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Leseprobe

Das Geheimnis des zweiten Tempels

Roman

Prolog

Laut trommelten die Regentropfen des nächtlichen Sommergewitters an die Fensterscheiben der im Halbdunkel liegenden Bibliothek. Der Strom war seit längerer Zeit ausgefallen. Nur einige Kerzen beleuchteten notdürftig den hölzernen Lesetisch.

Ein hell aufleuchtender Blitz tauchte den Raum in ein gespenstisches Licht. Der kurz darauf folgende Donnerschlag krachte so heftig, dass die Kerzen zu flackern begannen.

Erschrocken blickte Samuel Goldmann zum Fenster, doch die Schwärze der Nacht hinter den klappernden Glasscheiben hatte die Oberhand schon zurückgewonnen. Erst jetzt bemerkte er das heraufziehende Unwetter. Zu tief war er den Verlockungen der vergilbten römischen Handschrift verfallen gewesen.

Aus dem Dunkel tauchte geisterhaft die Silhouette des Bibliothekars auf. „Was gibt es Wichtiges, Signore Francesco?“, fragte Goldmann verunsichert über die unerwartete Störung.

„Sie sollten die Nacht lieber hier verbringen“, erhielt er besorgt zur Antwort. „Draußen schüttet es wie aus Kannen. Sie werden klatschnass, bevor Sie Ihr Hotel erreichen. Außerdem drohen nach Sonnenuntergang auf den Straßen von Florenz Gefahren. Besonders wenn man wie Sie jüdischer Abstammung ist. Faschistische Schlägertrupps treiben in der Stadt ihr Unwesen und machen Jagd auf die Gegner des Duce. Es gab bereits Tote zu beklagen.“

„Herzlichen Dank für die Warnung, Francesco. Ich weiß das Angebot zu schätzen und nehme es gern an. Auf diese Weise kann ich in Ruhe das Manuskript zu Ende lesen.“

„Ich werde Ihnen eine Tasse Tee bringen“, meinte der Bibliothekar beruhigt und entschwand in die Finsternis des nächtlichen Lesesaales.

Erneut schenkte Goldmann dem rätselhaften Text reges Interesse. Abermals verlor er sich in der faszinierenden Erzählung aus einer im Nebel der Jahrtausende verblassten Zeit. Sie offenbarte so viel Unbekanntes, ja so viel Unglaubliches, dass dem verblüfften Wissenschaftler ein eisiger Schauer über den Rücken lief.

Während draußen auf der Straße vor der Bibliothek braune Horden johlend ihren Hass gegen die Menschheit hinausschrien, begann er die mysteriösen lateinischen Sätze Wort für Wort in die deutsche Sprache zu übersetzen.

Kapitel 1

1.

 

Die Nacht war wunderbar mild und sternenklar. Der Sommer war seit einigen Tagen richtig in Fahrt gekommen. Doch dafür zeigte Georg Gruber keine Muße. Der etwa 50-jährige Mann stand im Schutz einer dunklen Toreinfahrt und spähte auf die grünen, lumineszierenden Zeiger seiner Armbanduhr. Es war eine Stunde vor Mitternacht. Lässig lehnte er mit dem Rücken an einem Pfeiler und beobachtete die Villa auf der anderen Straßenseite. Die Fenster des Hauses waren hell erleuchtet. Nicht eine Sekunde verlor er sie aus den Augen. Zu gern wüsste er, was sich hinter ihnen abspielte.

Das Licht der Laterne, nur wenige Meter von ihm entfernt, flackerte gelegentlich und tauchte die Straße in ein abstruses, gespenstisches Licht. Ein Insekt, angelockt durch die Helligkeit, kreiste irritiert um den Reflektor der Lampe. Mehrmals stieß es mit ihm zusammen und verursachte ein unangenehmes, knackendes Geräusch.

Georg Gruber zog ein letztes Mal an seiner Zigarette und schnippte mit den Fingern den Stummel achtlos auf den Boden. Hell aufglühende Funken stoben konfus über das Pflaster und verrieten seine Anwesenheit.

Als hätten sie auf ein Zeichen gewartet, überquerten plötzlich zwei dunkle Gestalten eilig die Fahrbahn und liefen direkt auf ihn zu.

„Habt ihr das Manuskript?“, fragte er die beiden Männer.

„Leider nein. Wir mussten die Aktion abbrechen. Die alte Frau kehrte überraschend zurück. Und sie kam nicht allein. Ein junger Mann begleitete sie in ihre Wohnung. Im Augenblick können wir nichts tun, ohne Aufsehen zu erregen“, antwortete Diego Alvarez.

„Vielleicht sollten wir die Sache heute abblasen und morgen zurückkehren“, schlug Juan Gomez vor.

Unentschlossen, wie er entscheiden sollte, strich sich Georg Gruber die graublonden Haarsträhnen aus der Stirn, die ihm der laue Nachtwind vor die Augen wirbelte. Nachdenklich schaute er in die fragenden Gesichter der beiden Männer. Er erinnerte sich an ihr erstes Zusammentreffen. Das war vor über einem Jahr auf der Hazienda seiner Familie gewesen. Otto Gruber hatte zu der Zeit verfügt, dass sein Sohn die Geschäfte des Landgutes weiterführt, und ihn aufgrund einer schweren Krankheit aus Buenos Aires zurückgerufen. Doch Georg, an den Trubel und die Ausschweifungen in der Metropole gewöhnt, hasste das Leben auf dem Land. Er hatte sich geschworen, nach dem Tod seines Vaters alles zu verkaufen und nach Buenos Aires zurückzukehren. Wenige Tage später fand Otto Gruber seine letzte Ruhe neben seiner Ehefrau Susanna, die einige Jahre zuvor bei einem tragischen Unfall verstorben war. Zwar hatten sich Stimmen gemeldet, die behaupteten, er hätte sie in Wahrheit im Alkoholrausch erschlagen, bewiesen wurde die Anschuldigung allerdings nie.

Die Testamentseröffnung hatte ein böses Erwachen beschert und Georg Grubers Zukunftspläne wie ein Kartenhaus zum Einsturz gebracht. Die finanzielle Lage der Rinderfarm stellte sich als katastrophal heraus, da die Bilanzen eine hohe Überschuldung des Unternehmens dokumentierten. Auch auf der Hazienda lasteten mehrere Hypotheken. Er brauchte eine Woche, um den Schlag zu verdauen und sich bewusst zu werden, was er mit dem ruinösen Anwesen anstellen sollte.

Zu der Zeit waren Gomez und Alvarez aufgetaucht und hatten ihre Dienste angeboten. Die beiden sonnengebräunten, 40-jährigen Gauchos, mit ihren zu Zöpfen gebundenen, langen schwarzen Haaren, waren Nachkommen eingewanderter Spanier und einheimischer Indios. Vor über 15 Jahren hatte sie Otto Gruber in den Pampas der Region Córdoba aufgelesen. Sie entpuppten sich als skrupellose Ganoven, die für einen Judaslohn vor Mord nicht zurückschreckten. Dabei gingen sie brutal und zügellos vor. Ihre geistige Armut machte sie zu willfährigen Handlangern, deren kriminelle Energie sich leicht in die gewünschte Richtung lenken ließ. Otto Gruber hatte das beizeiten erkannt und ihre speziellen Dienste erfolgreich zu nutzen gewusst. Wenn seine Interessen in Gefahr geraten waren, hatte er stets auf Gomez und Alvarez zurückgegriffen, um sie das heikle Problem klären oder vielmehr beseitigen zu lassen. Moralische Bedenken, einen Widersacher oder Konkurrenten zu ermorden, entwickelte er nie. Ihn kennzeichnete ein kaltblütiger und verbrecherischer Charakter, der ihm vermutlich von Heinrich Gruber in die Wiege gelegt worden war.

Die wahre Herkunft von Georgs Großvater war für Außenstehende stets ein Rätsel geblieben. Im Frühjahr 1945 war er samt Familie in Buenos Aires aufgetaucht und hatte die argentinische Staatsbürgerschaft beantragt, welche ihm durch die Einwanderungsbehörde kompromisslos gewährt worden war. Anschließend hatte er sich in der Provinz Córdoba niedergelassen, um Viehzucht zu betreiben. Nötige Geldmittel für den Kauf eines großen Landgutes hatte er reichlich besessen. Er war kein armer Mann gewesen. Georg Gruber wusste, dass sein Großvater im faschistischen Deutschland der SS angehört hatte und in Wirklichkeit Heinrich Brunner hieß. In den letzten Kriegstagen, kurz bevor er aus Deutschland geflohen war, hatte er seinen Nachnamen in Gruber geändert, um einer Gefangennahme durch die Alliierten zu entgehen. Warum er das getan hatte, wurde verständlich, wenn man wie Georg einige Hintergründe kannte. So war er unter anderem im deutsch okkupierten Teil Frankreichs mehrere Jahre an fragwürdigen Kunstgeschäften beteiligt gewesen und hatte die gezielte Tötung im Wege stehender Personen zu verantworten. Nähere Einzelheiten über die zwielichtigen Vorgänge kannte allerdings auch sein Enkel nicht, der im gleichen Maße handelte wie sein Vorfahr – stets gewaltbereit und ohne einen Funken Gewissen. Der Zweck heiligte ihm die Mittel. Er sah kein Problem darin, einem Menschen Leid zuzufügen, um dadurch einen Vorteil zu erringen. „Der Stärkere setzt sich gegen den Schwachen durch“, pflegte er des Öfteren zu sagen. „Das ist ein elementares Gesetz der Natur. Nur der Sieger kann die Leiter des Erfolgs nach oben steigen. Minderwertiges bleibt auf der Strecke und wird ausgelöscht. Es gibt keinen Grund, sich Gewissensbisse zu machen. Gedanken über Menschlichkeit, Würde und Moral sind etwas für Schwächlinge und Versager.“

Großvater und Enkel trennten zwei Generationen, doch ihre seelenlosen Charaktere schienen am selben Tag geboren zu sein.

Nach dem Begräbnis stieß Georg Gruber im Nachlass des Vaters auf einen ominösen Brief, dessen markanter Schreibstil Heinrich Brunner als Verfasser erkennen ließ. Die Anschrift nannte als Empfänger das Deutsche Institut für experimentelle Archäologie in Berlin. Merkwürdigerweise gelangte er nie ans Ziel.

Sein Großvater berichtet darin von einem Erlebnis auf einem Passagierschiff, das sich im Frühjahr 1939 während der Überfahrt von Kreta nach Palästina zugetragen hatte. Dessen ungeahnte Tragweite veranlasste ihn, einer mysteriösen Sache nachzugehen. Dabei erwähnte er den Tempelschatz von Jerusalem und beteuerte, die Priester hätten einen Teil der Kostbarkeiten vor den Römern in Sicherheit gebracht. Eine Information, die er während eines gemeinsamen Essens an Bord dem Munde des Pariser Geschichtsprofessors Bernard Messier entlockte. Ein enger Freund des Franzosen, der Jude Samuel Goldmann, der sich gleichfalls auf dem Schiff befand, sollte nach dessen Worten eine römische Handschrift besitzen. Angeblich verriet sie den Aufbewahrungsort einer kupfernen Schriftrolle, welche wiederum das Versteck der Schätze offenbarte.

Aus Brunners Brief ging hervor, welche Absicht er verfolgte. Er wollte das rätselhafte Dokument seinem Eigentümer entreißen. Doch bevor er den Plan in die Tat umsetzen konnte, machten sich Goldmann und Messier aus dem Staub. Trotz intensiver Ermittlungen verloren sich ihre Spuren im Nichts. Heute, ein Dreivierteljahrhundert nach diesen Ereignissen, observierte Georg Gruber das Haus von Goldmanns Enkelin Ruth Steiner. Hier schloss sich ein Kreis, der vor einer Ewigkeit seinen Anfang nahm.

Die Suche nach möglichen Nachkommen Samuel Goldmanns gestaltete sich aufwendig und kostspielig. Erst nach Monaten brachte er in Erfahrung, wo seine Enkelin lebte – in der Schweiz. Die Nachforschungen über die Tempelschätze von Jerusalem verliefen dagegen schneller, brachten gleichwohl im Ergebnis nichts Greifbares. Eines stand indes fest: Es gab keine Anzeichen, dass Goldmann und Messier der Schatz jemals in die Hände gefallen war. In den Archiven der großen europäischen Printmedien existierten zwar zahlreiche Artikel über Ausgrabungen und Funde, die mitunter bis in die 30er Jahre zurückreichten, doch keiner von ihnen feierte das Auffinden eines herausragenden archäologischen Artefaktes oder Kunstwerkes in Palästina. Warum die Expedition von Goldmann und Messier erfolglos geblieben war, konnte er nur vermuten. Vielleicht war ihr der ausbrechende Zweite Weltkrieg zum Verhängnis geworden. Auch in den Jahren davor hatten keine günstigen Bedingungen für archäologische Ausgrabungen im Nahen Osten geherrscht. Das gottgelobte Land war seit Menschengedenken ein permanenter politischer Unruheherd. Alles deutete darauf hin, dass das Geheimnis um den verlorenen Tempelschatz noch immer auf seine Entdeckung wartete. Zur Lösung des Rätsels benötigte er unbedingt Goldmanns Manuskript. Er vermutete es in den Händen von Ruth Steiner. Dies bewahrheitete sich durch einen glücklichen Umstand. Als er am gestrigen Abend das Haus zum ersten Mal in Augenschein nahm, belauschte er unter einem geöffneten Fenster ein Telefonat. Dabei erwähnte die alte Frau das Manuskript und teilte ihrem Gesprächsteilnehmer unverhohlen mit, es im Safe ihrer Bibliothek aufzuwahren. Er hatte auf das richtige Pferd gesetzt. Ruth Steiner besaß den lang gesuchten Schlüssel, der die Auflösung eines uralten Mysteriums versprach.

Georg Gruber tauchte aus dem Meer seiner Erinnerungen auf. Der Vorschlag von Gomez kam ihm wieder in den Sinn. Sollten sie sich zurückziehen und ein anderes Mal zurückkehren? Eigentlich wollte er keine Zeit verlieren und das Schriftstück schnellstmöglich in seinen Besitz bringen. Die Flugtickets nach Israel am kommenden Morgen hatten sie vorsorglich schon am Nachmittag gebucht. Noch fehlte ihm ein wichtiges Detail im Plan: die genaue Lokalisation des Verstecks der kupfernen Schriftrolle. Dieses Faktum konnte er nur aus der Handschrift erfahren. Die Tragweite der Entscheidung abwägend, zündete er sich eine neue Zigarette an und blickte abermals grübelnd in die verdunkelten Gesichter seiner beiden Handlanger, die im Schatten der Toreinfahrt standen. Endlich fasste er einen Entschluss: „Wir bleiben hier und warten, bis der unbekannte Besucher das Haus verlässt. Unser Flugzeug startet erst 7:00 Uhr. Wir verfügen also noch über genügend Zeit“, entgegnete er entschieden. „Diego, du bleibst hier in Genf. Du wirst dem Mann folgen und herausfinden, wer er ist und was er für Absichten hegt. Ich gehe kein Risiko mehr ein. Sobald die Frau zu Bett geht, steigen Gomez und ich durch das Fenster auf der Gartenseite in die Wohnung ein, um das Dokument in unseren Besitz zu bringen. Notfalls mit Gewalt.“

Die beiden Gauchos gaben keine Antwort und nickten stumm. Die Stille der Nacht nahm wieder Besitz von der Straße. Nur das rasselnde Schwirren des verwirrten Insekts an der Laterne war noch zu hören.

 

2.

 

„Ihr Anruf gestern Abend kam überraschend. So schnell habe ich nicht mit einer Reaktion Ihrerseits gerechnet“, gestand Mark Weber freimütig Ruth Steiner.

„Glauben Sie mir, es gibt einen wichtigen Grund für meine Eile“, antwortete die etwa 60 Jahre alte Frau auf dessen Bemerkung. „Als Sie mir anvertrauten, an welchem Projekt Sie momentan arbeiten und mich um Unterstützung baten, entschloss ich mich spontan, Ihnen diese Hilfe zu gewähren. Ich muss Ihnen unbedingt das Manuskript zeigen, über das wir uns gestern am Telefon unterhielten. Darin finden Sie das Vermächtnis eines geläuterten Mannes niedergeschrieben. So zumindest betitelt der antike Autor den ominösen Text. Er birgt Geheimnisse, die Sie zum Erstaunen bringen werden.“

In den letzten Monaten hatte sich Mark Weber intensiv mit der Vita Samuel Goldmanns beschäftigt, da er die Absicht verfolgte, eine Biografie über die angesehene Geschichtskoryphäe zu veröffentlichen. Der schlanke, dunkelhaarige Mittdreißiger, der in Berlin als renommierter Historiker und Sachbuchautor arbeitete, hatte nach interessanten Details in dessen hinterlassener wissenschaftlicher Arbeit recherchiert. Bald darauf war er an einen toten Punkt gelangt. Ihm fehlten Informationen, die Auskunft über Goldmanns letzte Lebensjahre gaben. Veröffentlichungen aus jener Zeit existierten leider nicht. Der Verzweiflung nahe, suchte er nach einer Lösung des Dilemmas. Er kam auf die Idee, mit seinen Nachfahren in Verbindung zu treten. Von ihnen erhoffte er, die fehlenden Puzzleteile zu erhalten, unter anderem stichhaltige Aussagen über Goldmanns archäologische Feldarbeit in Palästina. Eine geheimnisumwitterte Unternehmung, über die es keine Einzelheiten zu erfahren gab. Wochen später erreichte ihn die erlösende Nachricht, dass seine Enkelin in der Schweiz lebte, und sein Optimismus kehrte zurück. In einem umfassenden Dossier legte er ihr das Konzept seines Buchprojektes vor und bat um Beistand bei dessen Umsetzung. Schließlich rief ihn Ruth Steiner unerwartet in Berlin an. Im Laufe des Gesprächs bestürmte sie ihn, so schnell wie möglich in die Schweiz zu kommen. Der Grund, den sie angab, verhieß eine Sensation riesigen Ausmaßes. Angesichts der in Aussicht gestellten Enthüllungen stimmte er ihrem Vorschlag zu. Bei seiner Ankunft am Abend in Genf wartete Ruth Steiner bereits in der Lobby des Hotels, um ihn abzuholen. In ihrer Villa am Stadtrand präsentierte sie ihm das ungewöhnliche Erbe ihres Ahnen: die Übersetzung einer römischen Handschrift über eine rätselhafte Episode aus dem Leben des jüdischen Chronisten Flavius Josephus.

Ruth Steiner öffnete einen kleinen Wandsafe, zog einen Stapel loser beschriebener Seiten heraus und legte ihn auf den Schreibtisch. „Ich werde Sie mit der Lektüre eine Weile alleine lassen. Fragen Sie mich jetzt bitte nichts“, bat sie ihren Gast inständig als Antwort auf sein erstauntes Gesicht. „Lesen Sie den Text in Ruhe durch. Später werden wir über alles sprechen.“

Nachdem sie die Bibliothek verlassen hatte, nahm er aufgeregt das erste Blatt in die Hände. Webers Erwartungen wurden nicht enttäuscht. Schnell verfiel er dem Zauber der märchenhaften Erzählung aus alter Zeit, sodass er alles um sich herum vergaß.

 

 

Das Vermächtnis eines geläuterten Mannes

 

I.

 

... unbeugsam trieb es ihn nach oben auf die Bastion. In seinen Augen zeigte sich keine Angst. Zutiefst entschlossen, dem Unvermeidlichen ins Angesicht zu schauen, betrat er die westliche Wehrmauer der Festung. Sein Blick fiel hinab auf einen tiefer gelegenen Hügel, den eine von Menschenhand aufgeschüttete Erdrampe mit dem Tafelberg verband, auf dem das letzte Bollwerk judäischen Widerstandes wie ein Raubvogelnest thronte. Zwei Stadien von ihm entfernt, formierte sich die X. Legion des Statthalters von Judäa, Lucius Flavius Silva, zum alles entscheidenden Angriff. Die blanken Rüstungen der römischen Offiziere funkelten hell im Sonnenlicht und die roten Federbüsche ihrer Helme wogen sich sanft im Wind. Eine leichte Brise trug ihre lauten Kommandos hinauf auf das Plateau. Eleazar konnte sie deutlich hören.

In einer Linie setzten sich die Legionäre der vorderen Centurien in Bewegung. Ihre Schilder und Kurzschwerter führten sie eng am Körper. Ihnen folgten mehrere Kohorten Steinschleuderer, deren Oberkörper in Gepardenfelle gehüllt waren. Der Fall der Festung schien endgültig besiegelt. Dem grausamen Schicksal, das ihn erwartete, begegnete er mit Gleichmut. Er haderte nicht mit der Niederlage. Er sehnte sich sogar nach dem Tod. Breitbeinig stellte er sich auf die Brüstung der Mauer und sah den Angreifern stolz in die grimmigen Gesichter. Sein Schwert hob er trotzig, für den Feind weithin sichtbar, in den tiefblauen Himmel Judäas. Jene verhängnisvolle Waffe, mit der er noch vor wenigen Stunden die Leiber der Gefährten durchbohrt hatte. Männer, Frauen und Kinder waren durch seine Hand gestorben, da die Menschen auf der Burg einmütig beschlossen hatten, sich den Römern niemals zu ergeben, und stattdessen vorzogen, lieber in Freiheit zu sterben, als ein Dasein in der Sklaverei zu fristen. Das Los hatte ihn und neun weitere Männer dazu bestimmt, die Henkersarbeit zu verrichten. Nach dem schrecklichen Gemetzel hatte er bereitwillig auch dem Leben seiner blutbesudelten Helfer ein Ende gesetzt. Von diesem Augenblick an war er, Eleazar ben Jair, der letzte Verteidiger der Festung Masada.

Die Legionäre erreichten den Fuß der Zitadelle. Ihre Gesichter zeichnete tiefer Hass, hatte sich die Belagerung von Masada doch über Monate endlos hingezogen. Mit langen Sturmleitern bezwangen sie ohne Gegenwehr die hohen Mauern. Wütende Beschimpfungen flogen Eleazar entgegen.

Im Einklang mit sich selbst schloss er die Augen. Eine friedliche Stille nahm ihn gefangen. Das Kriegsgeschrei der Angreifer verstummte. Nur das ruhige, gleichmäßige Schlagen des Herzens in der Brust erfüllte sein Bewusstsein. Furchtlos wartete er darauf, von den Schwertern der wütenden Angreifer erschlagen zu werden. Unerschrocken rief er ihnen entgegen: „Hier bin ich! Tötet mich!“ Als Antwort traf ihn ein Stein aus einer Schleuder heftig am Kopf. Besinnungslos sank er zu Boden.

 

II.

 

Verwundert hob Eleazar den Kopf und lauschte mit geschlossenen Augen. Was war mit ihm geschehen? Hatte er zu Gott gefunden oder war er aus einem Traum erwacht? Langsam schärften sich seine Sinne und die Erinnerungen an das, was ihm widerfahren war, kehrten allmählich zurück. Die Enttäuschung darüber, dass er noch im Diesseits wandelte, wurzelte tief, hatte er seine Erlösung doch inständig herbeigewünscht.

Der unbekannte Ort, an dem er sich befand, roch ekelhaft nach Exkrementen und fauligem Stroh. Der Kopf, von angetrocknetem Blut verklebt, schmerzte und in der ausgetrockneten Kehle schien ein dicker Pfropfen zu stecken. Instinktiv rollte er sich auf die Seite und spürte an der Wange überraschend den kühlen Rand einer gefüllten Wasserschale aus gebranntem Ton. Begierig beugte er das Haupt über das Gefäß und trank es bis zur Neige leer. Kurz darauf wurde ihm übel und er musste sich übergeben. Der Nahrungs- und Flüssigkeitsmangel der letzten Zeit überforderte seinen entwöhnten Magen.

Mit einem Mal glaubte er, eine leise Stimme zu hören. Mühsam öffnete er die Augen, doch er konnte keine Einzelheiten in der näheren Umgebung erkennen. Ihn umgab völlige Finsternis. Die Laute, die eben noch flüsternd zu ihm gedrungen waren, hatte die Schwärze gänzlich verschluckt. Oder spielten ihm die Sinne einen Streich? Kraftlos sank er zurück. Verwirrt über die befremdliche Lage, stellte er sich die Frage, an welchen Ort es ihn verschlagen hatte und wie viel Zeit vergangen war. Während er nach einer schlüssigen Antwort suchte, begann er am ganzen Leib zu zittern. Er lag fast nackt auf dem felsigen Boden. Wie ein kältestarres Reptil begann er, langsam die Glieder zu strecken und sie zu bewegen, da das kühle Gestein die Wärme aus seinem Körper förmlich heraussog. Als Eleazar die Wunde am Kopf befühlen wollte, konnte er die Arme nur mit Mühe anwinkeln. Etwas Schweres hemmte sie in ihrer natürlichen Bewegung. Entsetzt stelle er fest, dass sie in Ketten lagen. Langsam glitten ihre metallenen Glieder durch seine Hände. Sie maß gefühlte sieben Fuß und endete in einem Ring, den ein Bolzen untrennbar mit der Felswand verband. Mit Schaudern erfasste er die bittere Wahrheit: Er war den Feinden ins Netz gegangen. Lebendig.

„Welche Schmach! Welche Schande! Wieso bin ich nicht tot? Oh Herr, warum hast du mir nicht die Gnade erwiesen und meine Seele von den irdischen Leiden erlöst?“, klagte er, alle Hoffnung verlierend. „Jetzt bin ich ihnen ausgeliefert. Hätte ich mich doch in mein Schwert gestürzt, als auf die Grausamkeit der römischen Legionäre zu vertrauen.“ Jäh hielt er mit den Selbstvorwürfen inne. Abermals vernahm er in der unmittelbaren Nähe eine Stimme.

„Nun mein Freund, begreifst du endlich, an welchen furchtbaren Ort du verschleppt wurdest? Schon zwei volle Tage liegst du hier im Kerker des Statthalterpalastes in Jerusalem, angekettet wie ein Tier und ohne Aussicht auf Rettung“, drang es weinerlich an seine Ohren. „Gewöhne dich daran, auch wenn es nur für kurze Zeit ist, denn wir beide werden bald ein qualvolles Ende erleiden.“

 

III.

 

„Salve, verehrter Sentius Maximus Longinus. Willkommen in meiner bescheidenen Residenz. Ich hoffe, die Reise war angenehm und nicht allzu beschwerlich. Wie ich hörte, wurdest du in den Senatorenstand aufgenommen und unser göttlicher Kaiser Vespasian ernannte dich zum persönlichen Berater in Fragen der Steuerpolitik. Eine wahrlich schnelle und steile Karriere, die für deinen genialen Intellekt in Finanzdingen spricht.“

Longinus, ein älterer, untersetzter Mann mit lichten, nach vorn gekämmten grauen Haaren zog gelangweilt die Mundwinkel nach unten. „Hör auf, mir Honig um den Mund zu schmieren, Lucius Flavius Silva. Wenn ich mich in deiner bescheidenen Residenz umsehe, herrscht hier mehr Luxus als im kaiserlichen Palast in Rom. Und was meine Überfahrt nach Ceasarea betrifft, so endete sie fast in einer Katastrophe. Nördlich der Insel Creta geriet mein Schiff in einen schweren Sturm und vor der Insel Cyprus attackierten mich kilikische Seeräuber. Das Gesindel benimmt sich, als würde das Meer ihm gehören. Nur durch den ausgiebigen Gebrauch der Peitsche und Fortunas Wohlwollen konnte ich der Gefangenschaft entgehen und den schützenden Hafen von Ceasarea Maritima erreichen. Zehn meiner Rudersklaven erlitten den Tod. Sie starben an ihren Wundmalen und an körperlicher Erschöpfung.“

Silva, ein 50-jähriger, athletisch gebauter Mann mit kurz geschorenen, grauen Haaren lud den Senator ein, auf einer kunstvoll bearbeiteten Bank aus Zedernholz Platz zu nehmen, vor der ein rundes Tischchen mit goldbeschlagenen Füßen aus Elfenbein stand. „Nun, ich schätze, deine Sklaven sind nicht umsonst in den Orkus hinabgestiegen. Der Verlust ihrer Ruderkraft sollte dich nicht allzu schwer schmerzen, da ihre Opferung deine Rettung bedeutete. Du siehst, verehrter Longinus, die Meeresgötter sind dir gewogen“, fabulierte er und befahl dem Leibsklaven Virginias, zwei Trinkbecher und einen Krug mit Wein zu bringen. „Ich lass ihn extra aus Ägypten kommen“, verriet er dem Senator und ließ sich neben ihm auf der Bank nieder. „Was hier gebraut wird, reicht höchstens zum Spülen der städtischen Kloake. Doch sage mir bitte, was führt dich nach Jerusalem? Was erwartet unser göttlicher Kaiser von mir?“

„500 000 Denare“, antwortete Longinus ungerührt.

„Was?“, beschwerte sich Silva empört. Fassungslos sprang er auf und stemmte vor Entrüstung die Arme in die Hüften. „Wo soll ich so viel Silber hernehmen?“

„Du kannst die Forderung des Kaisers natürlich auch in Gold begleichen“, entgegnete Longinus, spöttisch grinsend.

Einen Moment lang zeigte sich der Statthalter über die ungeheuerliche Forderung des Souveräns in Rom sprachlos. Dann setzte er sich – wie vor den Kopf geschlagen – zurück auf die Bank und jammerte vergrämt. „Was veranlasst Vespasian zu diesem Diktat? Er hatte unter Kaiser Nero mehrere Jahre als Offizier in Judäa gedient. Er muss wissen, dass das Steueraufkommen hier viel niedriger bemessen ist als in den benachbarten reichen Provinzen Syrien und Ägypten.“ Kopfschüttelnd schielte er zu seinem Gast. „500 000 Denare sind eine Summe, mit der man ein neues Rom erbauen könnte.“

„Du sagst es, verehrter Silva. Die neuen, öffentlichen Projekte des Kaisers verschlingen Unsummen an Geldern. Allein das kolossale Theater wird alles übertreffen, was jemals in Rom erbaut wurde. Hinzu kommen die monatelangen Tierhetzen und Gladiatorenkämpfe für die Zerstreuung der römischen Bürger. Auch die Loyalität der Legionen muss erkauft werden und besitzt einen stolzen Preis. Der Thron des Kaisers wankt noch und damit unsere Ämter.“

Abfällig verzog der Statthalter sein Gesicht. „Glaube nicht, ich wäre besonders scharf auf mein Amt. Ich will in dieser Einöde nicht versauern“, zeterte er ungehalten.

„Deine jetzige Situation ließe sich durchaus verändern“, erwiderte Longinus hintergründig lächelnd. „Erbringe dem Kaiser das geforderte Silber und ich werde zu deinem Fürsprecher. In Rom gibt es derzeit viele neue Aufstiegsmöglichkeiten für kaisertreue Freunde. Nach der Misswirtschaft Neros und dem Chaos, das mit Galba, Otho und Vitellius folgte, geht es dem Reich heute wieder besser. Du könntest dich für die Wahl zum Volkstribun aufstellen lassen. Vespasian würde dir wohlgesonnen die Hände reichen. Auch der Senat stünde hinter dir. Danach wäre für dich sogar der Aufstieg in den Senatorenstand möglich.“

Vom Ehrgeiz angestachelt, begann Silva, über die Worte nachzusinnen. Das lukrative Amt des Volkstribuns würde ihm ein hohes Ansehen einbringen. Es wäre der erste Schritt nach noch Höherem. Hier in Judäa war er nur der Verwalter einer armen, bedeutungslosen Provinz, ohne Aussicht auf Ruhm. Die Legionäre fürchteten ihn und die Judäer begegneten ihm mit Hass. Dieser Posten, weit weg vom wahren römischen Leben, war nicht besonders lohnend. Er brachte ihm kein Vermögen ein. Zu maßlos hatten seine Vorgänger die Provinz schon ausgeplündert. „Ich bin dem Kaiser gern gefällig. Was kann ich tun, um die ungeheure Summe aufzubringen?“, fragte er den Senator ratlos, nachdem er in seinen Überlegungen zu keinem konkreten Ergebnis gekommen war.

„Erhöhe einfach die Steuern“, schlug ihm Longinus vor. „Fordere eine Abgabe für die Benutzung öffentlicher Gebäude und Latrinen oder setze eine Kopfsteuer fest. Für jeden Judäer einen Denar zu Ehren des vierten Jahrestages der Thronbesteigung unseres göttlichen Kaisers. Zeig Fantasie. Lass dir etwas einfallen.“

Bedenklich runzelte Silva die Stirn. „Was du von mir verlangst, ist unmöglich. Eine Steuer auf die Person des Kaisers zu erheben, werden die Judäer niemals akzeptieren.“

Longinus blickte den Statthalter verständnislos an. „Die Vorbehalte der Barbaren müssen uns nicht interessieren. Unsere Welt ist Rom. Damit sind alle Prioritäten unmissverständlich gesetzt“, äußerte er in einem scharfen, arroganten Tonfall.

„Deine unbedarfte Rede offenbart, wie wenig du über die Verhältnisse in meiner Provinz weißt“, lamentierte Silva missbilligend über dessen Unkenntnis. „In diesem Land herrscht der Irrsinn. Die Menschen sind trunken vor Religion. Jede Woche taucht ein neuer Messias, ein weiterer Heilsbringer oder Bote ihres Gottes auf und treibt mir die Leute in den Wahnsinn. Einige musste ich sogar kreuzigen lassen, weil sie zu viel Aufruhr stifteten.“

„Das ist der richtige Weg“, pflichtete ihm Longinus applaudierend bei. „Regiere das aufsässige Volk mit harter Hand und töte diejenigen, die sich der Macht Roms widersetzen.“

Ablehnend hob Silva die Hände. „Mit einer strengen Vorgehensweise würde ich dem Kaiser keinen Gefallen erweisen. Damit könnte eine Lawine ausgelöst werden, in deren Folge die Provinz in völligem Chaos versinkt. Die Aussicht auf den Tod schreckt die Judäer nicht ab. Sie sterben lieber für ihre Überzeugungen und kämpfen für ihren Glauben bis zum bitteren Ende. Hinzu kommt noch, dass seit der Brandschatzung des Tempels in Jerusalem immer mehr Menschen ihr angestammtes Land verlassen und in die benachbarten Provinzen auswandern. Was nützt Vespasian Judäa ohne Judäer? Natürlich nichts, da infolgedessen keine Steuereinnahmen mehr nach Rom fließen würden. Nein, ich muss einen anderen Weg finden, um das Geld aufzutreiben.“

Longinus machte eine einlenkende Geste. „Ich will dir nicht in deine Geschäfte hineinreden, doch bedenke, der Wille des Kaisers muss durchgesetzt werden. Tu, was du willst, aber bring mir das geforderte Silber für Vespasian. Es wird dir die Tore Roms öffnen.“

Unscheinbar wie ein Geist trat Virginias zu ihnen. Er stellte einen irdenen Weinkrug auf den Tisch und füllte zwei Trinkbecher mit dem kostbaren Nass.

„Jetzt lass uns von dem köstlichen ägyptischen Wein versuchen“, sprach Silva wie ausgewechselt. „Erzähl, was gibt es Neues aus den römischen Arenen und Theatern zu berichten?“

 

IV.

 

„Wer bist du?“, fragte Eleazar die unbekannte Stimme, die von der anderen Seite der Zelle zu ihm drang.

„Ich heiße Herodias“, drang es leise aus der Dunkelheit.

„Warum halten dich die Römer gefangen? Was hast du Schlimmes getan?“

„Ich habe einen Legionär erstochen“, gestand er ein und begann zu schluchzen. „Darauf steht die Hinrichtung. Der Statthalter gibt am Abend ein Festmahl zu Ehren eines Senators, der heute aus Rom eintraf. Ich hörte, wie sich zwei Wärter darüber unterhielten. Zur Vergnügung der geladenen Gäste soll ich im Hof des Palastes ausgepeitscht und anschließend vor den Mauern der Stadt ans Kreuz geschlagen werden. Hast du eine Vorstellung, wie lange es dauert, bis ich von den entsetzlichen Qualen befreit werde?“

„Ja, Herodias. Ich musste diese grausame Prozedur mehrmals mit ansehen. Sollte man dir nicht die Gnade erweisen und beide Beine brechen, damit das Gewicht deines Körpers deine Atmung unterdrückt, können Tage vergehen, bis du deine Erlösung findest. Trage dein Los mit Fassung, mein Freund, denn du konntest zumindest einen von ihnen töten. Mir versagte das Schicksal diese Genugtuung bei meiner Gefangennahme.“

Herodias wurde neugierig. „Sprich, warum liegst du in Ketten, wenn du niemandem ein Haar gekrümmt hast?“, fragte er verwundert.

„Mein Name ist Eleazar ben Jair. Ich bin der letzte Kommandant der Festung Masada und habe mehr Menschenleben auf dem Gewissen, als du dir vorstellen kannst.“

„Bist du ein Gefolgsmann der Zeloten? Jenen religiösen Eiferern, die für ihre Überzeugungen bis in den Tod gehen?“

„Das ist richtig, trifft jedoch den Kern der Wahrheit nicht vollständig. Ich bin Sikarier. Unsere Bewegung innerhalb der Zeloten kämpft unerbittlich mit allen Mitteln für die Befreiung unseres Landes und unseres Glaubens. Falls nötig, auch mit Terror und brutaler Waffengewalt. Wir sind die Elite der Zelotenbewegung. Gott allein ist für uns der wahre Herr und König, vor dem wir demütig niederknien. Kein Kaiser und kein Statthalter besitzen das Recht, uns Befehle zu erteilen. Wir sind die Einzigen, die den Eindringlingen noch die Stirn bieten. Die Essener, die ihr Dasein abseits unseres Volkes in der Einsamkeit am Salzmeer fristen, begegnen unseren Feinden mit Gleichgültigkeit. Den Pharisäern kann man nicht trauen. Sie verstecken sich hinter ihren heiligen Schriften und bringen den Mut für den bewaffneten Kampf nicht auf. Und die Sadduzäer, die Priester des Tempels von Jerusalem, kollaborierten viele Jahre lang mit den Römern. Ein niederträchtiger Verrat, für den sie am Ende einen hohen Preis bezahlen mussten. Das Heiligtum ist heute bis auf die Grundmauern zerstört und ihre Sippe beinahe ausgelöscht. Nur wenige verschonte der große Brand. Wir Sikarier sind die letzte Speerspitze, die für die Freiheit Judäas streitet.“

„Ich erinnere mich. Vor drei Jahren sah ich mit eigenen Augen, wie die Legionäre den Tempel ausraubten und brandschatzten. Anschließend transportierten sie die Schätze bis zur Küste und verluden sie im Hafen von Ceasarea auf ihre Galeeren. Jetzt verweilen die Kostbarkeiten als Siegestrophäen in Rom.“

„Der räuberischen Horte des Titus fielen zum Glück nicht alle Kostbarkeiten in die Hände“, behauptete Eleazar zum großen Erstaunen von Herodias. „Zu dem Zeitpunkt, an dem der Feind den Belagerungsring um die Stadt schloss, waren die größten Teile des Schatzes aus dem Tempel bereits ausgelagert.“

„Woher weißt du das? Bist du dabei gewesen?“

„Nein. Ich hatte die Stadt vor der Belagerung bereits verlassen und befehligte die Festung Masada. Eines Abends tauchten dort merkwürdige Leute auf. Sie baten um ein Obdach für die Nacht und gaben sich als Kaufleute aus, die nach Nabatäa, in die Stadt Petra, reisen wollten. Sie behaupteten, unsere Gegner hätten wenige Tage zuvor Jerusalem im Sturm eingenommen. Nun würden sie eine gnadenlose Jagd nach versprengten Rebellen betreiben. In Judäa, sagten sie, wären katastrophale Zustände ausgebrochen. Doch die Schuld daran könne man den Invasoren nicht allein zuschreiben. Diese Auffassung musste ich leider bestätigen. Schon geraume Zeit vor dem Beginn der Blockade durch die kaiserlichen Legionen hatten verschiedene politische und religiöse Strömungen in erbitterten Fehden um die Vormachtstellung in Jerusalem gerungen. Ein Bruderkrieg, der noch anhielt, nachdem die Truppen des Titus vor der Stadtmauer standen und ungestört ihre Vorbereitungen zum Angriff trafen. Jetzt, nach der endgültigen Niederlage, versicherten mir meine Gäste, befänden sich die Überlebenden des Aufstandes auf der Flucht. Ich schenkte ihrer Rede Glauben, da ihre Berichte zum größten Teil mit meinen eigenen Erlebnissen übereinstimmten. Vieles von dem, was sie mir an jenem Abend anvertrauten, hatte ich während meines Aufenthaltes in Jerusalem am eigenen Leib erlebt. Aber eine Nachricht stellte sich neu heraus. Zu den Kaufleuten zählte ein greiser Mann. Er trug den Namen Hosias. Vertrauensvoll deutete er mir unter vier Augen an, dass vor dem Heranrücken der Römer mehrere, in ein Mysterium eingeweihte Priester die kostbarsten Teile des Tempelschatzes in Sicherheit gebracht hätten. Und zwar an einen Ort, der im Gedächtnis der Judäer seit Langem in Vergessenheit geraten wäre und an dem seit 650 Jahren, wie er sich ausdrückte, das Allerheiligste unter Gottes Himmel ruhen würde.“

„Das Allerheiligste unter Gottes Himmel? Was soll das heißen?“

„Darauf weiß ich keine schlüssige Erklärung“, gab Eleazar ehrlich zu.

Herodias gab keine Ruhe. Er wollte mehr über die ominöse Sache wissen und verlor die prekäre Lage, in der er schwebte, für eine Weile aus dem Sinn. „Was meinst du? Wo vergruben die Priester den kostbaren Schatz? So rede endlich“, drängte er auf eine Antwort.

„Das Geheimnis gab mir Hosias nicht preis. Ich befragte ihn auch nicht danach“, äußerte Eleazar mit Bedauern. „Am nächsten Morgen zogen er und seine Gefährten weiter nach Nabatäa. Ich traf ihn niemals wieder. Als ich einen Tag später den alten Getreidespeicher inspizierte, in dem die Gäste genächtigt hatten, fand ich zu meiner Überraschung mehrere Worte an eine Wand geschrieben. Irgendjemand hatte mit einem angekohlten Holzscheit aus der Feuerstelle eine rätselhafte Nachricht hinterlassen.“

„Was für eine Nachricht? Nun verrate es mir schon.“

Doch Eleazar begann plötzlich zu schweigen. Am anderen Ende des lang gestreckten Gefängnisganges sah er den hellen Schein einer Fackel aufflammen. Kurz darauf hallten Schritte nägelbeschlagener Legionärsstiefel durch das unterirdische Gewölbe, die sich schnell näherten.

Abrupt fand Herodias in die Wirklichkeit zurück und begriff: Die Kerkermeister kamen, um ihn zur Bestrafung abzuholen. Lautstark begann er zu jammern. „Nein! Nein! Lasst ab von mir! Ich bereue, was ich tat!“, bettelte er um Vergebung.

Unbeeindruckt vom Wehklagen des Todgeweihten öffneten die beiden Römer die Gittertür des Verlieses. Während der eine mit der Fackel leuchtete, schlug ihm der andere mit einem Lederriemen mitten ins Gesicht. „Halt dein elendes Maul, du Kröte, sonst stopfe ich es dir“, beschimpfte er ihn auf entwürdigende Weise.

Der Gepeinigte stöhnte laut und hielt sich schützend die Hände vor den Kopf.

Langsam löste der mitleidlose Legionär die rostige Eisenkette von den Fußfesseln des Gefangenen. Dabei warf er ihm erniedrigende Schmähungen an den Kopf. „Nun steh endlich auf, du dreckiger Bastard. Die Peitsche und das Kreuz warten auf dich. Oben, im Palast des Statthalters, schließen sie bereits Wetten ab, nach wie vielen Schlägen du vor Schmerz gekrümmt zusammenbrechen wirst. Ich habe drei Sesterzen gesetzt, dass du schon nach dem fünften Hieb deine Seele herausschreist. Also hoch mit dir und enttäusche mich nicht, sonst könnte ich es mir noch anders überlegen und deine Beine ungebrochen lassen, nachdem ich dich ans Kreuz genagelt habe.“

„Quatsch nicht so lange mit dem Barbaren, Tullius“, nörgelte sein Begleiter. „Bei Pluto, lass uns schnell wieder nach oben gehen. Hier unten riecht es wie im Tartarus.“

„Schon gut Gratus, ich bin gleich fertig mit dem Kerl“, antwortete er und schleifte das Häufchen Elend rücksichtslos auf den Gefängnisgang hinaus. Während Gratus die Tür des Verlieses abschloss, beschimpfte Tullius den Wehrlosen aufs Neue. „Und du, stinkende Schabe, gibst vor der feierlichen Gesellschaft eine zufriedenstellende Vorstellung ab, sonst wird sich dein Martyrium am Kreuz bis in alle Ewigkeit hinziehen.“

Willenlos und gedemütigt bis auf die Seele, ließ sich Herodias von den beiden Bewachern hinauf zum Schafott führen.

 

V.

 

Lucius Flavius Silva führte die Gäste in das Triclinium. Mit einer einladenden Geste bat er sie, es sich auf den hufeisenförmig angeordneten Klinen bequem zu machen. Auf ihnen konnte man angenehm plaudern und nebenbei durch den Genuss eines schmackhaften Mahls den Gaumen erfreuen.

Mehrere Sklaven trugen auf langen Holztabletts köstliche Früchte und wohlriechende Speisen in den Raum, die sie auf dem großen, zentral stehenden Tisch anrichteten. Hierzu gehörten gegarte Köpfe und Füße von Schweinen, Fleischstücke von Geflügel, Hammel und Ziege, aber auch gekochtes Gemüse und geschmorte Pilze. Selbst an auserlesenen Dingen wie Schafskäse mit Kräutern und Knoblauch, gedünsteten Flamingozungen sowie gekochten Pfaueneiern und gebratenen Haselmäusen fehlte es nicht. Für die durstigen Kehlen wurde ein frischer, mit Gewürzen und Honig versetzter Wein gereicht. Die Sklaven wuschen den Gästen die Füße und reichten ihnen kleine bronzene Becken, die mit frischem Zitronenwasser gefüllt waren, damit sich die hohe Gesellschaft vor dem Essen die Hände benetzen konnte. Stumm und ohne einen der Anwesenden ins Gesicht zu schauen, verließen die Bediensteten nach ihrer getanen Arbeit wieder den Raum. Nur Silvas Leibsklave, Virginias, blieb wartend neben seinem Herrn stehen.

Der Senator, Sentius Maximus Longinus, der die schmackhafte Vielfalt auf Silvas Tafel nicht erwartet hatte, nahm gut gelaunt den Weinbecher in die Hand und prostete dem Statthalter zu. „Wie ich sehe, lässt du nichts unversucht, uns mit dem Besten, was deine Küche bietet, die Zunge zu kitzeln. Doch sprich, wo findet man auf diesem ärmlichen Landstrich derart mannigfaltige Köstlichkeiten?“

Silva, der sich durch die lobenden Worte sichtlich geschmeichelt fühlte, prahlte mit stolzer Brust: „Wie ich dir bereits in unserem letzten Gespräch erzählte, besitze ich gute Verbindungen nach Ägypten. Der Statthalter in Alexandria ist sehr vertraut mit meinen persönlichen Bedürfnissen. Er versorgt mich mit allen Produkten, die es hier nicht zu kaufen gibt, deren Besitz ich aber für notwendig erachte, um in dieser Einöde ein halbwegs angenehmes Leben führen zu können. So wie es sich für einen angesehenen römischen Bürger geziemt. Er tilgt damit eine alte Schuld. Mein ehrenwerter Freund, Marius Gnäus Ulpius aus Antiochia, bringt mir für ein angemessenes Entgelt die Sachen regelmäßig aus Ägypten mit. Mehrmals im Jahr ist er zwischen Alexandria und Ceasarea unterwegs und handelt mit vielerlei Dingen. Sogar mit wilden Tieren und Sklaven für die Zirkusarenen der östlichen Provinzen. Ich bin mir gewiss, dass er sich mit derlei Waren längst eine goldene Nase verdient hat.“

Ulpius, ein untersetzter, glatzköpfiger Mann um die Vierzig, hob abwehrend die Hände und gab sich leicht entrüstet. „Du schätzt meine Gewinnmöglichkeiten falsch ein, verehrter Silva. So gut wie vor zehn Jahren laufen die Geschäfte lange nicht mehr.“

„Das verstehe ich nicht“, wunderte sich der junge Tribun Gaius Livius Secundus. „Wilde Bestien und kräftige Sklaven für die Spiele in Rom oder für die anderen Arenen des Imperiums sind nach wie vor heiß begehrte Güter. Der Bedarf an ihnen ist immens. Seit der Thronbesteigung Vespasians nehmen die Festlichkeiten kein Ende. Manchmal ziehen sich die Tierhetzen und Gladiatorenkämpfe über Monate hin und stellen, wie ich hören konnte, selbst die Inthronisierungsfeier des verruchten Caligula in den Schatten. Da dem Recht des römischen Bürgers auf Zerstreuung und Unterhaltung in höchstem Maße Rechnung getragen wird, ist ein ständiger Absatz von Tieren und Sklaven gesichert. Also muss mit ihrem Handel viel Geld zu verdienen sein.“

Ulpius drehte sich auf die Seite. „Mein lieber, junger Freund. Du hegst eine falsche Vorstellung von dem Geschäft. Die mageren Erträge, die ich aus dem Verkauf der Sklaven und Tiere ziehe, decken gerade meine Investitionen“, jammerte er dem Tribun mit wehleidiger Miene die Ohren voll.

„Meinst du nicht, du übertreibst mit deiner niedrigen Gewinnmarge?“, fragte Longinus belustigt und konnte nicht verhindern, über die Behauptung des Händlers zu kichern.

„Keineswegs“, entgegnete Ulpius unbeeindruckt über den kritischen Einwurf des Senators. „Die Provinzen in Africa sind leergefegt. Der Tierbestand erholt sich nur langsam. Das gilt auch für die dort ansässigen Barbarenvölker, die wir vor wenigen Jahren noch zu Zehntausenden versklaven konnten. Der finanzielle Aufwand, einen Löwen oder einen Elefanten zu fangen, ist heute um ein Vielfaches höher als noch zu Zeiten Kaiser Neros. Die Tier- und Sklavenhändler in Alexandria verlangen Unsummen für ihre Waren. Wenn ich sie kaufe und mit Erfolg wieder veräußern will, darf ich den Preis nicht zu hoch ansetzen. Die Veranstalter in den Zirkusarenen sind nicht mehr geneigt, jeden Preis zu zahlen, den man fordert. Daher hält sich meine Gewinnspanne in Grenzen. Das Geld sitzt dem römischen Bürger nicht mehr locker im Beutel.“

„Hier muss ich dir zustimmen, verehrter Ulpius“, pflichtete ihm Longinus bei. „Nach der Misswirtschaft des Scheusals Nero lag Rom finanziell am Boden. Oft genug hatte er sich am Staatssäckel privat bedient. Die Kassen waren leer. Aber Kaiser Vespasian braucht dringend neue Geldmittel, um die geplanten Bauvorhaben weiterzuführen.“

Silva verzog vergrämt das Gesicht. Seine gute Laune war mit einem Mal verflogen. Die letzte Bemerkung des Senators brachte ihm die Forderung des Imperators in Erinnerung. „Und ich muss für das Desaster den Kopf hinhalten!“, beklagte er sich und schaute ratlos in die Runde der Gäste. „Der Kaiser verlangt von mir eine Sondersteuer von 500 000 Denaren. Mir ist bisher nicht in den Sinn gekommen, wie ich die ungeheuerliche Summe aufbringen soll. Das Land ist bettelarm. Seit dem Tag, an dem Titus den Tempelschatz mit nach Rom nahm, existiert hier nichts mehr, was von bedeutsamem Wert ist.

„Vielleicht war es falsch, den Tempel der Judäer zu zerstören“, äußerte der Tribun Secundus. „Das brachte die Leute zur Raserei und stachelte den Widerstand an. Und jetzt, nach der gewaltsamen Befriedung des Landes, verlassen viele Judäer ihre Heimat. Folgerichtig sinkt das Steueraufkommen in Judäa stetig nach unten.“

„Unsinn!“, rief Silva energisch in den Raum. „Das Schleifen des Tempels war legitim. Die Barbaren hatten sich gegen Rom aufgelehnt, weil sie den Kaiser nicht als ihren Herrn anerkennen wollten. Diese Anmaßung musste gesühnt werden. Wo kämen wir hin, wenn wir jede Rebellion ungestraft dulden würden? Das wäre der Anfang vom Ende des Imperiums.“

„Trotzdem vertrete ich die Meinung, dass in der Vergangenheit gravierende Fehler in der Verwaltung der Provinz gemacht wurden“, gab Secundus zu bedenken.

„Welche Fehler? Was soll das heißen?“, fragte der Statthalter misstrauisch. „Ich handele immer zum Wohle Roms.“

„Das stelle ich nicht infrage“, erwiderte der Tribun. „Die Verfehlungen, von denen ich spreche, wurden schon während der Regierungszeit Kaiser Neros begangen.“

Silva zeigte sich erleichtert. Ihm war der irritierte Blick des Senators Longinus nicht entgangen. „Zu jener Zeit befand ich mich in Rom. Vespasian berief mich erst vor zehn Monaten in das Amt des Prokurators. Aber bitte, verehrter Secundus, kläre uns über deine Einwände auf“, sagte er gönnerhaft lächelnd, nachdem er vom Verdacht der Mitschuld freigesprochen war.

„Die Verwaltung Judäas lief aus dem Ruder, weil das Amt des Statthalters von Nero falsch besetzt wurde. Als er vor elf Jahren Lucceius Albinus hierher beorderte, begann dieser vom ersten Tag an, in die eigene Tasche zu wirtschaften. Er setzte auf die vom Kaiser festgesetzten Steuerabgaben stets noch ein Zehntel obendrauf. Die Summen flossen jahrelang auf ein Privatkonto. Albinus zeigte sich erfinderisch, wenn es darum ging, immer mehr Geld aus dem Land zu pressen. Er brachte es sogar fertig, ohne Gewissensbisse die öffentlichen Kassen zu plündern und eingekerkertes Diebsgesindel gegen hohe Lösegelder auf freien Fuß zu setzen. In dem Zeitraum, in dem er als Statthalter für die Provinz Judäa Verantwortung trug, veruntreute er so viel Geld, dass er sich nach der Entlassung aus dem Dienst ein riesiges Anwesen in Kampanien kaufen konnte. Auf den ausgedehnten Ländereien arbeiten heute über 1000 Sklaven und in seinem Landhaus, das eher einem kaiserlichen Palast gleicht, feiert man monatelang luxuriöse Orgien.“

Nachdenklich wog Marius Gnäus Ulpius den Kopf. „Auf jeden Fall erwies er sich als fähiger Geschäftsmann, der die Gunst der Stunde zu nutzen wusste“, stellte er mit Bewunderung fest.

„Deine Worte verraten die Krämerseele in dir. Ein Mann, der ein solches Amt bekleidet, sollte die ihm anvertraute Macht nicht eigennützig, sondern zum Wohle des Imperiums gebrauchen“, schleuderte ihm Longinus aus scheinbar tiefster Überzeugung empört ins Gesicht.

Für eine Weile wurde es still. Silvas Gäste sahen sich betreten an und sannen darüber nach, wie ernst der Senator die Schelte gemeint hatte und wie konsequent er selbst sein Amt zum Wohle Roms einsetzte. Unabhängig voneinander kamen sie schnell zum gleichen Schluss: Die vorwurfsvolle Äußerung stellte nur dummes Geschwätz dar. Jeder von ihnen wusste, dass die Senatoren allesamt Feiglinge waren, die dem Kaiser bloß nach dem Munde redeten. Und wenn der Erhabene ihnen den Rücken zukehrte, taten sie nichts anderes, als ihn zu betrügen und zu bestehlen.

Um die peinliche Situation zu beenden, beeilte sich Secundus, seine Ausführungen fortzusetzen. „Als es in Judäa aufgrund des allgemeinen Niedergangs zu rumoren begann, ließ Nero den Albinus ablösen und nach Rom zurückberufen. Doch auch sein Nachfolger stellte sich als Reinfall heraus. Seit Langem sehe ich in der Statthalterschaft des Gessius Florus die Hauptursache für den Ausbruch der Rebellion.“

„Auf welcher Erkenntnis beruht dein Urteil?“, fragte Longinus verblüfft.

„Er stand seinem Amtsvorgänger in der Geldgier nicht nach. Florus handelte ebenso korrupt wie Albinus. In einer Sache allerdings trat er noch konsequenter auf: im erbarmungslosen Vorgehen gegen Steuersünder. Zahlungsunfähige Judäer ließ er zuhauf ans Kreuz schlagen und deren Körper an ihnen regelrecht verfaulen. Das aber stellte einen schwerwiegenden Eingriff in die Bestattungsriten der einheimischen Bevölkerung dar. Außerdem hängte er in ihrem Tempel Bilder von Nero auf und plünderte einen Teil des Schatzes. Sein unbedarftes Vorgehen brachte das Fass des Unmuts zum Überlaufen und beschwor den Aufstand herauf.“

Bestätigend nickte Longinus mit dem Kopf, gab den anwesenden Gästen jedoch zu bedenken, warum das harte Vorgehen trotz der falschen Politik am Ende unumgänglich war. „Die Aufrührer stellten die Herrschaft Roms infrage. Somit war es richtig, das rebellische Unkraut in Judäa mit Stumpf und Stiel auszurotten.“

Die zustimmenden Gesichter der anwesenden Gäste zeigten deutlich die einhellige Meinung in der Frage.

„Übrigens, wer ist eigentlich der fremde Mann, der mit dir in Ceasarea das Schiff verließ? Trotz der römischen Kleidung wirkt er auf mich nicht wie ein römischer Bürger“, fragte Ulpius den Senator, um den Gesprächsverlauf in eine neue Richtung zu lenken.

Geringschätzig verzog Longinus das Gesicht. „Er ist Judäer und ein enger Vertrauter von Titus, dem Sohn unseres Imperators“, maulte er abweisend.

„Wie ist das möglich?“ Silva zog erstaunt die Augenbrauen nach oben. „Ist der Erstgeborene des Kaisers in schlechte Gesellschaft geraten?“

Missfällig winkte Longinus ab. „Der Schurke war früher ein führender Kopf des Aufstandes. Vor sechs Jahren wurde er in der Festung Jotapata in Galiläa festgenommen. Man fand ihn, von einem Gladius schwer an der Schulter verletzt, in einer Wasserzisterne, halb begraben unter den Körpern zahlreicher gefallener Rebellen. Eigentlich hätte er sofort ans Kreuz genagelt gehört, doch der Erstgeborene des Kaisers fraß einen Narren an ihm. Kurze Zeit später kam das Gerücht auf, er habe Vespasian und seinen beiden Söhnen die Kaiserwürde vorausgesagt. Während der Belagerung Jerusalems leistete er wertvolle Dienste. Zum Dank nahm ihn Titus mit nach Rom. Der Sohn des Kaisers hält große Stücke auf ihn. Auf sein Drängen musste der Senat dem Aufwiegler sogar das römische Bürgerrecht verleihen. Seither trägt er den Namen Flavius Josephus. Für mich bleibt er trotzdem ein Barbar. Wenn jeder dahergelaufene Sklave die Rechte eines römischen Bürgers einfordern darf, ist es mit dem Rom, wie wir es kennen, bald vorüber.“

„Was beabsichtigt Flavius Josephus in Judäa zu tun?“, fragte Silva argwöhnisch.

„Vespasian erteilte ihm den Auftrag, dich bei der Unterwerfung der aufständischen Zeloten auf der Festung Masada zu unterstützen. Angeblich sind er und der Anführer der Verschwörer alte Waffengefährten“, gab ihm der Senator zu verstehen.

„Wie bedauerlich für ihn. Er kommt leider zu spät.“ Silva lachte erheitert über die schadenfrohe Bemerkung. „Masada ist gefallen. Das Raubvogelnest ist seit einer Woche ausgehoben“, sagte er herablassend. „Diese verblendeten Insurgenten, die sich anmaßten, ihr Haupt gegen Rom zu erheben, leisteten mir drei Jahre lang erbitterten Widerstand. Dennoch mussten sie sich meiner Streitmacht geschlagen geben. Keiner in diesem Land widersetzt sich straflos meiner vom Imperator übertragenen Autorität und Amtsgewalt. Leider entzogen sich die Feiglinge meiner Gerichtsbarkeit durch den Freitod. Bis auf zwei Frauen und einige Kinder fanden wir keine weiteren Überlebenden. Momentan bewacht eine Centurie mit zuverlässigen Männern die Bastion. Von hier aus kontrollieren sie das gesamte Gebiet westlich des Salzmeeres und die Grenze zum benachbarten Nabatäa.“

„Ich muss dir widersprechen“, bemerkte Secundus verwundert über das kurze Gedächtnis des Statthalters. „Ein Rebell wartet noch auf deinen Richterspruch. Deine Legionäre fanden ihn während des Sturmangriffs bewusstlos auf der Wehrmauer liegen. Du hast mich nach deiner Wiederkehr aus Masada selbst über die Begebenheit unterrichtet. Er sitzt unten im Kerker.“

„Ach ja, stimmt“, erinnerte sich Silva. „Den Schurken hätte ich beinahe vergessen. Ich werde ihn demnächst ans Kreuz schlagen lassen, um der Gerechtigkeit Genüge zu tun. Doch jetzt greift zu, liebe Gäste, und erfreut euch an den Köstlichkeiten, die meine Küche kredenzt. Nach dem Mahl werde ich euch ein Schauspiel der besonderen Art darbieten. Im Hof des Palastes könnt ihr euch mit eigenen Augen überzeugen, wie streng und unerbittlich ich gegen die Feinde Roms vorgehe.“ Dann wandte er sich an seinen Leibsklaven, der noch immer neben ihm ausharrte. „Geh hinunter in den Kerker und erkundige dich, wo der Gefangene bleibt!“

Virginias senkte gehorsam den Kopf und verließ den Raum.

 

VI.

 

Brutal und gefühlskalt stießen Tullius und Gratus den vor Schwäche taumelnden Herodias durch die Katakomben des Gefängnisses. Die eisernen Fesseln, die seine Fußgelenke umschlossen, scheuerten während des Laufens auf den verschorften Wunden. Das Blut aus den frischen Schwären lief von den Knöcheln hinunter bis zu den Fußsohlen. Jeder weitere Schritt färbte das Steinpflaster des zum Innenhof des Statthalterpalastes führenden Tunnels hellrot. Die beiden unbarmherzigen Kerkermeister zeigten für das Elend des Gefangenen keinen Blick. Mit kalten, ausdruckslosen Augen und ohne eine Spur des Mitleids trieben sie ihn zur Eile an, obwohl die Kette der Fußfessel nur kurze, langsame Schritte zuließ. Herodias kam schließlich ins Stolpern und stürzte zu Boden.

„Wirst du wohl aufstehen, du elende Missgeburt, oder glaubst du, wir tragen dich zum Schafott!“, brüllte Gratus wütend und trat dem Hilflosen mit dem Fuß in den Bauch. Herodias stöhnte leise. Der Schmerz nahm ihm für eine Weile den Atem. Verkrampft zog er die Beine an den Körper und drückte die Hände, zu Fäusten geballt, schützend vor den Unterleib.“

„Hör auf!“, reagierte Tullius verärgert und riss Gratus von Herodias zurück. „Du bringst ihn noch um. Der Statthalter befahl ausdrücklich, dass der Missetäter in gesundem Zustand der Bestrafung gegenübertritt. Die Qualen seiner Folter sollen den Gästen Vergnügen bereiten. Sollte er bereits nach dem ersten Peitschenhieb die Seele aushauchen, möchte ich nicht an seine Stelle treten müssen. Du weißt, wie wütend Silva wird, wenn seine Befehle missachtet werden.“

„Schon gut, Tullius. Lassen wir ihm etwas Zeit, damit er sich erholen kann.“ Gratus entsann sich an eine Begebenheit, die erst wenige Tage zurücklag und die ganze Strenge des Statthalters von Judäa aufzeigte.

Während einer Patrouille durch das nächtliche Jerusalem wurde eine dreiköpfige Wachmannschaft von einer Gruppe judäischer Rebellen überfallen. Eine Zeit lang wehrten sie sich verbissen gegen die Übermacht der Angreifer. Doch ihre Kräfte erlahmten. Da erfasste sie die Angst und sie begannen, vor den Aufständischen zurückzuweichen. Dabei ließen sie einen Kameraden, der von den Barbaren schwer bedrängt wurde, ehrlos im Stich. Statt ihm zu helfen, flüchteten sie und suchten feige das Weite. Von tiefen Gewissensbissen geplagt, kamen sie später an den Ort des Überfalls zurück und fanden ihren Waffenbruder blutüberströmt auf der Straße liegen. Er atmete noch. Sein Körper wand sich krampfhaft unter den Schmerzen zahlreicher Verletzungen. Noch bevor sie ihm zu Hilfe eilen konnten, tauchte aus einer Seitengasse ein unbekannter Mann auf und rammte dem Schwerverletzten ein Messer bis zum Heft in den Hals hinein. Es handelte sich um denselben Mann, der jetzt vor Gratus und Tullius gefesselt auf dem Boden lag: Herodias. Als er begann, das Opfer zu bestehlen, schlichen sich die Legionäre unauffällig von hinten an ihn heran. Der Verbrecher, durch das niederträchtige Tun abgelenkt, nahm ihre Anwesenheit zu spät wahr. Er wurde überwältigt und in Gewahrsam genommen. Doch die Reue über ihre Feigheit half ihnen nicht. Zur Abschreckung wurden sie vor der versammelten Truppe wegen ehrlosen Verhaltens enthauptet.

„Ich stimme dir zu, Tullius. Wir dürfen den Statthalter nicht erzürnen“, ereilte Gratus die Erkenntnis, nachdem er sich die möglichen Folgen einer Befehlsmissachtung in Erinnerung gerufen hatte. Das Schicksal der beiden hingerichteten Kameraden wirkte abschreckend gegen sein aufbrausendes Gemüt. „Ich muss noch ein Dienstjahr leisten, dann werde ich pensioniert, erhalte meinen Grund und Boden in der Provinz Hispania und kann endlich das Leben eines ehrbaren römischen Bürgers führen. Das möchte ich für diese Kreatur nicht aufs Spiel setzen.“

Mit einem Mal fuhren die beiden erschrocken zusammen und zogen instinktiv die Schwerter. Unverhofft tauchte Virginias hinter ihrem Rücken auf.

„Was soll das? Weshalb schleichst du dich wie eine Katze an uns heran?“, fauchte Tullius kreidebleich.

„Der Statthalter lässt fragen, wo der verurteilte Mörder bleibt“, antwortete der Sklave unbeeindruckt auf die Frage.

„Er ist gesund und munter und tritt der Bestrafung reumütig entgegen“, gab Gratus harsch zur Antwort und beugte sich zu Herodias herunter. „Jetzt komm auf die Beine, du Strolch“, befahl er ihm mit verhaltener Stimme.

Gehorsam erhob sich der Gefangene vom Boden und stieg mit kurzen, wankenden Schritten die Stufen zum Innenhof des Statthalterpalastes empor, um von dort den Gang zum Schafott anzutreten.

 

VII.

 

Mit zu Boden gesenktem Kopf näherte sich Virginias unauffällig dem Statthalter. „Es ist alles vorbereitet, Herr. Der Übeltäter wartet auf die Bestrafung.“

„Na endlich! Du darfst dich entfernen“, erwiderte Silva. Dann erhob er sich vom Platz und forderte die feierliche Gesellschaft auf, ihm zu folgen. „Gehen wir hinaus auf die Balustrade. Dort haben wir eine gute Sicht auf die Vollstreckung meines gerechten Urteils.“

Der Balkon war groß genug, um allen Gästen Platz zu bieten. Erwartungsvoll nahmen sie auf den bereitgestellten Sitzmöbeln Platz und schauten mit Interesse – ihre Weinbecher honorig in den Händen haltend – auf den gepflasterten Hof des Statthalterpalastes herunter. Was ihre mitleidlosen Augen dort erblickten, war der geschundene Körper eines etwa 30 Jahre alten, schmächtigen Mannes. Herodias baumelte fast nackt, nur mit einem Lendenschurz bekleidet, zwischen zwei hölzernen, aufrecht stehenden Pfosten. An ihnen waren die Handgelenke der nach oben gestreckten Arme des Gefangenen mit Hanfseilen festgebunden. Die blutverkrusteten Füße hingen in der Luft, wodurch die Glieder des ausgemergelten Körpers schmerzhaft belastet wurden. Einzig die Zehenspitzen schienen den Boden noch zu berühren.

Tullius befand sich zur Rechten des makaberen Schauspiels, mit einem Gladius in der Hand, den er in die Höhe reckte. Gratus hingegen, der zum Gruß den Arm erhob, positionierte sich auf der gegenüberliegenden Seite. Gleich hinter ihm stand ein langer Holztisch. Auf ihm lagen verschiedene Folterwerkzeuge parat, die der Centurio Sixtus Julianus Metellus sorgfältig auf ihre Funktionstüchtigkeit überprüfte.

Silva erhob sich gravitätisch und verkündete von der Balkonbrüstung lautstark die Urteilsbegründung. „Wegen Aufruhrs und Aufwiegelung zur Rebellion gegen das römische Imperium erhältst du zur Sühne 25 Hiebe. Für die Ermordung des römischen Legionärs Marius Veto verurteile ich dich zum Tod. Nach deiner Geißelung wird man dich aus der Stadt zum Berg Golgatha führen. Dort wirst du zur Strafe und zur Abschreckung für alle Aufrührer an ein Kreuz geschlagen. Die Gnade eines schnellen Endes wird dir aufgrund der Schwere deiner Vergehen jedoch verwehrt.“ Mit einem Wink gab er das Zeichen, die Prozedur zu beginnen. Dann setzte er sich wieder auf seinen Platz und verfiel mit Longinus in eine angeregte Diskussion, welche Folterwerkzeuge für die Bestrafung am wirksamsten wären und welche Verletzungen ihr Gebrauch hervorrufen würde.

„Seht! Der Centurio greift nach dem Flagrum!“, rief Marius Gnäus Ulpius.

„Eine gute Wahl“, bestätigte der Tribun Secundus die Beobachtung des Händlers aus Antiochia. „Ich hätte mich ebenso entschieden. Die Peitsche besteht aus mehreren Lederriemen, deren Enden zusätzlich mit eisernen Nagelspitzen beschlagen sind. Jedes Mal, wenn der Delinquent von ihnen getroffen wird, reißt es ihm die Haut vom Fleisch.“

Gespannt verfolgten Silva und seine Gäste den Auftritt des Centurios. Welche Kraft würde er in den ersten Hieb setzen?

Metellus stellte sich breitbeinig hinter Herodias, holte weit zum Schlag aus und schnellte mit der Peitsche nach vorn. Laut klatschten die Riemen auf dessen nackten Rücken. Die Nägel hinterließen in der Haut tiefe, offene Wunden. Hautfetzen und Blutstropfen spritzten durch die Luft und trafen zufällig Tullius im Gesicht. Angewidert wischte er sich mit den Händen die beschmutzten Wangen sauber.

Die grauenerregenden Schmerzensschreie des armen Herodias hallten laut über den Hof. Nach dem sechsten Hieb fiel er schließlich in Ohnmacht.

Gratus erhielt von Metellus den Befehl, den verurteilten Mörder zur Besinnung zu bringen. Gehorsam nahm er einen mit Wasser gefüllten Holzbottich in die Hand und kippte ihm das kühle Nass über den tief auf die Brust gesenkten Kopf. Nur langsam fand Herodias in die Wirklichkeit zurück. Während Metellus auf dem Tisch nach einem neuen Instrument des Leidens suchte, erhob er, von entsetzlichen Wundmalen gezeichnet, mit letzter Kraft das Haupt und wimmerte den Zuschauern auf dem Balkon stöhnend und nach Luft keuchend einige unverständliche Worte zu.

„Was hat er eben gesagt?“, fragte Silva und stierte seine Gäste ratlos an. „Der Barbar spricht so leise. Ich kann ihn kaum verstehen.“

Auch die anderen Zuschauer des grausamen Spektakels konnten das von schmerzvollem Klagen unterbrochene Gestammel nicht deuten.

„Herr, er spricht über den Schatz des zerstörten Tempels. Er behauptet, die Priester hätten den wertvollsten Teil der Reichtümer vor uns versteckt. Das geschah angeblich schon vor der Einnahme Jerusalems“, wagte Tullius nach oben auf die Balustrade zu vermelden.

„Was? Soll das ein Scherz sein?“, erhob Silva lauthals die Stimme, dass es gellend vom Balkon herunter schallte.

„Ich denke nicht, Herr“, antwortete Tullius. „Ich glaube, er meint die Behauptung ernst.“

Der Statthalter war verblüfft und wusste im ersten Moment nicht, was er davon halten sollte. Die größten Kostbarkeiten heimlich beiseitegeschafft von der Priesterkaste? Unglaublich. Wenn das wahr wäre! Falls ja und die Kreatur weiß, wo sie versteckt sind, bin ich mein finanzielles Problem los. Vespasians Forderung wäre dann leicht zu erfüllen und für mich würde noch ein ansehnlicher Gewinn herausspringen, dachte er, die Fakten abwägend.

Silva beschloss, mit Herodias allein zu sprechen. „Führe den Übeltäter in meinen Audienzraum. Ich werde ihn dort verhören“, befahl er dem Centurio Metellus. Dann wandte er sich an die verwundert dreinblickenden Gäste. „Ihr müsst mich jetzt entschuldigen. Wichtige Amtsgeschäfte warten auf mich. Lasst derweil aus der Küche den nächsten Gang auftragen. Später werde ich zu euch zurückkehren.“

 

VIII.

 

Lucius Flavius Silva hatte pathetisch auf dem Thron Platz genommen. Er stand etwas erhöht, im Mittelpunkt einer mit weißem Marmor verkleideten Empore, am Ende des Audienzsaales, der für zeremonielle Empfänge und Gerichtsverhandlungen diente. Das prachtvolle Mobiliar aus Zedernholz, mit massiven, goldenen Füßen und Armlehnen in der Form von Löwenpranken, stammte noch aus den Tagen des römischen Vasallenkönigs Herodes des Großen. Immer, wenn der Statthalter auf dem Thron saß und von dort auf die Untergebenen herabschaute, überkam ihn eine Ahnung der gottgleichen Macht, die der Kaiser besaß. Ein Gefühl, das den Verstand berauschte und umnebelte wie ein Krug sicilianischen Weines. Ein abstruser Geisteszustand, erfüllt von Selbstüberschätzung und absolutem Größenwahn.

Er starrte nach unten. Herodias lag zu seinen Füßen und hob langsam den Kopf. Dessen Rücken wirkte dabei eigenartig verkrampft. Die Schläge des siebenschwänzigen Flagrums brannten auf der Haut wie Feuer und die zerrissene Tunika, die ihm Metellus eilig übergeworfen hatte, war rot von Blut gefärbt.

„Gewährt mir eine letzte Bitte, Herr“, stöhnte Herodias.

Hochmütig sah ihm Silva in die Augen. „Du hast einen Legionär getötet. Du verdienst kein Erbarmen. Wer sich gegen Rom erhebt, leidet am Kreuz“, erwiderte er kaltherzig.

„Meine Tat geschah aus tiefster Not. Der Hunger benebelte meinen Verstand. Lasst mich nicht langsam am Kreuz sterben“, bettelte Herodias. „Tötet mich schnell.“

„Erkläre mir, aus welchem Grund ich dir diese Gnade erweisen sollte?“

„Ich habe Kenntnis über geheime Vorgänge, die euch, erhabener Herr, von Nutzen sein können“, presste Herodias unter schweren Krämpfen zwischen den Lippen hervor. Die quälenden Schmerzen raubten ihm fast den Verstand.

„Dann sprich, ich bin ganz Ohr. Was hast du mir Wichtiges mitzuteilen?“, fragte der Statthalter voller Neugier. Sein Gesicht war gespannt wie ein gallischer Bogen. „Wenn deine Informationen wertvoll sind, werde ich über einen Strafnachlass nachdenken. Solltest du aber Unsinn reden und mir die Zeit stehlen, werde ich deine Qualen verdoppeln lassen.“

„So hört, Herr. Heute sprach ich im Kerker mit einem Mann, der mir gestand, er sei ein Verteidiger Masadas gewesen.“

„Du meinst den unbedeutenden Aufrührer, den wir auf der Festung gefangennahmen. Was ist mit ihm?“

„Er ist nicht unbedeutend. Sein Name ist Eleazar ben Jair. Er war bis zum Fall der Festung der Anführer der Rebellen.“

„Das ist interessant“, räumte Silva erstaunt ein. „Fahre fort mit deiner Rede.“

„Eleazar äußerte seltsame Dinge. So berichtete er, dass vor drei Jahren, kurz nach dem Fall Jerusalems, merkwürdige Männer auf der Festung aufgetaucht waren, die vorgegeben hatten, Kaufleute zu sein. Sie waren bloß eine Nacht geblieben. Bereits am nächsten Morgen waren sie nach Nabatäa weitergezogen. Ihr Anführer, Hosias, hatte ihm gegenüber behauptet, die Priester hätten große Teile des Tempelschatzes vor den heranrückenden römischen Legionen versteckt, wodurch dem damaligen Befehlshaber Titus nicht alle Kostbarkeiten in die Hände gefallen wären.“

„Wo liegen die Schätze verborgen?“, fragte Silva aufgeregt den um Luft ringenden Gefangenen. „Nun mach endlich den Mund auf!“

„Das weiß ich nicht“, keuchte Herodias. „Aber Eleazar vertraute mir an, die Fremden hätten eine merkwürdige Nachricht hinterlassen. Geschrieben mit Holzkohle, an die Wand des Getreidespeichers der Festung. Diese Botschaft soll angeblich das Versteck der Schätze preisgeben.“ Ermattet fiel er mit dem Kopf auf den Boden zurück.

Schweigend und ohne ein Gefühl des Erbarmens musterte ihn der Statthalter misstrauisch und dachte insgeheim: Vielleicht lügt er mich an und die Geschichte entspringt seiner Fantasie, damit ich ihm einen leichten Tod gewähre. Andererseits kann er auch die Wahrheit sprechen. Ich muss der Sache auf den Grund gehen. Den Barbaren Eleazar nehme ich mir morgen vor. Meinen Gästen werde ich über das Verhör nichts preisgeben. Ich traue ihnen nicht über den Weg.

„Metellus!“, rief er laut im Befehlston.

Kurz darauf betrat der Centurio, gefolgt von Tullius und Gratus, den Raum und salutierte vor dem Statthalter. „Du hast mich gerufen! Was befiehlst du?“

Silva erhob sich vom Thron und wies mit der Hand auf den am Boden liegenden Herodias. „Führe ihn auf den Richtplatz. Enthaupte ihn und übergib den Leib den Angehörigen, damit sie ihn nach den hier geltenden Riten bestatten können.“

Metellus zeigte sich über die Entscheidung verwundert, wagte aber nicht, sie infrage zu stellen. Dann forderte er Gratus und Tullius auf, den Gefangenen hinaus auf den Hof zu bringen.

Die Legionäre umfassten dessen Handgelenke und schleiften ihn rücksichtslos, eine lange Blutspur hinterlassend, aus dem Audienzsaal heraus.

„Hab Dank für die Milde, Herr“, röchelte Herodias. Wenige Minuten später war seine gequälte Seele frei.

 

IX.

 

Am nächsten Tag brummte Silva der Kopf. Ein schmerzvolles Gefühl, als würde in seinem Schädel ein Wagenrennen stattfinden. Dröhnend und tobend wie im Circus Maximus. Erst nach der Einnahme eines reichhaltigen Frühstücks fühlte er sich besser.

Nach der Enthauptung des Herodias am Abend zuvor war er zu seinen Gästen ins Triclinium zurückgekehrt, um weiter am Gastmahl teilzunehmen. Die ausgelassene Stimmung hatte zu später Stunde in einem Trinkgelage geendet, was dazu führte, dass er den Vorsatz, nichts über das Verhör mit Herodias verlauten zu lassen, schnell wieder vergaß. Das Geständnis des hingerichteten Mörders und der in Strömen fließende Wein hatten eine hitzige Debatte entfacht. Silva hatte sich die politischen und wirtschaftlichen Möglichkeiten, welche die vermeintliche Geldquelle bot, in hellen Farben ausgemalt und auf hohe römische Ämter spekuliert. Während Ulpius dem Statthalter das Angebot unterbreitet hatte, einen Teil des zu erwartenden Vermögens in sein Geschäft zu investieren, und der Tribun Secundus ihm offeriert hatte, Eleazar das Geheimnis von Masada höchstpersönlich aus dem Leib zu prügeln, hatte ihn Longinus gemahnt, bei aller Euphorie den Anteil des Kaisers nicht zu vergessen. Doch Silva war den Vorschlägen von Ulpius und Secundus mit Zurückhaltung begegnet. Er hatte die Absicht verfolgt, allein mit Eleazar über die mysteriöse Angelegenheit zu sprechen. Zu dieser Entscheidung hatten ihn berechtigte Gründe gezwungen. Das starke Interesse seiner Gäste war ihm zunehmend verdächtig vorgekommen. Sie sind alle wild auf meinen Schatz. Ich muss höllisch aufpassen, damit sie mich nicht hintergehen und ihn mir streitig machen. Allzu oft wird man von falschen Freunden hinterhältig betrogen, hatte er voller Argwohn gedacht.

Als alle bis auf Longinus zur Ruhe gegangen waren, hatte er den Statthalter noch einmal zur Seite genommen und ihm den Vorschlag unterbreitet, Flavius Josephus mit Eleazar sprechen zu lassen. Ihm würde er sicherlich eher Antworten geben als einem Römer und so hatte er zur Bekräftigung seiner Idee gemeint, er könne ihm doch für die Informationen eine Strafmilderung anbieten. Aber Silva hatte dazu eine andere Ansicht gehabt. Er glaubte nicht an die Käuflichkeit des Rebellenführers. Longinus hatte ihn daraufhin mitleidig angegrinst und versichert, jeder Mensch sei käuflich. „Ist die Summe hoch genug, schmelzen die Ideale und die moralischen Bedenken wie das Eis in der Sonne; und die Gier nach Reichtum bricht aus der abgründigen Tiefe der Seele empor wie ein nach Luft schnappender Wal aus den Fluten des Meeres“, hatte er in schwülstigen Worten von sich gegeben. Obwohl Silva die pseudophilosophische Phrase nicht überzeugt hatte, hatte er dennoch versprochen, über den Vorschlag nachzudenken.

Am Morgen danach ärgerte er sich, wie sehr ihm der Wein die Zunge gelockert hatte. Nach Abwägung aller Fakten wäre es besser gewesen, wenn er zu den Gästen nichts über das Geständnis des Hosias verlautbart hätte. Silva fasste daher den Entschluss, entgegen dem Vorschlag des Senators, lieber selbst den Rebell zu verhören.

Im Audienzsaal blickte er dem stolzen, etwa 30 Jahre alten Judäer abschätzend in die Augen. Sein dunkles, gelocktes Haar reichte ihm bis zu den Schultern. Ein dicht gewachsener Wochenbart umrahmte seine schmalen Lippen. Trotz des blutverkrusteten Gesichts durch eine Wunde am Kopf war der Mann eine ansehnliche Erscheinung. Die schlanke Statur erfüllte zwar nicht die Gardemaße eines großen Kriegers, dessen ungeachtet vermittelte er aber nicht den Eindruck eines Schwächlings. „Weißt du, wer ich bin?“, fragte er Eleazar ben Jair lauernd.

„Natürlich. Du bist der Statthalter von Judäa“, erhielt er von ihm seelenruhig zur Antwort.

„Dann erweise mir Respekt und fall auf die Knie, du Barbar!“, herrschte Silva ihn an.

Der Gefangene warf ihm einen geringschätzigen Blick zu. „Ich beuge mich nur dem Einen. Meinem Herrn und Gott“, bemerkte er mit kämpferischer Stimme. „Für die Speichellecker des ruchlosen Kaisers in Rom, wie du einer bist, verspüre ich nichts außer Verachtung. Du hast zwar die Macht, mich töten zu lassen, aber du besitzt nicht das Recht, mir zu befehlen.“

Silva wurde vor Wut puterrot im Gesicht. Für einen kurzen Moment war er sprachlos über diese Respektlosigkeit. Dann gab er Metellus, der einen Schritt hinter Eleazar stand, ein Zeichen mit der Hand. Treffsicher schlug ihm der Centurio mit dem Schaft seines Schwertes in die Kniekehlen. Stöhnend sank der Judäer zu Boden.

„Wie man sich doch täuscht, Barbar! Nun liegst du doch vor mir im Staub!“, rief Silva voller Hohn.

„Ich sage es dir noch einmal: Ich nehme keine Befehle von dir an! Zu klein und unbedeutend bist du gegenüber der Größe meines wahren Herrn“, erwiderte Eleazar trotzig und erhob sich herausfordernd.

„Du anmaßendes, wertloses Stück Dreck!“ Die Stimme des Statthalters überschlug sich. „Du wirst mir sofort verraten, an welchem Ort die Schätze des Tempels versteckt sind!“

„Ach so. Darum geht es dir“, antwortete Eleazar und zog ernüchtert die Augenbrauen nach oben. „Das hat dir sicherlich Herodias ins Ohr geflüstert. Dennoch werden dich seine verräterischen Worte nicht zum erhofften Reichtum führen. Ich offenbarte ihm nicht alles, worüber ich Kenntnis besitze. Da du ihn gestern hast töten lassen, nahm er das Wenige, was er wusste, mit ins Grab. Von mir erfährst du über das Geheimnis keine Silbe.“

Die Einschüchterungsversuche ließen den Zeloten kalt. Vor dem Tod verspürte er keine Angst. Im Gegenteil, wahrscheinlich war man sogar gezwungen achtzugeben, dass er seinem Leben nicht selbst ein Ende setzte und auf die Weise sein Wissen mit in den Tartarus nahm. Nach dieser Einschätzung änderte Silva die Taktik. Mit einem aufgesetzten Lächeln linste er ihn verschlagen an. Die Zornesröte, die die Widerspenstigkeit des Judäers ihm ins Gesicht getrieben hatte, wich allmählich der natürlichen Blässe. „Was kann ich dir im Tausch anbieten, damit du mir die Lösung der Botschaft preisgibst, die dir ein Mann namens Hosias anvertraut hat?“, sagte er hinterlistig in friedfertigem Ton.

Unversöhnlich stierte Eleazar ihm in die gierigen Augen. Lauthals schrie er die Antwort heraus: „Für mich? Für mein geschundenes Volk? ... Freiheit!“

Wütend sprang Silva vom Thron auf. „Diese Frechheit wirst du bereuen“, brüllte er ohrenbetäubend. „Ich werde dir ein Martyrium der Leiden eröffnen, das Monate andauern wird. Ich werde dich auspeitschen lassen, bis dir die Haut in Fetzen von den Knochen hängt. Dann werde ich dich pflegen lassen, von meinem besten und heilkundigsten Arzt, um dich danach erneut der Folter zu unterziehen.“

Die Drohungen des Statthalters ließen Eleazar unbeeindruckt. „Das wird dir nichts nützen. Der Glaube an meinen Gott wird meine Leiden mindern.“

Ein Gott, der Schmerzen lindert? Silva, der neben den römischen auch die ägyptischen Götter verehrte – man konnte ja nie wissen, ob man ihre Hilfe einmal benötigte – kam ins Grübeln. Götter gibt es im Imperium wie Sand am Meer. Aber von einem derartigen Wunder hörte ich noch nie. Was nützt die Folter, wenn der Delinquent keine Schmerzen verspürt? Darauf wusste er keinen Rat. Ihm kam das Angebot des Senators Longinus in den Sinn. Sollte ich doch besser Flavius Josephus mit dem Rebell sprechen lassen? Vielleicht sieht er sich in der Lage, ihm das Geheimnis zu entreißen? Es ist zumindest einen Versuch wert.

„Bring ihn zurück in den Kerker und gib ihm etwas Ordentliches zu essen“, befahl Silva dem Centurio. „Mein Leibarzt Notorius soll die Wunde am Kopf untersuchen und, falls nötig, behandeln. Ich brauche ihn lebend. Du bist für ihn verantwortlich. Achte darauf! Es darf ihm an nichts mangeln.“

Metellus zeigte auch dieses Mal ein erstauntes Gesicht. Der ungewöhnliche Verlauf des Verhörs und die demonstrative Milde des Statthalters verwirrten ihn. Wortlos salutierte er und verließ mit dem Gefangenen den Audienzsaal.

 

X.

 

Eleazar hob den Kopf und horchte in die dunkle Weite des unterirdischen Verlieses. Mühsam richtete er sich von seinem Strohlager auf und lehnte die Schultern an die kühle Felswand. Am Ende des Ganges flammte der Feuerschein einer Fackel auf. Eilige Schritte und undeutliches Stimmengewirr drangen ihm in die Ohren. Ein Gefängniswärter und ein römisch gekleideter Mann betraten den Kerker und näherten sich seiner Zelle.

„Ich darf dich nicht zu ihm hineinlassen, verehrter Flavius Josephus. Du musst durch die Gitterstäbe mit ihm sprechen“, erklärte der Wächter dem unbekannten Begleiter. Dann entzündete er eine zweite Fackel, steckte sie in eine rostige Wandhalterung gleich neben der Kerkertür und entfernte sich zum Ausgang. Nachdem die letzten Schritte in der widerlich stinkenden Luft des Labyrinths verhallt waren, hockte sich der Fremde auf den Boden und nannte den Gefangenen freundlich beim Namen.

„Sei mir gegrüßt, Eleazar ben Jair. Fast sieben Jahre ist es her, als das Schicksal uns trennte.“

Überrascht, aus dem Munde des vermeintlichen Römers seine Muttersprache zu hören, schaute er den unbekannten Mann argwöhnisch an. Im ersten Moment wirkte er fremd. Doch die markante, charaktervolle Stimme erinnerte ihn an jemanden aus einer Zeit, die weit zurücklag.

„Erkennst du mich nicht?“, fragte Josephus verwundert. „Habe ich mich sosehr verändert? Als wir das letzte Mal miteinander redeten, tagte in Jerusalem das Synhedrion. An jenem Tag beschloss der Hohe Rat, mich zum militärischen Oberbefehlshaber von Galiläa zu ernennen. Ich erhielt den Auftrag, in den Festungen den Widerstand gegen die anrückenden Legionen Kaiser Neros zu organisieren. Damals trennten wir uns im Streit.“

Eine schmerzvolle Erinnerung lief über Eleazars Gesichtszüge und ihm wurde bewusst, wer die Person war, die vor der Gittertür des Kerkers saß und sich maßlos über das Wiedersehen freute. Während des Krieges hatte der schlanke Mann im besten Alter langes lockiges Haar und einen Vollbart getragen. Jetzt gab er das Bild eines gut situierten römischen Bürgers ab, mit kurz geschnittenem Haupthaar und glatt rasierten Wangen. „Joseph ben Mathitjahu“, brummte er ungerührt. „Du bist also zurückgekehrt.“

„Ja, mein Freund. Kaiser Vespasian erteilte mir den Auftrag, nach Judäa zu segeln. Ich sollte in Masada zwischen dir und dem Statthalter als Vermittler fungieren. Schon viel zu lang tobte die blutige Auseinandersetzung um die Festung. Mit allen mir zur Verfügung stehenden Mitteln wollte ich für eine friedvolle Lösung des Konflikts eintreten und die tapferen Verteidiger retten. Leider traf ich zu spät in Judäa ein. Schuld daran trugen die kilikischen Seeräuber und ein schwerer Sturm. Mein Schiff entging nur knapp dem Untergang. Die tapferen Seeleute, allesamt fleißige Männer, brauchten über eine Woche für die Reparatur der Schäden, um das leckgeschlagene Schiff wieder seetüchtig zu bekommen.“

Gleichgültig starrte Eleazar vor sich hin. „Du versuchst in meiner Seele etwas zu erwecken, was längst abgestorben ist“, entgegnete er abweisend.

Flavius Josephus war ratlos. „Das verstehe ich nicht. Was willst du mir damit andeuten?“, meinte er verwundert über dessen befremdliches Verhalten.

„Ich meine damit, dass zwischen dir und mir keine Gemeinsamkeiten mehr bestehen. Unsere freundschaftlichen Bande wurden durch dein Überlaufen in der Festung Jotapata für immer zerrissen. Du bist zum Verräter an unserer Sache geworden: der Befreiung unseres Volkes von der römischen Knechtschaft. Und als ob das nicht schändlich genug wäre, legtest du dir zur Bekräftigung deiner Treulosigkeit auch noch einen römischen Namen zu.“

In den kalten, ablehnenden Worten spürte Josephus das Misstrauen des alten Weggefährten. „Manchmal muss man zum Verräter werden, wenn man die, die man liebt, vor sich selbst schützen will“, antwortete er auf die Vorwürfe mit leiser, zurückhaltender Stimme.

Eleazar schüttelte den Kopf. „Ich begreife deine Worte nicht. Falls du die, die du liebst, wirklich schützen willst, musst du es mit der Waffe in der Hand tun. Gegen die römischen Besatzer und für dein eigenes Volk“, entgegnete er herausfordernd.

Wie zur Bestätigung nickte Flavius Josephus mit dem Kopf. „Da sind sie wieder, die politischen Gegensätze in unseren Anschauungen“, stellte er traurig fest. „Sie führten auch früher zu Streitereien zwischen uns. Alles ist beim Alten geblieben. Nichts hat sich in all den Jahren in deinen Auffassungen geändert.“

„Weil es die einzig richtigen Auffassungen sind!“, rief Eleazar uneinsichtig, dass es laut durch das dunkle Gewölbe hallte.

Die angestaute Wut des ehemaligen Weggefährten auf die römischen Eindringlinge entlud sich über Flavius Josephus wie ein ohrenbetäubendes Gewitter. Das ärgerte ihn. Vorwurfsvoll brachte er seinen Unmut über dessen hartnäckige Haltung zum Ausdruck. „Starrsinn bildet schon immer das Hauptproblem in deiner Bewegung. Dogmatisch beharren die Zeloten in dem Glauben, sie hätten die einzig gültige Wahrheit für unser Volk gefunden. Andere Meinungen duldet ihr nicht. Das ist anmaßend. Der jahrelange bewaffnete Kampf stellt sich heute als grundlegend verkehrt heraus. Unser Volk wurde durch die blutige Fehde beinahe ausgerottet und viele von denen, die ungeschoren davonkamen, verlassen heute das Land ihrer Väter für immer.“

„Lieber in Freiheit sterben, als unter der Sklaverei zu leben“, erwiderte Eleazar trotzig.

„Falsch!“, konterte Josephus erzürnt über dessen Eigensinn. „Der Tod ist sinnlos. Es ist besser, voneinander zu lernen und miteinander zu leben. Es gibt keinen anderen Weg.“

Eleazar setzte eine wehleidige Miene auf. „Diese Vorstellung ist ein Wunschtraum, der nie verwirklicht wird. Ständig sind wir ihren Repressalien ausgesetzt. Sie missachten unsere Gebräuche und unseren Glauben und behandeln uns nicht wie Menschen, sondern wie Tiere“, prangerte er klagend an.

„Hört auf zu kämpfen. Die ständigen militärischen Auseinandersetzungen bereiten ihnen Sorge. Sie ist es, die die Römer so grausam und unerbittlich gegen unser Volk werden lässt.“

Die Bemerkung erregte Eleazars Aufmerksamkeit. Neugierig hob er den Kopf. „Sie fürchten sich vor uns? Das finde ich gut ...“

„Sie zeigen vor allen Völkern Furcht“, fiel ihm Josephus ins Wort. „Der Grund liegt tief in ihrer Vergangenheit verwurzelt.“

Die mysteriösen Urängste der verhassten Besatzer weckten Eleazars Interesse. „Was geschah vor langer Zeit so Furchterregendes, dass sie heute noch davor erzittern? Welche Macht sah sich imstande, die Geißel der Welt so nachhaltig in Mark und Bein zu erschüttern?“, fragte er, von Neugier erfüllt.

„Vor beinahe 300 Jahren hat Rom vor der völligen Vernichtung gestanden. In ähnlicher Weise, wie es heute unser Volk erfahren muss“, begann Josephus zu berichten. „Carthago, eine mächtige Stadt auf der südlichen Seite des mare mediterraneum gelegen, erhob zu jener Zeit den alleinigen Anspruch auf die Länder der nördlichen Welt und bedrohte Rom mit einem riesigen Heer. Alles begann mit der Eroberung der mit Rom verbündeten Stadt Sarguntum an der Küste von Hispania durch Hannibal. Der carthagische General marschierte von dort aus Tausende Kilometer weit in ein Gebiet, das Gallien genannt wird. Im Osten dieses Landstrichs versperrte ihm ein hohes, schneebedecktes Gebirge den weiteren Weg. Jeder andere Feldherr hätte vor dem Hindernis kehrt gemacht. Doch Hannibal war ein ehrgeiziger Mensch und nicht bereit aufzugeben. Schnell schloss er Bekanntschaft mit der einheimischen Bevölkerung und bemerkte, dass sie den Römern feindlich gegenüberstand. Listig wie ein Fuchs bot er daraufhin den Menschen ein Bündnis an und wurde zum Dank von einigen Hirten auf geheimen Pässen über die Gletscher der Berge geführt. Nachdem

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Texte: © Holmer Rosenkranz
Bildmaterialien: Tempelbild © Holmer Rosenkranz
Cover: Covergestaltung: Vivian Tan Ai Hua – http://www.facebook.com/aihua.art
Lektorat: Daniela Müller, https://texte-korrigieren.de
Tag der Veröffentlichung: 05.02.2013
ISBN: 978-3-7309-1258-4

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Für Marion ...

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