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Etwa vier- bis fünftausend Jahre vor unserer Zeit lebten in Europa die Pferde noch ausschließlich in freier Wildbahn. Auch in der Umgebung von Sevisi, einem Dorf an einem See, inmitten von weiten Wiesen, graste eine Herde solcher Wildpferde. Ein leichter, kühler Wind wehte über die Wiese und milderte die Sommersonne ein wenig ab.
An einer Eiche lehnten die etwa fünfzehnjährige Hediga und der gleichaltrige Manwer aus einem Nachbardorf. Sie trug ihre schwarzen Haare zu zwei Zöpfen geflochten, er ähnlich geflochten seine langen, blonden Haare. Diese Haare hingen über ihre langen, braunen Gewänder.
Er fragte sie:
„Bist du immer noch zuversichtlich, dass euer Häuptling unserer Heirat zustimmen wird?“
Sie erwiderte:
„Lass mich nur, mir ist dazu etwas eingefallen. – Sieh einmal, das Pferd dort hinten!“
Dabei zeigte sie auf einen bräunlichen Hengst, mit schwarzer Mähne. Dieser galoppierte in ihrer Nähe umher, hatte sich von seiner Herde abgesondert. Dann sprang er über einen umgestürzten Baumstamm und trat dabei ein paar Zweige platt.
„Auf dem müsste man doch weit genug springen können!“
„Was hast du vor?“, fragte Manwer hastig, worauf Hediga ihn bat:
„Gib mir bitte deine Axt!“
Er zuckte mit den Schultern und sah sie mit einem Stirnrunzeln an. Sie hielt hartnäckig ihre Hand offen; und da händigte er ihr seine Steinaxt, die er an einem ledernen Gürtel trug, aus.
Daraufhin rannte sie zu dem Pferd und schwang sich auf dessen Rücken.

So etwas hatte Manwer noch nie gesehen, sicherlich ebenso wenig irgendjemand sonst aus seinem oder ihrem Dorf!
Aber sie war die Tochter einer Heilkundigen und eines Händlers, hatte schon verschiedene Male heimlich mit Tieren gesprochen.
Das Pferd zeigte sich dann auch nur einen kurzen Moment irritiert, denn schon gleich legte Hediga ihm die Hand zwischen die Ohren und flüsterte ihm etwas zu.
Daraufhin setzte es sich in Bewegung, in Richtung des Sees.
Sie aber blieb nicht lange auf seinem Rücken, sondern schwang sich bald schon wieder herunter und gab Manwer seine Axt zurück, ohne sie benutzt zu haben. Stattdessen sagte sie:
„Ich werde dies noch öfter probieren!“

Ungefähr einen Monat später trafen sich die beiden erneut an der Eiche, die Spätsommersonne schien vom Himmel, und Hediga sagte:
„Im Laufe dieses Mondes bin ich mit dem Pferd immer besser zurechtgekommen. Also bitte gib mir nochmals deine Axt!“
Diese händigte er ihr diesmal ohne großes Zögern aus, und sie schwang sich weitaus eleganter als beim ersten Mal auf den Rücken des Pferdes, trug diesmal auch eine Hose aus Leder.
Sie beugte sich zum Kopf des Pferdes hinunter und zeigte in Richtung des Sees. Daraufhin galoppierte das Pferd in die gewünschte Richtung, bis sie am Ufer anlangten. Da zeigte Hediga auf einen Felsen im See, der höher als eine Armlänge und zudem sehr steil aus dem Wasser ragte, so dass niemand ihn schwimmend erklimmen konnte.
Nun lief das Pferd einen Kreis, sammelte sich kurz, galoppierte auf das Ufer zu und setzte mit einem weiten Sprung auf den Felsen im See!
Dieser war breit genug, so dass das Pferd auf ihm stehen konnte. Auf ihm wuchsen ein Brombeer- und ein Holunderstrauch. Die Brombeeren waren schon reif, die Holunderbeeren noch nicht ganz. Aber von beiden schnitt Hediga ein paar Zweige mit Früchten ab. Daraufhin gab sie dem Pferd zu verstehen, ins Wasser zu springen und zurück ans Ufer zu schwimmen.
Manwer hielt vor Staunen den Mund offen, als Hediga zu ihm zurückkehrte und ihm dankend seine Steinaxt zurückgab.
Und sie sagte:
„Jetzt wollen wir in mein Dorf gehen und meinem Stamm das Pferd und die Zweige zeigen!“

Das Dorf bestand aus einer Ansammlung von Holzhäusern, jeweils etwa so groß, dass eine fünf- bis zehnköpfige Familie darin leben konnte. Vor den Häusern ließen einige Bewohner neues Geschirrs trocknen, also hauptsächlich Becher, Vasen, Krüge und Töpfe aus Ton, verziert mit schnurartigen Linien.
Ungefähr in der Mitte des Dorfes befand sich ein Brunnen, um den sich die Dorfgemeinschaft nun versammelte.
In ihrer Mitte standen Kriel, der Häuptling, mit grauen Haaren und Vollbart, gekleidet in ein fein gewebtes Gewand, und Fidira, seine jüngere Gattin, mit blonden, zu einem Zopf geflochtenen Haaren. Der Häuptling sprach:
„Nein, ein Pferd können wir in unserem Dorf nicht dulden! Auch nicht, wenn du damit an die Beeren auf dem Felsen herankommst!“
Da sagte Hediga:
„Aber wir halten doch auch Schafe und Ziegen, sogar ein paar Rinder!“
Da fuhr der Häuptling fort:
„Schafe und Ziegen grasen auch einfach auf der Weide. Außerdem haben sie kleine Hufe. Und ein Rind bleibt ebenfalls meistens auf der Wiese. Aber ein Pferd würde uns doch unsere Töpfe zertreten, seht her!“
Er warf dem Pferd einen alten Topf hin, den sie nicht mehr brauchten. Das Pferd rührte sich aber nicht.
Jetzt warf Drosusul, ein Bauer mit krausem, schwarzem Haar und einem Ziegenbart, dem Pferd mehrere seiner Töpfe vor die Füße und ans Bein. Da stieg das Pferd auf die Hinterbeine und trat auf die Töpfe, die im Nu zerbrachen.
„Seht ihr!“, rief Drosusul aus. „Dieses Pferd soll von nun an ‚Topfzertreter‘ heißen! Vielleicht bringen die Scherben ja etwas Gutes, kann man vielleicht auch die Felder mit pflügen!“
Jetzt lief Hediga in die Hütte ihrer Familie, die schon eher am Rande des Dorfes lag und Platz für ungefähr sieben Personen bot. Bislang hatte ihre Mutter vier Kinder zur Welt gebracht, Hediga war die Älteste. Ihre zwei kleinen Brüder und ihre zwei jüngeren Schwestern spielten schon mit den Scherben, die das Pferd hinterlassen hatte.
Aus der Hütte holte sie zwei Stück Kupfer, die ihr Vater von einer seiner Handelsreisen mitgebracht hatte. Er hatte offenbar nicht viel dafür gegeben, denn die zwei Stücke waren irgendwie nicht gut bearbeitet, nur einigermaßen rund. Sie legte die Stücke dem Pferd zu Füßen und gab ihm etwas zu verstehen.
Daraufhin trat das Tier gleichzeitig mit beiden Vorderhufen auf je ein Stück Kupfer. Hediga ließ das Pferd zurücktreten und hob die zwei Kupferstücke auf, polierte sie kurz mit dem Ärmel ihres Oberteils und hielt sie hoch.
Nun waren die zwei Stücke ganz glatt getreten; und Fidira, die Häuptlingsfrau, rief aus:
„Das sind aber zwei schöne Armreifen – darf ich sie anprobieren?“
Hediga reichte sie ihr; und tatsächlich passten die Kupferreifen gut an die Arme der Häuptlingsfrau.
Diese warf ihrem Gatten einen Blick zu, worauf dieser sagte:
„Gut, so wollen wir das Pferd jetzt ‚Schmucktreter‘ nennen, möge es uns noch weitere Armreifen und anderen Schmuck in schöne Formen treten.
Du, Hediga, darfst das Pferd behalten, wenn du es hauptsächlich draußen auf der Weide grasen lässt!“
„Damit bin ich einverstanden!“, erwiderte Hediga lächelnd; und jetzt sprach der Häuptling zu ihren Eltern:
„Ihr, Runia und Wil, seid ihr jetzt damit einverstanden, wenn sich Hediga und Manwer verbinden?“
Runia, Hedigas Mutter, und Wil, ihr Vater, sahen einander an, nickten dann aber. Ihre Geschwister rannten umher und riefen schon aus:
„Hedi hat ein Pferd und einen Mann!“ „Sie hat sich verknallt!“ „Das gibt ein Fest!“ „Da bekommen wir alle was Schönes!“

Es ist zu hoffen, dass Hediga, Manwer und ihr Pferd Schmucktreter danach noch lange glücklich lebten, und dass nicht nur sie Kinder bekamen und diese heranwachsen sahen, sondern dass auch ihr Pferd viele Fohlen zeugte.


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Bildmaterialien: Fotolia
Tag der Veröffentlichung: 30.06.2012

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