Ich schaue gedankenverloren auf meine Uhr...gleich ist es 14.00 Uhr und ich denke dabei an Annika.
Vor einer Stunde ist sie aufgestanden, immer noch müde - und erschöpft. Sie wird sich einen starken Kaffee gemacht haben, mit Milch und zwei Löffeln Zucker. Süß muss er sein, denn das Leben war oft bitter genug zu ihr. Dazu wird sie eine Zigarette am Küchenfenster rauchen, denn ihr kleiner Sohn hat Asthma und in der übrigen Wohnung wird nicht geraucht. Was der Kleine wohl jetzt im Kindergarten treibt ? Nach den Sommerferien wird Marco eingeschult - mein Gott wie die Zeit vergangen ist! Noch eine Stunde, dann ist Annika im „Bereitschaftsdienst“, neun Stunden täglich, auf Abruf, freiberuflich. „Oh“, sie denken Sie ist Kosmetikerin, evtl. im Pflegedienst, Bedienung, Künstlerin oder Heilpraktikerin??? Gar nicht so schlecht geraten. Nun ja, Annika hat von jedem Talent etwas - nur sie ist Callgirl und fixiert auf Hausbesuche.
Sie ziehen erstaunt die Augenbrauen hoch? Tja, das habe ich auch getan, als sie es mir neulich erzählt hat. So ganz nebenbei, als wir mit ihrem Sohn an einem Sonntag Eis essen waren. „Eigentlich will ich den Job gar nicht mehr machen, aber Toms Geld reicht einfach vorne und hinten nicht mehr, seit ihm die Überstunden gestrichen wurden.“ Tom ist Annikas langjähriger Freund und arbeitet im Einzelhandel. „Was soll ich denn sonst nur machen“, klagt sie mir mit einem imposanten Augenaufschlag seufzend ihr Leid. „Ich habe doch nichts „Anständiges“ gelernt. Annika wurde von Tom schwanger, nachdem sie die dritte Lehre anfing. Bürokauffrau wollte sie werden...“Warum hat sie nichts zu Ende gebracht ?“, werden sie sich fragen. Ganz einfach - schuld war ihre Schönheit. Egal wo man mit Annika auch hin ging, die Männer waren allesamt ihren tiefblauen, strahlenden Katzenaugen verfallen. An guten Tagen vermochte man für Bruchteile von Sekunden in ihre Seele zu schauen, an schlechten Tagen war ihr Blick oft schreck geweitet und der Glanz erloschen. Sie war Südländerin, brünettes langes weiches lockiges Haar - und dann diese Augen!! Passend zum Körper, zierlich, vollbusig - graziös wie eine Katze - einfach perfekt.
Als Lehrling angefangen hatte sie im Lebensmittelgeschäft ihres Stiefvaters. Doch es gab dauernd Knatsch. Die Mutter war eifersüchtig auf die schöne Tochter gewesen und der Stiefvater hinter Annika her, wie der „Teufel hinter der Seele“. Nein, dort musste sie so schnell als möglich weg. Sie zog zur Max, ihrer Jugendliebe, der ihr eine Lehrstelle als Floristin im elterlichen Blumengeschäft vermitteln konnte. Annika liebte Max, aber weniger die Blumen. Sie hatte Ehrfurcht vor deren Schönheit, aber es beunruhigte sie, sie welken zu sehen. Soweit kam es erst gar nicht. Ein Kunde suchte sich die schönste Blume aus, SIE. Und wieder glaubte Annika an die große Liebe und das Glück.
Karsten kam aus Hamburg und war auf dem Weg zu seinen Eltern gewesen, als er an diesem besagten Blumengeschäft vorbeikam. Er betrat den Laden und hatte sich auf der Stelle angeblich unsterblich in Annika verknallt. Karsten war ein Mann von Welt gewesen, teure Designer Klamotten, gutes Benehmen, eine imposante Erscheinung - und zehn Jahre älter als sie. Er redete unaufhörlich davon, aus ihr ein Top Model machen zu wollen, er hätte schließlich in Hamburg genügend „Connections“. Sie wäre doch viel zu schön, um in einem Blumengeschäft bei geringer Bezahlung zu verrotten!
Die Kontakte waren tatsächlich zahlreich gewesen, nur zur Unterwelt und deren Treiben. Damals arbeitete sie das erste Mal für eine professionelle Begleitservice Agentur.
Und das versprochene „Modeln“ beschränkte sich auf das Private Dancing innerhalb einer lauschigen Ecke eines bekannten Etablissements auf der berühmten Meile.
Kokain, Schampus und viele „gute Freunde von Karsten“ taten ihr übriges, um aus der Schönheit vom Lande innerhalb eines Jahres ein Wrack zu machen.
Auch Tom war einer ihrer Kunden gewesen, aber ein anständiger Kerl und entpuppte sich zunächst als Retter der Prinzessin in Not. Heiraten wollten sie, eine „Familie“ gründen - alles sollte gut werden.
Es war auch eine Zeit lang schön gewesen, bis Tom anfing Schulden zu machen. Langsam aber schleichend türmten sich die Rechnungen für ein neues Auto, die Wohnungseinrichtung, usw. Annika hatte nebenbei eine Putz Stelle gefunden, aber das Geld reichte nur für das Essen. Der Urlaub in der Türkei war doch teurer gekommen als angenommen und Marco brauchte jetzt einen Schulranzen...sie wollten doch ein „normales Leben“ führen - wie alle anderen!
Gleich wird sie Top gestylt und wohlriechend aus dem Bad kommen. Das Essen hat sie für Tom und Marco trotzdem schon gekocht. All you need is Love.
“Körperlich und geistig sehr anstrengend sei dieser Job“, hat sie mir einmal erzählt. „Ich muss mich schließlich vorher auch entsprechend unterhalten können. Meine Gäste sind sehr anspruchsvoll. Und am nächsten Tag spüre ich je nach Gusto des Abends alle meine Knochen...“
„Hoffentlich kann sie wenigstens heute früher Feierabend machen“, denke ich und nehme auch einen Schluck Kaffee. - „Ja, das wünsche ich ihr von Herzen“.
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Texte: Bettina Alexandra Benzmann
Tag der Veröffentlichung: 21.10.2012
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