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Ein kalter Wind wehte vom Gebirge her, aber trotzdem musste der achtjährige Ali Wali mit seinem Vater noch einmal hinaus in die Nacht. Denn ein Schiff legte an, und es war zu erwarten, dass es ein paar Tiere aus Afrika mit sich führte.
Tatsächlich befand sich wieder ein Nashorn an Bord, das ins Gehege zu dem anderen Nashorn sollte, welches von einer früheren Fahrt stammte.
„Ein Weibchen diesmal, da wird sich das Männchen freuen!“ meinte der Kapitän.
Die beiden Nashörner verstanden sich sogleich gut, schnaubten und stampften vergnügt. Als der König am nächsten Morgen die beiden besichtigte, entschied er:
„Das Männchen habe ich damals Stampf-schnaub-schnaub-stampf genannt, und du Weibchen heißt ab jetzt Schnaub-stampf-stampf-schnaub!“
Etwa zwei Jahre später gebar das Weibchen ein Junges. Da klatschte der König entzückt in die Hände und sprach:
„Dich Kleines nenne ich Stämpfchen!“

Auch der jüngere Bruder des Königs zeigte sich interessiert an dem Nachwuchs, wenngleich auf andere Weise:
Sobald das Junge einige Zeit schon richtig laufen konnte, wurde seine Lust immer größer, es zu zähmen und anderen vorzuführen – eines seiner Hobbies. Dazu trat er eines Nachmittags mit einer Peitsche in das Gehege, lockte das Junge mit ein wenig Futter zu sich und streichelte es zunächst. Dann aber sollte es durch einen Reifen springen, den er ihm hinhielt – aber es wollte nicht.
Da wurde er wütend und schlug mit der Peitsche auf das Nashornjunge ein. Dies jedoch sahen dessen Eltern gar nicht gern, stürmten auf den Bruder des Königs los und schleuderten ihn in die Luft, wobei er sich das Genick brach.
Daraufhin befahl der König:
„Dies hätten die Nashörner nicht machen dürfen. Nun müsst ihr sie töten!“
„Aber wie nur, bei solch starken Tieren?“ fragten sich die Tierpfleger und sonstigen Bediensteten, bis ein Jäger auf die Idee kam:
„Wir können sie erst aushungern und dann eine Futterkrippe für sie hinstellen. Vor dieser Krippe aber können wir eine Falle ausheben, so tief, dass sie zu Tode stürzen, und diese Falle mit Blättern abdecken!“
So wurde es ausgeführt. Doch in der Nacht, bevor die Nashörner in die Falle stürzen sollten, schnitt Ali Wali ein Loch in den Zaun, führte das noch kleine Stämpfchen hindurch und sprach zu ihm:
„Deine Eltern kann ich leider nicht befreien, das würde zu sehr auffallen. Dich aber verstecke ich auf einem Schiff, das morgen nach Afrika ausläuft!“
Was dem Nashornjungen im Laufe der nächsten Zeit widerfuhr, kann in einer anderen Geschichte erzählt werden. Hier aber soll es weitergehen mit dem Königshof, an dem es zur Welt gekommen war.

Dort gingen zehn Jahre ins Land, Ali Wali wuchs zu einem jungen Mann mit schwarzen Locken und einem erfahrenen Schiffer heran, und ebenso wurden die Töchter des Königs erwachsen. Seine Söhne waren vorzeitig gestorben. Schiffe hatten inzwischen neue Tiere für die Gehege des Königs herangeschafft.

Zu eben dieser Zeit flogen über die weißen Dächer und Kuppeln der Stadt dicke Äste hinweg, die der Djinn eines Baumes aus einerm schwer zugänglichen Landstrich Afrikas losgeschickt hatte. Sie flogen schneller als alle bisher bekannten fliegenden Teppiche, und auf ihnen saß jeweils ein Leopard. Einer dieser Leoparden flog eines Nachts am Schlafgemach von Jamila, der ältesten Tochter des Königs, vorbei, ließ den Ast anhalten und sprang möglichst leise in das Gemach zu der schlafenden Prinzessin. Er nahm sie zwischen die Vorderbeine und sprang mit den Hinterbeinen zurück auf seinen Ast, wobei Jamila erwachte und laut aufschrie. Die Wachen konnten gerade noch erkennen, wie der Ast mit dem Leoparden und der Prinzessin davon flog, in Richtung Afrika.

Rasch wurde ein Kriegsrat einberufen. Mehmet, ein alter Ratgeber des Königs, hatte schon früher einmal von diesem Baumdjinn und dessen fliegenden Ästen gehört. Nachdem er ein paar alte Karten studiert hatte, konnte er den wahrscheinlichen Ort bestimmen, an dem sich die Prinzessin nun befinden musste. Allerdings war nie zuvor ein Mensch dorthin gelangt, soweit bekannt.
„Wer meine Tochter befreit, erhält sie zur Frau und wird mein Thronfolger!“
Ein paar erfahrene Krieger und Seefahrer erklärten sich sogleich bereit, dorthin aufzubrechen; aber auch an Ali Walis Tür klopften Mehmet und ein paar Begleiter und erzählten ihm von der Mission.
„Was soll ich dabei?“ fragte Ali, worauf Mehmet erwiderte:
„Wir haben für dich eine besondere Aufgabe, und eine Belohnung wird es dafür auch noch für dich geben!“
Da kam Ali Wali schon lieber dem Befehl nach, und am nächsten Morgen segelten sie los nach Afrika.

Ein kühler Wind blies sie alsbald in die richtige Richtung, und schließlich erblickten sie vor sich eine flache Küste. Allerdings waren dieser Küste überall, soweit man sehen konnte, Felsen vorgelagert. Einen Ankerplatz zu finden, schien unmöglich. Daher sprach der Kapitän zu Ali Wali:
„Wie wir gehört haben, hast du vor drei Jahren schon ein paar Erfahrungen mit solchen Küsten sammeln können. Deshalb haben wir dich mitgenommen, dein Vater ist schon zu gebrechlich für solch eine Reise. Also, fällt dir hierfür eine Lösung ein?“
Da schaute Ali über die Reling, besah sich die Szenerie unter Wasser genau. Schließlich drehte er sich zurück zu dem Kapitän und erklärte ihm:
„Dort hinten hat sich ein Korallen-Djinn niedergelassen, der mir durch Signale zu verstehen gegeben hat, dass er unseren Anker halten wolle und uns über den länglichen Fels dort hinten an Land gehen ließe, wenn wir aus diesem Gebiet keine Fische fangen!“
„Diese Bedingung können wir ihm erfüllen!“ erwiderte der Kapitän und befahl den Matrosen, den Anker zu werfen und das Schiff fest zu machen.
Anschließend marschierten sie über den Felsen an Land. Dort kamen ihnen ein paar Schwarze entgegen, von denen einer wie ein Häuptling und eine ältere Frau mit weißen Haaren wie eine Medizinfrau gekleidet war.
Sie boten den Ankömmlingen zu essen und zu trinken an, und dann erklärte ihnen der Häuptling, was einer der schwarzen Seeleute übersetzte:
„Auch wir wären froh, wenn ihr den Baumdjinn besiegen und seine Gefangenen befreien könntet, denn seine Leoparden haben uns ebenfalls schon heimgesucht. Daher werden unsere Krieger euch begleiten.“
Jetzt ergriff die Medizinfrau das Wort:
„Zuvor aber muss jemand das Schloss zu dem Verlies öffnen, und dies wird nur jemand von euch fertig bringen. Es soll ein spitzer Gegenstand dafür nötig sein, und wir haben nicht solche Waffen!“
Da zückten zwei der mitgereisten Krieger ihre Waffen: Kemal sein Schwert, und Hassan seinen Säbel.
Die Medizinfrau erklärte noch:
„Der Zugang zu diesem Verlies befindet sich an einem Abhang, der in einen Krater führt. Etwa auf halber Strecke müsst ihr Halt machen!“

Die Nacht verbrachten sie in den Strohhütten der Eingeborenen, und am nächsten Morgen brachen sie auf zum Krater.
Der Weg führte durch die Savanne, bis sich vor ihnen der Krater auftat. Ganz unten war er von einem See und Sümpfen ausgefüllt, und seine Wände waren mit viel Gebüsch bewachsen. Die Eingeborenen kannten jedoch einen schmalen Pfad hinunter, doch auch diesen mussten sie auf halbem Weg verlassen. Denn etwa hundert Schritte entfernt erblickten sie im Gebüsch eine Tür aus Eisen. Dorthin mussten sie sich nun durchschlagen, und ein paar Eingeborene gingen vor, um das Gebüsch nach Schlangen zu durchsuchen.
Der Weg war jedoch weitgehend harmlos, nur eine Mamba mussten sie fort schleudern.
So standen sie schließlich vor dieser Eisentür, in der sich ein Schloss befand, etwa so groß wie eine Hand. Kemal steckte sein Schwert hinein. Dieses passte auch in die Öffnung, es tat sich aber nichts. Offenbar war das Schloss gekrümmt, dies konnte Kemal ertasten.
Hassan versuchte es mit seinem krummen Säbel, doch auch dieser war nicht passend für das Schloss geformt.
Da mussten sich alle erst einmal ausruhen und auf bessere Einfälle hoffen.

Ali Wali sah ein Stück weiter unten einen gekrümmten Stoßzahn liegen, wollte diesen an sich nehmen, während alle anderen in der Hitze vor sich hin dösten oder gar schliefen.
Beim Abstieg jedoch geriet er ins Straucheln und rollte den Abhang hinunter, fiel schließlich noch eine Felswand hinunter, landete dann jedoch weich in einem sumpfigen Gelände.
Halb benommen versuchte er, sich zu erheben, konnte sich aber nur an die Felswand lehnen.
Da erblickte er vor sich ein Nashorn, das auf ihn zukam. Schlagartig wurde er wieder munter, versuchte sich aufzurichten. Das Nashorn aber sprach zu ihm:
„Du erinnerst dich sicher nicht mehr an mich?“
Ali runzelte die Stirn, woher sollte er hier ein Nashorn kennen? Da aber kam ihm ein Gedanke, und er fragte:
„Bist du vielleicht das kleine - ehemals kleine - Stämpfchen?“
„Ja, du hast es erfasst. Jetzt hör zu: Begib dich um Mitternacht mit einer Fackel zu der Tür mit dem Schloss! Jetzt steig auf meinen Kopf, ich heb dich hoch bis zu einem Pfad, auf dem du wieder nach oben gelangst. Du solltest dabei aber nicht nach unten sehen, der Pfad ist sehr steil. Hin und wieder lieber an den Büschen festhalten!“
Er verspürte auch gar keine Lust, nach unten zu sehen, zumal er hören konnte, wie das Nashorn bald zurück in den Sumpf trabte.
Immer wieder musste er verschnaufen und sich den Schweiß von der Stirn wischen. Schließlich aber gelangte er zurück zu seiner Gruppe, von der fast alle immer noch an einem schattigen Platz vor sich hin dösten. Dies tat auch er nun; und zum Glück plätscherte hier sogar ein Bach mit klarem Wasser den Abhang hinunter, an dem er seinen Durst stillen konnte.

Etwa um Mitternacht schlich er sich mit einer Fackel fort zu der Eisentür. Hier wartete Stämpfchen schon auf ihn und schob sein Horn ins Schloss.
Dieses sprang jetzt auf. Ali trat mit seiner Fackel hindurch, musste noch einen kurzen Gang durch die Erde gehen. Allerhand Wurzeln verliefen durch die Wände und den Boden.
„Pass auf, dass du auf keine Wurzel trittst, sonst könnte der Baumdjinn erwachen!“ schnaubte ihm das Nashorn zu.
Vorsichtig setzte er Fuß vor Fuß und gelangte schließlich in einen Raum, in dem Prinzessin Jamila sowie zwei weitere Prinzessinnen und drei schwarze Mädchen, offenbar Häuptlingstöchter, schliefen.
Er weckte sie und hielt den Zeigefinger vor den Mund. Jamila erkannte ihn, den einfachen Seemann, sogar und bedeutete den anderen Mädchen, dass alles in Ordnung war und sie ihm folgen sollten.
Eine von ihnen trat jedoch auf eine Wurzel. Da fing die Erde zu beben an, und sie mussten hinaus rennen. Draußen blitzte es, und ein Geist, der aussah wie ein grüner Pavian mit Wurzelfingern, schwebte in der Luft.
„Der Baumdjinn!“ rief Jamila aus, und sogleich waren die schwarzen Krieger hellwach. Ebenso die Medizinfrau, die mit ihnen gekommen war, weil sie nun ihren Zauberspruch aussprechen musste:
„Zurück in die Erde, Baumgeist!“
Sie schleuderte ihm eine Leopardenpranke entgegen und fuhr fort: „Meine Leoparden sind heute Nacht die stärksten! Dafür werden wir ein Jahr lang nicht in deinem Gebiet jagen!“
Der Baumdjinn entgegnete:
„Der Handel gilt, wenn sich auch die Leute von jenseits des Meeres daran halten!“
„Wir werden es ausrichten!“ erklärte der Kapitän, doch der Djinn drehte sich noch zu Ali Wali um:
„Dir gebürt nun eine der Prinzessinnen, da du sie befreit hast – dafür musst auch du darauf achten, dass die Abmachung eingehalten wird!“
„Dies werde ich tun!“ erwiderte Ali, und der Djinn verschwand.

Da kehrten alle erleichtert ins Dorf der Eingeborenen zurück, und am nächsten Tag wollten sie heimfahren und die übrigen Mädchen in ihre jeweilige Heimat zurückbringen.
Ali merkte, dass Stämpfchen ihnen in einiger Entfernung folgte und dann unweit des Dorfes graste. Am Abend ging er ihm entgegen und sagte zu ihm:
„Danke für deine Hilfe!“
„Das war dafür, dass auch du damals mir geholfen hast!“
„Was wirst du nun machen?“
„Gerne würde ich dich wieder einmal sehen. Aber von hier weggehen werde ich nicht, wo mich kein Leopard, kein Löwe, kein Krokodil und kein Mensch mehr angreift! Also, leb wohl!“
Dann trabte das Nashorn davon, und Ali begab sich ins Dorf zurück.

Daheim wurde er als Sieger gefeiert, der mit einer geheimnisvollen Macht verbündet zu sein schien. Jamila freute sich, mit ihm das Bett und später den Thron zu teilen, und beide fuhren später noch gerne zu Staatsgeschäften nach Afrika. Auch ihren Kindern und manchen weiteren Nachkommen vererbten sie dieses Fernweh.


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Texte: Cover-Foto von Fotolia
Tag der Veröffentlichung: 05.01.2011

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