche die Wiese des Himmels, wie sie sich vor mir ausbreitet
Und hier muss ich liegen in meinem Todesbette
Eisig, angebunden durch diese Schmerzenskette



Wieder legte es der junge, sterbende Mann auf den Stapel für sein Werk. Er dachte zurück an sein Leben mit Katrina. Es gab ihm Halt und hielt ihn am Leben. Katrina, die Schöne, Katrina die Sanfte. Er seufzte voller Schmerz über diesen Verlust. Seine Katrina. Sie war so weit weg und er durch die Ketten der Hölle gespalten mit einer Hälfte auf diesen wundervollen Wiesen des Himmels und mit der anderen in seinem flach gelegenen Sterbebett.

Kann nicht sterben, bin ein Gefangener des Daseins
Vater, nimm mein Leben, bitte, es ist deins
Verbrenne mich innerlich in dieser Nacht
Bitte nimm mich in deine Schwingen, in deine weite Macht



Jules stöhnte erneut auf vor Schmerz. Er brauchte einen letzten Vers. Einen letzten perfekten Vers. Es war ein kurzes Werk, vielleicht sein Kürzestes, aber die Zeit rannte an ihm vorbei. Tränen der Freude glitzerten in seinen Augen, als er an die weiten Wiesen des Himmels dachte.


Blut ist des Träumers Wein
Ich, der sterbende Dichter bin ohne Reim



Jules hustete qualvoll. Noch mehr Blut bedeckte das dritte Blatt mit den Worten für Katrina. Auch wenn sein Ende da war, er schrieb weiter.

Im Angesicht des Todes habe ich meinen glauben verloren
Und ein anderes Ich ist in mir geboren.



Jules legte das letzte Blatt auf seinen Stapel. Doch zu seinem Entsetzen musste er feststellen, das seine Schrift für andere Augen unkenntlich geworden war. Irgendjemand musste es neu schreiben. Emma.
Jules klingelte und die gläserne Klingel fiel ihm aus der Hand. Sie zersprang auf dem Boden in tausende kleine Scherben, so wie auch das Leben des Dichters in Scherben lag. Emma kam gehetzt herein.
„Sie wünschen Sir?“
„Emma, meine treue Haushälterin. Würden sie mir einen letzten Wunsch erfüllen?“
Die Augen der Frau füllten sich mit Tränen. „Ja natürlich Sir.“
Jules versuchte sich aufzusetzen, doch er schaffte es nicht. „Könnten sie mein Werk ordentlich auf ein Blatt Pergament fassen? Und es dann an Hannah geben. Sie hat die schönste Schrift des Dorfes.“
„Wie sie wünschen Sir.“ Meinte Emma und kniete sich neben den Nachttisch. Sie gab Jules die Blätter.
Zittrig diktierte er die Zeilen und Emma schrieb folgsam.
„Wann soll ich es zu Hannah bringen, Sir?“ Fragte Emma.
„Jetzt, ich will es noch fertig sehen.“
„Wie sie wünschen.“ Emma sprang auf und lief eilig aus dem Zimmer und aus dem Haus die Straße hinunter zur Schönschreiberin Hannah.
Jules spürte die Schwäche, spürte die Nähe des Todes. Wie ein Schatten überkamen ihn die feinen Glieder des Todes. Er presste das dritte Blatt mit seiner verbliebenen Kraft an sich. Das Ende war gekommen. Er würde sein Werk nie vollständig sehen, aber all die anderen. Alle würden seine Gefühle wissen, die Gefühle eines sterbenden Dichters.

Und als das Licht, das durch die Fenster schien schwächer wurde, schlug das Herz von Jules, dem jungen Dichter ein letztes Mal.


ENDE

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 15.05.2009

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Für mein Lieblingspferd Agacischatz, lieb dich so!

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