Im Schatten der Borgias - Ein mysteriöser Mordfall aus der Zeit der Renaissance
Historischer Kriminalroman
Stadtplan von Rom um 1500
Prolog
Rom, Mittwoch, 21. Juni 1497
Unruhig loderte die Flamme der Fackel, warf Schatten auf die rauen Felswände, während er tiefer in die Finsternis vordrang. Wie weit ihn seine Füße bereits getragen hatten, konnte er nicht ermessen. Er war sich sicher, nicht zurückzufinden. Aber das blieb in seinen Erwägungen bedeutungslos. Er durfte nicht umkehren, es blieb nur die Flucht nach vorn. Hinter ihm lauerte der Tod.
Der Weg gabelte sich. Zum wievielten Male? Er hatte die endlosen Stollen und Kammern nicht gezählt. Nur das Grauen in den Nischen der steinernen Wände, die gefüllt waren mit den Gebeinen zahlreicher Toter, erfüllte seinen Verstand. Sein Begleiter war der Bestie bereits zum Opfer gefallen. Was in Gottes Namen hatte ihn getrieben, diese Irrgänge zu betreten? Sie schienen der Vorhof zur Hölle zu sein. Hinter der nächsten Krümme erwartete ihn ein Kreuzweg. Ohne zu überlegen, wählte er den Gang, der über grob behauene Stufen nach unten führte. Näher zur Hölle? Er hatte keine Zeit, über die Frage nachzusinnen. Hinter sich hörte er das Schnaufen des Todesengels und dessen Geschrei nach Sühne. Er hatte die Ruhe der Dämonen gestört und war verurteilt, den Preis für seinen Frevel zu bezahlen. Entsetzt über sein bevorstehendes Ende, rannte er auf die Treppe zu und kam ins Stolpern, stürzte die Stufen hinunter. Mit schmerzenden Knien erhob er sich und erblickte einen Ort, der ihn befremdete. Er hob die Fackel vom Boden auf, die ihm am Ende der Treppe aus der Hand geglitten war, und bemerkte erstaunt, dass in diesem Teil des Labyrinths bunte Zeichnungen die Wände zierten: geheimnisvolle Bilder von mystischen Gestalten. Zeit zum Beschauen blieb ihm nicht. Die Angst vor dem Tod trübte seine Sinne. Allein seine Füße gehorchten ihm noch und trugen ihn weiter durch die dunklen Gänge.
Plötzlich hielt er inne. Er stand inmitten eines hohen Gewölbes. Der Schein der Fackel reichte kaum bis zur Decke hinauf, die sich über ihm wie der Himmel zu wölben schien. Auch hier waren flache, waagerechte Nischen in die Wände hineingemeißelt. Übereinander angeordnet reichten sie bis in eine Höhe von 10 Fuß. Der Boden war übersät von Trümmern zerschlagener Gefäße, zerbrochener Skulpturen und verstreuter, menschlicher Knochen. Ein Werk des Teufels? Am Ende des Gewölbes nahm er einen schmalen Durchgang wahr, der offenbar zu einer weiteren Grotte führte. Doch es war zu spät. Seine Flucht fand ein jähes Ende. Hinter sich vernahm er krächzend die Verkündigung seines Todes.
»Asmodaeus komme über deine sündige Seele! Du bist in mein Reich eingedrungen, um meine Schätze zu stehlen!«, brüllte die Kreatur und warf ihm seine mitgeführte Öllampe an den Kopf. Während er sich die brennenden Augen rieb, setzte sie zum Sprung an. Wie ein Wolf vergrub sie ihr Maul in seiner Kehle. Er wehrte sich mit aller Kraft. Schmerz durchzog seinen Hals und der Gestank der Bestie ließ ihn würgen. Mit letzter Kraft drückte er dem Vieh die Glut der Fackel ins strähnige Haar. Das Ding schrie auf und ließ von ihm ab. Taumelnd drückte er die Hände auf die tiefe Wunde, aus der in Strömen Blut rann. Er röchelte, bat um Gnade. Aber die Kreatur johlte dieselben Worte wie zuvor und bleckte mit ihrer knolligen Zunge die fauligen Zähne. Schließlich zückte sie ein langes Messer und stach es ihm ins Herz.
Kapitel 1
Rom, Freitag, 16. Juni 1497
Mit aufmerksamen Augen verfolgte Kapitän Vincenco Petrarca, der Anführer der städtischen Wache von Rom, das Feilschen der Kunden und Händler an den Verkaufsständen. Heute war Markttag auf der Piazza Santa Maria di Trastevere. Der junge Mann von niederem Adel nahm seinen dunklen Hut ab, den ein weißer Federbusch schmückte, und strich sich die schwarzen Haarsträhnen aus dem Gesicht. Mit einem Leinentuch wischte er sich über die Stirn. Es versprach ein heißer Tag zu werden.
Der Markt bot an Gütern alles, was mit Geld zu bezahlen war. Handelstische von Bauern reihten sich an Stände von Weinhändlern, Bierbrauern und Kräuterfrauen. Hinzu kamen unzählige Verkaufsbuden von Handwerkern jeglicher Art, die ihre Waren und Dienste anboten. Die meisten Blicke zogen jene Händler auf sich, die Produkte anboten, mit deren Erlesenheit sich andere auf dem Marktplatz nicht messen konnten: aromatische Gewürze aus dem Orient, feine Wolle aus England, edle Felle aus Russland, kristallklares Glas aus den Werkstätten von Muran in Venedig und prachtvolle Seide, die vom anderen Ende der Erde den Weg nach Rom gefunden hatte. Vincenco Petrarca liebte diesen Ort und empfand ihn wie einen Rausch. Die verschiedenen Gerüche vereinigten sich in seiner Nase zu einem Duft, der ihm die Sinne betörte und ihn die Größe der Welt erahnen ließ.
»Haltet den Dieb!«, schallte es unverhofft hinter seinem Rücken.
Flugs wandte er sich um und schnappte einen etwa achtjährigen Jungen am Schlafittchen. »Gino, kannst du das Mausen nicht lassen?«, tadelte er das Kind und blickte streng in dessen Augen.
»Dem Herrgott sei Dank, Ihr habt ihn gefangen«, schnaufte ein Händler außer Atem. »Rück sofort den Apfel heraus. Danach sorge ich dafür, dass dir der Henkersknecht die Hände abhackt, du elender Dieb.«
»Ruhig Blut. Es wird sich alles klären«, erstickte Vincenco die Rachegelüste des Obsthändlers im Keim. »Und wem die Hände abgehackt werden, bestimmst nicht du, Mario. Ich bin der Kapitän der Stadtwache und der rechte Arm des obersten Richters. Nur er entscheidet, wer eine Strafe erhält und wer nicht.« Mit diesen Worten warf er dem Bestohlenen eine Münze zu. »Der Apfel ist bezahlt, nun geh deiner Wege.«
Die Gruppe von Schaulustigen, die sich gebildet hatte, löste sich wieder auf, als der Händler zufrieden zu seinem Stand trottete. Vincenco beugte sich zu dem Jungen hinunter, fasste ihn mit einer Hand an der Schulter und strich ihm mit der anderen über den wirren Haarschopf. »Wo ist deine Schwester? Ich seh nur eure Mutter am Verkaufsstand.«
»Francesca ist nach dem Mittagsmahl zum Kräutersammeln aufgebrochen. Sie hat die Stadt durch die Porta San Sebastiano verlassen und kehrt erst am Abend zurück«, verriet er freimütig.
»Wenn du sie wiedersiehst, grüß sie von mir. Und noch etwas! Ich kann nicht jeden Tag auf dich aufpassen. Lass also das Stehlen, sonst schneidet dir wirklich noch jemand die Hände ab.«
Der Kleine lachte wie ein Schelm und rief neunmalklug: »Aber bloß, wenn ich erwischt werde!« Damit riss er sich los und verschwand in der Menge, so schnell ihn seine kleinen Beine trugen.
Kopfschüttelnd führte Vincenco seinen Kontrollgang über den Markt fort.
»Kapitän Petrarca! Endlich finde ich Euch!«, rief eine Stimme. Es war der alte Benedetto, der Schreiber des obersten Richters.
»Was gibt es Wichtiges?«, fragte Vincenco verwundert.
»Niccolo Fabrini möchte, dass Ihr schnellstens zur Stadtwache kommt.«
»Aus welchem Grund?«
»Ein hoch angesehener Bürger Roms ist einem Mord zum Opfer gefallen. Da die Umstände seines Todes kirchliche Belange einschließen, hat Papst Alexander dem Prälat Giovanni Bonelli das Amt des Inquisitors übertragen, um den Täter herauszufinden und dem Gericht zu überstellen«, erwiderte Benedetto. Der Ernst in seinen Worten zeugte von der Schwere des Verbrechens.
»Wer war der Mann, der zu Tode kam?«
»Der Herzog von Gandia.«
***
Die warmen Strahlen der späten Nachmittagssonne wärmten ihr Gesicht, als Francesca Renzi die von Pinien gesäumte Via Appia entlangging. Sie liebte die alte Römerstraße, die in Richtung Süden führte. Zweitausend Jahre sollte sie alt sein und Gutes wie Grausames erfahren haben.
Das schmale, dunkelhaarige Mädchen, gerade einmal achtzehn Jahre alt, war auf dem Weg zur Kirche Santa Maria in Palmis. Doch sie kam nicht zum Beten an diesen Ort. Zwischen den sanften Hügeln und Senken hinter dem Gotteshaus wuchsen die Kräuter und Wurzeln, die sie benötigte, um mit ihrer Mutter die heilenden Salben und Tränke herzustellen. Hier wuchs die Kamille, die Entzündungen bekämpfte, neben dem Salbei, der blutende Wunden stillte. Wenn das Glück ihr hold war, fand sie unter den Bäumen und Sträuchern sogar die Wurzel des Baldrians, der den Schlaflosen die ersehnte Ruhe bescherte.
Die Kirche kam in Sicht. Entgegen ihrem ersten Ansinnen betrat das Mädchen das Gotteshaus und betete ein Vaterunser, auf dass der Herr sie auf ihrem Weg sicher geleite.
Die Errichtung der kleinen Kirche, die viele Jahrhunderte zurücklag, ging auf ein wundersames Ereignis zurück. So gab sich an diesem Ort, der Legende zufolge, Jesus Christus dem heiligen Petrus zu erkennen, nachdem dieser aus Rom geflohen war. Auf die Frage von Petrus: »Quo vadis domine?«, habe er geantwortet: »Venio romam iterum crucifigi.« Daraufhin sei Petrus beschämt nach Rom zurückgekehrt, wo er das Martyrium erlitt. Natürlich verstand das Mädchen kein Latein, aber jeder Gläubige kannte die Begebenheit, die vor den Toren Roms stattgefunden hatte. Sie wusste, dass Petrus gefragt hatte, wohin er, der Herr, gehe, und Jesus Christus erwidert hatte, dass er sich in Rom zeigen wolle, um zum zweiten Male am Kreuz zu sterben. Ihr selbst war Gottes Sohn bisher nicht erschienen, obwohl sie eine gläubige Christin war. Wenngleich, wer war sie schon? Ein unbedeutendes, junges Ding, das sein tägliches Brot durch Kräutersammeln verdiente. Wie konnte sie sich mit Petrus auf eine Stufe stellen?
Nachdenklich verließ sie die Kirche und wanderte die Straße entlang nach Süden. Nach einer Weile verließ sie die Via Appia und wählte einen Pfad, der in Richtung Westen führte. Grüne, blühende Wiesen mit zahllosen Olivenbäumen säumten den Weg. Hier lag das Reich ihrer heilenden Kräuter. Der Duft lag betörend in der Luft. Bienen und Schmetterlinge labten sich am Nektar unzähliger Blüten und das Zirpen der Zikaden tönte friedfertig durch die Stille. Sie nahm ihren Weidenkorb von der Schulter und begann die Blüten der Kamille von den Stängeln abzuzupfen. Nur die Geöffneten erntete sie. Die geschlossenen Knospen brauchten noch Zeit, um ihre heilende Wirkung zu entfalten. Erst bei ihrem nächsten Besuch in zwei Tagen würden diese reif genug sein.
Neben einem uralten Olivenbaum, der bestimmt eintausend Sommer erlebt hatte, blieb sie stehen. Sie hatte eine Baldrianpflanze erspäht. Freudig nahm sie ihr Messer zur Hand, um die Wurzel auszugraben.
Was war das? Verwundert hielt sie inne. Ihr Blick fiel zwischen die monströsen Wurzeln des Baumes. Fast verdeckt von einem Rosmarinstrauch klaffte am Boden ein mannsbreites Loch, das ihr noch niemals aufgefallen war. Neugierig untersuchte sie ihren Fund und stellte fest, dass ein Seil in die Tiefe hinunterführte, das an einem dicken Ast festgeknotet war. Eine Weile überlegte sie, ob sie es wagen sollte, sich an dem Strick hinabzulassen. Von Wissbegier erfasst, entschloss sie sich, das Wesen des Loches zu ergründen. Sie ergriff das Seil und ließ sich langsam nach unten gleiten. Bereits nach 10 Fuß erreichte sie den Grund. Der Stollen, in dem sie aufrecht stehen konnte, schien schnurgerade von Osten nach Westen zu führen. Unter ihren Füßen lagen große Mengen Erde und loses Geröll verstreut. Demnach war die Decke eingebrochen und die Ursache des Lochs offenkundig. Ob mit oder ohne menschliches Zutun, blieb ungewiss. In der Düsternis wähnte sie östlich, wenige Schritte von sich entfernt, unförmige Gebilde auf dem Boden liegen. Ein Hauch von Fäulnis lag ihr in der Nase. Beunruhigt wandte sie die Augen ab. Um was es sich handelte, wollte sie lieber nicht wissen. Eine flache, waagerechte Nische in der Wand des Stollens erregte größeres Interesse. Obwohl es stockdunkel war, verrieten ihre Sinne, dass darin die Gebeine eines Toten ruhten. Sie wich zurück.
Für gewöhnlich hatte Francesca vor Verstorbenen keine Angst. Sie taten keiner Seele etwas zuleide. Schon öfters hatte sie den Tod vor Augen gehabt, wenn kranke Menschen sie um ihren Beistand gebeten hatten und sie nicht mehr in der Lage gewesen war, ihnen zu helfen. Auch hatte sie einige Hinrichtungen auf dem Marktplatz miterlebt. Doch nichts war mit dem Feuertod zu vergleichen, der dem Opfer unbeschreibliche Qualen bereitete und den Körper zu Asche verwandelte, während die gaffende Menge johlte und kreischte. Warum fanden die Menschen Vergnügen am Tod anderer und weshalb ließ Gott das Verbrennen auf dem Scheiterhaufen zu? Die Kirche Christi sprach von einer Reinigung der Seele. Aber was nützte eine reine Seele, wenn am Ende nichts blieb außer dem Staub im Wind? Einerseits vergab der Herrgott bei der Beichte dem Sünder seine Vergehen. Andererseits verbrannten Menschen wegen ihrer Verfehlungen im Feuer. Ein Widerspruch, den sie nicht verstand.
Zu ihren Füßen bemerkte sie ein kleines, rundes Objekt. Sie fiel auf die Knie und nahm es in die Hand – es war ein Ring. Wer hatte ihn verloren? Derjenige, der das Seil am Baum festgeknüpft hatte? Sie steckte ihn sich an den Daumen und trat den Rückweg an. Ihren Körper an dem Strick nach oben zu ziehen, bereitete ihr keine Mühe. Sie war gertenschlank und besaß kräftige Arme; eine Folge der Arbeit, die sie täglich zu verrichten hatte. Als sie dem Loch entstieg, nahm sie staunend wahr, dass der Ring aus purem Gold zu bestehen schien und mit einem funkelnden blauen Edelstein besetzt war. Ein Kleinod, wie sie es noch nie in Händen gehalten hatte. Francesca war froh, die warme Sonne auf der Haut zu spüren. Der verlockende Geruch der Kräuter auf der Wiese umspielte ihre Sinne. Sie musste sich sputen. Die Reise in die Unterwelt hatte Zeit gekostet und ihr Tragekorb war noch nicht gefüllt. Mit Eifer begann sie, die duftenden Dolden eines Lavendelstrauchs abzuschneiden. Trotzdem ging ihr der merkwürdige Stollen unter dem Olivenbaum nicht mehr aus dem Kopf. Wer hatte ihn erbaut und wozu diente er? Fragen, die unbeantwortet blieben.
***
Mit eiligen Schritten betrat Vincenco Petrarca das befestigte Gebäude der Stadtwache und des Richterkollegiums. Sein Weg führte ihn über mehrere Stufen hinauf in eine große Halle, in der die weltliche Gerichtsbarkeit Roms Recht über Betrüger, Diebe und Mörder sprach. Die Art des Urteils hing von der Schwere des Vergehens ab. Betrügern, insbesondere Händlern, die Waagen, Gewichte und Maße fälschlich handhabten, drohten hohe Geldbußen, das Auspeitschen oder der Tod. Schankwirte, die Wein oder Bier verfälschten, ertränkte der Henker in ihrem Gebräu, indem er sie packte und kopfüber in ein Fass tauchte. Mörder ereilte ein langsamer Tod. Ein Schwert oder die Schlinge kam hier nicht zum Einsatz. Das Ausweiten des Leibes oder das Abziehen der Haut waren gängige Methoden, das Sterben des Verurteilten hinauszuzögern. Hierzu zählte gleichfalls das Vierteilen, das Einflößen von geschmolzenem Blei oder das Rädern. Die schlimmste Todesart war den Ketzern und Hexen vorbehalten. Ihnen drohte ein unrühmliches Ende auf dem Scheiterhaufen. Vincenco hatte stets vermieden, solcherart Prozeduren beizuwohnen, da er sie verabscheute. Mörder für ihre Verbrechen zu bestrafen, stand für ihn außer Frage, aber Menschen zu quälen, widersprach seinem Glauben an das Gute in ihnen. Die brutalen Metzeleien empfand er als entwürdigendes Spektakel für den blutgierigen Mob in der Stadt. Papst Alexanders Vorgänger Innozenz war ein überzeugter Anhänger der Hexenverfolgung gewesen. Doch leider hatte mit seinem Ableben das Blutvergießen nicht nachgelassen.
Am Ende der Halle angelangt, folgte er dem weiten Flur, der zum Amtszimmer des obersten Richters führte. Den Wachposten an der Eingangstür ignorierte er und betrat unaufgefordert den Raum.
»Da seid Ihr ja endlich. Wir benötigen dringend Eure Hilfe und Euren Scharfsinn. Es geht um eine heikle Sache«, rief der alte Niccolo Fabrini. Neben dem glatzköpfigen, dickleibigen Richter stand der Inquisitor Giovanni Bonelli. Der vierzig Jahre alte Kirchenmann trug eine Kutte aus feinem Leinen, die in Höhe der Hüfte von einer ledernen Kordel geteilt wurde. Um seinen Hals hing eine lange Kette mit goldenem Kruzifix. Der klein gewachsene Mann war von hagerer Gestalt und das Gegenteil des großen, wuchtigen Fabrini. Sein Haupt war glatt rasiert bis auf einen Haarkranz an den Seiten. Zwischen seinen stechenden grünen Augen und dem schmallippigen Mund saß eine Nase, die an einen Habichtschnabel erinnerte. Sein Auftreten strahlte Strenge und Gefühlskälte aus. Wesenszüge, die Vincenco seit Jahren an ihm kannte. Ein Lächeln kam Bonelli selten über das Gesicht. Und wenn, dann aus Zynismus mit einem Ausdruck, der Gefangenen das Blut in den Adern gefrieren ließ. Welche Vorsehung ihn nach Rom geführt hatte, war Vincenco nicht bekannt. Jedenfalls war er mit keiner angestammten Familie in der Stadt verwandt. Sein Aufstieg im Vatikan hatte unter Papst Innozenz als Hexenjäger den Anfang genommen und seine Brutalität kannte keine Grenzen. Hunderte Ketzer und Frauen, die als Hexe verurteilt worden waren, hatte er im Laufe der Jahre auf dem Scheiterhaufen verbrennen lassen. Unter dem Borgiapapst gingen die Hexenverfolgungen deutlich zurück, dafür mehrten sich Mordanschläge mit politischem Hintergrund. Wenig Arbeit für die Heilige Inquisition, da diese Fälle dem weltlichen Gericht zufielen. Was also führte Bonelli in die Stadtwache?
»Ich hörte vom Tod des Befehlshabers der päpstlichen Armee.«
Richter Fabrini nickte. »Ein Fischer zog seinen Leichnam nach der Mittagsstunde aus dem Tiber. Folgt mir nach unten ins Verlies. Dort erwartet uns ein Anblick, der sich schwer in Worte kleiden lässt. Doch bewahrt Stillschweigen über das, was Ihr zu sehen bekommt. Der Papst will die Sache vertraulich behandelt sehen.«
Vincenco schwor, nichts nach außen verlautbaren zu lassen, und folgte ihnen. Zahlreiche Stufen trennten das Amtszimmer von dem Kerker, in den nie ein Sonnenstrahl drang. Die drei passierten den Wachmann und schritten mit einer Fackel durch düstere Stollen und Tunnel. Winzige Zellen säumten zu beiden Seiten den Gang, der den Abschaum Roms beherbergte. Bald erreichten sie ihr Ziel und betraten eine Kammer, in der die Wächter die Körper verstorbener Gefangener aufbewahrten. Ein halbes Dutzend Kerzen tauchten den Raum in ein schauriges Dämmerlicht. Die alten Mauern schwitzten Wasser aus, das sich mit dem Blut der Gefolterten und dem schimmelnden Stroh zu einem zähen Brei vermischte. Fäulnis und Verderben verliehen der Kammer ihren ganz eigenen Geruch.
Mitten in dem Raum lag auf einem Holzgestell ein Leichnam aufgebahrt. Bis zum Hals war er mit einem hellen Leinentuch bedeckt, das von mehreren rotbraunen Flecken gezeichnet war. Das Antlitz des jungen Mannes war unverletzt. Seine trüben Augen zeigten einen Ausdruck von Erstaunen, als hätte er seinen Mörder gekannt. Es war Juan Borgia, der Herzog von Gandia und Sohn von Rodrigo Borgia, dem amtierenden Papst Alexander VI., und seiner ehemaligen Geliebten, Vanozza de Cattanei.
»Er fiel einem Mörder und Dieb zum Opfer. Der goldene Ring, den er bei der Wahl zum Generalkapitän der päpstlichen Truppen erhielt, steckt nicht mehr an seinem Finger. Unverständlich bleibt, weshalb der Halunke den mit 30 Zechinen gefüllten Geldbeutel im Wams seines Opfers zurückließ«, erklärte der Richter mit belegter Stimme.
»Vermutlich hat ihn jemand bei seinem abscheulichen Tun gestört und er sah sich gezwungen, die Flucht zu ergreifen«, meinte Vincenco ungerührt. »Welchen Grund gibt es, in dieser Sache die Inquisition einzubeziehen? Solche Vergehen fallen unter die weltliche Gerichtsinstanz.«
»Dem will ich nicht widersprechen. Aber hier liegt ein spiritueller Aspekt vor«, ließ Giovanni Bonelli verlauten und zog das Leinentuch über der unbekleideten Leiche bis zu den Knien zurück.
Staunen überfiel Vincenco. Juans Körper hatten vom Hals bis zu den Schenkeln neun Messerstiche getroffen. Doch das war nicht das Beachtlichste: Hineingeschnitten mit einer scharfen Klinge prangte ein Wort auf dessen Brust: ASMODAEUS.
»Ein Mörder, der seinen Namen in die Haut seines Opfers ritzt? Das ist an Dummheit nicht zu überbieten. Wo seht Ihr einen spirituellen Aspekt?«
»Juan Borgia ist nicht der erste Tote dieser Art. In den letzten Wochen fanden Fischer sechs andere Leichen. Alle trieben im Tiber und trugen den Namen des biblischen Dämons auf der Brust. Mit Verlaub, Petrarca, das ist durchaus ein spiritueller Bezug«, bemerkte Bonelli.
»Was für ein Dämon? Wovon redet Ihr?«, fragte Vincenco verwirrt.
»Ich habe mich kundig gemacht. Der Lebenswandel der ersten sechs Opfer war von Spielsucht, Zügellosigkeit und Unzucht gezeichnet. Alles Gepräge, die eines gottesfürchtigen Menschen unwürdig sind. Vermutlich schlossen sie einen Pakt mit dem Teufel. Der schickte seinen Diener Asmodaeus nach Rom, um sie ihrer Seelen zu berauben.«
Vincenco war nicht wohl in der Haut. Bonellis Deutung über den Sinngehalt der Morde missfiel ihm. Er hielt sie für hanebüchenen Unsinn. Doch Vorsicht war geboten, um den Hexenjäger nicht zu erzürnen. »Ihr weckt meine Neugier. Bitte erzählt weiter, was es mit dem Dämon auf sich hat«, offerierte er, den Schein wahrend, Interesse an der Thematik.
»Die Bibel gibt über ihn genau Auskunft«, versicherte Bonelli. »Im Buch Tobit, einer Schrift aus dem alten Testament, ist von Sara die Rede, einer Frau, die sieben Mal verheiratet war, weil ein Dämon namens Asmodaeus jeden ihrer Ehemänner tötete. Sie betete zu Gott, dass er ihr helfe, und wurde erhört. Der Herr schickte ihr den Erzengel Rafael zu Hilfe, der von Tobias begleitet wurde, dem Sohn des gottesfürchtigen Tobit. Gemeinsam besiegten sie Asmodaeus und lösten den Fluch, der auf Sara lag. Daraufhin nahm Tobias sie zur Frau.«
Die Worte, die der Prälat vorgetragen hatte, verstörten Vincenco. Wo lag der Bezug zu den sieben Mordfällen in Rom? »Verzeiht, was soll mir die Geschichte über Tobias und Sara offenbaren?«
»Sie verdeutlicht, dass der Dämon existiert. Asmodaeus ist mitten unter uns und treibt sein Unwesen in Rom. Die Stadt verfällt immer mehr der Gottlosigkeit. Asmodaeus führt die Menschen in Versuchung und verleitet sie zu sündhaftem Treiben. Raserei, Begierde, Verschwendungssucht und Hurerei pflastern seinen Weg und lassen die Saat des Teufels aufgehen.«
Richter Fabrini hatte das Gespräch mit offenem Mund verfolgt. »Warum habt Ihr den Herzog von den Sünden ausgenommen, die Ihr den sechs anderen Opfern vorwerft? Jeder in Rom weiß von seinen nächtlichen Orgien und Tollheiten. Der Mob reißt sich über ihn die Mäuler auf und gibt Spottlieder zum Besten«, hielt er verwundert entgegen. Der finstere Blick des Kirchenmannes enthüllte ihm, dass er die Worte lieber für sich behalten hätte. Es war für das leibliche Wohl nicht förderlich, offen Kritik an den Borgias zu äußern. Viele Widersacher des Papstes hatten dies in einer dunklen Gasse mit einem Messer zwischen den Rippen bitter erfahren.
»Juan Borgia hat mit der herrschenden Unmoral nichts gemein. Das sind Verleumdungen und Lügen. Aus dem Grund ernannte mich der Papst zum Inquisitor. Ich soll das Ansehen des Herzogs schützen und Asmodaeus in die Hölle zurückschicken«, maßregelte Bonelli den Richter in einem Ton, der keinen Widerspruch duldete.
»Und was erwartet Ihr von mir?«, fragte Vincenco, der nur schwer ein Grinsen unterdrücken konnte. Er wusste, dass der älteste Sohn des Papstes kein Unschuldsengel gewesen war. Hurerei, Trunksucht und Raufereien waren bei ihm an der Tagesordnung gewesen. Sogar Morde sagte man ihm nach.
»Dämonen nisten gern in gottlosen Ketzern. Findet Juan Borgias Ring, dann stoßt Ihr auf den Mörder, der von Asmodaeus besessen ist. Der Finger, der ihn trägt, verrät ihn als Schuldigen. Ein Holzhändler, der in der Nähe des Hospitals des Hieronymus seine Ladung bewachte, beobachtete merkwürdige Vorgänge am Flussufer. Geht zu ihm. Er lebt im Stadtviertel Trastevere. Sein Name lautet Giorgio Schiavi. Er soll noch heute vor Gericht seine Aussage zu dem Geschehen kundtun. Womöglich kann er zur Lösung des Falls beitragen«, antwortete Bonelli und hob den Zeigefinger. »Aber vergesst nicht, über alles den Mantel des Schweigens zu hüllen. Von den dämonischen Malen auf der Brust des Herzogs wissen nur Seine Heiligkeit, Kardinal Cesare Borgia und wir drei. Solltet Ihr den Mund nicht halten können und der Vorfall bekannt werden, gebe ich Euch den Ratschlag, Eurem Leben selbst ein Ende zu setzen. Die Strafe für den Verrat wird unerbittlich sein.«
Vincenco beschloss, dem Hinweis nachzugehen. Allerdings glaubte er nicht an das Auftauchen eines Dämons. Er vermutete in dem Mord die Rache eines Widersachers, von denen es in der Stadt zahlreiche gab. Bonellis Drohung ließ ihn kalt. Im Schatten der Borgias zu leben, bedeutete täglich Gefahr für Leib und Leben. Seit drei Jahren führte Vincenco die Stadtwache an, nachdem sein Vorgänger während eines Scharmützels mit Spionen des französischen Königs an einer eiternden Wunde verstorben war. Irgendwie hatte er sich an die Bedrohungen gewöhnt, die sein Amt mit sich brachte.
***
Die Experimentierküche des Alchemisten Valentinus durchdrang ein Geruch, der an faule Eier erinnerte. Der vierzigjährige, hagere Mann rührte mit einem Löffel missmutig in einem Kupferkessel. Im Gestank des trüben Suds rang er nach Atem. Enttäuscht nahm er das Gefäß und kippte den Inhalt durch das geöffnete Butzenfenster auf die Straße.
Der Raum war nicht groß und die Wände, ebenso wie die Decke, vom Ruß schwarz eingefärbt. Ein mit Backsteinen gemauerter Ofen stellte den Mittelpunkt dar. Kolben, Destillieraufsätze und Flaschen aus Glas bildeten einen Kontrast zu den Tonschalen und Kupferkesseln. Zahllose Elixiere und Tinkturen, Gesteine und Kristalle lagerten in den Regalen und zeugten von Valentinus’ Bestreben, den Geheimnissen der Elemente auf die Schliche zu kommen.
Grübelnd blickte er auf eine Holztafel an der Wand, welche von oben bis unten mit Wörtern und Zeichen beschrieben war. Sie symbolisierten das Grundgerüst seines in vielen Jahren angeeigneten alchemistischen Weltbildes. Dieses fußte auf den Schriften des Hortulanus, von denen sich einige Abschriften in seinem Besitz befanden. In ihnen erläuterte der lange verstorbene Alchemist die Tabula Smaragdina; mystische Sätze, in denen sich die Weisheit der Welt verbarg. Ursprünglich vor Tausenden Jahren in Ägypten auf zwei Smaragdtafeln niedergeschrieben, sagten die Gelehrten deren Ursprung heidnischen Göttern nach. Neben der philosophischen Deutung der alten Texte stellten die Experimente, die er auf Grundlage des Opus Magnum durchführte, den zentralen Teil seines Schaffens dar. Dabei stützte er sich auf die Urstoffe der alten Griechen – Feuer, Luft, Wasser und Erde – und deren Merkmale heiß, kalt, feucht und trocken. Streng dem Opus Magnum folgend war das Finden des Steins der Weisen, der Quintessenz, um aus minderwertigen Substanzen Gold zu erschaffen, sein erstrebenswertestes Ziel. Bisher war ihm dies verwehrt geblieben.
Es klopfte. Valentinus wandte sich von der Holztafel ab und öffnete die Tür. Ein kleiner, gut gekleideter Mann in mittleren Jahren trat ein. Es war Johannes Burckard, der Protonotar und Zeremonienmeister des Papstes. »Was verschafft mir die Ehre Eures Besuchs, werter Bucardo?«, fragte er überrascht.
»Seine Heiligkeit Papst Alexander schickt mich, um Euch an den Vertrag zu erinnern, den Ihr im letzten Jahr mit ihm geschlossen habt und wofür Ihr einen Vorschuss von 100 Zechinen ausgezahlt bekamt. Er wartet noch immer auf den Beweis, dass Ihr aus unreinen Stoffen Gold und Silber extrahieren könnt. Bevor Ihr mir eine Antwort gebt, bedenkt, dass sein Sohn Juan einer Bluttat zum Opfer fiel. Er liegt in tiefer Trauer. Zorn erfüllt seine Gedanken, da er glaubt, nur noch von Mordbuben und Beutelschneidern umgeben zu sein, was ihn leider an Euch erinnerte. Dass er sein Geld zurückfordert, scheint mir Euer geringstes Problem zu sein. Möglicherweise lässt er Euch seine Wut auch auf andere Weise spüren.«
Die unverblümte Drohung von Johannes Burckard traf ihn wie ein Schlag. Er hatte geglaubt, Papst Alexander hätte ihn längst vergessen, nachdem er diesen vor einem Jahr um Geldmittel ersucht hatte, um seine Experimente bezahlen zu können. Die Aussicht auf eine nie versiegende Quelle von Reichtümern hatte dessen Gier geweckt und Valentinus die erhoffte finanzielle Hilfe beschert. Aber der Papst vergaß seine Schuldner nicht. Das erfuhr er jetzt mit Schrecken. Seine Situation war heikel. Die Borgias galten als skrupellos und hintertrieben. Er war gezwungen, sich etwas einfallen zu lassen oder Zeit zu schinden, sonst würde er in der Folterkammer der Engelsburg enden und nie wieder Tageslicht sehen. »Morgen Nachmittag will ich einen Versuch wagen, der Erfolg verheißt. Aus rotem Kupfer werde ich helles, glänzendes Silber erschaffen«, versicherte er und fügte listig hinzu: »Mir fehlt allerdings eine wichtige Zutat.«
»Sagt mir, was Ihr benötigt, und ich werde es besorgen«, erwiderte Johannes Burckard reserviert.
»Ich benötige den Harn eines unverdorbenen Knaben. Diese Ingredienz birgt die entscheidende Komponente, um die Transformation zu ermöglichen. Doch wo außerhalb der Mauern des Vatikans finde ich eine unschuldige Seele? Was soll ich tun?«
»Euer Wunsch ist ungewöhnlich. Ungeachtet dessen, seid gewiss, dass ich den Harn beschaffe. Im Vatikan dienen einige Pagen, die ich noch als rein und sündlos erachte. Bis morgen also«, verabschiedete sich Johannes Burckard und schloss die Tür hinter sich.
Nachdem der Riegel ins Schloss gefallen war, begann sich Valentinus einen Schlachtplan auszudenken. Nur eine List konnte ihn vor dem Gefängnis und der Folter bewahren. Als letzter Ausweg würde ihm nur eine überstürzte Flucht bleiben, für die er all sein Hab und Gut in Rom zurücklassen müsste.
***
Am späten Abend, kurz vor Sonnenuntergang, kehrte Francesca Renzi, den Korb mit Kräutern und Beeren reichlich gefüllt, nach Rom zurück. Als sie die Porta San Sebastiano passierte, tauchte plötzlich Abelardo vor ihr auf, der Anführer der Torwache. Neben ihm stand einer seiner berüchtigten Torhüter. Verächtlich musterte Abelardo das Mädchen vom Kopf bis zum Fuß. Sie erschrak, denn sie fürchtete ihn. Vor einigen Monaten hatte der massige, glatzköpfige Unhold, dessen rechte Wange eine tiefe Narbe zeichnete, um ihre Gunst gebuhlt. Einmal hatte er sogar versucht, ihren Leib mit Gewalt zu nehmen. Nur ihre verzweifelten Hilferufe hatten sie vor der Schande bewahrt. Seitdem war sie seinen Schikanen ausgesetzt. Er behandelte sie wie eine Aussätzige und nannte sie eine Teufelsanbeterin, die mit ihrem vergifteten Kraut die Menschen und Tiere verhexe. Alles, was sie über Heilkräuter und ihre Anwendung gegen Krankheiten wusste, hatte sie von ihrer Mutter gelernt. Wieso war es teuflisch, das Leid der Menschen mildern zu wollen oder sie von ihren Gebrechen zu erlösen? War es nicht ein gottgefälliges Werk? Hatte nicht schon Jesus Christus Kranke geheilt, ja sogar Verstorbene ins Leben zurückgeholt? Aber woher sollte der ruchlose Abelardo so etwas wissen? Einen Gottesdienst hatte er sicherlich lange nicht mehr besucht und des Lesens war er, anders als Francesca, nicht mächtig.
Seit dem Tag, als sie auf der Flucht vor dem lüsternen Abelardo dem Kapitän der Stadtwache, Vincenco Petrarca, in die Arme gelaufen war, hatte sich ihr Leben verändert. Wenn er sich in ihrer Nähe aufhielt, erschien alles in einem anderen Licht. Die Sorgen und Nöte, die sie bedrückten, traten in den Hintergrund. Die Sonne strahlte heller, die Welt war bunter und das Herz unter ihrer Mädchenbrust schlug ihr stürmisch bis zum Hals. Manchmal glaubte sie, ihr wüchsen Flügel. Ein Zustand der Leichtigkeit und Unbeschwertheit erfasste ihr Gemüt und gab ihr das Gefühl, sie könnte fliegen. Auf die Frage ihrer Mutter, was mit ihr geschehen sei, hatte Francesca lächelnd gemeint, sie sei verliebt. Ein Mann sei in ihr Leben getreten. Der Erste, nachdem ihr Vater vor Jahren verstorben war. Ein Mann, der im Ansehen weit höher stand als sie. Ob es schicklich von ihr war, auf seine Liebe zu hoffen? Schon oft hatte sie sich diese Frage gestellt, da eine Heirat von Mann und Frau unterschiedlichen Ranges in Rom verpönt war.
Als Vincenco einmal schwer krank gewesen war, hatte sie ihn gepflegt, bis er genas. Zum Dank hatte er es sich zur Aufgabe gemacht, ihr das Lesen und Schreiben beizubringen. Und das mit Erfolg. Bereits nach wenigen Tagen war sie in der Lage gewesen, die Buchstaben ihres Namens auf ein Stück Pergament zu kritzeln. Andächtig hatte sie die Zeichen betrachtet, die etwas Mystisches ausstrahlten. Geheimnisse, in die sie nun eingeweiht war. Ein paar Wochen später las sie fließend, was sie zuvor selbst aufgeschrieben hatte. Mit dem erworbenen Wissen zählte sie fortan zu einem Kreis von Auserwählten, der selbst manchem Adligen vorenthalten blieb. Als Francesca mit dem Federkiel »Ich liebe dich« auf Vincencos Armrücken geschrieben hatte, war es um beide geschehen gewesen. Innig hatten sie sich umarmt und zum ersten Mal geküsst. Diesen Moment würde sie niemals vergessen. Es war die schönste und tiefste Empfindung, die sie in ihrem jungen Leben erfahren hatte.
»Was trägst du am Finger?«, fragte Abelardo und ergriff sie ruppig am Arm.
»Lass mich auf der Stelle los oder ich berichte dem Kapitän der Stadtwache über dein unbotmäßiges Benehmen«, drohte sie und versuchte sich loszureißen.
»Petrarca kann mir nichts vorschreiben. Ich unterstehe nicht seinem Befehl, du kleine Hexe«, antwortete er giftig und betrachtete mit gierigen Augen den Ring an ihrem Daumen. »Wo hast du das Schmuckstück her? Etwa gestohlen?«
»Nein, gefunden! Der Ring lag am Grunde eines Lochs in der Nähe der Kirche Santa Maria in Palmis«, erwiderte sie.
»In einem Loch? Wird wohl die Pforte zur Hölle gewesen sein. Demnach hast du dem Teufel beigewohnt und ihn für die Gefälligkeit als Lohn erhalten. Ich habe immer gewusst, dass du mit Dämonen verkehrst. Irgendwann endest du auf dem Scheiterhaufen, Francesca, und ich werde zusehen, wie die Flammen deine Haut und dein Fleisch rösten, bis sie schwarz werden. Deine Schmerzensschreie werden mir den Tag versüßen. Rück den Ring heraus! Teufelswerk darf nicht in die Stadt gelangen.« Brutal verdrehte er dem Mädchen den Arm, sodass sie sich nicht wehren konnte, und zog ihr das Schmuckstück vom Finger. »Nun scher dich weg oder ich lass dich in den Kerker werfen! Ein Grund fällt mir gewiss leicht ein«, drohte er und lenkte seine Schritte zur Wachstube.
Der Torhüter, welcher der Szene wortlos beigewohnt hatte, folgte ihm und rief unverblümt: »Die Hälfte des Gewinns steht mir zu!«
Abelardo blickte ihn erstaunt an, gab jedoch keine Antwort auf die dreiste Forderung.
Den schmerzenden Arm reibend eilte Francesca nach Hause. Sie wünschte dem ruchlosen Abelardo den Teufel an den Hals und ärgerte sich über ihre Dummheit. Wieso hatte sie den Ring am Daumen stecken lassen und nicht in ihrem Mieder verborgen, das sie unter ihrem Leinenkleid trug? Sie erschrak über ihre Gedanken. Der Ring war nicht wichtig. Sie musste vorsichtig sein. Abelardo war ein Schuft, der Lügen über sie verbreitete. Oftmals trafen Unwahrheiten auf offene Ohren. Sie beschloss, Vincenco von dem Vorfall zu berichten. Vielleicht fand er einen Weg, Abelardo in die Schranken zu weisen.
***
Im Stadtteil Trastevere, einem Gewirr von Gassen mit alten Kirchen und Palästen aus Ziegelsteinen, lebten einfache Leute. Händler und Handwerker, Flussfischer und Müller, deren Mühlen die Sabatinische Wasserleitung am Janiculus antrieb. Auch Tagelöhner und Hinzugezogene vom umliegenden Land gingen an diesem Ort ihrem Broterwerb nach.
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Texte: Holmer Rosenkranz
Bildmaterialien: © samott - https://de.fotolia.com/id/66700410 - Famous Roman ruins in Rome – Fotolia; © sandaboy - https://de.fotolia.com/id/64797201 - brunette man in the cape - Fotolia; Covergestaltung: Chris Gilcher - http://design.chrisgilcher.com
Lektorat: Lektorat: Natalie Röllig / Lektorat Bücherseele
Tag der Veröffentlichung: 03.03.2016
ISBN: 978-3-7396-4107-2
Alle Rechte vorbehalten