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Leseprobe

Tyron Tailor

Die geworfene Münze

Historischer Roman

Impressum

Texte © Copyright 2019 by Tyron Tailor

c/o Bianca Kronsteiner, impressumservice.net,

Robert-Preußler-Straße 13 / TOP 1 5020 Salzburg AT – Österreich

tyrontailor755@gmail.com

Lektorat/Korrektorat: Sarah Schemske, www.buecherschmiede.net

Umschlaggestaltung: Buchcoverdesign.de/Chris Gilcher/http://buchcoverdesign.de

Bildmaterialien für die Umschlaggestaltung:

Medieval knight with lady on the sunset background/stock.adobe.com/de/237647282/Diter

Caravan of camels in Sahara desert, Morocco/stock.adobe.com/de/222919367/Frenta

Old medieval nautical Europe map/stock.adobe.com/de/234410804/Andrey Kuzmin

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Alle Rechte vorbehalten.

Kapitelverzeichnis

Prolog

Kapitel 1: Genesis

Kapitel 2: Die Reise nach Ulm

Kapitel 3: Auf dem Fluss ohne Wiederkehr

Kapitel 4: Der Mönch, der Bischof und der fahrende Sänger

Kapitel 5: Unterwegs nach Venedig

Kapitel 6: Gläserne Löwen und fliegende Schweine

Kapitel 7: Die Galeere der Verdammten

Kapitel 8: Divide et impera

Kapitel 9: Im Olymp der sterblichen Götter

Kapitel 10: Der Weg der Toten

Kapitel 11: Die Bettelmönche und der auferstandene Apostel

Kapitel 12: Die düstere Wahrheit hinter dem Schleier

Kapitel 13: Jerusalem und der rätselhafte Sarazene

Kapitel 14: Meuterei auf der Seeschwalbe

Kapitel 15: Der kindliche König

Kapitel 16: Omnia vincit amor

Kapitel 17: Gottes minderer Knecht

Kapitel 18: Auf dem Pfad der Könige und Kaiser

Kapitel 19: Die Würfel fallen

Kapitel 20: Schuld und Sühne

Epilog

Quellenverzeichnis

Personenregister

Sachwortverzeichnis

Prolog

Herzogtum Schwaben

Frühjahr 1202

Der Morgen war kühl und die Luft feucht. Unterhalb der Burg in einer von Wäldern umsäumten Talsenke des Schwarzwaldes lag das Dorf Wartenbach. Das gleichnamige Rinnsal, das es durchfloss, teilte es in zwei Hälften. Nebel hüllte die Hütten der Bauern in einen milchigen Schleier, den die Strahlen der aufgehenden Sonne nicht zu durchdringen vermochten.

Eilig stieg die sechzehnjährige Isabeau von Lunéville mit geschürztem Gewand die Stufen des Bergfrieds der Burg empor. Wirre Gedanken gingen ihr durch den Kopf. Erst vor wenigen Tagen hatte sie Graf Lothar das Jawort gegeben. Sein engster Freund, Robert von Cléry, hatte sie zum Altar geführt, weil ihr Vater nicht mehr lebte. Eine zärtliche Berührung oder ein Kuss Lothars waren ihr bisher versagt geblieben. Hatte er es aus Liebe getan oder nur Mitleid gezeigt? Andererseits, wer nahm eine mittellose Edelfrau zur Gemahlin? Zeit, ihn näher kennenzulernen, blieb ihr nicht, da er zu einer langen Reise aufbrach und sie in der Obhut seines Bruders zurückließ. Lothar hatte ihr am gestrigen Abend erklärt, er folge dem Appell des Papstes, der zum Kreuzzug gegen die Heiden aufgerufen hatte, um Jerusalem zurückzuerobern.

Sie hielt kurz inne, um zu verschnaufen. Seine merkwürdigen Worte kamen ihr wieder in den Sinn. Nun werde ein neues Heer die Sarazenen das Fürchten lehren. Als ein Teil dieses Heers wolle er im Heiligen Land die Gabe Gottes finden und um Vergebung einer alten Schuld bitten. Die Gabe Gottes? Eine Schuld begleichen? Was meinte er damit? Robert von Cléry war schon am Vortag losgeritten, um seine fränkischen Ritter zu sammeln. In Ulm würden sie sich treffen und gemeinsam nach Osten aufbrechen.

Sie setzte ihren Aufstieg fort. Mit gemischten Gefühlen dachte sie an den Abschied zurück. Eine flüchtige Umarmung nach dem Morgenmahl. Das war alles gewesen. Dann entschwand er ihren Blicken. Das Herz verkrampfte sich in ihrer Brust, da sie nicht wusste, was allein aus ihr werden sollte. Falls er nicht im Kampf fiele oder an einer Seuche stürbe, war seine Rückkehr erst in mehreren Jahren zu erwarten. Obwohl Bertram von Olm, einer seiner Vertrauten, ihr geschworen hatte, nicht ohne ihn zurückzukehren, tröstete sie das wenig, denn mit Mitte dreißig stand Lothar bereits im Herbst des Lebens.

Endlich war sie oben auf den Zinnen angekommen. Wehmütig schaute sie hinunter ins Tal. Doch ihren Gemahl entdeckte sie nicht. Er war mit seinem Schildknappen Arno von Rain und einer Handvoll ergebener Gefolgsleute schon im Dunst verschwunden. Dieser hatte die Reiterschar förmlich verschluckt und gab sie nicht mehr frei.

Für Isabeau blieb die Zukunft ungewiss. Sie war undurchschaubar wie der Nebel unten im Tal.

Kapitel 1

Genesis

Herbst 1203

Kampflärm und Geschrei drangen in die Schmiede des jungen Matthias, die sich am Rande Wartenbachs befand. Er ahnte, dass Waffenknechte Otto von Braumschweigs das Dorf überfallen hatten, der in Fehde mit Philipp von Schwaben stand. Beide stritten um den Thron, nachdem Kaiser Heinrich, der sechste seines Namens, bereits Jahre zuvor verstorben war. Schon einmal waren die Bauern von Ottos Plünderern heimgesucht worden. Doch heute schienen sie Widerstand zu leisten.

Mit einer glühenden Eisenstange bewaffnet, die er aus dem Kohlefeuer gezogen hatte, rannte er ins Freie. Seine Augen sahen brennende Hütten und das entstellte Gesicht seines erschlagenen Nachbarn. Beherzt stellte er sich einem Reiter entgegen, der eine alte Frau bedrängte. Der holte mit der Streitaxt aus und rief: »Nimm dies, schwäbischer Bauernlümmel!« Doch Matthias wich dem Hieb aus. Entschlossen stieß er dem Pferd den heißen Stahl in die Flanke. Das Tier bäumte sich auf, stellte sich auf die Hinterfüße und warf den Ritter ab. Durch die schwere Rüstung kam er nicht wieder auf die Beine. Er wälzte sich am Boden wie ein hilfloser Käfer, der auf den Rücken gefallen war. Während der Schmied dessen Gezappel reglos zuschaute, rammte ihm ein wütender Bauer die Spitzen einer Mistgabel durch den Sehschlitz des Helms. Der Todeskampf währte nur kurz, dann blieb er regungslos im Schmutz liegen.

Matthias blickte sich um. Überall herrschte Chaos. Die Dorfbewohner kämpften nicht nur um ihr Hab und Gut, sondern auch um ihr Leben. Ihre Gegenwehr stachelte die Mordlust der Angreifer weiter an. Lange würden sie ihnen nicht mehr standhalten können, denn deren Schwertern und Bögen hatten sie nur Sensen und Sicheln entgegenzusetzen. Pfeile flogen durch die Luft. Er hörte ihr Pfeifen in den Ohren, als sie ihn verfehlten. Ein Bauer, der neben ihm stand, hatte weniger Glück. Ihn traf es in die Brust und den Hals. Blutströme liefen ihm aus dem Mund, als er seinen Schmerz hinausschrie und zusammenbrach. Der neuerliche Anblick des Sterbens, des am Boden liegenden Mannes, entsetzte Matthias. Schnell suchte er Schutz hinter einem Bretterverschlag, in dem die Schweine seines toten Nachbarn quiekten. Als er nach einer Weile vorsichtig um die Ecke lugte, bemerkte er, dass sich die Dorfbewohner in den nahen Wald zurückzogen. Die Waffenknechte folgten ihnen. Zurück blieb ein gebrandschatztes Dorf mit vielen abgeschlachteten Menschen. Eine trügerische Stille trat ein. Plötzlich schoss ihm ein beängstigender Gedanke durch den Kopf: Agnes.

Seine sechsjährige Tochter war kurz vor dem Überfall zum Bach in der Mitte des Ortes gelaufen, um frisches Wasser zu schöpfen. Er begann, sie zu suchen, vorbei an lodernden Gehöften und Heuschobern. Als er sie nicht fand, wurde er von einer namenlosen Angst gepackt. Das Mädchen war alles, was ihm nach dem frühen Tod seiner Frau und seines Sohnes geblieben war.

Sein Blick fiel zum Bachufer. Ihm stockte der Atem. Unter einer alten Weide sah er Agnes liegen. Sie rührte sich nicht. Schlimmes ahnend rannte er zu ihr. Sie atmete noch, aber der Stachel des Todes hatte sie verletzt. Der Bolzen einer Armbrust steckte in ihrem Rücken. Matthias befürchtete, nun auch das Letzte, was er liebte, für immer zu verlieren. »Allmächtiger, womit habe ich das verdient?«, wehklagte er und blickte zum Himmel.

Er hob das Mädchen vom Boden auf und trug sie zu seiner Hütte gleich neben der Schmiede. Beide waren wie durch ein Wunder von den Flammen verschont geblieben. Behutsam legte er sie wegen der Wunde seitlich auf ihre Liegestatt. Für einen Moment öffnete sie die Augen. Furcht und Schmerz standen in ihnen geschrieben. »Es wird alles gut, mein Herzblut. Es wird alles gut«, sprach er beruhigend auf sie ein, worauf sie erneut in Ohnmacht fiel.

Bevor sie wieder erwachte, musste er die Zeit nutzen, um ihr den Bolzen aus dem Rücken zu entfernen. Vorsichtig streifte er ihr zerrissenes Kleidchen ab. Dann nahm er ein Messer in die Hand und vergrößerte mit zwei Schnitten die Eintrittswunde. Seinen Widerwillen und die Angst überwindend, zog er den Schaft samt Spitze heraus. Obwohl sie nicht bei Sinnen war, krümmte sich ihr kleiner Leib unter der Qual. Ein erbarmungswürdiger Anblick, der Matthias das Herz einschnürte. Um die Blutung zu stillen, umwickelte er die verletzte Stelle mit einem Tuch aus Leinen. Da er nichts weiter für sie tun konnte, beschloss er, Hilfe zu holen. Allein auf Gott wollte er nicht vertrauen. An wen sollte er sich wenden?

»Geht es ihr schlecht?«, fragte eine Stimme an der Tür.

Matthias wandte sich um. Es war Andreas, der Besenbinder des Dorfes – sein Freund und Beschützer, seit er im Kindesalter Vater und Mutter unter rätselhaften Umständen verloren hatte. Er musste sich vor den Waffenknechten versteckt haben.

»Sie benötigt dringend die Hilfe einer Heilerin, sonst wird sie sterben. Ein Bolzen hat sie getroffen.«

Andreas erfasste die Situation mit einem Blick und reagierte sofort. »Lauf hinauf zur Burg. Im Dienst der Gräfin steht eine kundige Kräuterfrau.«

»Ich habe kein Geld! Womit soll ich sie bezahlen?«, rief Matthias verzweifelt.

»Ich hörte, sie sei sehr freigiebig und helfe auch ohne Lohn. Nun geh schon zu ihr. Ich wache solange am Krankenbett deiner Tochter.«

»Das kann ich dir niemals vergelten.« Dankbar umarmte er seinen Freund, dann machte er sich auf den Weg, nicht ohne noch einen sorgenvollen Blick auf seine kleine Tochter zu werfen. Die Hoffnung, seiner Tochter womöglich das Leben retten zu können, beschleunigte seine Schritte.

Nach einer Weile erreichte er das Burgtor, vor dem ein Wachposten stand. Mit Helm, Harnisch und Lanze bewehrt musterte er Matthias mit misstrauischem Blick. Drohend streckte er ihm die Spitze seiner Waffe entgegen.

»Was willst du, Schmied? Burgvogt Rudolf hat dich nicht rufen lassen.«

»Habt ihr nicht erfahren, dass eine bewaffnete Reiterschar unser Dorf überfallen hat? Hütten brennen. Viele Bewohner erlitten den Tod. Meine Tochter ist schwer verletzt. Sie benötigt dringend die Hilfe der Heilerin, sonst stirbt sie«, flehte er den Wächter an.

»Was geht’s mich an? Scher dich fort«, erwiderte er teilnahmslos.

»Graf Lothar ist unser Grundherr. Doch er ist in die Fremde gezogen. Ist seine Gemahlin nicht verpflichtet, für den Schutz des Dorfes zu sorgen? Weshalb bezahlen wir sonst so hohe Steuern?«

»Willst du mich etwa belehren, Höriger? Sei froh, dass ihr die Äcker bearbeiten und auf Lothars Land frei leben dürft. Oder willst du lieber zum Kriegsdienst herangezogen werden?«

»Lügner! Wir zahlen Abgaben und müssen Frondienste leisten. Nicht einmal heiraten dürfen wir ohne Erlaubnis. Das soll Freiheit sein?«, erwiderte Matthias aufgebracht.

»Es ist die gottgewollte Ordnung. Finde dich damit ab. Verschwinde und kehre erst zurück, wenn du gebraucht wirst.« Grob stieß er dem Schmied das untere Ende der Lanze vor die Brust, sodass er taumelnd zurück wankte.

»Und meine Tochter? Sie wird sterben!«, rief Matthias verzweifelt.

»Denkst du, die Herrschaft hat nichts Wichtigeres zu tun? Graf Lothar kämpft im Heiligen Land gegen die Heiden und solange verwaltet sein Bruder Rudolf die Besitztümer. Bete zum Heiland. Vielleicht erhört er dich und lässt deine Tochter wieder gesunden. Jetzt geh mir aus den Augen oder ich ramme dir das spitze Ende ins Gedärm.«

Gepeinigt von Wut und Kummer um das Schicksal von Agnes sprang Matthias dem Gegner an die Gurgel, rang ihn zu Boden und rannte durch das offene Tor in den Burghof.

»Elender Hundsfott!«, brüllte ihm der überrumpelte Wächter hinterher, rappelte sich auf und blies in ein Signalhorn.

Binnen Sekunden sah sich Matthias von mehreren Waffenknechten umzingelt. »Ich will euch nichts Böses tun!«, schrie er seinen Seelenschmerz aus sich heraus. »Ich suche die Heilerin! Meine Tochter liegt im Sterben!«

Ein Mann im edlen Gewand und mit hochmütig blickenden Augen näherte sich dem Schmied. »Ich hatte gehofft, die Strauchdiebe des Braunschweigers würden dir den Garaus machen. Leider ist das nicht geschehen. Egal, ein Strick, der dich ins Jenseits befördert, lässt sich allemal finden«, sagte er höhnisch und schlug ihm einen hölzernen Streitkolben über den Kopf. Ohnmächtig sank Matthias zu Boden.

***

Es war früher Morgen. Von draußen drangen laute Rufe in Isabeaus Gemach. Verschlafen rieb sie sich die Augen, erhob sich von ihrer Schlafstatt und blickte aus dem geöffneten Fenster. Der Himmel war wolkenverhangen. Kalter Wind strich ihr über das Gesicht und ließ sie frösteln. Unten im Burghof tanzten die ersten von den Bäumen gefallenen Blätter über den mit Pfützen bedeckten Boden. Mehrere Wachmänner hatten sich um einen Gefangenen geschart. Sie stellten ihn auf ein Holzfass und legten ihm ein Seil um den Hals, dessen Ende an einem Balken über dem Torweg festgeknüpft war. Isabeau stutzte. Von einer Hinrichtung war ihr nichts bekannt. Diese entspräche auch nicht dem geltenden Recht. Eilends, bevor die Hinrichtung vollstreckt werden konnte, zog sie ein Gewand über und lief die Stufen zum Hof hinunter.

»Was tut Ihr, haltet ein!«, rief die junge Frau aufgebracht.

»Wir hängen einen Hörigen aus dem Dorf. Er schlich sich unbemerkt herein, um zu stehlen. Das Urteil hat der Burgvogt bereits gestern gefällt«, erwiderte der alte Konrad, der die Wache anführte. »Kehrt lieber in Eure warme Kemenate zurück. Es ist kühl heute. Außerdem ist der Anblick des Hängens nichts für eine junge Gräfin.«

»Ein solches Urteil auszusprechen ist Rudolf nicht befugt!«, entgegnete sie energisch. »Die Blutgerichtsbarkeit untersteht allein dem Herzog von Schwaben. Daher befehle ich, ihm den Strick abzunehmen. Und bei Gott, holt ihn endlich von dem Fass herunter. Ich möchte mit ihm sprechen.«

Ihr entschlossenes Auftreten zeigte Wirkung. Gehorsam zogen sie den jungen Mann vom Fass herunter. Vor ihren Füßen zwangen sie ihn auf die Knie.

»Erhebe dich! Sprich, weshalb wolltest du mich bestehlen?«, fragte Isabeau streng. Neugierig wartete sie auf seine Antwort.

Der Gefangene, dem die Furcht vor dem nahen Tod noch ins Gesicht geschrieben stand, erzählte mit gesenkten Augen eine andere Geschichte. »Ich bin kein Dieb, Herrin. Ich bin der Schmied aus dem Dorf. Erst letzte Woche habe ich für Euch am Torhaus neue Gitter angebracht. Die alten waren durchgerostet. Mein Name lautet Matthias und ich kam hierher, um Hilfe zu erbitten. Gestern haben bewaffnete Reiter Wartenbach überfallen. Mordend und brennend sind sie durchs Dorf gezogen. Meine Tochter traf ein Bolzen in den Rücken. Sie liegt im Sterben. Die Heilerin wollte ich aufsuchen, doch die Torwache ließ mich nicht zu ihr. Da verlor ich die Geduld und betrat ohne Erlaubnis die Burg. Bitte verzeiht mir meinen Ungehorsam, aber meine kleine Agnes ist alles, was mir von meiner Familie geblieben ist.«

»Schau mir ins Gesicht«, befahl Isabeau. Sie blickte den Schmied mit den verschlissenen Kleidern durchdringend an. In den blauen Augen des jungen Mannes zeigte sich keine Tücke. Seine kurzen, dunklen Haare waren wirr und mit Blut verklebt. Offenbar hatte Rudolf bei dessen Ergreifung nicht mit Schlägen gespart. »Ich glaube dir. Du darfst nach Hause gehen und dich um deine Tochter kümmern. Die Heilerin wird dich begleiten. Sie wird ihr Möglichstes tun, um dem kranken Mädchen zu helfen. Ruft Melisande!«

»Das wird Rudolf nicht gutheißen, wenn er aus Göppingen zurückkehrt«, warnte Konrad, der hinter ihr stand. »Er hat den Tod des Schmieds ausdrücklich befohlen, weil er es wagte, mit Gewalt in die Burg einzudringen. Ein solcher Verstoß darf nicht ungesühnt bleiben. Andere könnten es ihm gleichtun.«

»Was treibt meinen Schwager nach Göppingen?«

Konrad, dem nachgesagt wurde, er wäre beinahe siebzig, wand sich um eine Antwort. »Er wollte der Burg Hohenstaufen einen Besuch abstatten. König Philipp hält dort Hof. Es geht um einen Handel. Genaues hat er mir nicht darüber erzählt.«

Isabeau spürte, dass er nur die halbe Wahrheit preisgab. »Eigenartig, er hat mir gegenüber sein Ansinnen mit keinem Wort erwähnt. Wie dem auch sei, auch er muss sich an die geltenden Gesetze halten. Er hätte den Schmied zu zehn Hieben mit der Knute verurteilen können. Damit wäre dessen Dreistigkeit genüge getan worden. Seit mein Gemahl ins Heilige Land auszog, gebärdet er sich, als sei er der Graf von Wartenstein.«

Als Melisande mit einem Weidenkorb auf der Schulter bei ihnen eintraf, berichtete ihr Isabeau von dem Unglück, das der Tochter des Schmieds widerfahren war. Sie nickte verstehend. Matthias senkte dankbar sein Haupt, bevor er mit der Heilerin die Burg verließ. War er eben dem Tode noch nahe gewesen, spürte Isabeau in dem jungen Mann wieder Hoffnung aufkeimen.

Isabeau wandte sich ab und kehrte in ihre Gemächer zurück. Dabei streifte ihr Blick die Männer der Burgwache. Der Ausdruck in ihren Mienen war vieldeutig. Eine Mischung aus Erstaunen, Widerspruch und sogar Feindseligkeit. Was ging in ihnen vor? Ein beunruhigendes Gefühl überkam sie.

***

Die ärmliche Hütte, die er und seine Tochter teilten, schreckte die Heilerin nicht ab. Auch der beißende Geruch des aufsteigenden Rauchs über der Feuerstelle störte sie nicht. Matthias vermutete, dass der weißhaarigen, betagten Frau der Anblick von Elend nicht unbekannt war.

Andreas begrüßte beide mit großer Erleichterung. »Über Nacht hat Agnes Fieber bekommen. Ich wusste nicht, was ich tun sollte«, sprach er.

Melisande eilte zu der mit Blutflecken übersäten Schlafstatt des Kindes, die aus einem einfachen Brettergestell und mit Stroh gefüllten Säcken bestand. Die Brust der Kleinen hob und senkte sich in rascher Folge, doch sie atmete nur flach. Gesicht und Leib bedeckten unzählige Schweißperlen. Die Heilerin legte die Hand auf Agnes’ Stirn. Sorgenfalten zogen sich um ihren Mund. »Die Kleine ist glühend heiß«, stellte sie fest und begann das Mädchen näher zu untersuchen. Als sie die Wunde in ihrem Rücken betrachtete, legte sich ein Schatten über ihr Antlitz.

Augenblicklich erfasste Matthias große Angst. »Wird sie wieder gesund?«, fragte er. Seine bangen Worte schnürten ihm beinahe die Kehle zu, als hinge noch immer der Galgenstrick um seinen Hals.

Melisande schüttelte traurig den Kopf. »Leider vermag ich ihr nicht zu helfen. Es tut mir leid für dich, aber sie wird den neuen Tag nicht erleben.«

»Herrgott im Himmel erbarme dich! Wieso muss sie sterben? Ich sah schon schlimmere Wunden als diese. Sie verheilten und alles war wieder gut«, rief er ungläubig. Verzweifelt hoffte er, sie würde sagen: »Ich habe mich geirrt. Schon in einer Woche wird sie wieder mit anderen Kindern um die Wette über den Bach springen.«

»Der Bolzen hat ihren schmächtigen Leib inwendig tief verletzt«, versuchte Melisande ihm behutsam zu erklären. »Nach jedem Atemzug tritt Blut vermischt mit Luft schäumend aus dem Wundmal aus. Sie wird langsam ersticken. Wenn Gott gnädig ist, setzt zuvor ihr Herz aus.«

Mein Zicklein wird sterben. Mich allein lassen in einer ungerechten Welt. Was ist mein Leben ohne sie noch wert, dachte Matthias. Vor Kummer brach er zusammen. Andreas musste ihn stützen, sonst wäre er zu Boden gefallen.

Die Heilerin richtete Agnes auf. Dann griff sie in ihren Korb und brachte eine gläserne Phiole mit einer wässrigen Lösung zum Vorschein, die sie dem Kind in den Mund träufelte. Agnes schluckte sie hinunter, ohne die Augen zu öffnen.

»Was war in dem Fläschchen? Wasser?«, fragte Andreas, der die Prozedur mit offenem Mund verfolgt hatte.

»Nein. Es handelt sich um ein Elixier, das Schmerzen lindert. Es besteht aus Wein und einem Saft, der aus den Blüten des Schlafmohns gewonnen wird. Ein Kaufmann aus Konstantinopel hat es mir verkauft. Jener wiederum erwarb es von einem Händler aus Persien, wo diese Pflanze wächst.«

»Persien? Den Namen habe ich noch nie gehört. Wo liegt dieses Land?«

»Am anderen Ende der Welt«, erwiderte sie und ließ das Mädchen wieder zurück auf die Lagerstatt sinken. Dann wandte sie sich an Matthias. »Sei getrost, deine Tochter wird keinen Schmerz verspüren, wenn der Herr sie zu sich ruft. Wo ist ihre Mutter?«

»Sie starb vor Jahren zusammen mit meinem Sohn bei dessen Geburt, weil ich kein Geld besaß, um den Medikus bezahlen zu können. Er musste diese Welt verlassen, bevor er imstande war, die Augen zu öffnen. Ich begreife nicht, warum ich all diese Strafen erdulden muss. Ich bin ein gottesfürchtiger Mensch«, seufzte Matthias und begann zu weinen.

»Keiner, der auf Erden wandelt, kann sagen, warum der Allmächtige dem einen das Glück des Reichtums beschert und dem anderen die Bürde der Armut auferlegt«, tröstete ihn Melisande. »Niemandem wird die Kenntnis zuteil, warum ein alter Mann viele Jahre an einem Gebrechen siechen muss, obwohl er lieber sterben würde, und dagegen ein neugeborenes Kind nicht einmal den ersten Tag überlebt. Gottes Willen zu deuten vermögen wir nicht. Aber sei dir gewiss, dass deine Frau und dein Sohn zu dessen Seite sitzen. Der Himmel hat sie aufgenommen. Ihre Seelen sind befreit von ihren irdischen Hüllen. Auch deine Tochter wird bald unter ihnen weilen. Das sollte dir in deiner schweren Stunde ein Trost sein.«

Mit tränengeröteten Augen blickte er auf. »Hab Dank für deine Hilfe, auch wenn du sie nicht zu retten vermagst. Dass sie in ihren letzten Stunden kein Leid ertragen muss, schmälert meinen Kummer. Trotzdem verliert mit ihrem Tod mein Leben seinen Sinn. Vielleicht sollte ich ihr nachfolgen, um mich von den Gedanken, die mich quälen, zu befreien.«

Andreas blickte ihn entsetzt an. »Bist du von Sinnen? Versündige dich nicht. Du wirst sonst auf ewig in der Hölle schmoren«, warnte er.

»Erlebe ich nicht schon die Hölle auf Erden? Wieso sollte ich dann Angst vor ihr haben?«, fragte Matthias trotzig.

»Hör auf deinen Freund. Bring den Mut und die Kraft auf, dich der Trauer zu stellen, dann wird die Zeit alle Wunden heilen.« Mitfühlend drückte sie ihm die Hand. Im Glanz ihrer Augen vereinten sich Güte und ein wacher Geist. »Das Leben ist wie eine geworfene Münze, sagt ein altes Sprichwort. Solange sie fällt, ist das Schicksal unbestimmt. Du bist jung. Eines Tages läuft dir das Glück vielleicht noch über den Weg«, gab Melisande dem verzweifelten Mann zu bedenken und verließ die Hütte.

»Lass mich mit meiner Tochter allein«, sagte Matthias tonlos. Als sein Freund sich nicht rührte, fügte er hinzu: »Du musst keine Angst um mich haben. Ich werde mir nichts antun, obwohl mein Schmerz unerträglich sein wird, wenn Agnes mich verlässt«, versprach Matthias und legte sich neben sein Kind.

Als Andreas die Hütte verlassen hatte, kamen dem Schmied leise die alten Weisen über die Lippen, mit denen er seine Tochter oft in den Schlaf gesungen hatte.

***

Mit schnellen Schritten kam jemand die Stufen zu Isabeaus Gemächern heraufgestiegen und riss unaufgefordert die Tür auf. Erschrocken sah sie von ihrer Stickereiarbeit auf. Es war Rudolf von Wartenstein. Die Haare ihres fünfunddreißigjährigen Schwagers waren zerzaust und ungepflegt. Schmutz bedeckte sein Gesicht von der Stirn bis zum spitzen Kinn. Er musste stundenlang geritten sein, da ihr der Schweißgeruch seines Pferdes in die Nase stieg.

Drohend baute er sich vor ihr auf. »Wagt es nicht noch einmal, meine Befehle zu widerrufen. Ihr könntet es bitter bereuen«, warnte er sie mit finsterem Blick, bei dem ihr beinahe das Herz stehen blieb.

»Was maßt Ihr Euch an, Rudolf! Ich bin die Herrin auf Burg Wartenstein. Ich bestimme, ob jemand bestraft wird oder nicht.«

Ihr Schwager lachte höhnisch. »Ab heute nicht mehr, meine Liebe.«

»Ich bin nicht Eure Liebe. Was soll dieses unflätige Benehmen? Besitzt Ihr keinen Anstand mehr? Ich bin die Gemahlin Eures Bruders, der Euer Herr ist. Er trägt den Grafentitel, nicht Ihr!«, rief Isabeau zornig.

»Nicht mehr lange«, erwiderte er grinsend. Derb ergriff er ihre Arme und zog ihren Leib an den seinen. Der Schmerz ließ sie aufschreien, was ihn aber nicht dazu bewegte, sie loszulassen. Seine Augen bohrten sich stechend in die ihren, während seinem Mund bei jedem Atemzug der Geruch abgestandenen Weines entströmte. Angeekelt wandte sie den Kopf zur Seite.

»Wir sind unter uns. Lassen wir die Förmlichkeiten. Sieh mich an, du kleines Hurenstück, und höre!«, hallten seine Worte durch die Kemenate. »Graf Lothar, mein geliebter Bruder, ist in der Fremde gestorben!«

 Die junge Frau erschauerte. »Das ist eine Lüge. Es kann nur eine Lüge sein. Wer hat sie dir eingeflüstert und warum?«

»Die Vögel haben es mir von den Bäumen gezwitschert«, behauptete er und verfiel in schallendes Gelächter. Plötzlich hielt er inne und meinte todernst: »Unser König, Philipp von Schwaben, hat meinen Bruder für tot erklärt, da er seit achtzehn Monaten kein Lebenszeichen von sich gegeben hat. Die Aufsicht über die Grafschaft hat er mir übertragen. Zum Dank legte ich vor ihm den Treueeid ab. Otto von Braunschweig ist von nun an mein Feind. Nach einer kurzen Zeit der Trauer nehme ich dich zur Frau und der Grafentitel geht auf mich über. Du wirst mir kräftige und gesunde Nachkommen schenken, um die Erbfolge für mein Geschlecht zu sichern.«

Isabeau glaubte, einen Albtraum zu erleben. Aber der Schmerz in ihren Armen, die Rudolf fest umklammert hielt, ließ sie fühlen, dass sie hellwach war. »Niemals werde ich Eure Frau. Eher springe ich vom Bergfried in den Abgrund«, entgegnete sie verächtlich.

»Oh, das werde ich zu verhindern wissen, mein Liebchen«, erwiderte er und versuchte sie zu küssen.

Verzweifelt begann sie sich zu wehren. »Haltet gefälligst Abstand von mir. Ich bin keine Dirne«, rief sie empört und versuchte, sich von ihm loszureißen, um seinen wollüstigen Berührungen zu entgehen.

Ihr Widerstand erregte den Lüstling noch mehr. Ungezügelt griff er ihr unter die Tunika.

 Plötzlich gab Isabeau ihren Widerstand auf. Hass stand ihr ins Gesicht geschrieben. »Wenn Ihr mich nicht sofort loslasst, wird alle Welt von Eurem ehrlosen Verhalten erfahren. Das schwöre ich. Eine Edelfrau zu schänden wird Euch bei König Philipp keinen Vorteil bringen. Er könnte seine Entscheidung überdenken«, drohte sie.

»Wer würde dir schon glauben«, sagte Rudolf abfällig und gab sie frei. »Du bist die letzte Überlebende des Hauses Lunéville, einer Dynastie von Verrätern, Todgeweihten und Hungerleidern. Ich könnte dich sofort nehmen und mir gefügig machen, wenn ich es wollte. Niemand würde dir zu Hilfe eilen. Die Burgwache ist mir treu ergeben. Willige in die Ehe ein und du wirst in Wohlstand leben, als Gräfin an meiner Seite. Andernfalls nehme ich dein Angebot dankbar an und stoße dich höchstselbst vom Bergfried in die Tiefe. Das wäre ein bedauerlicher Unfall. König Philipp würde dann von mir verlangen, eine andere Edelfrau zu heiraten. Entscheide dich also. Die Gelegenheit gebe ich dir. Konrad!«, rief er aus dem Fenster hinunter in den Burghof.

Kurz darauf erschien der Anführer der Burgwache in der Tür. »Ihr habt mich gerufen, Herr.«

»Wirf sie in den Kerker, wo es am feuchtesten und kältesten ist. Dort bleibt sie, ohne Essen und ohne Wasser, bis sie sich eines Besseren besinnt.«

»Ja, Herr. Alles wird geschehen, wie Ihr es befohlen habt«, erwiderte er und nahm die sprachlose Isabeau in Gewahrsam. Dann führte er die sich Sträubende hinunter ins Verlies.

***

Die Sonne schickte ihre ersten Strahlen über das Dorf. Matthias lag neben seiner Tochter auf der Schlafstatt und hielt ihre kleinen Hände in den seinen umschlossen. Die vergangene Nacht hatte er neben ihr gewacht, gebetet und auf ein Wunder gehofft. Aber ihr schmächtiger Leib war dem hohen Fieber nicht gewachsen und in den letzten Stunden immer schwächer geworden. Er ahnte, was bald kommen würde. Vor dem Augenblick des Abschieds hatte er große Furcht.

Die Bilder glücklicher Tage ihres kurzen Lebens liefen in seinem Kopf an ihm vorüber: Der Tag, an dem sie geboren wurde und der Tag, an dem sie ihre ersten Schritte tat. Zusammen mit ihrer Mutter am Wartenbach, um Krebse zu fangen. Fröhliches Gekreische, wenn sie mit ihren Scheren zukniffen. Freude am Herumtollen und Schabernack treiben. Auch leidvolle Erinnerungen drangen in sein Bewusstsein. Der Tod ihrer Mutter und ihres neugeborenen Bruders in derselben Stunde war ein Ereignis gewesen, das Agnes niemals überwunden hatte. Damals erstarb ihr unbeschwertes Lachen. Ihre kindliche Seele musste früh den Ernst des Lebens kennenlernen. Das erfahrene Leid und die bittere Armut, in der sie beide lebten, hatten ihren Preis gefordert.

»Vater, mir fröstelt. Ist der Winter schon nahe?«, hauchte Agnes plötzlich mit schwacher Stimme und öffnete die Augen. Sie blickten Matthias glasig an. Ihre Pupillen waren riesengroß. Wahrscheinlich durchlebte sie einen Wachtraum und wusste nicht, wo sie sich befand.

»Wir sind in unserer Hütte, mein Kätzchen. Es ist nicht kalt. Draußen scheint die Sonne. Die Bäume wiegen sich sanft im Wind und die Vögel auf den Zweigen singen für dich ein liebliches Lied«, hauchte er leise.

»Wo sind sie, die Vögel? Ich kann sie nicht sehen. Es wird so dunkel …«

Abrupt erstarb ihre Stimme. Sie hatte aufgehört zu atmen. Erschrocken legte Matthias den Kopf auf ihre Brust, um zu lauschen, ob ihr kleines Herz noch schlug. Stille umfing ihn. Da wusste er, dass Agnes heimgegangen war, und die Trauer über den Verlust seines Kindes brach aus ihm heraus.

***

Drei Tage später begrub Matthias im Beisein von Andreas seine Tochter auf dem Gottesacker am Rande der Siedlung. Sie fand unter einer alten Eiche neben ihrer Mutter und ihrem Bruder die letzte Ruhe. Ihr Körper war in ein grobes Leinentuch eingehüllt und mit Herbstblumen geschmückt, als er ihn der Erde übergab. Hartwig, ein betagter Mönch, der in einer Hütte nahe dem Gräberfeld lebte, und sich der Armut verschrieben hatte, sprach ein Gebet und flehte den Allmächtigen um den Schutz ihrer unschuldigen Seele an.

In die Schmiede zurückgekehrt, klagte Matthias über sein Leid und schlug wie ein Besessener mit dem Hammer auf den Amboss, bis ihm die Kräfte versagten. Die Wut und die Trauer in seinem Inneren bahnten sich ihren Weg nach außen.

Am Abend kam Andreas zu Besuch, um ihm ein wenig Halt zu geben. »Eine Magd der Wartensteiner hat heute ausposaunt, der Burgvogt hätte die junge Gräfin ins Verlies sperren lassen«, berichtete er.

Erstaunt hob Matthias seinen gramgebeugten Kopf. »Ist die Welt verrückt geworden? Sie ist die Herrin und er der Diener.«

»Die Spatzen pfeifen von den Zinnen der Burg, du wärst der Grund dafür.«

»Ich bin bloß ein Höriger. Was kann ich mit ihr zu schaffen haben?«

Sein Freund kratzte sich nachdenklich am Kinn. »Nun ja, sie hat dich vor dem Galgen bewahrt. Du hast es mir selbst erzählt. Rudolf soll erzürnt gewesen sein, dass sie dich laufen ließ. Außerdem weigert sie sich, ihn zu heiraten.«

»Ihn heiraten? So ein Unsinn. Warum sollte sie das tun? Sie ist bereits mit Graf Lothar die Ehe eingegangen. Mit beiden Wartensteinern kann sie schlecht das Bett teilen. Das ist gottlos«, meinte Matthias kopfschüttelnd.

»Angeblich soll Lothar tot sein. Der Burgvogt will mit seiner Schwägerin die Ehe eingehen, um den Grafentitel zu erben. Bis jetzt beißt er bei ihr auf Stein, weshalb er sie im Kerker schmachten lässt.«

Matthias war über die Kenntnisse des Freundes verblüfft. »Sag mal, woher weißt du das alles?«

»Von der Heilerin Melisande. Sie kam mit der Magd ins Dorf und hat mir ihr Leid geklagt.«

»Einerlei, die Händel der Wartensteiner gehen uns nichts an«, erwiderte Matthias gleichgültig. »Wir sind Hörige und sollten uns aus ihren Streitigkeiten heraushalten. Das bringt nur Unglück über uns einfache Menschen.«

»Und die Gräfin? Ohne sie wärst du nicht mehr am Leben. Du stehst bei ihr in der Schuld.«

»Für diese Gnade bin ich ihr keinen Dank schuldig. Sie ist mir eine Last, die mein Dasein zur Qual macht. Ich wäre lieber tot als lebendig«, antwortete er mit tränenerstickter Stimme.

Der Besenbinder legte ihm tröstend den Arm um die Schulter. »So darfst du nicht reden, Matthias. Du musst Demut zeigen. Bei allem erfahrenen Leid hatte deine Tochter zumindest das Glück, in deinen Armen sterben zu dürfen, statt allein und ohne väterlichen Beistand. Das war ihr gewiss ein Trost. Nun wandelt sie im Paradies bei deinen anderen Lieben. Aber die Zeit, Agnes dorthin zu folgen, ist für dich noch nicht gekommen. Du bist noch keine fünfundzwanzig und musst nach vorn schauen. Überdies solltest du dich vor dem Burgvogt in Acht nehmen. Wenn er deiner wieder habhaft wird, kann dir niemand mehr helfen. Denk in Ruhe über alles nach. Du wirst sicherlich das Richtige tun«, sprach er ihm ins Gewissen. Doch Matthias schwieg nur und starrte die Wand an. Für einen Moment verharrte Andreas grübelnd, dann verließ er seufzend die Hütte.

***

Am nächsten Morgen, als Matthias die Augen aufschlug, fiel sein Blick zuerst auf die leere Schlafstatt seiner Tochter. Sofort nagte wieder die Trauer an seiner Seele. Getrieben von tiefer Sehnsucht besuchte er ihr Grab, wo er sich niederließ und seine Erinnerungen wachrief. Dann zog es ihn zur Hütte zurück. Er griff nach einem Ziegenbalg, füllte ihn am Bach mit Wasser und klaubte das wenige Essbare zusammen, das er besaß. Aus der Schmiede holte er einen Hammer, eine Feile und eine Schere und packte sie mit der Wegzehrung in einen Beutel. Werkzeuge, die er in der Not als Waffe nutzen konnte. Ein unerklärliches Gefühl lockte ihn hinauf zur Burg, wo die Gräfin im Kerker schmachtete.

Um die Mittagsstunde erreichte er sein Ziel. Er verließ den Pfad, der zum Torhaus führte, und schritt die nördliche Außenmauer ab. Nach einer Weile hörte er nicht weit entfernt einen markerschütternden Schrei und den harten Aufschlag eines Körpers. Mit Herzklopfen bahnte er sich einen Weg durch die dicht gewachsenen Büsche. Entsetzen erfasste ihn. Unterhalb des Bergfrieds lag der zerschmetterte Leib einer alten Frau. Schnell rannte Matthias zu ihr – es war Melisande. Sie lebte noch, war allerdings nicht in der Lage, sich zu bewegen.

»Was ist geschehen?«, fragte Matthias erschüttert.

»Es war der Burgvogt. Er stieß mich von den Zinnen««, hauchte sie unter Schmerzen, während ihr Blut aus Nase und Mund rann.

»Ich hörte, Lothar sei verstorben und Rudolf wolle die Gräfin zur Frau nehmen, um dessen Erbe anzutreten. Hast du diesem gottlosen Strolch im Weg gestanden? Ich würde dir gern helfen, aber ich bin kein Medikus. Was kann ich tun?«

»Nichts. Für mich ist es zu spät«, antwortete sie mit schwacher Stimme. »Doch nicht für Isabeau … Lothar ist nicht tot. Das ist eine Lüge. Isabeau sitzt im Verlies, weil sie Rudolf verabscheut.«

»Das Schicksal ist oft grausam«, erwiderte Matthias karg. Da ihn ihre Worte nicht berührten, wurde ihm bewusst, wie wenig ihn Isabeaus Unglück kümmerte. Eigentlich entsprach das nicht seinem Wesen, denn für die Leidgeprüften hatte er stets ein offenes Herz gehabt. Unterdrückte die tiefe Trauer über den Verlust seiner Tochter seine Fähigkeit, Mitgefühl für andere zu empfinden? Warum hatte er sich dann auf den Weg zur Burg gemacht? Eine Frage, auf die er keine Antwort fand.

»Rette und beschütze sie mit deinem Leben. Du bist es … ihr schuldig, denn sie bewahrte dich vor dem Galgen«, forderte Melisande mit letzter Kraft.

»Mein Leben? Agnes, meine Tochter, ist heimgegangen zu ihrem Bruder und ihrer Mutter. Meine gesamte Familie habe ich verloren. Ich fühle nur Leere in mir. Was für ein Dasein soll das sein? Kaum eines, wofür ich der Gräfin dankbar bin.«

Die Heilerin krallte verzweifelt ihre Hände in sein Wams. »Ich bitte dich in Gottes Namen, lass mein Lämmchen nicht zugrunde gehen. Ich holte sie auf die Welt und stand ihr immer zur Seite. Jetzt, da ich sterbe, bleibt sie schutzlos allein auf dieser Welt … Du bist ein guter Mensch. Steh ihr bei. Gegenüber … auf der anderen Seite der Burg … klafft verborgen hinter Büschen ein enges Loch in der Mauer. Es dient zum Entwässern und führt hinunter zum Verlies.« Erschöpft hielt sie inne. Ihr Atem ging schwer.

Matthias ahnte, dass Melisande dem Tode nahe war. Sollte er ihrer Bitte entsprechen und die Gräfin aus Rudolfs Krallen entreißen? Wenn er es tat, dann aus Mitleid um ihr bitteres Los, nicht aus Dankbarkeit. Die empfand er nicht.

»Schwöre es mir«, flehte die Heilerin.

»Also gut. Ich schwöre es.«

»Beeide es beim Seelenheil deiner verstorbenen Tochter«, flüsterte sie kaum hörbar.

»Ich schwöre es beim Seelenheil meiner Tochter«, willigte er ein.

Der qualvolle Ausdruck in Melisandes Antlitz löste sich. Zufriedenheit lag auf ihrem Gesicht, als ihre Seele die zerstörte Hülle verließ.

Matthias, der für sie ein Gebet murmelte, vernahm einen schallenden Ruf. »Sucht weiter! Hier in der Nähe muss sie liegen!« Die Stimme gehörte Rudolf von Wartenstein. Eilends verschwand Matthias geduckt zwischen den Büschen und schlich zur gegenüberliegenden Seite der Burg, zu der Stelle, die ihm die Heilerin beschrieben hatte.

Nach einer Weile hatte er die Öffnung in der Mauer, die in die Tiefe führen sollte, entdeckt. Um hineinzugelangen, musste er ein Hindernis überwinden. Zwei Gitterstäbe versperrten ihm den Zugang. Allerdings nagte seit Langem der Rost an ihnen. Er nahm den Hammer zur Hand und schlug auf sie ein, worauf sie in kleine Stücke zerbröselten. Rotbrauner Staub lag in der Luft, den er bitter auf der Zunge schmeckte. Nachdem dieser sich verzogen hatte, steckte er den Hammer zurück in den Beutel und schlüpfte hinein in die Dunkelheit.

Der Stollen war schmal. Ein Mann seiner Statur passte auf allen vieren kriechend gerade so hindurch. Sich über feuchtes Gestein tastend, fand er sich wenig später in einem mit Pechfackeln beleuchteten Gewölbe wieder, das er sofort wiedererkannte – es war das Verlies. Hier hatte ihn der Burgvogt erst vor wenigen Tagen eingesperrt. Gewöhnlich war es den Bauern vorbehalten, die mit ihren Abgaben im Rückstand lagen. Nun erlitt an dem düsteren Ort eine Gräfin ihre Not: Melisandes Lämmchen. Matthias erinnerte sich an Isabeaus Aussehen nur vage. Während ihrer ersten Begegnung vor wenigen Tagen hatte er sie kurz angeschaut, nachdem sie es ihm befohlen hatte. Ansonsten hatte ein Höriger die Augen vor seiner Herrin untertänig zu senken. Diesmal, nahm er sich vor, würde er genauer hinsehen.

Wachen bemerkte er nicht. Die vergitterten Zellen, an denen er vorüberging, waren sämtlich leer. Erst die letzte beherbergte die Edelfrau. Ihm zeigte sich ein Bild des Elends. Es berührte sein Herz, von dem er zuvor noch geglaubt hatte, es habe sich in Stein verwandelt. Erleichtert, das Gefühl des Mitleids nicht ganz verloren zu haben, nahm er sie näher in Augenschein. Sie war blutjung, beinahe noch ein Mädchen. Obwohl ihr Gesicht Ruß und Schmutz bedeckten, gab es eine anmutige Schönheit preis, mit hellblauen Augen und langen blonden Haaren, die allerdings, wie ihr ganzer Leib, eines dringenden Bades bedurften. Während ihrer Begegnung im Burghof hatte seine Gedanken allein der nahe Tod beherrscht. Er war wie ein undurchdringlicher Nebel zwischen sie getreten. Nun offenbarte sich ihm ihre Gestalt, trotz der Entbehrungen im Kerker liebreizend und elfengleich.

Isabeau, die seine Gegenwart nicht bemerkte, kniete auf den kalten Boden, als er sie ansprach. »Herrin!«

Erschrocken blickte sie ihn an und wich zurück. Wie ein scheues Reh drückte sie ihren schmalen Leib an die Mauer hinter ihrem Rücken. »Wer bist du? Was willst du von mir?«, fragte sie ängstlich.

»Erkennt Ihr mich nicht? Ich bin es, Matthias, der Schmied aus dem Dorf. Ich komme, um Euch zu befreien«, erwiderte er.

»Du willst mich befreien? Wieso?«

»Habt Ihr es vergessen? Eure Gnade hat mich vor dem Galgen bewahrt. Ihr habt mir das Leben geschenkt. Außerdem schwor ich, Euch zu beschützen.«

»Ihr habt einen Eid abgelegt, mir beizustehen?«

Er spürte ihre Verwirrung. Vermutlich verstand sie nicht, weshalb ein Höriger aus freien Stücken so etwas auf sich nahm.

»Ich versprach Melisande beim Seelenheil meiner verstorbenen Tochter, Euch zu retten und mit meinem Leben für Euer Wohl einzustehen. Verstoße ich dagegen, versündige ich mich.«

»Melisande? Wo befindet sie sich? Bring mich zu ihr!«, forderte sie.

Schmerzvoll nahm er zur Kenntnis, dass sie über den Tod seiner Tochter einfach hinweggegangen war. Andererseits, wer war er schon in ihren Augen. Ein Höriger, der vor ihr den Nacken beugen musste. »Sie kann Euch nicht mehr zu Diensten sein, Herrin. Burgvogt Rudolf hat sie von den Zinnen des Bergfrieds gestoßen. Ich fand sie am Fuß der Burgmauer in ihrem Blut liegen. Mit letzter Kraft rang sie mir das Versprechen ab, Euch nicht allein zu lassen. Sie starb in meinen Armen«, eröffnete er ihr.

Die junge Frau begann zu weinen.

Matthias fühlte sich hilflos. Sollte er sie trösten? Stand ihm das überhaupt zu? Tränen rannen ihr über die Wangen und benetzten das löchrige Büßerhemd, das man ihr übergestreift hatte. Die standesgemäßen Gewänder hatte ihr der Burgvogt sicherlich entrissen, um sie zu demütigen. Als Isabeau sich von ihm abwandte und ihr Gesicht verzweifelt in den Händen vergrub, fiel ihm ein langer Riss in ihrem Kleid auf. Er verriet, dass ihr Rücken mit Wundmalen bedeckt war, die von Rutenschlägen herrührten. Offenbar wurde sie gezüchtigt, um sie gefügig zu machen.

Während Isabeau ihr Schicksal beweinte, holte Matthias die Feile aus dem Beutel und versuchte, eine Gitterstrebe durchzutrennen. Zuweilen hielt er inne und horchte, ob ein Wächter sich näherte. Aber er blieb ungestört. Keiner ließ sich im Kerker blicken. Nach einer Weile hatte er es geschafft und drückte mit seinen kräftigen Händen das lose Ende zur Seite. Die entstandene Lücke war zum Durchschlüpfen breit genug. »Kommt mit mir, Herrin! Ich zeige Euch den Weg aus der Burg«, versprach er.

Sie wandte sich um und schüttelte den Kopf. »Wozu fliehen? Melisande ist tot und mein Gemahl ebenso. Ich habe alles verloren. Lieber will ich sterben.«

»Das darf ich nicht zulassen. Ihr müsst weiterleben. Das Seelenheil meiner Tochter steht auf dem Spiel. Vergesst nicht, ich habe einen Eid abgelegt. Folgt mir also, sonst muss ich Euch mit Gewalt aus dem Loch zerren«, forderte er und war über seine Entschlossenheit selber erstaunt.

Widerwillig zwängte sich Isabeau durch das Gitter und folgte dem Schmied in den Stollen, der in die Freiheit führte. Erstaunlicherweise zeigte sie keine Furcht. Bedingt durch die Enge kam sie nur langsam vorwärts, hielt aber tapfer durch. Als sie endlich dem Loch entstiegen waren, fiel sie erschöpft zu Boden. Matthias griff ihr unter die Arme und schleppte sie hinter die dichten Büsche, die unweit der Burgmauer wucherten. Hier legten sie eine Rast ein.

Er zog den Stöpsel vom Ziegenbalg und hielt ihn an ihre spröden Lippen. Sie umklammerte ihn wie eine Besessene und trank das Wasser in großen Zügen, als wäre sie gerade der Wüste entronnen. Kein Wunder, hatte sie doch tagelang dürsten müssen. Schließlich verschluckte sie sich und erlitt einen Hustenanfall. Besorgt maßregelte er ihre Unvernunft. »Ihr müsst in kleinen Schlucken trinken und nicht alles auf einmal, sonst wird Euch schlecht. Hier, esst, das bindet das Wasser in Eurem Gedärm.« Er drückte ihr ein Stück Brot in die Hand, welches sie sich sogleich in den Mund stopfte. Sie war ausgehungert wie ein Wolf und Matthias fragte sich, ob sie zum ersten Mal in ihrem Leben das Gefühl der Leere im Magen verspürte. Ein Zustand, dem arme Menschen oft ausgesetzt waren.

Nach dem Essen fühlte sie sich anscheinend besser und griff erneut zum Ziegenbalg. Jetzt trank sie mit Bedacht. Dann blickte sie ihn vielsagend an. »Hab Dank für die Befreiung und das Wasser. Ich stehe in deiner Schuld. Dem ungeachtet merke dir: Wage es nicht noch einmal, in dieser Tonart mit mir zu sprechen. Behandle mich nicht wie deinesgleichen. Du hast mir nichts zu befehlen. Ich bin eine Frau von edler Geburt und du nur ein Höriger«, machte sie ihm unmissverständlich deutlich.

»Ihr seid mir nichts schuldig, Herrin«, antwortete Matthias gekränkt. »Ich erfülle lediglich mein Versprechen.« Es ärgerte ihn sehr, dass Isabeau die stolze Gräfin herauskehrte. Etwas mehr Anerkennung für seine Hilfe hatte er insgeheim schon erhofft.

»Du sagtest, deine Tochter sei gestorben. Melisande hat ihr demzufolge nicht helfen können. Das tut mir leid für dich. Denke also nicht von mir, ich wäre ein gefühlloser Mensch«, bekundete Isabeau unerwartet ihr Mitgefühl.

»Ich weiß es zu schätzen, Herrin«, erwiderte er. »Auch ich möchte Euch für den Verlust von Melisande mein Beileid bekunden. Sie war eine anständige Frau.«

Wieder traten ihr Tränen in die Augen. »Sie war meine gute Seele. Sie zog mich aus dem Mutterleib, war meine Amme und Beschützerin. Sie hat die Welt bereist und lehrte mich viel über die Heilkunst. Ich vermisse sie. Dass sie dich in ihrer letzten Stunde auserkoren hat, ihren Platz einzunehmen, ist wundersam. Ein Ritter, ein Mann von meinem Stand, das hätte ich verstanden. Aber ein Schmied aus dem Dorf?« Sie warf ihm einen verwirrten Blick zu. »Das ist unbegreiflich. Trotzdem will ich ihr nicht unrecht tun und vertraue auf ihr Gespür. Etwas an dir muss sie beeindruckt haben.«

»Die Antwort ist einfach. Sie hatte keine andere Wahl. Wen sonst hätte sie bestimmen können? Nur ich war bei ihr, als sie verschied. Eine Stimme in mir hatte mich zuvor hierhergetrieben. Ohne ihren Ruf wäre ich in meiner Hütte geblieben und Ihr würdet noch immer im Kerker sitzen.« Während er sprach, war Matthias immer nachdenklicher geworden.

»Eine Stimme hat dich zu Melisande befohlen? Zeitlebens steckte sie voller Rätsel. Ich glaube, sie selbst drang in deine Gedanken ein, um deine Hilfe zu erbitten.« Ihre Augen leuchteten ob dieser Wendung auf.

»Ein Ruf von den Burgzinnen bis hinunter ins Dorf? Das ist Teufelswerk«, rief er betroffen und bekreuzigte sich.

»Beruhige dich, du hast nichts zu befürchten.« Isabeau hielt Matthias an den Schultern fest, der drauf und dran war, aufzuspringen. »Der Antichrist, so wie du ihn vom Hörensagen kennst, lebt nur in deiner Fantasie. Das Bild des gehörnten, bocksbeinigen Scheusals hat sich die Kirche ausgedacht, um Angst zu schüren. Es mehrt ihre Macht über die gläubigen Menschen. Irgendwann werde ich es dir näher erklären. Bis dahin vertrau mir.«

Er erhob sich, wenig überzeugt von ihren Worten. »Lasst uns verschwinden, ehe uns der Burgvogt aufgreift«, mahnte er.

Sie willigte ein und folgte ihm auf dem Fuß. Ihr Weg führte durch das dichte Gestrüpp des Burghügels bis hinunter ins Tal.

Eine Stunde später lagerten sie am Rand eines breiten Weges. Zahlreiche Wagenräder hatten im feuchten Boden tiefe Furchen hinterlassen. Hier, mitten im Wald, verlief die Handelsstraße von Ulm nach Speyer und Metz. Beide hofften auf einen vorbeifahrenden Kaufmann, der bereit war, sie mitzunehmen. Da Isabeau aus Oberlothringen stammte, wäre Metz ein naheliegendes Ziel, doch Ulm sollte ihnen ebenso recht sein. Hauptsache weit weg von Wartenstein.

»Kurz bevor sie starb, berichtete mir Melisande, Euer Ehemann sei noch am Leben. Angeblich hätte der Burgvogt gelogen, um sich die Grafschaft und die Burg zu sichern«, sagte Matthias.

Isabeau sah ihn traurig an. »Davon weiß ich bereits. Das Schlimme ist, Lothars Lehnsherr, Philipp von Schwaben, glaubte ihm. Rudolf hat meinen Gemahl für tot erklären lassen. Jetzt bin ich auf mich allein gestellt. Die Hilfe einer Familie in der Not bleibt mir verwehrt, da ich die Letzte meines Geschlechts bin. Die Lunévilles sterben mit mir aus, sollte ich kein Kind gebären. Nach Oberlothringen kann ich nicht zurück. Dort erwartet mich die Armut.« Sie atmete tief durch. »Es gibt für mich nur einen Ausweg, um Lothars Anspruch auf die Grafschaft zu sichern. Ich muss ihm ins Heilige Land folgen und ihm die Intrige seines Bruders offenlegen. Er allein kann ihm die Gier nach Land und Titel austreiben.«

Sie krümmte ihren Leib und verzog das Gesicht. Matthias war unterwegs aufgefallen, dass ihr die Wunden am Rücken Schmerzen bereiteten. Dennoch hatte sie durchgehalten und er sie nicht darauf angesprochen. Wer weiß, wie die stolze Gräfin reagiert hätte? Plötzlich stutzte er. Erst jetzt erfasste sein Verstand, was sie eben verlautbart hatte. Er fühlte, wie sich seine Nackenhaare sträubten. »Wohin wollt Ihr reisen? Ins Heilige Land? Wisst Ihr, was das bedeutet? Ich hörte, dass viele Monate vergehen, ehe ein Pilger in seine Nähe gelangt. Es liegt weit weg von Schwaben. Ach, was sag ich, weit jenseits von Wien.«

Sie lächelte über seine Unwissenheit. »Du besitzt nicht die leiseste Ahnung über die wahre Größe von Gottes Schöpfung. Das Heilige Land liegt entfernter als Konstantinopel. Es erstreckt sich an der Grenze der uns bekannten Welt.«

Zweifelnd zog er die Stirn kraus. »Selbst, wenn es stimmt, was Ihr sagt, werden wir niemals dorthin gelangen. Das Büßerkleid, das Ihr tragt, verrät Euch als entflohene Gefangene. Ihr benötigt dringend ein neues Gewand. Um es kaufen zu können, brauchen wir Geld. Doch damit allein ist es nicht getan. Was werden wir unterwegs essen? Brot und Eier liegen nicht am Wegesrand und gebratene Hühner fliegen uns nicht von allein in den Mund. Ich nenne lediglich drei Pfennige mein Eigen. Mit ihnen kann ich den Händler bezahlen, der so freundlich ist, uns mitzunehmen. Andererseits besteht auch die Gefahr, dass er uns zum Teufel jagt, weil er uns für Diebesgesindel hält. Ihr seht also, viel weiter als bis Ulm werden wir kaum kommen. Es sei denn, wir verdienen uns das Geld zum Leben während unserer Reise.« Matthias verstummte.

Abermals hatte er mit der Gräfin wie mit seinesgleichen gesprochen. Hinzu kam, dass ihn auf einmal die Neugier packte. Ihn, einen armen, unbedeutenden Schmied, dessen weitester Marsch vor Jahren in die Nähe von Tübingen geführt hatte, um seine frisch angetraute Frau ins heimische Wartenbach heimzuholen. Das Heilige Land lockte mit unzähligen Geschichten, von denen Händler und Sänger zu berichten wussten. Von Mysterien, die Wanderprediger kundtaten und das Seelenheil versprachen. Ein Mönch hatte behauptet, Jesus Christus sei den Menschen nirgendwo näher als in Jerusalem. Deshalb würden die Pilger an dem Ort seiner Kreuzigung mancherlei Habseligkeiten ihrer verstorbenen Angehörigen vergraben, um den Gottessohn zu bitten, ihnen das Tor zum Paradies zu öffnen. Seine Agnes kam ihm in den Sinn. Um den Hals trug er ein einfaches bronzefarbenes Medaillon, das eine Strähne ihres Haares barg. Er hatte sie dem Mädchen vor der Grablegung abgeschnitten, um es am Herzen zu tragen. Sollte er jemals die Heilige Stadt erreichen, würde er die Locke der Erde übergeben, wo der Heiland einst ans Kreuz geschlagen wurde. Was konnte ein Vater mehr tun für das Seelenheil seiner toten Tochter?

Isabeaus beleidigtes Mienenspiel riss ihn aus seinen Gedanken. Über seine ehrlich vorgetragenen Bedenken verzog sie empört die Mundwinkel. »Eine Frau von edler Geburt mit einer Diebin zu vergleichen, ist unverschämt. Zu anderer Zeit und an einem anderen Ort hättest du dir für dein anmaßendes Verhalten zehn Schläge mit der Rute eingehandelt. Und bei Gott, wie kommst du auf die Idee, ich müsse arbeiten gehen? Das ziemt sich nicht für mich.«

»Keine Sorge, Herrin. Ihr müsst Euch die Hände nicht schmutzig machen. Ich werde, wie ich Melisande schwor, für Euch sorgen und das Geld verdienen, das uns nach Jerusalem bringt«, beruhigte er die entrüstete Frau. »Jetzt lasst uns den Weg verlassen und hinter den Bäumen und Sträuchern Schutz suchen. Wer weiß, womöglich hat der Burgvogt Eure Flucht schon bemerkt und sucht nach Euch. Es gibt in der Nähe einen Bach, an dem Ihr Euch waschen könnt. Dort warten wir, bis sich ein Kaufmann mit einem Fuhrwerk nähert. Ich hoffe, er ist hilfsbereit und nimmt uns mit nach Ulm.«

»Sei dir gewiss, dass dich Graf Lothar für deine Treue reich belohnen wird, sobald er mich in Jerusalem lebend in die Arme schließt«, stellte ihm Isabeau in Aussicht und folgte ihm ins Unterholz.

Matthias schritt voraus. Ihm kam Melisandes Vergleich des Lebens mit einer geworfenen Münze in den Sinn. Wohin würde sie ihn führen und auf welche Weise sein Schicksal sich erfüllen? Allein die Zukunft wusste eine Antwort darauf.

Kapitel 2

Die Reise nach Ulm

Matthias öffnete die Augen und richtete sich auf. Durch die Baumkronen und den morgendlichen Nebel strahlte die aufgehende Sonne. Er glaubte, etwas gehört zu haben. Isabeau, die noch tief schlummerte und unverständliche Worte murmelte, weckte er mit einem sanften Stups auf die Schulter aus ihren Träumen. Beide waren in ihrem Versteck eingeschlafen, nachdem am vergangenen Tag kein Händler vorbeigekommen war. Für gewöhnlich rasteten diese nachts, weil eine Weiterreise in der Dunkelheit mit Gefahren verbunden war. Durch den Wald hallten Rufe und das Knallen einer Peitsche. Sie gaben ihnen die Hoffnung, die Grafschaft schnell hinter sich zu lassen.

Sie hatten Glück. Der Händler befand sich auf dem Weg nach Ulm. Ihn plagte allerdings ein Missgeschick. Der Ochsenkarren war mit einem Hinterrad in ein Schlammloch gerutscht und bewegte sich keinen Fuß mehr. Auch seine Peitsche und sein lautes Schimpfen über die widerspenstigen Tiere halfen wenig. Matthias sah darin einen Wink des Allmächtigen. Hier waren die kräftigen Arme eines Schmiedes gefragt.

»Kann ich helfen?«, rief er dem Fuhrmann zu.

»Welch ein Glück!«, rief der freudig. »Dich muss der Herrgott geschickt haben. Greife in die Speichen des Rades und drücke mit aller Kraft.«

Die Ochsen schienen auf den unerwarteten Beistand nur gewartet zu haben. Gehorsam setzten sich beide in Bewegung. Rasch war das Fuhrwerk aus dem Morast befreit.

Der Kaufmann stand bereits im Herbst seines Lebens. Dichte graue Haare sprossen ihm auf dem Haupt. Sein Gesicht durchzogen tiefe Falten, die an die Furchen eines frisch gepflügten Ackers erinnerten. »Hab vielen Dank. Wie kann ich mich für deinen Beistand erkenntlich zeigen?«, fragte er freundlich.

»Meine Gemahlin und ich sind auf dem Weg nach Ulm. Wenn es dir keine Umstände bereitet, würden wir dich gern begleiten«, erwiderte Matthias, worauf ihn Isabeau entgeistert anblickte.

»Soso, ihr wollt nach Ulm? Ihr könnt mir gern Gesellschaft leisten. In fünf Tagen treffen wir dort ein, sofern wir nicht einer Räuberbande zum Opfer fallen oder von einem Rudel Wölfe aufgefressen werden«, meinte er grinsend.

Wieder schaute Isabeau beunruhigt drein. Diesmal lag die Angst vor dem Ungewissen in ihren Augen, weshalb er die im Scherz dahingesagten Worte des Kaufmanns beschwichtigte. »Hab keine Furcht. Er will uns nur verulken. Von Räubern im Schwarzwald hörte ich seit Langem nichts mehr. Die Ritter Ottos von Braunschweig, die plündernd durch das schwäbische Land ziehen, sind die größere Bedrohung für uns. Und was die Wölfe betrifft, so halten sie sich von den Menschen fern, solange sie keinen Hunger leiden. Den letzten sah ich mit eigenen Augen im vergangenen Winter.«

»Es stimmt, was dein Ehemann sagt. Ich mache hin und wieder meine Späßchen. Mach dir keine Sorgen. Auf dem Ochsenkarren bist du sicher. Steig auf, damit wir losfahren können«, wandte sich der Kaufmann an die junge Frau. »Ich heiße übrigens Addo. Ich kaufe Schafwolle auf und vertreibe Stoffe. Einmal im Monat bin ich zwischen Speyer und Ulm unterwegs, um Handel zu treiben. Wie lauten eure Namen?«

»Ich bin Matthias der Schmied. Mein Weib wird Isabeau gerufen.« Ärgerlich biss er sich auf die Lippen. Er hatte ihre wahren Namen preisgegeben. Wie einfältig von ihm. Er nahm neben der Frau und dem Händler auf dem Kutschbock Platz. Im Stillen machte er sich Vorwürfe.

Addo schwang die Peitsche und das Fuhrwerk setzte sich in Bewegung. »Aha, Matthias und Isabeau?«, murmelte er nachdenklich. »Ein recht ungewöhnlicher Name für das Eheweib eines Schmiedes in Schwaben. Er ist in Frankreich sehr geläufig. Allerdings hörte ich ihn auch in Lothringen. Wieso redet sie kein Wort? Ist sie stumm?«, fragte er lauernd und musterte sie von oben bis unten mit einem Grinsen im Gesicht.

»Sie ist schüchtern und spricht in fremder Gesellschaft nur, wenn sie gefragt wird. Ursprünglich stammt sie aus Metz und ist seit zwei Jahren mit mir vermählt. Dort ist der Name sehr verbreitet«, log Matthias in seiner Not und hoffte, der Kaufmann würde die Sache damit auf sich beruhen lassen. Doch weit gefehlt.

»Das kann ich nicht in Abrede stellen. Andererseits ist Isabeau ein schöner Name. Auch deine Frau ist schön. Ich sehe ihr an, dass du sie gut behandelst. Offenbar nimmst du ihr sämtliche Arbeit ab und bewirtschaftest Haus und Hof allein«, deutete er an.

Beide blickten sich ratlos in die Augen, worauf Addo schallend lachte. »Mich kannst du nicht täuschen. Die Mär, ihr zwei wärt Mann und Frau, glaube ich dir nicht.«

»Wieso? Was spricht dagegen?« Matthias wurde argwöhnisch und fühlte mit den Fingern nach dem Hammer in seinem Beutel.

»Das Weib passt nicht zu dir. Ihre zierliche Gestalt, der Stolz, den sie zur Schau trägt, und natürlich ihre Hände strafen dich Lügen. Nichts sagt mehr über das Wesen und den Stand einer Frau aus. Fällt dir das nicht auf?«, fragte er.

Matthias begann zu ahnen, was er meinte.

»Hast du’s endlich begriffen? Sie musste noch niemals im Schweiße ihres Angesichts schuften. Ihre Nägel sind sauber und geschnitten. Und die hellen Abdrücke auf der Haut rühren von Ringen her, die sich nur eine Edelfrau leisten kann. Außerdem trägt sie das Gewand einer Sünderin auf dem Leib. Das macht sie in meinen Augen verdächtig und erinnert mich an einen Vorfall, der gestern geschah.«

Verdammt, warf sich Matthias insgeheim vor. Das Büßerhemd hatte er völlig aus den Gedanken verloren. Kein Wunder, dass ihm der andere so schnell auf die Schliche gekommen war.

»Ich rastete in einem Dorf nicht weit von hier«, fuhr Addo fort. »Dort kam mir zu Ohren, der Burgvogt des Grafen von Wartenstein hätte dessen Gemahlin eingekerkert, weil sie mit einem Schmied Ehebruch begangen habe. Später floh sie aus dem Verlies. Dass für ihre Befreiung der Schmied verantwortlich war, prügelte die Burgwache aus einem ansässigen Besenbinder heraus, bevor dieser an seinen Wunden verstarb.«

Des Ehebruchs beschuldigt zu werden, verschlug Isabeau die Sprache.

Auch Matthias war erschüttert. Andreas, die gute Seele des Dorfes, sein Vaterersatz und bester Freund, lebte nicht mehr. Ermordet auf Rudolfs Geheiß. Er vernahm noch dessen Worte im Ohr. »Du musst ihr beistehen«, hatte er nach Agnes’ Tod beteuert. Er war überzeugt gewesen, Matthias hätte bei Isabeau eine Schuld abzutragen.

Da Addo die Wahrheit über sie kannte, entschloss er sich, einen Schritt nach vorn zu wagen. »Wir geben uns deinem Scharfsinn geschlagen. Du hast uns durchschaut. Isabeau ist die rechtmäßige Gräfin von Wartenstein. Und der Vorwurf von Burgvogt Rudolf, sie habe Ehebruch begangen, ist eine Lüge. Ich habe sie aus den Fängen ihres bösartigen Schwagers befreit, weil sie in Gefahr ist. Er will nach dem Grafentitel greifen und dabei ist ihm jedes Mittel recht. Wir sind auf dem Weg ins Heilige Land, wo ihr Gemahl gegen die Heiden kämpft, um ihn zu warnen und seinem Bruder Einhalt zu gebieten. Was wollt Ihr nun tun? Uns verraten?«

»Sorgt euch nicht um eure Sicherheit. Ihr habt von mir nichts zu befürchten. Nimm also die Hand von der Waffe, die sich in deinem Beutel befindet«, meinte der Händler beruhigend.

»Gott möge dich beschützen, guter Mann. Leider kann ich dir dein redliches Handeln nicht vergelten. Ich bin zwar von Adel, aber derzeit mittellos«, bedankte sich Isabeau für dessen Offenheit.

»Nenn mich einfach Addo und ich sage Isabeau zu dir. Das macht vieles einfacher.«

»Wir sollen uns beim Namen rufen? Du bist ein einfacher Krämer und ich eine Gräfin. Das ziemt sich nicht«, entgegnete Isabeau. Sie verteidigte vehement ihren hohen Stand.

»Tu es bitte, um unserer Sicherheit willen. Verzichte auf höfisches Gehabe. Keiner, dem wir auf der Reise nach Ulm unterwegs begegnen, darf in dir eine Edelfrau erkennen. Eine Adlige, die auf dem Fuhrwerk eines Wollhändlers reist, spricht sich herum. Schneller, als uns lieb sein kann, haben wir deinen verruchten Schwager am Hals. Das möchte ich nicht riskieren«, stellte er unmissverständlich klar.

Der Sinn seiner Forderung erschloss sich Isabeau. »Für deinen Stand besitzt du eine ziemlich vorlaute Zunge. Trotzdem verstehe ich deine Bedenken und willige ein.«

Addo warf ihr einen stolzen Blick zu. »Ich bin ein Bürger der Reichsstadt Ulm und kein Höriger. Ich bin ein freier Mann. Unabhängig von der Knute des Adels und der Kirche unterstehe ich allein dem König, auch wenn ich nicht einzuschätzen vermag, ob Philipp oder Otto der Richtige ist.« Lächelnd fügte er hinzu: »Nun seid meine Gäste.«

Am Abend bei Sonnenuntergang rasteten sie am Rande einer Lichtung. Hier, so entschieden sie, würden sie die Nacht verbringen. Um wilde Tiere vom Lager fernzuhalten, hatten Addo und Matthias reichlich Holz gesammelt und ein Feuer entfacht. Die Wegzehrung des Schmieds war längst zur Neige gegangen. Freigiebig teilte der Wollhändler seine Vorräte mit ihnen, die aus Hirsebrei, einem Brotlaib, Käse, Trockenfrüchten und Dünnbier bestanden. Es war die Speise des einfachen Volkes.

Isabeau langte ungehemmt zu. Fleisch, Pasteten, süßes Gebäck und Wein vermisste sie nicht. Das Hungergefühl, das sie bereits seit Stunden quälte, war so immens, dass sie den Hirsebrei hinunterschlang, als sei er ein Festmahl.

Addo konnte sich ein Schmunzeln nicht verkneifen.

»Warum lachst du über mich?«, fragte sie irritiert.

»Ich sah noch niemals eine Frau mit solcher Inbrunst Brei löffeln, wie du es gerade tust. Wann hast du zum letzten Mal gegessen?«

»Gestern. Es war das wenige, das Matthias bei sich trug.«

»Erst gestern?« Er überlegte. »Das ist nicht lange her. Aber es ist ein Vorgeschmack auf das, was dich auf der Reise in den Osten über lange Zeit erwarten kann, wenn du nicht über ausreichend Geldmittel verfügst. Die christliche Nächstenliebe lässt bei vielen Menschen zu wünschen übrig. Über die Heiden, die ihr auf dem Weg ins Heilige Land treffen werdet, kann ich mir kein Urteil erlauben. Dessen ungeachtet ist eins gewiss: Geld ist der Schlüssel für Wegzehrung, Unterkunft und Transportkosten auf Fuhrwerken und Schiffen. Ohne Bezahlung werden dich nur wenige speisen oder mitnehmen. Du bist es gewohnt, bevorzugt behandelt zu werden. Als einfache Frau zu reisen, wird dir schwere Prüfungen auferlegen, denen du gewachsen sein musst. Solltest du Schwäche zeigen, wird dein Unterfangen enden, bevor es begonnen hat.«

»Habe keine Sorge. Ich werde das Nötige mit meinen Händen unterwegs verdienen. Und um Isabeaus Wohlergehen werde ich mich kümmern. Ich habe es Melisande versprochen, bevor sie starb«, erwiderte Matthias selbstbewusst und erntete für seine Worte einen dankbaren Blick von ihr.

»Wer auch immer sie war, sie tat das Richtige. Sie hätte für Isabeau keinen besseren Beschützer finden können. Dass du ehrlich und aufrecht bist, wusste ich bereits heute Morgen, als wir uns zum ersten Mal begegneten. Ich wünsche von Herzen, dass ihr das Heilige Land erreicht. Deshalb gebe ich euch ein paar Ratschläge mit auf den Weg.« Er nahm ein paar Äste und warf sie ins Feuer. Dann blickte er zum Himmel. Die Dämmerung wich allmählich der Nacht und die ersten Sterne begannen am Firmament zu flackern. »Der Lauf der Gestirne ist jeden Tag vorbestimmt. Eurer aber ist ungewiss. Es lauern viele Gefahren auf dem Pfad nach Jerusalem. Haltet euch von den Fehden des Welfen- und Stauferkönigs fern. Eine Edelfrau kann schnell als Geisel enden, um deren Gemahl als Mitstreiter zu binden. Beide halten seit dem Tode König Heinrichs an ihrem Thronanspruch fest. Jeder beruft sich auf die Zustimmung der mit ihm verbündeten Bischöfe und Fürsten. Verlierer in diesem Streit sind die einfachen Menschen. Folgt dem Lauf der Donau nach Osten. Es ist der sicherste Weg.«

»Wir werden deine Hinweise befolgen. Obwohl du nur ein Händler bist, zeigst du mit deiner selbstlosen Hilfe eine ritterliche Tugend«, würdigte Isabeau seinen Beistand.

Das unverhoffte Lob stimmte ihn sichtlich froh. »Gott vergelte dir deine wohlgesinnten Worte. Jetzt müssen wir uns aber zur Ruhe legen, da wir in aller Frühe die Reise fortsetzen. Übermorgen erreichen wir die Schwabenalp. Für die Überquerung der Berge benötigen wir zwei weitere Tage. Bis Ulm ist es danach nicht mehr weit«, versicherte er, bevor er sich in eine Decke hüllte und kurze Zeit später zu schnarchen begann.

Auch Isabeau und Matthias schlummerten im Schein des Lagerfeuers rasch ein. Die Erlebnisse des letzten Tages hatten an ihren Kräften gezehrt.

***

Der Ochsenkarren quälte sich seit Stunden den steilen Weg zur Hochebene der Schwabenalp hinauf, die mit dichten Wäldern bewachsen war. Voraus erhob sich der Lemberg, die mächtigste Erhebung des Gebirges. In der Nachmittagszeit legten sie neben einem Bächlein eine Rast ein, um die Tiere zu tränken. Der beschwerliche Aufstieg forderte seinen Tribut.

Addo blickte zurück ins Tal und stutzte. Eine Schar Reiter ritt die Anhöhe hinauf. Sie gaben den Pferden die Sporen zu kosten, als wäre der Teufel hinter ihnen her. In ihm keimte ein Verdacht auf, der ihn zutiefst beunruhigte. »Schnell, verschwindet und versteckt euch im Unterholz, bis ich euch rufe. Bewaffnete Männer nähern sich. Womöglich ist es der Burgvogt mit seinen Spießgesellen«, warnte er Isabeau und Matthias.

Beide erfassten die brenzlige Lage und rannten ins Dickicht, so rasch ihre Beine sie trugen.

Derweil hatten die Reiter das Fuhrwerk erreicht. Sie umzingelten Addo und saßen von ihren Pferden ab. Seine Vermutung bestätigte sich. Ihr Anführer war Rudolf von Wartenstein. Herrisch stellte er den Wollhändler zur Rede.

»Ich bin auf der Suche nach einem entflohenen Mädchen. Sie ist eine Diebin. Ein junger Schmied aus Wartenbach begleitet sie. Sind sie dir über den Weg gelaufen?«

»In der Tat, hoher Herr. Vor zwei Tagen traf ich die beiden. Sie fragten mich nach dem Weg nach Straßburg. Ich glaube, sie wollten von dort nach Lothringen wandern. Das Mädchen war nicht ganz gesund im Kopf. Sie behauptete allen Ernstes, sie sei eine Edelfrau. Nahe dem Dorf bestiegen sie das Fuhrwerk eines Weinhändlers, der ins Elsässische unterwegs war«, log Addo gelassen.

»Ohne Zweifel, das sind die zwei. Und du sprichst die Wahrheit?«

»Gott ist mein Zeuge.«

Rudolf schaute ihn durchdringend an. »Ich glaube dir. Wir werden das Hurenstück finden und am nächsten Ast aufknüpfen. Den Schmied ebenfalls. Ich lasse beide am Strick tanzen, bis sie ihre Seelen aushauchen. Niemand widersetzt sich meinem Willen.« Sein Gesicht verzog sich zu einer widerwärtigen Fratze, als er die zornigen Worte von sich gab.

Addo lief es kalt den Rücken herunter. Das Gebaren des Burgvogts zeugte von tiefem Hass gegen Isabeau und Matthias, der mit Willkür und Grausamkeit einherging. In der Hoffnung, er würde mit seinen Reitern der falschen Fährte auf den Leim gehen, verbeugte er sich vor ihm. »Ich wünsche Euch Erfolg bei der Suche und einen gesegneten Tag, hoher Herr«, verabschiedete er sich untertänig.

Das Gesicht Rudolfs versteinerte. »Was maßt du dir an? Ich habe dich noch nicht entlassen, elende Krämerseele«, rief er vergrämt. Offensichtlich kochte die verletzte Eitelkeit in ihm. Streitsüchtig zog er sein Schwert aus der Scheide.

Schnell bemerkte der Kaufmann, dass er einen Fehler begangen hatte, der ihm den Tod bringen konnte. Dem hochnäsigen Burgvogt war das Leben einfacher Menschen bedeutungslos. »Ich habe Euch alles preisgegeben, was ich weiß, hoher Herr. Lasst mich weiterziehen«, beschwor er ihn.

»Deine Dreistigkeit darf nicht ungesühnt bleiben. Sie hat ihren Preis. Was hast du auf dem Fuhrwerk geladen? Seidene Gewänder, Gewürze oder Wein?«, fragte Rudolf boshaft.

»Derartige Waren vertreibe ich nicht«, versicherte Addo. »Ich handle mit Schafwolle und den Stoffen, die aus ihr gewoben werden. Aber die Ladefläche ist leer, da ich in Speyer alles verkauft habe.«

»Konrad! Spring auf das Gefährt und durchsuche seine Sachen. Irgendwo muss er für den Kram einen Beutel mit Münzen versteckt haben«, befahl er dem Anführer der Burgwache.

Gehorsam sprang dieser auf den Wagen und warf alles herunter, was ihm in die Hände fiel. Geld entdeckte er nicht. »Es ist nichts zu finden. Offenbar trägt er die Silberlinge unter seinem Wams versteckt.«

»Das glaube ich nicht«, erwiderte er. »Es wäre dumm. Wegelagerer würden dort zuerst suchen. Rück heraus, was du auf dem Wagen versteckt hast, du Wurm, und ich vergesse dein ungehöriges Benehmen.«

»Ich besitze keinen Pfennig mehr. Räuber überfielen mich im Schwarzwald und haben es mir gestohlen«, versicherte Addo niedergeschlagen.

»Du lügst. Rück dein Geld raus oder ich steche dich ab wie ein Schwein«, drohte Rudolf.

Weinerlich jammerte er sein Elend hervor: »Wie soll ich mit meiner Familie über den Winter kommen, wenn Ihr mir alles nehmt? Wir werden verhungern.«

»Was kümmert es mich, du Made? Her damit!«

»Edler Herr, ich bitte Euch untertänigst …«

Plötzlich stach Rudolf zu und traf ihn mit der Klinge in den Oberschenkel. »Der nächste Stoß trifft dich ins Gedärm, wenn du nicht endlich gehorchst. An den kommenden Winter musst du dann keinen Gedanken mehr verschwenden.«

Der Wollhändler fiel stöhnend zu Boden und hob abwehrend einen Arm nach oben. »Haltet ein! Ich will euch geben, was ich besitze. Die Münzen sind unter einem losen Brett im Kutschbock verborgen.«

»Na also. Warum erst so störrisch? Hättest du mir gleich gegeben, wonach mir verlangt, würdest du jetzt nicht in deinem Blut liegen.«

Konrad rüttelte an dem Brett und hob es an. Unter ihm kam ein kleiner Beutel aus Leinen zum Vorschein, den er Rudolf übergab.

Neugierig schüttete er die Börse aus. Dann zählte er das Geld in seiner Hand und verzog enttäuscht das Gesicht. »Was? Bloß fünf Silberpfennige? Willst du mich verhöhnen?«

»Das ist alles, was ich mit meiner letzten Fuhre verdient habe. Der Wollpreis ist tief gefallen, seitdem englische Händler in Speyer ihre Ware feilbieten dürfen. Der Markt ist übersättigt mit ihr, was ein Unglück für mich ist«, versuchte Addo, seine missliche Lage zu erklären.

Grollend über die magere Beute befahl Rudolf seinen Männern aufzusitzen. »König Johanns hintertriebene Schaftreiber mögen im Höllenfeuer schmoren«, fluchte er und ritt mit seinen Männern zurück ins Tal.

***

Panisch hatten Matthias und Isabeau vor den Reitern das Weite gesucht. Der Tag neigte sich bereits dem Ende, als sie mit klopfenden Herzen zum Fuhrwerk zurückkehrten. Was sie sahen, erschreckte sie, denn Addo lag auf dem Boden und drückte mit den Händen einen Lappen auf sein Bein. Er war blutdurchtränkt. Besorgt liefen sie zu ihm.

»Was ist passiert? Wer waren die Männer?«, fragte Isabeau und untersuchte die Wunde, während Matthias dem Verletzten stützte.

»Es war der Burgvogt mit seinen Waffenknechten. Er suchte nach euch«, erwiderte er stöhnend. »Ein Glück, dass ihr beide weggerannt seid, sonst wärt ihr jetzt seine Gefangenen. Ich habe ihm glaubhaft gemacht, ihr befändet euch auf dem Weg nach Straßburg. Er hat mir die Lüge abgekauft. Schließlich stieß er mir sein Schwert in den Oberschenkel und raubte mir einen Teil meines Geldes.« Trotz seiner Schmerzen zwinkerte er Isabeau für einen kurzen Moment verschmitzt zu. »Dein Schwager ist nicht mit Schläue gesegnet und ließ sich leicht täuschen. Kein Kaufmann versteckt alle Gewinne aus seinen Geschäften an derselben Stelle. Woher sollte er das auch wissen? Ich bin in seinen Augen ein Niedriger, für dessen Geschick ein Edelmann keine Beachtung schenkt.«

»Wie lange liegst du schon hier?« Isabeau sah ihm prüfend in die Augen.

»Seitdem ihr geflohen seid.«

»Um Gottes willen, das ist ja Stunden her. Wir müssen sofort etwas tun, um Schlimmeres zu verhindern«, sagte sie.

Sie legten den Verletzten auf einen Strohsack, um die Wunde zu versorgen. Nun konnte Isabeau beweisen, was sie bei Melisande gelernt hatte. Während Matthias ein Lagerfeuer entfachte, riss sie das blutige Beinteil von Addos Hose auseinander, welches Rudolfs Schwert samt Oberschenkel durchstoßen hatte.

»Die Wunde ist klein, jedoch sehr tief. Wir müssen sie ausbrennen, damit du kein Fieber oder die brandige Fäule bekommst. Du könntest daran sterben«, betonte sie mit sorgenvollem Blick. »Greif dir ein Messer und mache es glühend heiß. Inzwischen suche ich ein paar heilende Kräuter für den Wundverband«, trug sie Matthias auf und schritt den Waldrand ab.

Der Schmied folgte ihrem Ansinnen und legte es zwischen die brennenden Äste. Isabeau, die ab und zu stehen blieb und niederkniete, verlor er unterdessen nicht aus dem Blickfeld. Als sie zu ihm zurückkehrte, hielt sie Büschel eines aromatisch riechenden Krauts mit weißgelben Blüten in den Händen.

»Lass uns in einem Kessel mit klarem Wasser einen heißen Sud aus ihnen brauen. Er darf nicht kochen. Wir erwärmen ihn nur, bis Dunst aufsteigt, dann nehmen wir ihn vom Feuer.«

»Was ist das für eine Pflanze?«, fragte Matthias.

»Melisande nannte sie Mutterkraut! Sie hilft gegen die Leiden nach einer Niederkunft und fördert die Heilung offener Wunden«, erklärte Isabeau.

Nach einer Weile stieg Dampf aus dem Kessel. Der Sud, in dem die Blüten schwammen, hatte eine gelbliche Farbe angenommen und roch angenehm blumig. Sie nahm das Gefäß aus der Glut und setzte es auf den Boden. Nach einer Weile war es handwarm heruntergekühlt. »Auf dem Wagen habe ich eine Schere und den Rest eines Stoffballens gesehen. Hole beides und schneide eine lange Binde zurecht. Danach tauchst du sie in den Kessel mit dem Sud«, befahl sie.

Der Schmied gehorchte und stieg auf das Gefährt. Bald hielt er beides in den Händen und sprang wieder vom Wagen. Wie aufgetragen begann er das Tuch zu teilen und tunkte es in den Sud.

Inzwischen leuchtete die Klinge des Messers glühend rot. Isabeau schob Addo ein Stück Holz zwischen die Zähne. »Beiß fest darauf. Es wird sehr weh tun«, riet sie ihm.

Die ganze Zeit hatte er mit schmerzverzogenem Gesicht ihr Tun verfolgt und schon geahnt, was ihn erwartete. Dennoch zeigte er Mut und beschwerte sich nicht.

»Halte ihn mit aller Kraft fest, damit ich ihn nicht aufs Neue verletze. Er wird sich wehren und Bärenkräfte entwickeln, um den Qualen zu entfliehen«, warnte sie Matthias.

Wortlos nickte er und umschlang von hinten mit beiden Armen den Leib des Kaufmanns.

Derweil schürzte Isabeau ihr Büßerhemd, setzte sich auf Addos Knie und schob ihre Füße unter seine Glieder. Zuletzt zog sie das Messer aus dem Feuer und schob die Klinge in die Wunde hinein.

Der arme Mann schrie vor Schmerzen und bäumte sich auf. Dennoch hielt der kräftige Schmied dessen Arme fest umschlossen. Auch sein Versuch, wild mit den Beinen zu strampeln, schlug fehl. Sie waren unter Isabeaus Leib gefangen wie in einer Fußfessel. Der Geruch verbrannten Fleisches lag in der Luft und vermischte sich mit dem Wehklagen des verletzten Mannes.

»So muss es in der Hölle riechen, wenn die Seelen der Sündigen dem Fegefeuer übereignet werden«, kam es Matthias unversehens über die Lippen. Ihn schauderte vor Addos Leid und er kämpfte dagegen an, nicht selbst Reißaus zu nehmen.

Wenig später zog Isabeau das Messer aus der Wunde. Sie begutachtete ihr Werk und nickte zufrieden.

Der Schmied bewunderte die junge Gräfin. Trotz ihrer zierlichen Natur hatte sie ungewöhnliche Stärke gezeigt. Er gestand sich ein, dass er an ihrer Stelle das glühende Messer nicht so geübt gehandhabt hätte. Allein Addos Geschrei hatte ihn schon aus der Fassung gebracht. Der hatte sich inzwischen beruhigt. Nur ein leises Stöhnen verriet, dass er noch Schmerzen verspürte.

»Reich mir die Leinenbinde, damit ich die Wunde abdecken kann«, sagte sie zu Matthias.

Mit den Fingerspitzen entnahm er sie dem Kessel und legte sie in Isabeaus Hände. Die junge Frau wrang den überschüssigen Teil des Suds aus ihr heraus und umwickelte Addos Oberschenkel.

Matthias, der neugierig zusah, merkte, dass die Prozedur dem Wollhändler guttat. Sein Stöhnen ließ bald nach und kurze Zeit später fiel er erschöpft in den Schlaf.

»Er braucht Ruhe. Wenn sich die Wunde nicht entzündet, wird er schnell wieder gesund«, sagte Isabeau überzeugt.

Nach den Aufregungen des Tages bereitete Matthias das Abendessen zu. Während des Mahls wechselten sie nur wenige Worte. Dann fielen auch ihnen die Augen zu.

***

Den vergangenen Tag hatten sie benötigt, um die Wälder der Hochebene zu durchqueren. Wie eine Schlange hatte sich die Handelsstraße durch die alten Wälder der Schwabenalp gewunden. Bären oder Wölfe waren ihnen unterwegs nicht vor die Augen gekommen. Auch Diebesgesindel hatte sich ferngehalten. Als die Bäume sich allmählich lichteten, war es früher Nachmittag und der Pfad begann, abschüssig zu werden. Ein untrügliches Zeichen, dass sie das Gebirge bald überwunden hatten.

»Rück zur Seite!«, sagte Addo zu Matthias und nahm ihm die Peitsche aus der Hand, bevor er sich zwischen ihn und Isabeau auf den Kutschbock zwängte. Die Ruhe des vergangenen Tages war ihm bekommen. Das verletzte Bein hatte sich nicht entzündet und verheilte zusehends. Er war bei guter Laune und wieder bei Kräften. »Vielen Dank für deine Hilfe, Isabeau. Ich habe Gevatter Tod ins Maul geschaut. Ohne dich hätte er mich verschlungen. Dennoch, deine Kenntnisse über die Heilkunde sind für eine Edelfrau recht ungewöhnlich. Woher weißt du, dass glühender Stahl gegen die brandige Fäule hilft?«

»Meine Amme Melisande stammte aus Bingen am Rhein. In jungen Jahren war sie im Kloster Rupertsberg eine Novizin, bevor sie dem geistlichen Leben entsagte, um auf Reisen zu gehen. Damit folgte sie dem Rat ihrer Äbtissin Hildegard, von der sie viel über Kräuter, Beeren und Wurzeln gelernt hatte. Diese hatte vorausgesehen, dass Melisande ein anderes Schicksal bestimmt war als das einer Geistlichen, und schickte sie in die Ferne, um die Heilkunst des Ostens kennenzulernen. In ihre erworbenen Erkenntnisse weihte sie mich früh ein.« In ihren Worten lag der Stolz, schon mit jungen Jahren einem Kreis von Wissenden anzugehören, der nur wenigen Menschen offenstand. »So lehrte sie mich, dass Feuer Gifte verzehrt, die Wunden innewohnen, die von Tierbissen, Pfeilen oder Schwertern herrühren. Sie lösen Fieber und Krämpfe aus und lassen das Fleisch am Leibe verfaulen, sodass dem Verletzten ein grausamer Tod bevorsteht. Von ihr erfuhr ich auch, dass sich im Sud des Mutterkrauts ein Öl sammelt, das die betroffene Haut schützend umhüllt und deren Gesundung fördert. Der Allmächtige hat für jedes Gebrechen ein Kraut wachsen lassen. Man muss es nur kennen und wissen, wo es zu finden und wie es anzuwenden ist.«

»War Melisande jemals im Heiligen Land?«, fragte Matthias.

»Davon hat sie mir nichts berichtet. Ich weiß es nicht. Doch Konstantinopel sah sie mit eigenen Augen. Dort lernte sie Heilpraktiken kennen, die selbst der klugen Hildegard unbekannt waren«, erwiderte Isabeau schwärmend. »Sie berichtete mir, die Stadt läge an einem Meer, welches das Abendland vom Morgenland trenne, und beherberge mehr Menschen als das ganze Herzogtum Schwaben. Sie sei der Nabel der Welt. Alles, was Gottes Kreatur je erdacht oder erschaffen hat, findet sich dort wieder. Wissen, Macht, Reichtum und eine Kirche mit der mächtigsten Kuppel der Welt schmücken ihr Antlitz. Wer vor diesem Bauwerk steht, fällt demütig auf die Knie, denn er fühlt die Hand des Allmächtigen, welche die Baumeister befähigte, so großartige Dinge zu vollbringen.«

Plötzlich tat sich das Ende des Waldes auf und gab den Blick nach Südwesten frei, wo sich ein Fluss kurvenreich auf der weitläufigen Ebene abzeichnete. Am linken Ufer des breiten Stroms lag eine Stadt.

»Ulm!«, rief Addo freudig und wies mit dem Arm hinunter ins Tal. »Heute Abend essen wir gemeinsam in meinem Haus. Meine Frau ist eine gute Köchin. Nach dem Genuss ihrer Kohlsuppe leckst du dir alle zehn Finger.«

Den Ort erreichten sie am frühen Abend. Addo wusste zu berichten, dass er von Heinrich dem Stolzen, einem Herzog aus Bayern, 1134 zerstört worden war. Der Welfe hatte in Fehde mit den Staufern gelegen. Letzteren waren die Bürger der Stadt zugetan gewesen und hatten ihre Treue mit der Brandschatzung ihres Hab und Guts bezahlt. Doch Ulm, seit über 350 Jahren Königspfalz, erhob sein Haupt und blühte erneut auf, bis Kaiser Friedrich, vom einfachen Volk Rotbart genannt, es zur freien Reichstadt erklärte. Ein Umstand, der den Bewohnern viele Privilegien gewährte. Heute unterstand Ulm allein König Philipp von Schwaben, musste für ihn keine Heerfolge leisten, war frei von Steuern und besaß eine eigene Gerichtsbarkeit.

Das Fuhrwerk näherte sich dem Ziel. In einer Gasse, nahe dem Marktplatz gelegen, blieben die Tiere ohne Addos Zutun einfach stehen. Sie wussten, dass sie zu Hause angekommen waren.

Freia, seine Gattin, umarmte und küsste ihren Mann. Die Verletzung am Bein blieb ihr nicht unbemerkt, worauf er ihr erklärte, was geschehen war. Die Reisen nach Speyer waren nicht ungefährlich. Für sie war das kein Geheimnis, weshalb sie jedes Mal die Angst ausstand, ihn nie wiederzusehen. Auch Isabeau und Matthias begrüßte sie herzlich und führte sie durch das ganze Haus. Das zweistöckige, im Fachwerkstil erbaute Gebäude sah von außen gewöhnlich aus. Erst im Inneren offenbarte es den Gästen, dass es der Wollhändler mit seinem Weib zu bescheidenem Reichtum gebracht hatte.

Erstaunt bemerkte Matthias, dass der Fußboden nicht aus festgestampftem Lehm, sondern aus Holzbohlen bestand und die Küche einen gemauerten Kamin besaß. Er nannte in seiner Hütte und in der Schmiede nur offene Feuerstellen sein Eigen, wo der Rauch durch ein Loch im Dach entwich. Zahlreiche Schränke standen in den Räumen sowie ein großer Tisch und Stühle mit Lehnen. Diese waren viel bequemer als Matthias’ dreibeinige Schemel, die er selbst angefertigt hatte. Dicke Kerzen erhellten die Räume und verströmten nicht den stechenden Rauch brennender Öllampen, welche die Augen tränen ließen.

Später nahmen sie am Tisch Platz und ließen sich schmecken, was die Hausherrin auftrug. Frisch gebackenes Brot, geräucherter Schinken, harter salziger Käse aus Schafsmilch, kalter Braten und Schweinefett ergaben ein deftiges Mahl. Natürlich fehlte auch nicht die von Addo viel gepriesene Kohlsuppe. Dazu reichte Freia würziges Starkbier, das ihnen schnell die Zungen lockerte.

 »Folgt dem Lauf der Donau. Auf einem Kahn oder Floß könnt ihr ohne längere Rast in zwei Wochen Wien erreichen. Viele Händler nutzen den Fluss, um ihre Waren in die großen Städte zu verschiffen, welche die Ufer säumen. Von Wien gelangt ihr südwärts nach Venedig. Es ist das Tor zum Orient, nachdem der Weg durch die Reiche der Ungarn und Bulgaren zu unsicher geworden ist«, schlug ihnen Addo mit vollem Mund kauend vor.

»Venedig? Melisande hat mir von dieser Stadt erzählt. Sie behauptete, sie läge im Meer und ihre Häuser und Straßen würden sich über eine Vielzahl von Inseln erstrecken, zwischen denen die Bewohner mit Ruderkähnen verkehren. Ihr Anblick soll märchenhaft sein und Sehnsüchte wecken«, sagte Isabeau begeistert mit leuchtenden Augen.

»Sehnsüchte wecken? Sie bringt wohl eher Nasen zum Rümpfen. Ein Vetter von mir war einmal dort. Nach seinen Worten treiben Unrat und die Notdurft der Bewohner in den Kanälen, in denen sich das Wasser nur unstet bewegt. Das ist nichts für zarte Gemüter. Doch eins stimmt. Die Stadt zieht die Menschen magisch an, da sie reich ist und mit ihren Schiffen das Meer beherrscht. Viele suchen dort ihr Glück. Doch nur wenige finden es«, wusste Addo zu berichten.

Isabeau horchte auf. »Du sprachst eben von Schiffen. Segeln die Venezianer auch nach Konstantinopel?«

»Ich hörte, sogar noch weiter. Bis ins Heilige Land und in ein Meer, welches das Schwarze genannt wird«, verriet er.

Matthias suchte Isabeaus Blick. »Wir sollten auf seinen Rat hören und dem Pfad nach Süden folgen. Als Schmied finde ich in Venedig bestimmt eine Arbeit. Wenn ich genügend verdient habe, suchen wir uns ein Schiff und bezahlen mit dem Geld unsere Überfahrt nach Konstantinopel oder ins Heilige Land.«

Sie nickte nachdenklich.

Addo holte aus einer Truhe einen kleinen Lederbeutel und legte ihn auf den Tisch. »Ihr werdet Geld brauchen, sonst kommt ihr nicht einmal bis Regensburg. Das sind fünfzig Silberpfennige. Sie werden euch eine Weile über Wasser halten und eurem Ziel näherbringen. Außerdem erhält Isabeau von meiner Frau ein anderes Gewand. Nicht wahr, Freia?«

Sie nickte zustimmend. »In ein Büßerhemd gekleidet kann sie nicht auf Reisen gehen. Es würde sie in Gefahr bringen.«

Entgeistert schauten sich ihre Gäste in die Augen. Mit dem Geschenk eröffneten sich ihnen ungeahnte Möglichkeiten. Freude und Erleichterung spiegelten sich in ihren Gesichtern wider. »Womit haben wir das verdient?«, fragte Isabeau.

»Ihr habt meinem Gemahl das Leben gerettet, da oben in den Wäldern der Alb. Dafür möchten wir uns dankbar zeigen. Eine gute Tat muss mit Gutem vergolten werden«, antwortete Freia lächelnd auf ihre Frage und umarmte die zwei innig. »Morgen wird euch Addo zum Hafen bringen und bei der Suche nach einem Boot helfen, das flussabwärts fährt. Er hat ein gutes Auge für Menschen und wird aufpassen, dass ihr keinem Betrüger auf den Leim geht.«

»Habt Dank für die Hilfe. Der Herrgott möge euch segnen«, sagte Matthias und drückte den Hausherrn an seine Brust.

Die Nacht brach herein. Nur eine Kerze erhellte dürftig den Raum. Isabeau lag wach auf ihrer Schlafstatt. Matthias, der neben ihr auf dem Boden ruhte, schien zu träumen. Murmelnde Wortfetzen, die sie nicht verstand, kamen ihm über die Lippen. Einmal glaubte sie, den Namen Agnes zu hören. Offenbar weilte der Schmied in Gedanken bei seiner verstorbenen Tochter. Einem unbestimmten Gefühl folgend, strich sie ihm sanft die Haarsträhnen aus der Stirn. Wirre Gedanken gingen ihr durch den Kopf.

Noch vor einer Woche wäre es für sie unvorstellbar gewesen, mit einem Schmied durchs Land zu ziehen oder im Haus eines Wollhändlers zu nächtigen. Seitdem hatte sich manches geändert. Jetzt spürte sie die Sorgen und Nöte der einfachen Menschen ganz aus der Nähe und war von deren Mitgefühl für ihre eigene missliche Lage beschämt. Es zeugte von ehrlicher Anteilnahme, welche sie in dem Maße für den niederen Stand bisher nicht aufgebracht hatte. Addo kam ihr in den Sinn. Ja, sie hatte ihm, einem gemeinen Mann, wahrscheinlich das Leben gerettet. Was hatte sie dazu angetrieben? Nächstenliebe? Sie war sich nicht sicher. Oder nur schierer Eigennutz, weil sie dessen Hilfe benötigte? Nein, bestimmt nicht. Sie erinnerte sich an Agnes, zu der sie Melisande geschickt

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Bildmaterialien:
Tag der Veröffentlichung: 02.12.2019
ISBN: 978-3-7487-2255-7

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