Es ist noch gar nicht so viel Zeit verstrichen seit jenem stürmischen Abend, an welchem Minster, der Erziehungsminister des Königs Gipfelbert, in einer Kutsche mit dem neu geborenen Kronprinzen unterwegs war. Der König hatte seinem Sohn schon einmal die Berge zeigen wollen. Dabei entdeckte er einen so prächtigen Hirsch, dass er nicht widerstehen konnte, diesen zu jagen.
Dies konnte er an jenem Tag nicht mehr schaffen; das Kind musste allerdings schnell zu seiner Mutter und seiner Amme zurück. So hatte der König den Minister allein mit dem Prinzen in einer Kutsche zurückgeschickt.
Ein kühler Wind kam auf und nahm an Heftigkeit zu, bis er die Kutsche zum Schwanken brachte und diese schließlich auf dem morastigen Weg umkippte. Der Minister und der Kutscher konnten sich noch retten – das Kind jedoch rollte die Böschung hinab, und die beiden Männer konnten es nur noch tot bergen.
In seiner Verzweiflung vernahm Minster eine Frauenstimme, welche aus einer Teekanne zu kommen schien, die beim Umfallen der Kutsche zerbrochen war und deren Inhalt nun eine Pfütze bildete. Der Minister rieb sich die Augen, und die Stimme sprach weiter:
„Warte hier - ich bin die Fee aus eurem Hagebuttentee und werde dir helfen!“
Die Fee nahm eine rötliche, neblige Gestalt an und schwebte zu einem Dorf, in welchem gerade Zwillinge geboren worden waren, die dem toten Prinzen ziemlich ähnlich sahen. Als dort alle schliefen, nahm sie einen der Zwillinge mit sich und übergab ihn dem Minister. Das Tuch, in das er gewickelt war, nahm sie wieder mit sich und flog an einem Wolf vorbei, der gerade genüsslich speiste und dessen Maul daher blutig war. Sie rieb das Tuch an diesem Blut und flog mit dem Tuch in das Dorf zurück.
Zehn Jahre später standen die Bewohner dieses Dorfes unter einem blauen Himmel an der Straße, als der König das schöne Wetter für einen Jagdausflug in die Berge nutzen wollte, gemeinsam mit seinem Sohn, Prinz Bergrich. Hierzu hatte er Strudelhard, den König des Nachbarkönigreiches, eingeladen, welches nicht mehr am Fuße der Berge lag, sondern schon im Flachland, an einem großen Fluss. Dieser König hatte unter anderem seine Tochter, Prinzessin Flusswelda, mitgebracht, die genauso wie Prinz Bergrich zehn Jahre alt war.
Ebenfalls in diesem Alter befand sich Wolfschreck, ein Junge aus dem Dorf. Ursprünglich hatte dieser Junge einen Zwillingsbruder gehabt, welcher damals von einem Wolf gefressen wurde – vor diesem Jungen jedoch war der Wolf offenbar zurückgeschreckt.
Den beiden Königen gefiel die Aussicht in diesem Dorf so gut, dass sie hier nach der Jagd eine längere Rast halten wollten. Während die beiden sich gegenüber den Dorfbewohnern großzügig zeigten und mit ihnen einen Teil ihrer Jagdbeute teilten, zogen sich die Kinder bald zum Spielen zurück, auch Prinzessin Flusswelda und Prinz Bergrich. Dabei ließen sie gerne die strengen Benimmregeln außer Acht, die sonst an ihren Höfen herrschten, und luden auch den gleichaltrigen Wolfschreck zum Versteckspiel ein, der dem Prinzen erstaunlich ähnlich sah.
Die beiden Jungs entdeckten am Ende zufällig gleichzeitig die Prinzessin in ihrem Versteck unter einer Wurzel, und beide durften sie küssen – doch da kamen schon die beiden Könige hinzu, die zum Essen auch reichlich Bier getrunken hatten. Ein Lächeln konnten sie sich nicht verkneifen, gaben sich dann aber ernst, und König Gipfelbert meinte:
„Wir haben uns schon darauf geeinigt, dass Prinz Bergrich Prinzessin Flusswelda einmal zur Frau nehmen soll – aber wenn sich herausstellen sollte, dass Bergrich in Wahrheit gar nicht mein Sohn ist – dann sollst du Bauernjunge sie heiraten und eines Tages über unsere beiden Königreiche herrschen!“
Da meinte König Strudelhard lachend: „Einverstanden, die Wette gilt!“
Es vergingen weitere zehn Jahre, in denen es den beiden Königreichen zunächst gut ging – dann aber folgten ein milder Winter, in dem nur wenige Schädlinge starben, und ein trockenes Frühjahr. Die Ernte drohte mager zu werden; und zudem starb massenweise Vieh, das aus dem Fluss getrunken hatte, der durch beide Länder floss.
Da beriefen die Könige ihre Räte ein, und sie kamen überein:
„Ein Fluch muss über unseren Reichen liegen – vor allem über der Quelle des Flusses!“
„Man erzählt sich, Wölfe haben diese Quelle vergiftet!“
„Oder auch Ratten oder ein Erdrutsch – wie auch immer, es muss jemand dort hinauf!“
Dabei richteten sich aller Augen auf Prinz Bergrich, der nachdenklich zu Boden sah. Seine schulterlangen, braunen Haare fielen dabei vornüber, genau wie bei Prinzessin Flusswelda, deren Haare blond geblieben waren.
Schließlich aber sah der Prinz wieder auf und erklärte:
„Es muss in der Tat jemand dort hoch steigen – und dies wäre wirklich meine Aufgabe als künftiger Herrscher!“
Sein Vater klopfte ihm auf die Schulter und sprach:
„Du brauchst aber nicht allein zu gehen – dieser Wolfschreck aus dem Bergdorf, der jetzt ebenfalls so alt wie du sein muss, könnte sich gut als Mitkämpfer eignen, wenn er wirklich auf Wölfe eine so abschreckende Wirkung ausübt!“
Am Abend konnte Prinz Bergrich überhaupt nicht zur Ruhe kommen. Daher ließ er sich, wie er es schon seit Kindertagen immer wieder gerne tat, einen Hagebuttentee mit viel Honig zubereiten, der dann ganz süß schmeckte. Diesmal fühlte er sich dadurch nicht nur viel ruhiger, sondern meinte auch eine Stimme aus dem Tee zu vernehmen:
„Junge – oder vielmehr Prinz – mach dich morgen ganz beruhigt auf den Weg – du könntest eine Belohnung erhalten, mit der du nicht rechnest!“
Da schlummerte er doch noch im Nu ein.
Wolfschreck sah dem Prinzen immer noch erstaunlich ähnlich, auch wenn sein Gesicht im Laufe der Jahre stärker vom Wetter gegerbt war. Aber beide erkannten einander wieder und ritten über die Wiesen am Fluss entlang, welcher immer schmaler wurde, je höher sie kamen.
Schließlich gelangten sie an ein paar Felsen, die sie hochklettern und vor denen sie ihre Pferde zurücklassen mussten. Der Fluss schoss reißend unter ihnen entlang, aus einer schmalen Pforte am oberen Rand der Felsen. Vor dieser Pforte, also zwei dicht nebeneinander stehenden Felsen, staute sich sein Wasser. Hier oben erstreckte sich ein Wald, vor allem aus Tannen.
Neben dem Rauschen des Flusses vernahmen die beiden jungen Männer ein klopfendes Geräusch, welches von einem Specht herrührte, der nun auf sie zugeflogen kam und zu ihnen sprach:
„Ich bin der Specht Schlecht_über_recht,
ich sag zu allem: Echt-echt-echt!
Ihr Menschen, was macht ihr hier oben?“
Bergrich erwiderte:
„Wir suchen nach der Quelle des Flusses – hast du hier ein paar Wölfe gesehen?“
„Gewiss habe ich das“, entgegnete der Specht. „Ihr braucht nur noch ein bisschen weiter am Fluss entlang zu gehen!“
Wolfschreck stieß den Prinzen sanft in die Seite und flüsterte ihm zu:
„Hör nicht auf ihn – es ist bei uns im Dorf bekannt, dass dieser Specht zu allem Ja sagt und alle gern in die Irre führt!“
Da nahm Bergrich einen Schluck Tee aus der Feldflasche, die er sich umgebunden hatte, und hörte abermals die Stimme von neulich:
„Siehst du dort oben die zwei Tannen, mit dem einen und den zwei Zweigen?“
Bergrich hob den Kopf und entdeckte ein Stück flussaufwärts einen Wasserfall und darüber zwei seltsam geformte Tannen – eine von ihnen besaß nur einen Zweig, die andere zwei Zweige.
Die Stimme fuhr fort:
„Das sind meine zwei Schwestern – Feen wie ich. Zunächst müsst ihr die Felsen dort hochklettern und dann auf eine Person hören, die euch entgegen kommen wird!“
Nachdem die beiden jungen Männer auch diese Felsen erklommen hatten, fanden sie sich auf einer Anhöhe wieder, auf der ein frischer Wind ihnen durch die Haare strich und das Wasser des Flusses sich kräuseln ließ, welches aus einer nahegelegenen Höhle sprudelte. Zwischen ihnen und dieser Höhle standen die zwei Tannen sowie ein Hagebuttenstrauch, der wie ein Fünfeck geformt war.
Jetzt kam ihnen ein Mädchen entgegen, in zerlumpten Kleidern, mit schwarzen Haaren und einem Knollenblätterpilz auf der Nase, und sprach zu ihnen:
„Nun sind endlich wieder Menschen in das Reich meiner Mutter, der Quellenalb, gelangt!“
„Ich glaube, wir sind uns schon einmal im Wald begegnet!“ rief Wolfschreck aus, worauf das Mädchen fortfuhr:
„Ja, und du kannst es ruhig aussprechen: Als ich noch normal aussah! In der Zwischenzeit aber hat es meine Mutter etwas zu gut mit mir gemeint, ließ ein Klavier hierher fliegen und wollte mir von zwei Feen Unterricht erteilen lassen – ich aber fand den Unterricht so langweilig, dass ich aus dem Albenbuch meiner Mutter einen Zauber herausriss, der die zwei Feen verwandelte – nämlich eine von ihnen in die Tanne mit dem einen Zweig, wie eine Achtelnote, und die andere in die Tanne daneben mit den zwei Zweigen, genau wie eine Sechzehntelnote! Den Zettel, auf dem dieser Zauber geschrieben stand, warf ich anschließend in den Fluss - samt dem Zauber, der dies wieder hätte rückgängig machen können! Meine Mutter war darüber so verärgert, dass sie mir kurzerhand den Knollenblätterpilz auf die Nase zauberte und die Seite mit dem Gegenzauber ebenfalls in den Fluss warf. Seither jedoch ist sie so unglücklich, dass auch die Qualität des Quellwassers darunter leidet!“
Bergrich fragte:
„Kann man da als Mensch erst recht nichts mehr machen?“
Dem entgegnete das Mädchen:
„Doch – mir ist nämlich etwas von dem Text, den ich ins Wasser geworfen habe, noch in Erinnerung geblieben: Nämlich dass zwei Menschen jeweils einen Kreis aus Tannennadeln formen sollen – einen mit acht und einen mit sechzehn Ecken!“
Daraufhin machten sich die zwei Gefährten kurz entschlossen ans Werk, sammelten Tannennadeln vom Boden und zupften welche aus den Zweigen. Schließlich hatten sie genug beisammen, um die erforderlichen Kreise zu legen. Dabei waren sie so sehr in ihre Arbeit vertieft, dass sie nicht merkten, wie ein Unwetter heraufzog und ein Windstoß, kurz bevor sie fertig waren, sämtliche Nadeln fortwehte. Kurz darauf kam ein so heftiger Gewitterregen auf, dass sie sich in die nahegelegene Höhle verziehen mussten. Die Tochter der Alb war währenddessen spurlos verschwunden.
Hier in der Höhle setzte sich ein Mann mit einem langen, zerzausten Bart zu ihnen und erklärte:
„Ich könnte euch einen anderen Zauber verraten, der die Feen dort draußen erlöst – wenn ihr mir helft, mir also etwas gebt!“
Wolfschreck führte außer seiner, nicht mehr sehr sauberen, Bekleidung nichts bei sich. Bergrich hingegen streifte kurz entschlossen einen goldenen Ring von seinem Finger; und als ihn der bärtige Mann weiterhin flehend ansah, nahm er auch eine goldene Kette von seinem Hals und reichte sie dem Mann.
Doch dieser lachte laut auf und verschwand in den Tiefen der Höhle.
Wolfschreck meinte:
„Das war sicher ein Berggeist – einer von denen, denen man niemals trauen kann! Aber was soll es…“
Der hat gut reden, dachte sich der Prinz, wird noch nie viel besessen haben! Nun drehte er seinem Gefährten den Rücken zu und schaute ins Innere der Höhle.
Nach ein paar Donnerschlägen draußen verzog sich das Unwetter vorübergehend, ein Sonnenstrahl drang in die Höhle – und in seinen Schein trat eine Frau mit silbrigen Haaren und einem blauen Kleid, die zwei Steine in der Hand hielt. Einer dieser Steine war wie ein Adler geformt, der andere wie ein Wolf. Diese Frau sprach:
„Ich bin die Quellenalb und trage eine Mitschuld daran, dass es euch dort unten nun so schlecht geht – aber auch diese Steine können die Feen dort draußen wieder erlösen, und diese werden das Wasser dann wieder gesund machen. Vorher aber möchte dir die Fee aus dem Hagebuttentee noch etwas sagen!“
Bergrich trank wieder einen Schluck Tee – und vernahm erneut die Stimme der Fee, welche ihm zuflüsterte:
„Sobald du wieder zu Hause bist, musst du einen der Steine aus dem Schlossfenster werfen. Wenn du den Adler wählst, wird dieser nur eine meine Schwestern erlösen können und nichts weiter tun. Diese Schwester wird den Fluss alleine auch wieder sauber machen können, zumindest vorübergehend, für dieses Jahr. Du wirst dafür als Held dastehen und die Prinzessin Flusswelda zur Frau erhalten.
Der Wolf hingegen vermag beide Schwestern zu erlösen, und beide werden den Fluss dauerhaft heilen – der Wolf stellt dafür aber eine Bedingung: Er möchte im Schloss erscheinen und verkünden, dass er damals nicht Wolfschrecks Zwillingsbruder gefressen hat!
In Wahrheit bist du dieser Zwillingsbruder; der wahre Prinz ist bei einem Unfall ums Leben gekommen! Ich habe dich damals mitgenommen, dich an Minster, den Erziehungsminister, übergeben und es so aussehen lassen, als hätte dich ein Wolf gefressen!“
Alles drehte sich in Bergrichs Kopf. Die Quellenalb aber rief ihm und Wolfschreck zu:
„Rasch, nimm die Steine, und rennt zurück, ehe das Unwetter wiederkommt!“
Benommen nahm Bergrich die zwei Steine an sich; und in der Tat zogen draußen neue Gewitterwolken auf, so dass auch Wolfschreck zur Eile antrieb.
Unterwegs begegneten sie erneut dem Specht, der ihnen zurief:
„Nehmt den Stein mit meinem Bruder, dem Adler!“
Gerade noch rechtzeitig erreichten sie ihre Pferde und galoppierten vor dem Gewitter davon.
Zurück im Schloss vertraute sich der Prinz zunächst Minster, dem gealterten Erziehungsminister, an. Dieser erklärte ihm:
„Ja, es ist wahr: Du bist in Wahrheit ein Bauernsohn; und du kennst das Versprechen der Könige von damals – also überlege dir, was dir wie viel bedeutet!“
Das Mittagessen am nächsten Tag fand in gedrückter Stimmung statt. Schließlich stand Bergrich auf, trat ans Fenster – und warf den Stein in die Luft, der wie ein Wolf geformt war.
Da kam draußen ein frischer Wind aus Richtung der Berge auf, und im Saal erschien ein schon sehr alter Wolf, begleitet von drei Feen – zwei mit tannengrünen, die dritte mit hagebuttenroten Haaren.
Mit einer unerwartet klaren Stimme sprach der Wolf:
„Du hast dich richtig entschieden, Prinz – obwohl du von Geburt eigentlich keiner bist. Diese Fee mit den roten Haaren nahm dich damals aus deinem Dorf mit, als der wahre Prinz bei einem Unfall umgekommen war, und übergab dich Minster, dem Minister. Dann ließ sie es so aussehen, als hätte ich dich gefressen!“
Die Fee mit den hagebuttenroten Haaren fügte hinzu:
„Es ist wahr, was der Wolf erzählt hat! Diese Offenbarung musste sein, als Bedingung dafür, dass wir nun euren Fluss wieder gesund machen – zudem müsst auch ihr Könige euer Versprechen halten!“
So wurde bald die Hochzeit von Flusswelda und Wolfschreck gefeiert, während die Bauern doch noch eine gute Ernte einfuhren und das Leben in den zwei Ländern sich auch sonst gut erholte.
Bergrich beschloss, von nun an seinen richtigen Eltern auf deren Hof zu helfen.
Doch als er dort eintraf, erwartete ihn ein Mädchen, das ähnlich aussah wie die Tochter der Quellenalb - allerdings war der Knollenblätterpilz von ihrer Nase verschwunden; und sie trug ein sauberes, blaues Kleid sowie Hagebutten und drei kleine Tannenzweige in ihren schwarzen Haaren. Dem jungen Mann erklärte sie:
„Nach deiner Tat und der Erlösung der Feen hat auch meine Mutter wieder die Kraft gefunden, den Zauber an mir rückgängig zu machen, mit einem weiteren Spruch aus ihrem Buch, der vorher zu schwach gewesen war!
Außerdem hat sie den König, den du bisher für deinen Vater gehalten hast, überredet – als Gegenleistung für künftig immerwährende Fruchtbarkeit – diesen Teil seines Reiches abzutreten – an sie oder, wenn du an meiner Seite sein möchtest, gleich an uns beide! Ich heiße übrigens Tannhagi!“
Noch ehe Bergrich etwas erwidern konnte, jubelten schon die Dorfbewohner:
„Hoch leben unsere Königin und unser König!“
So wurde bald auch in den Bergen Hochzeit gefeiert; und wenn die vier nicht gestorben sind, herrschen heute noch Flusswelda und Wolfschreck in ihrem Reich am sauberen Unterlauf des Flusses, genau wie Tannhagi und Bergrich an dessen Oberlauf und Quelle.
Tag der Veröffentlichung: 01.08.2009
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