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Die Krabbe Krabbelkrampf
Von Norbert Schimmelpfennig

Dort in der Ferne, in Richtung Strand, waren Menschen zu riechen, dachte sich die Krabbe und krabbelte seitwärts in diese Richtung.

Verlassen wirkte dieser Strand – das fanden Debbie und Robbie jedenfalls. Von ihren Eltern hatten sie sich jeweils losreißen können, als diese lieber in der Mittagssonne an dem vollbelegten Strand schliefen.
Hier befanden sich die beiden schon an der Nordseite der Insel, und ein kühler Wind wehte durch ihre mittellangen bis langen, blonden Haare und milderte das Stechen der Sonne ein wenig.
Am Strand war ein Schild mit einem roten Dreieck und einer Krabbe darin aufgestellt; doch dazu zuckten beide mit den Schultern und meinten:
„Ich habe gehört, diesen Strand meiden deshalb alle, weil man hier so leicht von Krabben gebissen wird!“
„Aber siehst du hier irgendwo eine, etwa dort auf dem Felsen?“
„Nein, nicht einmal dort!“
„Dann komm mit ins Wasser!“ rief Debbie und rannte los, stand alsbald schon bis zu den Knien im Nass.

Auf dem Meeresboden bewegte sich die Krabbe seitwärts in Richtung des Ufers. In ihrer eigenen Sprache grunzte sie:
„Ich bin die Krabbe Krabbelkrampf,
zu saft`gen Unterschenkeln sag ich: Mampf!“

Robbie folgte seiner Freundin, und beide fassten einander an den Händen und wateten noch ein Stück weiter, bis ihnen das Wasser bis zu den Hüften reichte. Hier verschnauften sie erst einmal, schauten über das Meer auf den Horizont in der Ferne, umarmten sich und fingen schließlich an, sich mit den Lippen zu berühren.

Die Krabbe Krabbelkrampf erblickte zwei Paar Unterschenkel, die ihr wirklich saftig vorkamen. Erst rieb sie noch ihre Scheren am Maul, dann aber beschleunigte sie ihr Krabbeln und biss nacheinander in diese Unterschenkel.
Debbie schrie kurz auf, und Robbie verzog die Lippen und stöhnte:
„Mich hat nicht nur was gebissen – aaah, ich krieg einen Krampf!“
Da knickte er ein und platschte ins Wasser, beinahe auf die Krabbe drauf. Diese konnte gerade noch zur Seite setzen.
Und sagte sich:
„Da muss ich nächstens besser aufpassen, wie es meine Eltern mir gesagt haben, sonst fällt noch einer wirklich auf mich drauf – und was habe ich da überhaupt getan? Saftig sahen diese Unterschenkel ja aus, schmeckten auch gut – aber zu töten brauchen wir diese großen Menschen nicht, haben die alten Krabben immer gesagt!“
Währenddessen fragte Debbie ihren Freund:
„Kannst du denn gehen, wenn ich dich ein wenig stütze?“
„Ja, das sollte möglich sein; dann kann ich mich am Strand hinsetzen und das Bein ausstrecken“, erwiderte er und legte einen Arm um ihren Hals. So wateten sie an den Strand zurück und setzten sich dort hin. Debbie betrachtete eine kleine Rötung an einem ihrer Unterschenkel, und Robbie streckte das verkrampfte Bein aus und zog den Fuß an den Zehen zu sich hin, worauf der Schmerz nachließ.

Die Krabbe dachte sich:
„Gleich beim ersten Mal passiert mir so etwas, wie es meine Eltern schon vorausgesagt haben, als ich aus dem Ei geschlüpft bin – so krampfhaft soll ich damals zum ersten Mal meine Scheren geöffnet haben.“
Aber was hatte nicht die alte Kraboma erzählt:
„Wenn du einmal Schuldgefühle haben solltest, nachdem du deine Scheren auf übertriebene Weise gegen Menschen benutzt hast, begib dich zum Herrscher des Magnesiumberges! Er könnte dir etwas schenken!“
Zumindest, wenn einem der Herrscher dieses Berges wohl gesonnen war – eine Art Mischung zwischen Meereszauberer, Hummer und Winkerkrabbe, so sagte man. Für Weibchen sollte es schon ein besonders angenehmes Erlebnis gewesen sein, mit ihm Nachkommen zu zeugen.

Der Weg zum Magnesiumberg war noch leicht zu finden. Doch war dieser Berg von einem ringförmigen Riff umgeben, mit einem Durchgang. Am Ende dieses Durchganges krabbelte ein Fangschreckenkrebs hin und her.
Auf diesen krabbelte Krabbelkrampf seitwärts zu, und er begrüßte sie:
„Willst du zum Magnesiumberg, gar zu seinem Herrscher? Dann sag mir, wer du bist und was du machst!“
Da sagte die Krabbe:
„Ich bin die Krabbe Krabbelkrampf,
zu Fangschreckkrebsen sag ich: Kampf!“

Jetzt boxte sie der Fangschreckenkrebs so stark, dass sie ein paar Meter weit flog.
Sie musste sich eines besseren besinnen – da entdeckte sie im Boden ein paar Löcher, die wie Schlote aussahen, aus denen es manchmal rauchte. Sie eilte nochmals auf den Krebs zu und sprach:
„Ich bin die Krabbe Krabbelkrampf,
zu stillen Schloten sag ich: Dampf!“

Da stieg aus einem Schlot in der Nähe des Krebses Rauch empor. Rasch krabbelte er darauf zu, sog den Rauch ein und sagte zu der Krabbe:
„Tut das wieder einmal gut – und du kannst jetzt passieren. Durch dieses Loch im Berg gelangst du zum Herrscher!“
Nach diesem Herrscher gelüstete es sie jetzt auch; und so krabbelte sie durch dieses Loch und anschließend seitwärts einen Gang entlang, der von einem immer stärker werdenden Schimmer erfüllt war, bis sie in eine Höhle gelangte. Die Wände dieser Höhle waren mit einer weiß bis grau glänzenden Schicht bedeckt, und von oben fiel durch ein Loch etwas Licht von der Meeresoberfläche herein.
Eine große Krabbe drehte sich zu ihr um – ein Männchen mit zwei übergroßen Scheren. Die eine Schere war so geformt, dass er dem Weibchen mit ihr winken konnte; die andere war zu einem Stab geschlossen, der schräg aufwärts nach vorne zeigte. Dazu erklärte er:
„Ich heiße Winkmagnes und bin der Herrscher dieses Berges. Mit dieser Zauberstabschere kann ich dir von Ferne so viel Magnesium heraus brechen, wie du tragen kannst, und außerdem dieses Magnesium aufladen, so dass es den Menschen alle Krämpfe heilt. Aber du musst mir erst etwas zu deinen Scheren sagen – etwas, was mir gefällt!“
Da musste die Krabbe nachdenken, bis ihr ein Spruch einfiel:
„Ich hab zwei Scheren,
die können jeden Feind abwehren!“

Der Herrscher winkte mit seiner Winkerschere ab, und sie musste nochmals überlegen. Nach einer Weile meinte sie:
„Ich hab zwei Scheren,
die werden jeden Krabbendreck wegkehren!“

Auch diesmal winkte der Herrscher ab, und sie musste weiter grübeln. Schließlich sagte sie:
„Meine zwei Scheren
können zwei Herrscher das Lieben lehren!“

„Ich werde dann auch nicht eifersüchtig werden!“ erklärte Winkmagnes und winkte Krabbelkrampf zu sich.
Er umarmte sie, und sie sogleich auch ihn.
Nachdem sie eine Weile einander genossen hatten, zielte der Herrscher mit seiner Zauberstabschere auf die Wände, brach einiges an Magnesium heraus und sprach zu der Krabbe:
„Von diesem Magnesium darfst du soviel mitnehmen, wie du in deinen Scheren mitführen kannst. Wenn du dann einen Menschen siehst, der einen Krampf im Bein erleidet, kannst du ihm mit der Schere dieses Magnesium injizieren.
Und wenn du dem Fangschreckenkrebs draußen auch etwas Rauch bescherst, kannst du jederzeit wieder zu mir kommen!“
Da stupste Krabbelkrampf ihn mit einer ihrer Scheren und eilte zu dem Magnesium hin, lud sich einiges davon auf ihre Scheren.

Am nächsten Tag krabbelte sie abermals zum Strand. Dort badete nun sogar eine Gruppe von fünf Menschen. Aber auch Krabbkrummi befand sich dort, ein junges Krabbenmännchen mit einer leicht gekrümmten Schere, mit welcher er Krabbelkrampf früher immer gezwickt hatte, sowie Krabbkranz, ein Weibchen mit einem kranzartigen Muster im Panzer. Beide kniffen die Menschen um die Wette, bevor diese sich wehren konnten.
Ein blonder, junger Mann, der in der Mitte dieser Menschen stand, erlitt nun sichtbar einen Krampf im Unterschenkel, und Krabbelkrampf eilte zu ihm hin.
Doch die schwarzhaarige Frau, der links neben ihm stand, stieß Krabbelkrampf mit einem heftigen Fußtritt fort. Deren zwei Artgenossen machten sich schon über sie lustig, indem sie ihre Scheren rieben, quasi klatschten.
Jetzt aber setzte Krabbelkrampf mit allen acht Beinen zu einem Sprung an, direkt auf die Unterschenkel des blonden Mannes zu, und klammerte sich kurz an diesen fest. Dieser kurze Moment genügte schon, um ihm ihr Magnesium zu injizieren. Anschließend ließ sie los und krabbelte rasch seitwärts ein Stück ins Meer zurück.

Die zwei anderen Krabben starrten sie nur an, während der blonde Mann ausrief:
„Ah, ist das jetzt ein angenehmes Gefühl in den Schenkeln!“
Die übrigen Menschen sahen zu ihm hin und zuckten mit den Schultern.

Die Krabbe Krabbelkrampf nahm sich vor, so etwas noch öfter zu machen, stolzierte jetzt aber erst einmal heimwärts.

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Texte: Cover-Fotos von Fotolia
Tag der Veröffentlichung: 22.09.2011

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