Sie wollte fliegen.
Hoch oben saß sie zwischen den Zweigen des uralten Baumes, dessen rauschendes Laub bald mit dem Herbstwind vergehen würde; hier war sie dem grauen Himmel am nächsten und konnte sich treiben lassen in den tosenden Fluten der nasskalten Stürme, die die länger werdenden Nächte brachten; hier konnte sie sich entfalten in all ihrer wild eifernden Sehnsucht, die stärker wogte als der tiefste Ozean der vollkommenen Finsternis; hier konnte sie allem entfliehen, das sie an das zäh zerfließende Taglicht band ...
Sie wollte fliegen.
Von hier oben sah sie ihn, wie er am Fenster stand und nach draußen blickte. Er tat nichts anderes mehr, als endlos zu denken, bis sein Zaudern ihn im uferlosen Suchen ertränkte, sodass er die rettende Dunkelheit nicht mehr erreichte. Er tat nichts anderes mehr, als sich fortwährend zu fragen, warum es so sein musste, bis er um sich herum nichts mehr wahrnahm. Er tat nichts anderes mehr, als zu glauben, dass alles verloren war, was einst sein stilles Herz hatte beben lassen.
Sie wollte fliegen. Doch würde er sie fliegen lassen?
Hier war ihr zu Hause, bei ihm, dessen klagend düstere Wünsche sie besser kannte als er selbst; sie wartete im tristen Grau des sterbenden Abends, huschte leise wispernd im Geäst des Baumes umher, wie es all ihre innigen Schwestern taten; und mit jeder zitternd hereinbrechenden Nacht warteten sie von Neuem auf den einen Moment, in dem sie entrinnen konnten wie ein Schwall eisiger Tropfen dem trüb erstarrten Gewölk, in dem das Leiden ein Ende finden würde, das sie im gleißend hellen Sonnenlicht erduldeten, in dem sie fliegen würden, um ihn zu erretten ...
Und sie würde die unheimlichste von ihnen sein und die schönste; sie würde ihm seine Zweifel entreißen und die Lähmung, die ihn erbarmungslos peinigte; sie würde die abgrundtiefe Stille im letzten Hauch des fliehenden Tages ersticken; sie würde weiter vordringen, als jede ihrer Schwestern es gewagt hatte; denn sie schimmerte unheilvoller, als er es sich vorstellen konnte; sie sehnte sich haltloser, als er es sich zutraute; sie existierte ewiger, als all seine Gedanken es jemals vermochten ...
Sie wollte fliegen. Doch würde er sie fliegen lassen?
Texte: (C) 2011 Andreas F.
Bildmaterialien: Coverbeabeitung (C) 2015 Caro Sodar, Coverfoto (C) Pixabay
Tag der Veröffentlichung: 17.06.2011
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