1. Kapitel Der alte Georg
Die Schatten zogen sich in die Länge. Dunkelheit umgab das verlassene Dorf. Schleichend griff der Nebel nach den abgeblätterten Fassaden der alten Häuser. Ein Wolf lief durch die Straßen. Gehetzt und völlig außer Atem. Sein graues Fell war matt und verfilzt. Rippen traten unter seiner ausgezehrten Haut hervor. Der Wolf lief zielstrebig durch die verwinkelten Gassen zu einem Haus in dessen Inneren ein leichter Lichtschein zu vernehmen war.
Der alte Wolf jaulte verzerrt auf. Kurz darauf öffnete ein fünfundsiebzigjähriger Mann die knarrende Tür.
„Old John, mein Junge, schön dich zu sehen.“ Sagte der Mann erfreut. Der Wolf wedelte schwach mit seiner Rute und trat dann in das einsturzgefährdete Haus.
Der kleine Lichtschimmer kam von einer Votivkerze, die am anderen Ende des Wohnzimmers stand. Die Wände des Hauses waren rissig und voller Wasserflecken. Spinnen krochen an der Wand entlang, immer in Richtung Licht. Sie wollten auch die zarte Wärme spüren, die die kleine Flamme versprühte. Old John ließ sich auf einem zerfetzen Bettvorleger nieder und betrachtete den Mann aufmerksam. Er hatte graues, verfilztes Haar, und stumpfe, schwarze Augen, die sich müde umsahen.
„Na John, wo warst du die letzten Tage? Ich hab dich ja gar nicht mehr zu Gesicht bekommen.“ Der Mann stand auf und griff in einen ausgeblichenen Schrank, in dem er etwas Hundefutter aufbewahrte. Er warf das Trockenfutter Old John vor die Pfoten und der Wolf begann es gierig zu fressen.
„Jetzt wird’s dann bald kalt werden, mein Freund. Ich bezweifle, dass ich den Winter hier verbringen werde, vor allem bei dem Schneefall.“
Old John horchte auf.
„Ja, Schneefall, mein Freund. Ich spüre es in meinen müden Knochen. Willst du nicht mit mir kommen John? Da wo ich hin will gibt es Wärme und viel zu Essen.“
Der Wolf legte den Kopf schief und schien zu überlegen. Dann schüttelte er sein graues Haupt träge. Der Mann seufzte.
„Weißt du, ich glaube nicht, dass du den Winter durchstehen wirst, Kumpel. Besonders nicht, wenn ich nicht da bin und dich füttere mein Guter.“
Old John gab ein leises Knurren von sich und begann wieder sein Futter zu fressen.
„Jaja, ich weiß, du kannst auf dich selbst aufpassen. Wie immer.“ Der Mann namens Georg seufzte und setzte sich auf eine zerschlissene Matratze, die ihm als Schlafplatz diente.
„Bleibst du wenigstens heute Nacht John? Ich werde wahrscheinlich schon morgen fort gehen. Wir haben schon Anfang November.“
Old John gab ein zufriedenes Brummen von sich und machte es sich noch bequemer auf dem alten Teppich.
„Was ist Junge, willst du eine Geschichte von mir hören?“
Der Wolf hob den Kopf ein wenig. Auch wenn er die Worte nicht verstand, die der alte Georg sprach, so liebte er es doch, wenn seine Stimme diesen magischen Klang bekam, wenn er von Geschichten sprach. Gebannt lauschte der Wolf den Worten des Alten:
„Vor langer Zeit, als ich noch jung und abenteuerlustig war, da lebte ich auf einem Bauernhof. Es war ein sehr großer Hof musst du wissen. Meine Eltern hatten viele Rinder und Schweine. Ich hatte einen Zwillingsbruder, er hieß Richard. Eines Nachts im Dezember hatten wir beschlossen in das nahe gelegene Dorf zu gehen. Wir waren zwanzig Jahre alt und somit heiratsfähige Männer. Als wir unserem Vater die Pläne verkündeten fand er die Idee erst gar nicht gut. Wir waren natürlich wütend auf ihn, weil er unser Glück zerstörte, aber wir sagten nichts. Wir warteten einfach ab. Zwei Monate später, es begann gerade zu tauen kam er zu uns. Richard und ich misteten gerade die Schweineställe aus, als er sage.
»Meine Männer, geht in das Dorf und sucht euch ein Weib. Der erste, der mit einem wiederkommt wird der Erbe meines Hofes sein.«
Ich kann mich noch gut daran erinnern, wie Richards Augen geleuchtet hatten, als er sein Pferd sattelte und in das nächste Dorf ritt. Ich wartete eine Weile, bevor ich auch meine Sachen packte. Mein Pferd war nicht mehr so jung, wie das meines Bruders, so brauchte ich länger, bis ich das kleine Dorf in unserer Nähe erreichte. Im Gegensatz zu der Ruhe auf unserem Hof herrschte in diesem Dorf reges Treiben. Mägde boten Tonkrüge an und Bauern verkauften hier ihre Waren. Ich weiß noch, wie mich dieses lebendige Dorf irritiert hat. Ich hatte nach meinem Bruder gesucht, doch ihn nicht gefunden. So einsam hatte ich mich noch nie gefühlt, John.
Nach einer Weile wandte ich mich meiner eigentlichen Aufgabe zu. Eine Frau zu suchen. Es gab viele schöne Frauen in dem Dorf, aber keine übertraf Viktoria, die Tochter eines Schankwirtes. Sie hatte veilchenblaue Augen und lange blonde Locken. Man konnte sich an ihr gar nicht satt sehen.
Eines Nachts, nachdem ich zu tief ins Glas geschaut hatte, hatte ich Viktoria doch tatsächlich einen Antrag gemacht. Sie hatte mich schief angeschaut und angefangen zu lachen. Die Schamesröte war mir damals richtig ins Gesicht gestiegen. Sie konnte gar nicht mehr aufhören zu lachen.
»Schlaf erst mal deinen Rausch aus, Georg vom Lande.« Hatte sie gesagt.
Ich bin dann auf mein Zimmer und hab ihren Ratschlag befolgt. Und als ich sie am nächsten Morgen wieder sah, da hat sie mich angelächelt, richtig lieb angelächelt.
Ich hatte sie wieder gefragt, ob sie meine Frau werden wollte. Und wieder hat sie nur gelacht und mir ein Bier hingestellt, aber ich war nicht gewillt so schnell aufzugeben. Ich habe ihr wieder und wieder den Hof gemacht, bis sie doch eingewilligt hatte. Da war dann ein Jahr vergangen, seit ich von Zuhause vorgegangen war.
Wir ließen uns in der Dorfkirche trauen. Oft hatte ich ihr von dem Bauernhof vorgeschwärmt, den ich erben sollte, als wir auf die Heimreise gingen. Ihre Augen hatten geglänzt, dass kannst du mir glauben. Und ich hatte sie geliebt, richtig geliebt.
Der Stich mitten ins Herz kam, als wir wieder zu Hause waren. Mein Bruder war schneller gewesen. War eigentlich klar gewesen, nachdem ich ein Jahr verpennt hatte.
Viktoria ist wie eine Furie auf mich losgegangen und hat mich als hinterhältigen Schurken bezeichnet, der sie nur aus ihrem Wohlhabenden Elternhaus entführen wollte und leere Versprechen gegeben hatte.
Wir blieben über Nacht auf dem Bauernhof. Meine Eltern waren schon im letzten Winter an Grippe gestorben und wir lebten allein mit Marina und Richard.
Viktoria hat die ganze Nacht geweint.
Ich wurde immer wütender auf meinen Bruder. Jetzt hatte ich schon meine Frau und er musste mir das Glück so entreißen.
In der Nacht hatte ich einen Schürhaken genommen und seinen Schädel damit zertrümmert. Ich wusste nicht, was in mich gefahren war, aber ich habe einfach nicht aufgehört auf ihn einzuschlagen.
Als man ihm am nächsten Tag tot in seinem Bett gefunden hatte, war Marina bereits verschwunden. Wahrscheinlich hatte sie Angst vor mir und Viktoria bekommen.
Und so kam der Bauernhof in meine Hände. Mein Glück wäre perfekt gewesen, wenn nicht das Blut meines geliebten Bruders an meinen Händen geklebt hätte.
Ein Jahr später hatte mir Viktoria einen Sohn geschenkt. Wir waren so glücklich, bis sie im Winter an einer Krankheit erkrankte, die kein Arzt heilen konnte. Sie starb in meinen Armen und das schwache Kind mit ihr.
Der Bauernhof wurde verbrannt, um die Ausbreitung der Krankheit zu verhindern. Und so wurde ich besitzlos, mein Freund. So wurde ich zum Landstreicher.“ Beendete Georg seine Geschichte.
Old John hatte ihn die ganze Zeit aufmerksam beobachtet. Der Wolf hatte den Kummer erkannt, den die Worte in dem alten Mann hervorriefen.
„Gute Nacht mein Guter.“ Flüsterte Georg und rollte sich auf der Matratze zusammen.
Old John blieb wach und beobachtete das Lichtspiel der Kerze an den kahlen Wänden.
Fortsetzung folgt...
Tag der Veröffentlichung: 15.05.2009
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Wieder mal für Lea und Meli, die mich so ertragen müssen, wie ich bin!!^^