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Aki und der Wanderer der Zeiten- eine fantastische Rittergeschichte

Aki saß auf dem Rücksitz und schmollte. Seine Eltern waren in diesem Jahr mit ihm und seinen Schwestern nicht in den Urlaub gefahren. Sie mussten sparen, hatte der Vater zu Beginn der großen Ferien gesagt. Das Auto war nämlich kaputt gegangen und die Reparatur hatte so viel Geld gekostet, dass seine Eltern die komplette Urlaubskasse für die Werkstattrechnung plündern mussten. Als Entschädigung für die verdorbenen Ferien machten die Eltern Tagesausflüge mit ihnen. Aki hieß eigentlich Joachim und war dreizehn Jahre alt. Seine große Schwester Tina war fast sechszehn und hatte sowieso keine Lust mehr, mit den Eltern und Aki in den Urlaub zu fahren. Sie interessierte sich mehr für Jungs und Mode. Es war zu ihrem Hobby geworden, sich mit ihren Freundinnen SMS zu schicken oder zu telefonieren. Natürlich war Tina auch heute zu hause geblieben. Akis jüngere Schwester Pia war erst fünf Jahre alt und ging noch in den Kindergarten. Pia war sehr niedlich und liebte ihren großen Bruder über alles. Aki erzählte ihr abends vor dem Einschlafen oft noch spannende Geschichten, die er sich selbst ausgedacht hatte.

Heute fuhren die Eltern mit Pia und Aki zur Schwalenburg. Sie waren schon ganz früh aufgestanden. Seine Mutter hatte Brote für den ganzen Tag gemacht und Saftschorle in die Trinkflaschen gefüllt. Auf der Schwalenburg gab es an diesem Wochenende nämlich ein großes Ritterturnier und einen mittelalterlichen Markt. Es kamen Händler und Schausteller in mittelalterlichen Kostümen von weit her zu diesem Markt. Der Höhepunkt war ein Ritterturnier, bei dem Männer in nachgebauten Ritterrüstungen mit Fantasiewappen Schaukämpfe vorführten. Im Jahr zuvor war Aki mit seinem Vater in Hildesheim bei so einem Markt gewesen. Er war dort auf einem Holzkarussell gefahren, das von einigen Männer, die als Schildknappen verkleidet waren, mit der Hand angetrieben wurde. Bestimmt würde das Holzkarussell auch heute wieder da sein. Sein Vater hatte ihm im letzten Jahr auch einen Ritterhelm gekauft, bei dem man das Visier bewegen konnte. Der Helm glänzte bronzen. Auf den ersten Blick konnte man nicht sehen, dass er eigentlich nur aus Plastik war. Aki hatte seit dem oft mit dem Helm gespielt. Das war auch der Grund, warum Aki in diesem Moment sauer war und auf dem Rücksitz vor sich hin brummelte. Er hatte seinen Vater nämlich vor einigen Minuten gefragt, ob er diesmal ein passendes Schwert und einen Schild bekommen könnte, wenn der Urlaub schon ausfiel. Aber sein Vater hatte ihm geantwortet, dass er für solche Spielsachen inzwischen doch schon zu groß sei. Vorne im Auto diskutierten seine Eltern noch, ob sie an der nächsten Kreuzung abbiegen müssten. Neben Aki im Kindersitz schlief seine kleine Schwester friedlich. Pia interessierte sich nicht für Ritter und das Mittelalter. Das war bei Aki ganz anders. Er war zwar in der Schule nicht besonders gut. Wenn es im Geschichtsunterricht allerdings um die Ritter ging, machte ihm so schnell keiner was vor. Aki hatte eine ganze Sammlung von Büchern über die Ritter. In einem wurde erklärt, wie die Ritter mit ihren Waffen kämpften und warum sie sich mit ihren Rüstungen schützen mussten. In einem anderen Buch war die Ausbildung beschrieben, wie aus einem Schildknappe ein Ritter wurde. Außerdem besaß Aki einige Romane über Ivanhoe, Prinz Eisenherz und den geheimnisvollen schwarzen Ritter. Deshalb freute sich Aki auch ganz besonders auf den heutigen Tag. Er wollte wieder möglichst dicht an den Turnierplatz heran, wo er den Hobbyrittern bei den Vorbereitungen zum Turnier gut zuschauen konnte. Wenn Aki groß war, würde er sich auch eine Rüstung und ein Pferd kaufen und jedes Wochenende mit einem Wohnmobil von Ritterturnier zu Ritterturnier fahren. Dann könnte ihm sein Vater nicht mehr dazwischenreden.

Als sie endlich angekommen waren, musste sie zunächst noch einige Runden mit dem Auto drehen, um einen Parkplatz zu finden. Aki und sein Vater hatten schon einige freie Parkplätze entdeckt, aber seine Mutter meinte, von dort aus sei es noch zu weit bis zum Festplatz. Bestimmt sei auf der großen Wiese neben dem Burgberg, die als Hauptparkplatz diente, noch ein Platz frei. Deshalb waren sie zuerst bis zum Hauptparkplatz vorgefahren. Natürlich war dort um diese Zeit schon kein Parkplatz mehr frei, so dass sie zurückfahren und einen der weiter entfernten freien Parkplätze nehmen mussten, an denen sie schon vor zehn Minuten vorbeigefahren waren. Das besserte die Laune von Aki natürlich auch nicht auf. Warum musste seine Mutter eigentlich immer alles besser wissen. Pia schlief immer noch. Die Mutter weckte sie. Alle vier nahmen ihre Rucksäcke aus dem Kofferraum und waren nach zwanzig Minuten Fußweg auf dem Burgberg angekommen. Zum Glück war die Schlange an der Kasse nicht sehr lang. Das Ritterturnier würde erst nachmittags anfangen. Sie hatten also noch ausreichend Zeit, um sich den mittelalterlichen Markt anzusehen. Seine Mutter wollte zuerst zu den Ständen mit dem Kunsthandwerk gehen, wo es so langweilige Sachen wie handgestrickte Socken, Blechschmuck oder Duftkerzen gab. Das war natürlich gar nichts für Aki. Er hatte schon vom weitem den Nachbau der mittelalterlichen Schmiede gesehen, wo den Besuchern demonstriert wurde, wie damals die Schwerter hergestellt und die Pferde der Ritter beschlagen wurden. Ein riesiger Mann, mindestens zwei Meter groß, mit einem wollenen Wams und einer braunen schweren Lederschürze, bearbeitete gerade ein glühendes Stück Metall, indem er mit dem Schmiedehammer im Takt darauf schlug, dass die Funken nur so sprühten. Da Aki absolut keine Lust auf die Verkaufsstände hatte, trennten sie sich. Seine Mutter nahm Pia an die Hand und ging zu den Ständen mit dem Kunsthandwerk. Aki ging mit seinem Vater schnurstracks zu der mittelalterlichen Schmiede. Blöde Socken oder Duftkerzen konnte er doch auch auf dem Weihnachtsmarkt sehen.

Nachdem Aki und sein Vater bei der Schmiede alles gesehen hatten und der Schmied mit verschwitztem Gesicht das inzwischen fertig bearbeitete Schwert in einen Eimer voll Wasser getaucht hatte, dass es nur so zischte, gingen sie weiter. Sie kamen an Verkaufsständen vorbei, an denen Kettenhemden und anderes Ritterzubehör angeboten wurde. Sein Vater schaute sich interessiert die Preisschilder an und sagte leise zu Aki, dass man schon ganz schön verrückt sein müsse, um so viel Geld für diesen nutzlosen Unsinn auszugeben. Wenig später erreichten sie die Artisten, die in mittelalterlichen Kostümen allerlei Kunststücke vorführten. Dazu brauchten sie nicht einmal Turngeräte, sondern nur eine Matte, die sie auf dem Boden ausgerollt hatten. Darauf führten sie Bodenakrobatik vor. Am lustigsten fand Aki dabei den Hofnarren, der eine Mütze wie Till Eulenspiegel trug und sich unters Publikum gemischt hatte. Ab und zu blieb er stehen, um Schabernack zu treiben und kleine Zaubertricks zu zeigen. So holte er scheinbar aus der Nase und den Ohren eines dicken Mannes kleine Goldmünzen. Natürlich wusste Aki, dass das keine Zauberei war, sondern der Schalk nur sehr fingerfertig war und die Goldstücke vorher ins seinen Händen verborgen haben musste. Nach ein paar Minuten gingen Aki und sein Vater weiter. Plötzlich fiel Aki ein kleines hunzliges Männchen auf, dass er vorher noch nicht gesehen hatte. Er hatte langes graues Haar, das ziemlich wirr den Kopf umwehte und einen langen dünnen Bart, der ihm fast bis zum Gürtel reichte. Gekleidet war der merkwürdige Alte in eine Art Mönchskutte. Sein Gesicht bestand fast nur aus Falten, so dass Aki sein Alter nicht einmal annähernd schätzen konnte. Die kleinen Augen leuchteten gefährlich. Als Aki neben ihm herging, bemerkte er, dass der Alte einen modrigen erdigen Geruch verbreitete. Es fröstelte Aki, obwohl die Sonne schien und es mehr als zwanzig Grad warm war. Der Alte schien Streit mit dem Betreiber eines Verkaufsstandes zu haben. Interessiert blieb Aki stehen und drehte sich um. Seine Mutter hatte ihm zwar immer gesagt, man solle sich nicht nach anderen Leuten umdrehen. Der Alte wirkte jedoch so bedrohlich und faszinierend zugleich, dass Aki nicht widerstehen konnte. Er hörte dem Gespräch zwischen dem Alten und dem Verkäufer gespannt zu. Offensichtlich hatte der Alte an dem Stand eine Laugenbrezel gekauft und konnte sie nicht bezahlen. Allerdings hatte er die Brezel schon angebissen, so dass der Verkäufer ihn anherrschte: “Hey Du Penner, die Brezel kostet zwei Euro. Dein Spielgeld kannst Du Dir an den Hut stecken. Wenn Du nicht sofort bezahlst, hole ich die Polizei.“ Akis Vater war schon ein Stück weitergegangen und bekam von der Szene nichts mit. Aki wusste selbst nicht, wer oder was ihn in diesem Moment ritt. Aber zu seiner eigenen Überraschung mischte sich Aki in das Gespräch ein und sagte zu dem Verkäufer: “Nun regen Sie sich doch nicht so auf. Bestimmt hat der Herr nur Hunger“ Da blaffte der Verkäufer zurück: „ Das hat mir gerade noch gefehlt, dass Du neunmalkluges Bürschchen Dich auch noch einmischt. Ich muss hier meine Brezel verkaufen und kann sie nicht verschenken. Schließlich habe ich eine Familie zu ernähren. Du kannst mir ja die zwei Euro für die Brezel geben, dann ist die Sache erledigt.“. Aki lief rot an. Weil ihm die Angelegenheit plötzlich unheimlich peinlich war, holte er verschämt seinen Brustbeutel heraus. Er gab dem Verkäufer eine Zwei Euro Münze, bevor noch mehr Außenstehende auf die Szene aufmerksam werden konnten. In dem Moment, als er die Münze auf den Tresen legte, ärgerte sich Aki innerlich, warum er so blöd gewesen war, sich überhaupt einzumischen. Jetzt war er auch noch seine zwei Euro los. Immerhin war es das Taschengeld von einer ganzen Woche.

Doch sein Ärger war nur kurz, denn der Alte sprach Ihn direkt mit einer hohen Fistelstimme an. Aki konnte ihn zwar verstehen. Die Ausdrucksweise und Betonung des Alten klangen aber fremdartig: “Edler junger Herr, habt vielen Dank für Eure Bereitschaft, einem Wanderer zwischen den Zeiten und Welten zu helfen, denn meine Aufgabe ist nicht leicht in diesen Tagen. Man nennt mich Gisbert von Arles. Nimm als Zeichen meines Dankes diesen Beutel mit Münzen. Und sind es auch nur Schillinge, so liegt ihr eigentlicher Wert darin, dass sie Dir jeden Wunsch erfüllen können. Gibst Du eine dieser Münzen einem Bettler, wird Dein größter Wunsch erfüllt von den Kräften, die ewig über alles wachen. Aber hüte Dich: Ist Dein größter Wunsch auf Geld oder Macht gerichtet, werden dir die Münzen nur Unglück und Verderben bringen.“ Aki war völlig perplex, als er den Lederbeutel mit den Münzen in den Händen hielt. Der Alte biss zufrieden von seiner Laugenbrezel ab, drehte sich um und verschwand in der Menge. Aki überlegte einen Moment. Wollte der Alte ihn auf den Arm nehmen? War er vielleicht ein Schauspieler, der zur Belustigung der Besucher auf den Festplatz arbeitete? In diesem Fall hätte er Aki wohl kaum um zwei Euro erleichtert. Er hatte sich als Wanderer zwischen den Zeiten und Welten bezeichnet? Das klang ziemlich abgefahren und geheimnisvoll. Aki öffnete den Lederbeutel und schaute hinein. Der Inhalt des Beutels bestand aus einer Handvoll alter Kupfermünzen, die komplett voller Grünspan waren und deren Prägung man kaum noch erkennen konnte.

„Mensch Aki, wo bleibst Du denn, ich habe Dich schon überall gesucht“ Sein Vater kam ihm aufgeregt entgegen. Er war zurückgelaufen. „ Was machst Du denn hier, Junge. Du kannst doch nicht schon wieder Hunger haben“, sagte er und deutete auf den Stand mit den Laugenbrezeln. Aki hielt es für besser, seinem Vater nichts von dem Vorfall zu erzählen. Unbemerkt ließ er den Lederbeutel in der Tasche seiner Jacke verschwinden und antwortete: „ Sorry Papa, ich hatte ein bisschen geträumt. Können wir jetzt mal zum Turnierplatz rübergehen und gucken, was dort schon los ist.“ Gemeinsam gingen sie zum Turnierplatz, wo zu diesem Zeitpunkt noch nicht viele Zuschauer waren. Sein Vater hatte das Programm hervorgeholt und las Aki die Programmfolge für das spätere Turnier vor. Aki war mit seinen Gedanken aber ganz woanders. Der geheimnisvolle Fremde ging ihm nicht aus dem Sinn. Ob es wohl stimmte, dass die Münzen ihm seinen größten Wunsch erfüllen können? Aki war zwar nicht abergläubisch und glaubte auch nicht an Zauberei. Aber der Auftritt des Alten hatte ihn schon mächtig beeindruckt und er hatte das merkwürdige Gefühl, als würde er ihm nochmals begegnen.
Am liebsten wollte Aki sofort ausprobieren, ob die Münzen tatsächlich etwas bewirken könnten. Wenn er den Alten richtig verstanden hatte, musste er dafür nur einem Bettler eine Münze geben und sich etwas Bestimmtes wünschen. Aber wo war hier auf dem Festplatz ein Bettler? Aki hatte Glück. Kurz bevor sie den Turnierplatz erreichten, sah er einen Mann, der sich am Wegesrand auf einer Decke niedergelassen hatte, neben sich einen traurig dreinblickenden Langhaarschäferhund. Der Mann hatte alte abgewetzte Kleidung an, seine Haare waren filzig. Vor sich hatte er ein Pappschild aufgebaut mit der Aufschrift: „Mein Hund und ich freuen sich über eine kleine Gabe“. Daneben stand ein Blechteller, auf dem schon einige Münzen lagen. Aki fasste im Vorbeigehen in seine Jackentasche und holte eine der grünen Münzen aus dem Beutel hervor. Er legte die Münze auf den kleinen Teller und ging weiter, ohne sich umzudrehen. Da fiel ihm plötzlich siedend heiß ein, dass er ganz vergessen hatte, sich dabei etwas zu wünschen. Fieberhaft versuchte er, sich an den Gedanken zu erinnern, den er in dem Moment hatte, als er die Münze auf den Teller legte. Aber das gelang Aki nicht. Er konnte sich nicht erinnern. Vielleicht hatte er ja an gar nichts gedacht. Ob die kleine Münze jetzt wohl vergeudet war? Das konnte Aki eigentlich nicht glauben. Doch langsam stieg Enttäuschung in ihm auf, denn er spürte absolut keine Wirkung. Es tat sich überhaupt nichts.

„Also Aki, was ist denn los mit dir. Du wolltest doch gerne zu diesem Ritterturnier und jetzt machst Du ein Gesicht wie sieben Tage Regenwetter“ unterbrach sein Vater die Grübelei. „Papa tut mir leid, ich war gerade mit meinen Gedanken woanders. Das Turnier ist wirklich toll und ich freue mich auch sehr, dass wir hier sind.“ In den nächsten zwei Stunden gingen die beiden über den Platz, wo sich die Turnierteilnehmer auf das Ritterturnier vorbereiteten. Dort waren offene Zelte in den Wappenfarben aufgebaut. In diesen Zelten präsentierten die Turnierteilnehmer ihre Rüstungen, Kettenhemden und Waffen. Die Schwerter, Streitäxte und Morgensterne waren natürlich nicht echt, sondern stumpf. Aber die Sammlungen waren trotzdem sehr beeindruckend. Es gehörte eine Menge Übung und Geschick dazu, sich bei den Schaukämpfen mit all dem Zeug nicht wirklich zu verletzten. Aki hatte den Vorfall mit dem merkwürdigen Alten schon fast vergessen. Er war jetzt ganz in seinem Element und bestaunte die polierten Waffen und Rüstungen. Als die Hobbyritter anfingen, ihre Lanzenritte einzuüben, ging Aki zu dieser Stelle. Am Rande der Turnierbahn war ein hölzerner Pfahl aufgebaut, auf dem ein drehbarer Balken montiert war. Solche Geräte hatte es zur Zeit der Ritter tatsächlich gegeben, wie Aki wusste. An einem Ende des Balkens war eine hölzerne Zielscheibe befestigt, die der vorbei reitende Ritter mit der Lanze treffen musste. Am anderen Ende war ein schwerer Ledersack voller Sand angebunden. Wenn nun ein Ritter die Zielscheibe mit der Lanze traf, schwenkte im selben Moment das Balkenende mit dem Ledersack herum und zwang den Ritter, sich auf dem Pferd geschickt abzuducken, um von dem schweren Sack nicht aus dem Sattel geworfen zu werden. Aki nutzte die Situation aus und trat so dicht neben die Reiter, dass er den heißen Atem aus den Nüstern der Pferde fast spüren konnte. Beim Training kümmerte sich noch niemand um die Zuschauer. Später beim Turnier würde er nicht mehr so dicht heran kommen, dann würde alles mit Trassierband abgesperrt sein und viele Ordner würden aufpassen.

Gerade ritt gerade ein besonders großer und prachtvoller Hobbyritter mit einer bronzefarbenen Rüstung mit schwarz gelben Schild und Federbusch auf die Zielscheibe zu. Das Pferd, ein temperamentvoller Rappe schnaubte und beschleunigte, als der Reiter seine hölzerne Lanze hob und zielte. In diesem Moment hatte Aki das Gefühl, als sehe er auf der gegenüberliegenden Seite der Turnierbahn den merkwürdigen Alten wieder. Aki machte unbewusst einen kleinen Schritt nach vorn, um besser sehen zu können. Dabei hatte er nicht darauf geachtet, dass er schon sehr dicht an dem Trainingsparcours stand. Durch diesen weiteren Schritt geriet Aki in den Weg des heran reitenden Hobbyritters. Das Pferd hatte die plötzliche Bewegung von Aki sofort bemerkt und scheute. Der Rappe bremste abrupt, machte eine viertel Drehung zur Seite und stellte sich steil auf seine Hinterbeine. Der Hobbyritter war offenbar ein guter Reiter, denn er konnte sich noch abfangen und geschickt aus dem Sattel springen. Er landete sogar auf seinen Füssen. Durch seinen Schwung und das Gewicht seiner Rüstung stolperte er aber noch einige Meter weiter und prallte direkt mit Aki zusammen. Durch den Zusammenprall mit ihm wurde Aki nach hinter in Gras geschleudert und blieb ohnmächtig liegen. Auch der Ritter ging zu Boden.

Als Aki wieder zu sich kam, war er etwas benommen. Zunächst hatte er noch Schwierigkeiten, die Umstehenden deutlich zu erkennen, weil er alles verschwommen sah und sich in seinen Kopf alles drehte. Aber schon einige Augenblicke später hatte er sein Bewusstsein voll wiedererlangt und konnte seine Umgebung wieder klar erkennen. Aki stellte fest, dass er auf seinem Rücken lag und mindestens ein Dutzend Leute in einigen Metern Abstand um ihn herumstanden und ihn anstarrten. Keiner half ihm. Die Leute redeten wild durcheinander. Er wunderte sich nur, dass sein Vater nicht längst bei ihm war. „Der Jüngling sieht nicht so aus als komme er von hier“ vernahm Aki eine vorlaute Stimme. „Seht nur seine Beinkleider und Schuhe. Er scheint vom Norden her zu kommen“ sagte jemand anders. „Und wie er so dumm sein konnte, gerade Graf Gerald zu Dunkelfels vor den Gaul zu laufen. Der macht nicht viel Federlesen mit ihm“ gluckste ein Dritter scheinbar vergnügt. „Vielleicht stellt der das Bürschchen an den Pranger oder lässt ihn im Weiher reichlich Wasser saufen“. „Jedenfalls wird’s ein Mordspaß“ Aki traute seinen Augen nicht. Er hatte sich inzwischen so weit aufgerichtet, dass er auf dem Hosenboden saß und sich umschauen konnte. Um ihn herum waren Gestalten, die er zuvor auf dem Markt nicht gesehen hatte. Alle hatten mittelalterliche Kleidung an. Die Frauen waren mit blauen Schürzen und weißen Hauben bekleidet und trugen Holzschuhe. Die Männer hatten grobe wollene und lederne Gewänder. Sie trugen keine Hosen, sondern hatten Beinkleider und Gamaschenschuhe. Aki kam sich fast vor wie ein Statist in einer Filmszene. Er bekam es mit der Angst zu tun, als die Menge ihn immer dichter umringte, offenbar, um ihn zu ergreifen. Da sah Aki plötzlich zwischen all den Beinen der Erwachsenen hindurch den Kopf eines Jungen mit strohblonden Haaren, der sich bückte. Er streckte Aki die Hand entgegen und sagte nur ein Wort: „Komm“. Da Aki inzwischen echte Panik vor der Menschenmenge hatte, ergriff er die rettende Hand. Der Junge zog Aki zu sich. Die beiden Jungen krabbelte den Umstehenden geschwind zwischen den Beinen hindurch, sprangen hinter deren Rücken auf und liefen los. Aki rannte einfach hinter dem Blondschopf des Jungen her. Sie sprangen über den Zaun des Turnierplatzes, sprinteten noch einige Meter weiter und hechteten sich schließlich durch den offenen Eingang in das Zeltes eines Turnierteilnehmers, das glücklicherweise gerade leer war. Die Meute, die ihnen folgte, würde sich bestimmt nicht in das Zelt trauen und ihnen folgen. Auf der Rückseite des Zeltes robbten sie unter der Zeltbahn hindurch wieder in Freie und entschwanden im Zickzack zwischen den Ständen hindurch in den Gassen der Stadt am Rande der Schwalenburg. Schließlich ließen sie sich in einer Ecke auf einigen Strohsäcke nieder, um zu verschnaufen. Beide waren von der Flucht völlig außer Atem. Sie hatten die Meute erfolgreich abgeschüttelt. Aki hatte den Vorfall allerdings noch nicht ganz verstanden.

Als er wieder bei Atem war, wandte er sich dem blonden Jungen zu, der ungefähr so alt wie er selbst war und sagte: „Vielen Dank für Deine Hilfe, ich heiße eigentlich Joachim, aber alle nennen mich Aki . Wer bist Du? “ „Man nennt mich hier Frido “ Aki bemerkte erst jetzt, dass der andere Junge alte und zerrissene Kleidung trug. Sein Hemd war früher wohl einmal hell gewesen. Jetzt war es übersäht mit beigen und grauen Flecken . Seine Hosen waren knapp unter den Knien zerrissen und fransig. Schuhe und Strümpfe trug er nicht. Seine Füße waren total schwarz und bestimmt tagelang nicht gewaschen worden. Aki hatte vor einiger Zeit im Fernsehen etwas von Kindern aus Osteuropa gehört, die in Deutschland auf die Straße geschickt würden, um zu dort zu betteln. Plötzlich empfand Aki Mitleid mit dem Jungen, den er eigentlich noch gar nicht kannte. Er hatte seinen Rucksack immer noch bei sich. Darin waren auch noch einige Schokoriegel. Er bot Frido einen davon und etwas von seiner Saftschorle an. Frido sah den verpackten Riegel verständnislos an, als wüsste er nicht, was sich in der Verpackung befand. „Du musst das Papier aufreißen“ sagte Aki und zeigte es ihm mit dem Schokoriegel, den er für sich selbst aus dem Rucksack geholt hatte. Nachdem Frido seinen Schokoriegel ausgepackt hatte, roch er zunächst misstrauisch daran, um dann kraftvoll hinein zu beißen und ihn mit nur drei hastigen Bissen zu verschlingen. „Schmeckt gut. Was ist das?“, fragt Frido. „Ach nichts besonderes, meine Mama hatte mir noch einige Schokoriegel eingepackt. Ich glaube Du hattest den mit Kokosgeschmack“ antwortete Aki. „Möchtest Du auch einen Schluck dazu trinken. Ich habe allerdings nur Orangensaftschorle. Meine Mama meint nämlich, dass Orangensaft ohne Mineralwasser schlecht für die Zähne ist und Cola bekomme ich zuhause sowieso nie.“ Er hielt ihm seine Trinkflasche hin. Allerdings schaute ihn Frido mit großen fragenden Augen an und hatte offenbar wieder gar nichts verstanden.“ Was ist Orangensaft?“ murmelte Frido. Jetzt schaute Aki Frido mit großen ungläubigen Augen an und versuchte zu erklären: „Orange ist nur ein anderes Wort für Apfelsine“. Aber Frido antwortete: „Ich kenne keine Orangen und ich kenne auch keine Apfelsinen. Manchmal esse ich einen Apfel . Aber das nur an besonderen Tagen wie Weihnachten oder Erntedank. Die Bauern kommen dann zur Schwalenburg und bringen den Armen Äpfel und Gemüse. Manchmal kann ich dann auch einige Äpfel für mich bekommen. Hast Du noch so einen - Schokoriegel?“ fragte Frido unverblümt.

Aki konnte sich das nicht erklären. Konnte es denn mitten in Deutschland einen vierzehnjährigen Jungen geben, der keine Apfelsinen kannte und nur ab und zu mal einen Apfel essen durfte und in solchen abgerissenen Klamotten herumlief. „Sag mal Frido, ich möchte dich ja nicht ausfragen, aber wo kommst Du eigentlich her.“ Frido starrte den Rucksack in der Hoffnung auf den zweiten Schokoriegel an und erwiderte: „Ich lebe schon, so lange ich denken kann, in der Stadt am Fuße der Schwalenburg . Hier habe ich alles was ich brauche. Ich helfe den Kaufleuten beim Abladen der Ware, mache mich beim Hufschmied nützlich und habe dem Grafen auch schon mal bei der Jagd als Bursche gedient. Dafür geben sie mir zu essen und manchmal im Winter auch einen warmen Schlafplatz“ Jetzt guckte Aki verständnislos. „Du hast also kein Zuhause und lebst auf der Straße“. Nach einer Pause fuhr Aki fort: „Musst Du denn nicht zur Schule gehen? „ Frido antwortete:“ Wir haben hier zwar eine Lateinschule. Dahin dürfen aber nur die Kinder des Grafen und einiger reicher Kaufleute gehen. Dort lehrt man sie das Lesen und das Schreiben und Latein“. Jetzt war Aki klar, dass Frido ihn verulkte. Selbstbewusst erklärte er deshalb: „Du willst mich wohl an der Nase herumführen, lieber Frido. Aber ich glaube Dir Deine Geschichte nicht .Ich weiß von meinem Papa nämlich ganz genau, dass es eine Schulpflicht gibt und Schulschwänzer sogar von der Polizei abgeholt werden können, Außerdem habe ich mich auch auf den heutigen Tag vorbereitet und im Internet nachgeschaut. Die Grafen von der Schwalenburg gibt es seit 1628 gar nicht mehr, weil die Burg im dreißigjährigen Krieg belagert und gestürmt worden war. Dabei wurde die Familie des Grafen ermordet.“ Frido leckte sich jetzt die Lippen und alle Finger ab. Dabei ließ er den Rucksack, aus dem die Schokoriegel gekommen waren, nicht aus den Augen. Eher beiläufig bemerkte Frido: „Woher willst Du all das eigentlich wissen. Ich bin zwar nicht besonders schlau, aber ich weiß genau, dass das Turnier heute zum zwanzigsten mal stattfindet und, dass heute der 25. Juli 1179 ist. Der Graf hat wegen des Jubiläums einen gebratenen Ochsen für das Volk gespendet. Das steht jedenfalls auf den Plakaten, die sie in der Stadt aufgehängt haben. Also was ist, hast Du jetzt noch so einen Schokoriegel für mich?“. Jetzt wurde Aki regelrecht böse und schrie Frido an: „ Hör mir mal gut zu. Du sollst mich nicht für dumm verkaufen. Es ist der 25.7.2011 und ich habe Sommerferien. Die werde ich mir von Dir nicht verderben lassen. Ich suche jetzt meinen
Vater . Notfalls gehe jetzt zum Parkplatz und warte dort auf meine Eltern.“
Er drehte sich um und ging in die Richtung des Festplatzes. Frido lief hinter ihm her, zupfte Aki am Ärmel und reichte ihm wortlos ein Plakat, das er zuvor von einer Mauer abgerissen hatte. Darauf war geschrieben: „ Ihro Hoheit, Graf Ferdinand zur Schwalenburg , wir geben uns die Ehre, dem gemeinen Volke am Ende des Turniertages des fünfundzwanzigsten Juley des Jahres 1179 anno domini einen ganzen Ochsen zu spenden, worauf dieser am Spieße gebraten und unter dem Volke verteilt werden soll anlässlich der 20ten Wiederholung des alljährlichen Turnieres der besten Ritter des Landes.“
Langsam wurde es Aki jetzt doch mulmig: „ Okay jetzt mal ganz langsam, Frido. Ich bin 1997 geboren und lebe im Jahr 2011. Wie sollte ich in das Jahr 1179 kommen. Das mehr als 830 Jahre vor meiner Zeit.“ Jetzt stöhnte Frido genervt: „Woher soll ich das denn wissen? Ich bin nur ein einfacher Junge und habe noch nie eine Schule von innen gesehen. Alles was ich kann, habe ich auf der Straße gelernt. Ich weiß nur genau, dass jetzt das Jahr 1179 ist. Aber es gibt jemanden, der schon vorher wusste, dass Du kommen würdest. Er hat mir vor einer Stunde eine Münze in die Hand gedrückt, und mir aufgetragen, Dich vom Turnierplatz abzuholen. Ich soll dich zu ihm bringen. Vielleicht kann er Dir mehr sagen“ Aki platzte zwar vor Neugier, war aber immer noch nicht ganz überzeugt. Deshalb sah er sich zuerst mit Frido noch einmal vorsichtig auf dem Marktgelände um, wobei sie natürlich vermieden, nochmals mit der wilden Meute von der Turnierbahn zusammenzutreffen. Dabei stellt Aki fest, dass zwar vieles genauso war, wie vor seiner Ohnmacht. Allerdings war der Parkplatz mit den vielen Autos nicht mehr zu sehen. An der Stelle befand sich jetzt ein Acker. Die Besucher des Marktes waren auch nicht mehr mit Jeans und bunten T-Shirts bekleidet, sondern - ohne Ausnahme - mittelalterlich mit Beinkleidern, wollenen Gewändern und mehr oder weniger prachtvollen Hüten angezogen. Die Frauen hatten Hauben auf dem Kopf, die ihr Haar bedeckten. Einige Mönche waren in ihren Kutten unterwegs. Auf dem Markt wurden lebende Hühner in Holzkäfigen feilgeboten, ebenso wie Ziegen und anderes Getier. Gemüse, Töpferware, Schwerter und Äxte lagen auf Handkarren, deren Räder manchmal aus einfachen runden Holzscheiben ohne Speichen bestanden. Aki kniff sich mehrmals in seinen Unterarm, stellte dabei aber immer wieder fest, dass er nicht träumte. Er schloss auch ein paar Mal die Augen und öffnete sie wieder. Und so sehr er sich auch wünschte, dass alles wie vor seiner Ohnmacht sein sollte, das Bild vor seinen Augen blieb dasselbe. Offensichtlich war er tatsächlich in der Zeit gereist. Er war zwar am selben Ort, sogar auf einem Ritterturnier genau wie vor der Ohnmacht, allerdings fast neun Jahrhunderte früher. Das erklärte auch, warum sein Vater nicht da war, als er erwacht war.

Der Vater von Aki hatte inzwischen das gesamte Gelände, wo der Mittelalterliche Markt und das Ritterturnier stattfand, nach ihm abgesucht. Von Aki gab es keine Spur. Die Mutter und Pia waren dazu gekommen. Die Mutter machte seinem Vater große Vorwürfe: „ Da lässt man dich mal zwei Stunde mit dem Jungen allein und schon hast Du ihn verloren. Du weißt doch, dass Aki noch sehr verspielt ist mit diesem ganze Ritterblödsinn. Konntest Du nicht besser auf ihn aufpassen, Wilfried ?“
„Aber ich sagte Dir doch schon, dass ich praktisch neben ihm gestanden habe und mir absolut nicht erklären kann, wo Aki hin ist. Er stand bei dem Trainingsparcour fürs Lanzenreiten in meinem Blickfeld. Ich habe nur mal kurz zu dem Schwertkampftraining herübergesehen. Als ich danach meinen Kopf wieder wendete, war Aki verschwunden. Ich kann mir das wirklich nicht erklären. Also mach mir bitte keine Vorwürfe, Roswitha“. Seine Eltern ließen Aki zunächst erfolglos auf dem Festplatz von dem dortigen Ansager ausrufen. Danach entschlossen sie sich dazu, die Polizei einzuschalten und eine Vermisstenanzeige aufzugeben.


Frido führte Aki durch die Stadt, die am Fuße der Schwalenburg lag. Aki hielt sich die Nase zu, denn es stank bestialisch in der Gasse, in die sie gerade eingebogen waren. Frido schien das nichts auszumachen. Er erklärte fast wie im Stile eines Stadtführers: „Hier wohnt und arbeitet unser Gerber, der Meister Hudebart. Er verarbeitet Tierfelle zu Leder.“ Aki hatte zwar gelesen, dass von Gerbereien ein starker Geruch ausging. Das hier übertraf aber seine schlimmsten Vorstellungen. Sie beeilten sich, um hier schnell vorbeizukommen. Dann ging Frido gefolgt von Aki eine Treppe hinunter, die zu einem kleinen Fluss führte. Hier erkannte Aki eine Kaimauer, an der mit groben Stricken einfache Lastkähne befestigt waren. Die sahen aus wie etwas zu groß geratene Ruderboote. Allerdings waren die Seitenwände sehr flach und weit ausladend, so dass man eine Menge Ware auf die Boote packen konnte. Ruder gab es offenbar nicht. Bei einem Boot, das gerade abfuhr, konnte Aki beobachten, dass ein Mann am Heck des Bootes stand und eine lange Stange in der Hand hatte, mit dem er sich abstieß. Aki hätte das Treiben im kleinen Hafen am Fluss gerne noch etwas länger beobachtet, aber sie mussten weiter. Schließlich erreichten sie am Rande der Stadt in der Nähe des Hafens ein halb verfallenes Haus. Stadtführer Frido erklärte: „ Dieses Haus wird schon seit einigen Jahren nicht mehr benutzt. Früher war es das Haus des Scharfsrichters. Der Henker, der zuletzt in dem Haus gelebt hat, ist aber eines Nachts spurlos verschwunden. Deshalb glauben alle Leute, dass das Haus verflucht sei. Jetzt habe ich hier mein Sommerlager eingerichtet und werde von niemandem gestört. Außer einigen Ratten und Fledermäusen gibt es keine anderen Bewohner. Tritt ein.“ Aki gruselte es zwar bei dem Gedanken an Ratten und Fledermäuse in einem unbewohnten Haus, er wollte gegenüber Frido aber keine Schwäche zeigen. Deshalb atmete er tief durch und trat - fast ohne zu zögern - über die verrottete Schwelle in das alte Gemäuer ein. Zunächst mussten sich seine Augen an die Dunkelheit gewöhnen. Aber im kaputten Dach gab es einige Stellen, durch die etwas Licht in das Innere des Hauses fiel. Nach einem Moment fanden sich Aki und Frido im Zwielicht zurecht und gingen im Haus um zwei Ecken herum in einen der hinteren Räume. Dort erkannte Aki schemenhaft die Umrisse eines kleinen Mannes mit einem langen Bart, der in eine Art Mönchskutte gekleidet war und dessen Kopf von langem Haaren umweht war, von denen Aki wusste, dass sie grau waren. Eine hohe Fistelstimme begrüßte ihn: „ Junger Aki, sei gegrüßt. Ich hoffe Du bist mir nicht gram, aber ich sprach die Wahrheit. In dem Moment, als Du dem Bettler die Münze gegeben hast, war in Deinem Kopf ein Wunsch, auch wenn dir das selbst nicht bewusst war. Dein Wunsch war es, einmal in die Ritterzeit zu reisen und die echten Ritter zu sehen. Diesen Wunsch hat Dir mein kleines Geschenk so schnell es ging erfüllt“

Der Alte machte mit seinen Armen eine einladende Geste, wonach die Jungen sich auf ein am Boden ausgebreitetes Tierfell setzen sollten. Beide Jungen nahmen fast wie hypnotisiert nebeneinander Platz. Der Alte setzte sich ihnen gegenüber, ließ sie dabei aber keinen Moment aus den Augen. Seltsamerweise hatte Aki keine Angst. Hier in dem halbverfallenen Haus mit Ratten und Fledermäusen wirkte der Alte gar nicht mehr kalt oder bedrohlich. Er strahlte eine große Ruhe aus. Dabei wirkte er geheimnisvoll und irgendwie majestätisch. Aki war gespannt, was als nächstes kommen würde. Da ergriff der Alte wieder das Wort sagte: “ Aki und Frido, es ist kein Zufall, dass sich unsere Wege gekreuzt haben. Wie ich schon sagte, gehöre ich - Gisbert von Arles - zu den Wanderern zwischen den Zeiten und Welten. Ursprünglich waren wir zwölf. Unsere Aufgabe besteht darin, den Quell der unendlichen Weisheit zu schützen. Dieser darf auf keinen Fall einem einzelnen Menschen in die Hände fallen, sondern muss stets der ganzen Menschheit zur Verfügung stehen und Weisheit zu jeder Zeit unter allen Menschen weiter verbreiten. Zu allen Zeiten strebten einzelne Menschen nach diesem Quell der Weisheit, um diesen dann für Ihre eigenen egoistischen Zwecke zu missbrauchen. Die Menschen sind überheblich und bilden sich ein, Macht, Reichtum und grenzenloses Wissen durch den Quell erreichen zu können. Die Prophezeiung sagt allerdings, dass der Missbrauch des Quells der Weisheit dazu führen würde, dass der Quell in kurzer Zeit für immer versiegt. Das würde die gesamte Menschheit ins Verderben stürzen, denn Vernunft und Weisheit würden langsam aus den Köpfen der Menschen verschwinden. Missgunst, Dummheit und Kriege wären die Folge. Die Menschheit würde auf ewig in Kriegen und Chaos versinken. Deshalb dient die Bruderschaft der Wanderer zwischen den Zeiten und Welten allen Menschen, indem sie den größten Schatz der Menschheit für alle Zeiten behütet.“ Aki wollte eigentlich etwas fragen. Der Alte gebot ihm aber mit einer einzigen Geste seiner Hände Schweigen und fuhr sodann fort: „Jeder von uns Wanderern erfüllt seine Aufgabe für tausend Jahre und mehr. Wenn einer von uns jedoch zu müde oder zu alt wird, muss ein neues Mitglied für die Bruderschaft gefunden werden. Auf diese Weise sollten eigentlich immer zwölf von uns den Quell schützen und behüten. Die wichtigste Eigenschaft unserer Bruderschaft ist ein reines Herz. Die Wanderer müssen frei vom Streben nach Macht, Ruhm oder Geld sein, um demütig und unbestechlich den Menschen im Verborgenen dienen. Unser einziger Lohn ist die Gewissheit, Gutes für die gesamte Menschheit zu tun. Jüngst wurden wir jedoch Opfer eines Verrats. Wir haben große Sorge. Erstmals hat einer von uns, namens Heinbarth von der Aue, das in Ihn gesetzte Vertrauen aufs Schlimmste missbraucht. Er war erst vor gut hundert Jahren auserkoren worden und hatte eigentlich die nötigen Eigenschaften, ein guter und erfolgreicher Wanderer zwischen den Zeiten und Welten zu sein. Wir wissen nicht, was plötzlich in Ihn gefahren ist. Ihm war nur für kurze Zeit eine Schriftrolle aus alter Zeit und ein Ring zur Aufbewahrung anvertraut worden. Diese Sachen hat er gestohlen und dem abgrundbösen Herzog Neidhard zu Schlingenstein und dessen Zauberer Derius übergeben. Diese beiden verfolgen schon lange das Ziel, den Quell der Weisheit zu finden und für ihre Zwecke zu nutzen. Heinbarth hat unsere Sache verraten. Die Schriftrolle und der Ring geben einen Hinweise darauf, wo sich der Quell befindet. Für mich ist das besonders schlimm, weil ich damals Heinbarth selbst für unsere Bruderschaft vorgeschlagen hatte. Jetzt ist auch noch mein Ruf verletzt. Aber das ist keineswegs das Schlimmste in diesem Moment. Es geht zuerst darum, zu verhindern, dass die Verbrecher das in der Schriftrolle und dem Ring verborgene Geheimnis finden. Nach unserer Tradition ist es meine Sache, die Dinge wieder in Ordnung zu bringen.“

Aki und Frido sahen sich verständnislos an. Was hatten sie eigentlich mit der ganzen Sache zu tun? Gisbert schien ihre Gedanken zu erraten und fuhr fort: „Ich bin schon alt und kann Heinbarth und dessen Komplizen, den Herzog Schlingenstein und dem Zauberer die Karte und den Ring nicht allein abjagen. Ich habe deshalb Euch beide auserkoren, mir bei dieser Mission zu helfen, weil ihr beide ein reines Herz habt und Du, junger Aki, dich sowohl in deiner eigenen Zeit, wie auch in der Zeit des Herzogs Neishards gut auskennst, schließlich hast Du viele Bücher zur Ritterzeit studiert, soweit ich weiß“. Aki war jetzt völlig aus dem Häuschen. Heute Morgen hatte er sich noch über seine vermasselten Ferien und seine Eltern geärgert und jetzt war er im Jahre 1179 gelandet und von einem Wanderer zwischen den Zeiten und Welten für eine wichtige Mission auserkoren worden. Er machte sich aber dennoch Sorgen, weil seine Eltern nicht wussten, wo er war. So antwortete er: „Es ehrt mich sehr Gisbert von Arles, dass Du gerade mich auserkoren hast und ich würde auch gerne mitmachen, aber was ist mit meinen Eltern. Sie machen sich in diesem Moment sicher große Sorgen um mich.“ Gisbert antwortete: Nun junger Aki, ich freue mich, dass Du so umsichtig bist und zunächst an Deine Eltern denkst. Das bestätigt mich darin, dass ich mit Dir die richtige Wahl getroffenen habe. Dein Problem ist, wenn man es näher betrachtet, tatsächlich gar keines. Wie der Name schon sagt, hat unsere Bruderschaft gelernt, zwischen den Zeiten zu wandern – übrigens nur eine unserer durchaus nützlichen Künste. Das bedeutet aber, dass Du nach Deiner Mission genau in dem Moment in Deine Zeit zurückkehren kannst, in dem Du verschwunden bist. Dann würden Deine Eltern gar nicht bemerken, dass Du weggewesen bist. Es liefe von diesem Moment an wieder alles normal weiter. Ich frage deshalb nochmals, mit den Worten, wie man sie in Eurer Zeit verwendet: Bist Du im Team?“

Stolz antwortete Aki: „Gisbert, Ihr könnt Euch auf mich verlassen. Ich bin im Team und werde Dich nicht enttäuschen“ Frido stimmte mit ein:“ Sag uns nur, was wir tun sollen. Wo finden wir Heinbarth, den bösen Herzog von Schlingenstein und den Zauberer Derius? Wie können wir Ihnen die Schriftrolle und den Ring abnehmen?“ Gisbert zog die beiden zu sich, legte ihnen den Arm um die Schulter und begann leise und verschwörerisch damit, seinen Plan zu erklären. Zwei Stunden später ritten Aki und Frido nicht wie zwei Ritter auf stolzen Pferden aus dem Torstadttor in Richtung des Herzogtums Schlingenstein. Sie befanden sich vielmehr auf einem Kutschwagen und noch dazu auf der Ladefläche unter einem Fuder Heu, wo sie sich verbargen. Gezogen wurde der Wagen von zwei Ochsen. Der Kutscher hatte den Auftrag, sie in die Stadt des Herzogs von Schlingenstein zu bringen. Frido hatte sich vor der Abreise noch am Fluss gewaschen. Weil er nur zerrissene Sachen hatte und Aki mit seiner Jeans und dem T Shirt aufgefallen wäre, hatte Gisbert beiden andere Kleidung gegeben. Sie trugen jetzt Hosen aus grobem Leder und hatten jeder einen wollenden Wams an. Frido trug Gamaschenschuhe. Aki hatte drauf bestanden, seine halbhohen Turnschuhe anzubehalten. Die Reise dauerte fast zwei Tage und war ziemlich beschwerlich. Außerhalb der Stadt konnten Frido und Aki natürlich neben dem Kutscher vorne auf dem Bock sitzen. Aki erzählte Frido von seiner Familie, dem Alltag im Jahr 2009 und von der Schule. Frido berichtete von vielen Erlebnissen aus den Gassen der Schwalenburg. Die Reisezeit verging schnell und beide hatten sich richtig angefreundet. Als die Burg Schlingenstein in Sicht war, verbargen sie sich wieder unter dem Heu. Mit einer List, vielleicht auch Bestechung, überwandt der Kutscher problemlos die Wachen am Stadttor. Was genau der Kutscher getan hatte, bekamen die beiden nicht mit. Sie hatten ja schließlich wieder unter dem Heu gelegen und kaum gewagt, zu atmen, als der Wagen bei der Einfahrt kontrolliert worden war. Kurz hinter der Stadtmauer sprangen sie wie besprochen von dem fahrenden Wagen ab und verschwanden schnell in einer kleiner Seitengasse. Zum Glück hatte Gisbert ihnen einen Lageplan aufgezeichnet, nach dem sie vorgehen konnten. Die Burg des Herzogs befand sich inmitten der Stadt auf einer Anhöhe, dem Burgberg. Sie war umgeben von fünf Meter hohen Mauern. Das Tor war von den Leibgardisten des Herzogs schwer bewacht. Es war praktisch unmöglich unbemerkt in die Burg zu gelangen. Doch darum brauchten sich Frido und Aki nicht zu kümmern. Auf dem Plan, den sie von Gisbert erhalten hatten, waren nämlich nicht nur die Strassen der Stadt und der Grundriss der Burg eingezeichnet, sondern auch ein Geheimgang, der aus der Burg herausführte. Aki hatte in seinen Büchern gelesen, dass es früher in vielen Burgen Geheimgängen gegeben haben soll als Fluchtweg bei der Belagerung durch Feinde. Später war von den Geheimgängen nichts mehr zu finden gewesen. Einige Forscher bezweifelten deshalb sogar die Existenz solcher Geheimgänge. Wenn die wüssten. Durch einen Geheimgang kommt man natürlich nicht nur aus einer belagerten Burg heraus. Man kann durch den Gang auch unerkannt in die bewachte Burg hineingelangen. Genau das sah Gisberts Plan vor. Frido und Aki gingen um ein paar Straßenecken herum bis sie auf einem Platz mit einem Brunnen gelangten. Der Platz war belebt. Frauen standen zusammen und unterhielten sich, andere hatten Wasser geholten und schleppten dies in Eimern fort. Einige Männer feilschten noch um Waren. Die beiden mussten noch warten, bis sie in den Brunnen hinabsteigen konnten. Dort befand sich nämlich der Eingang zum Geheimgang. Zumindest stand das so in Gisberts Plan. Sie wäre sofort aufgefallen, wenn sie auf einem belebten Platz einfach in einen Brunnen geklettert wären. Zum Glück war es schon früher Abend. Bis zur Dämmerung würde es höchstens noch eine Stunde dauern. Dann würden alle Menschen nach Haus gehen. Straßenbeleuchtung gab es zu dieser Zeit noch nicht und die wenigsten Leute konnten sich Kerzen oder Laternen leisten. Frido und Aki nutzen die Zeit und stärkten sich mit einem Stück Brot und einer Wurst, die ihnen Gisbert als Proviant mitgegeben hatte. Zum Nachtisch gab es dann auch noch die letzten beiden Schokoriegel aus dem Rucksack von Aki. Kurze Zeit später wurde es in der Stadt dunkel. Sie waren jetzt die einzigen Menschen auf dem vormals belebten Platz. Es war stockdunkel. Licht gab es nur oben auf dem Burgberg , denn der Herzog konnte sich natürlich Fackeln und Kerzen in ausreichender Zahl leisten. Ganz leise wehten auch Fetzen von Musik und Stimmen von dort herab. Offenbar feierte der Herzog oben auf seiner Burg zu abendlicher Stunde noch ein Fest.

Frido ließ Aki in den Brunnen hinunter. Dabei benutzte er die Seilwinde, mit der der Schöpfeimer in den Brunnen hinuntergelassen wurde. Aki war ganz schön mulmig zumute. Unter sich sah er nur ein schwarzes Loch. Aki konnte nicht sehen, wie tief es in den Brunnen hinunterging. Ob Frido die Seilwinde bei Akis Gewicht würde halten können? Glücklicherweise hatte Aki immer eine Taschenlampe in seinem Rucksack dabei. Die konnte er in diesem Moment gut gebrauchen. Aki hatte sich die Lampe vor seinem Abstieg in den Hosenbund gesteckt. So konnte er sie einfach mit einer Hand greifen. Mit der anderen musste er sich an dem Seil des Brunnens festhalten. Hoffentlich würde der Eimer halten, in dem er mit seinen Füßen hockte. In etwa vier Meter Tiefe leuchtete Aki ringsherum die Brunnenwände ab. Nach Gisberts Beschreibung sollte es in der Brunnenwand einen weißen Stein geben, der den Geheimgang markierte. Und tatsächlich: Alle Steine waren braun, nur ein einzelner Mauerstein war weiß und fiel Aki im Licht der Taschenlampe sofort auf. Er konnte mit der einen Hand bis zum Stein reichen. Sehr vorsichtig, so dass die Taschenlampe nicht herunterfiel, drückte Aki gegen den weißen Mauerstein. Wie von Zauberhand öffnete sich darauf ein Stück der Mauer und Aki hangelte sich in den feuchten kalten Gang, der zum Vorschein kam. Den Kopf musste Aki einziehen, so niedrig war der Gang. Außerdem schlug ihm ein unangenehmer modriger Geruch entgegen, der ihm fast den Atem nahm. Doch er riss sich zusammen und rief nach oben: „Alles klar Frido. Ich hab den Eingang. Kannst jetzt auch runterkommen“. Geschickt ließ sich Frido am Seil herab und schwank sich hinüber zu dem Eingang des Geheimganges, wo Aki seine Hand ergriff. Frido kletterte ebenfalls hinein. Ohne Zeit zu verlieren gingen die beiden tiefer in den Gang hinein, der Finsternis entgegen. Das Licht der kleinen Taschenlampe reichte kaum aus, um den Schacht zu beleuchten. „Schnell rein und noch schneller wieder raus“. Diese Devise hatte ihnen Gisbert auf den Weg mitgegeben. Zehn Minuten später nach etlichen Wegbiegungen konnten sie schon einen hellen Schein am Ende des Ganges ausmachen. Es waren auch Stimmen zu hören. Frido und Aki hatten auf einmal auch einen leckeren Duft von frisch gebratenem Fleisch in den Nasen. Den Grund erkannten sie, als sie sich dem Ausgang näherten. Der Geheimgang endete nämlich in der Küche der Burg und zwar direkt hinter einer der riesigen Kaminöffnungen, unter denen das Fleisch für den Herzog und dessen Gefolge gebraten wurde. Gisbert hatte offenbar das Fest des Herzogs nicht eingeplant. Jedenfalls loderte direkt vor dem Ausgang des Geheimganges in dem Kamin ein Feuer, das den beiden den Weg in die Burg versperrte. Frido kroch nach vor, bis dicht vor die Flammenwand, um die Lage zu peilen. Nachdem er wieder zurückgekommen war, erklärte er Aki : „ Das Feuer ist nicht das Problem. Mit ein bisschen Schwung können wir hindurch springen, ohne uns zu verletzen. Es ist nur ein kleines Feuer. Wir landen dann allerdings mitten in der Küche der Burg, in der - nach dem Duft und dem Stimmen zu urteilen - wohl noch Hochbetrieb herrscht.“ Aki meinte: „Das müssen wir riskieren, vielleicht schaffen wir es unerkannt aus der Küche in die Gesinderäume. Die liegen nach Gisberts Karte links vom Ausgang der Küche.“ Die beiden nahmen – so gut dies in der Enge des Ganges ging – geduckt einige Schritte Anlauf und sprangen kurz hintereinander mit Schwung aus dem Ausgang des Geheimgang hinaus. Dabei sprangen sie über das Feuer im Kamin hinweg. Frido und Aki landeten in der Küche der Burg. Die war viel größer, als die beide sich vorgestellt hatten. Es gab vier große Feuerstellen, die alle in Betreib waren. Überall bruzzelte es in Töpfen und Pfannen. Fast alle Köche waren augenblicklich damit beschäftigt, einen gegrillten Ochsen vom Spieß zu nehmen und zu zerteilen. Dafür wurden alle Hände benötigt. Glücklicherweise lag der Kamin, aus dem Frido und Aki gesprungen kamen, in einer anderen Ecke des Raumes. Es hatte deshalb zunächst keiner der Köche bemerkt, dass sie aus dem Kamin gekommen waren. Frido hatte recht gehabt. Das Feuer war wirklich nicht das Problem gewesen. Die Probleme begannen erst, als die beiden sich aus der Küche schleichen wollten. „Hey ihr Bürschchen, muss ich Euch erst Beine machen. Bringt den Herrschaften endlich den Wein und die gebratenen Täubchen zur Vorspeise!“ Offenbar hielten die Köche sie für Diener oder Lakaien. Ein Koch drückte jedem ein Tablett in die Hand. Sie hatten jetzt keine Wahl. Sie mussten sich auf das Spiel einlassen und so tun, als seien sie Diener. Vielleicht war das sogar eine gute Tarnung. Also machten sie sich mitsamt der Tabletts auf den Weg, den der Koch Ihnen bedeutet hatte. Sie hatten gehofft, sich auf dem Weg zum bösen Herzog, in irgendeinen der Seitengänge der Burg verdrücken zu können. Doch da hatten sie Pech, denn sie waren nicht allein. Einer der Köche aus der Küche begleitete sie. Er ging direkt hinter Ihnen her, offenbar um sich zu vergewissern, dass die vermeintlichen Lakaien die Speisen und den Wein ordnungsgemäß abliefern würden. Abhauen ohne Aufzufallen konnten sie also vergessen.

So gelangten sie schließlich bis zum großen Saal, wo das Fest schon in vollem Gange war. Etwa vierzig Männer saßen um eine riesige Tafel herum und zechten reichlich. Sie tranken Wein aus großen silbernen Bechern. Junge Mägde mussten den Wein nachschenken. Die Männer waren laut und ungestüm. Eine Gruppe von Bänkelsängern mit Leiern, Trommel und Schellen gab gerade ein Lied zum Besten, das aber im Grölen und Lachen der Gäste fast unterging. Am Kopf der Tafel, direkt vor einem riesigen Kaminfeuer thronte der Herzog Neidhard von Schlingenfels. Zu seiner Linken saß ein kleines grimmig dreinblickendes Männchen in einem samtblauen Umhang. Es hatte einen viel zu großen Hut auf, der wie eine umgekehrte Schultüte aussah. Dies musste der Zauberer Derius sein. Zur Rechten des Herzogs sah man einen großgewachsenen prächtigen Ritter. Er war in ein edles Gewand gekleidet, auf dem ein schwarz-gelbes Wappen abgebildet war. Frido erschrak beim Anblick dieses Ritters sichtlich und zuckte zusammen. Aki raunte ihm zu: „ Was ist denn los Frido? Wir haben es doch gleich geschafft. Lass uns bloß noch schnell die Tabletts bei den Mägden abstellen. Dann hauen wir ab, ohne dass einer was merkt“. Frido schüttelte unmerklich den Kopf: „Mensch Aki, weißt Du denn nicht, wer da neben dem bösen Herzog sitzt? Das ist der Graf Gerald zu Dunkelfels, den Du vor drei Tagen bei dem Turnier über den Haufen gerannt hast! Jetzt hilft nur noch beten, dass er dich nicht erkannt hat“. Im selben Moment, als Frido das sagte, blinzelte der Graf böse zu Aki hinüber. Wenn Blicke töten könnten, wäre das jetzt bestimmt Akis Ende gewesen. Dann beugte sich der Graf zum Herzog hinüber und flüsterte diesem etwas ins Ohr. Der Herzog erhob sich und gebot den Bänkelsängern und allen Gästen mit einer Handbewegung Schweigen. „Meine Gäste, haltet für einen Moment Stille. Es scheint, als habe sich heute ein ganz besonderer Gast unter unsere Gesellschaft gemischt. Du Bürschchen da vorn! Stell das Tablett ab und tritt vor zu mir und dem Grafen Dunkelfels!“ sagte der Herzog mit einer Stimme, die keinen Widerspruch duldete. Dabei deute er auf Aki, dessen Herz in diesem Moment bis zum Hals schlug, der sich aber nichts anmerken ließ. Scheinbar cool und gelassen ging Aki nach vorn zum Tisch des Herzogs. Der Graf betrachtete Aki von oben bis unter und erhob anschließend seine Stimme: „Ein Zweifel ist ausgeschlossen. Dieser Kerl lief mir bei dem Turnier in der Schwalenburg in meine Bahn, so dass mein Gaul scheute. Dieser Kerl hat mich so um den berechtigten Turniersieg gebracht “. Der Herzog erwiderte darauf: „Lieber Graf zu Dunkelfels. Wir wollen uns die prächtige Stimmung durch diesen kleinen Zwischenfall nicht verderben lassen. Ich lasse das Bürschchen jetzt verhaften und ins Verließ bringen. Morgen Nachmittag können wir dann in Ruhe besprechen, welche Strafe für seine Tat angemessen ist. Du kannst ihn gerne auch mit zu Deiner Burg nehmen und ihn dort seiner gerechten Strafe zuführen. Überleg es Dir, mein Freund“. Der Herzog macht eine Handbewegung und Aki war sofort umringt von vier schwer bewaffneten Wachen. Widerstand war zwecklos. Sie führten Aki ab. Es ging mehrere Treppen hinunter durch scheinbar endlose Gänge hinab in einen feuchten und modrigen Keller. Hier gab es nur noch wenige Fackeln an den Wänden. Nach etwa zehn Minuten erreichten sie schließlich am Ende eines Ganges einen Raum, hintern dem sich nur noch eine weitere schwere Holztür befand, die von einem fetten einäugigen Kerkermeister bewacht wurde. Er schloss mit einem riesigen Schlüssel die Tür auf. Die Soldaten warfen Aki in das dunkle Verließ. Hinter ihm wurde die Tür sofort wieder zugeworfen und verschlossen. Aki befand sich in einem stockdunklen Raum und konnte die Hand vor Auge nicht erkennen.

Frido hatte sich inzwischen so gut es ging unsichtbar gemacht. Da er seinem Freund in diesem Moment nicht helfen konnte, hatte er sich unbemerkt in einer Nische des Festsaales hinter einen Vorhang geschoben. So gelangte er in einen Flur, der in einen anderen Teil der Burg führte. Tausend Gedanken gingen Frido durch den Kopf und sein Herz schlug so laut, dass er Angst hatte, die Häscher des Herzogs könnten es hören. Wo konnte er hingehen, um in Ruhe zu überlegen und wie konnte er Aki helfen? Er war ganz allein auf sich gestellt und der Herzog bzw. Graf Dunkelfels hatten eine ganze Armee. Frido bog noch um die nächste Ecke und befand jetzt in einem ruhigen Teil der Burg. Der Lärm des Festes war hier mehr zu hören. Er stand in einem langen Gang mit drei Türen auf jeder Seite. Frido wählte die mittlere Tür auf der von ihm aus gesehen linken Seite und öffnete sie vorsichtig. Obwohl ein Lichtschein aus dem Zimmer kam, schlüpfte Frido unvorsichtigerweise hinein. Kaum hatte er die Tür hinter sich geschlossen, spürte er, wie ihm von hinten jemand ein Messer an die Kehle setzte und gefährlich zischte: „Keine Bewegung! Mach dass Du davon kommst zu Deinem Herrn und sage ihm, dass ich ihm die Ländereien nie überschreiben werde, jetzt nicht und auch nicht in fünf Jahren. Eher sterbe ich!“ Nachdem Frido sich von diesem neuen Schreck etwas erholt hatte, flüsterte er gequält:“ Haltet bitte ein! Hier muss eine Verwechslung vorliegen. Ich kenne Dich doch gar nicht und will nichts von Dir. Die Männer des Herzogs sind hinter mir her und ich bin zufällig in dieses Zimmer gelaufen.“ Er merkte wie der Druck der Messerklinge etwas nachließ. „In Ordnung“ zischte die Stimme deutlich weniger gefährlich, “Dann dreh Dich jetzt langsam um, aber wehe Dir, wenn Du nicht die Wahrheit gesprochen hast“. Als Frido sich umdrehte, guckte er in das hübsche Gesicht eines etwa zwölf jährigen Mädchens mit kecken Augen, das gar nicht wie ein Mädchen gekleidet war, sondern eher wie ein Knecht aus dem Reitstall, nämlich mit einer ledernen Hose und einer blauen Bluse. Seine Haare verbarg es unter einem Kopftuch, das nicht wie bei einem Mädchen, sondern nach Art der Piraten gebunden war. Das Mädchen bemühte sich sichtlich, Frido möglichst entschlossen anzuschauen. „Erzähl mir jetzt sofort, warum der Herzog hinter Dir her ist“ befahl sie. Frido erzählte ihr die Geschichte, wobei er erst an der Stelle begann, als er und Aki den Speisesaal betraten. Das andere gehörte schließlich zu ihrer Mission und musste natürlich geheim bleiben. „So jetzt bist Du dran! Wer bist Du und was machst Du hier“ mit diesen Worten beendete Frido seine Erklärung. Das Mädchen legte das Messer jetzt endgültig zur Seite „Ich heiße Lilli. Eigentlich heiße ich Gräfin Lilli von und zu Zickwitz. Aber für Dich Lilli. Letztes Jahr hatte der böse Herzog meinen geliebten Vater, den Grafen von und zu Zickwitz zur Jagd eingeladen. Mein Papa hatte dabei einen tödlichen Jagdunfall. Ich bin davon überzeugt, dass der Herzog ihn umbringen ließ. Da ich seine einzige Erbin bin und sonst keine Familie mehr habe – leider war meine Mama schon bei meiner Geburt gestorben - hat der böse Herzog mich zu sich aufgenommen. Nach außen tut er großmütig. Tatsächlich geht es ihm aber nur um die großen Ländereien, die ich von meinem Vater geerbt habe. Er verlangt von mir, dass ich ihm alles überschreiben soll. Wenn ich das nicht tue, will er mich – sobald ich sechzehn Jahre alt bin – heiraten, um die Ländereien zu erhalten zusätzlich dazu noch den Titel des Grafen von und zu Zickwitz. Inzwischen hält er mich hier gefangen und lässt mich nicht aus der Burg. Aber den Gefallen werde ich ihm nicht tun. Bei nächster Gelegenheit werde ich verschwinden und später – wenn ich erwachsen bin - meinen lieben Vater rächen. Tut mir lied, wenn ich Dich mit dem Messer erschreckt habe.“ „Ist schon in Ordnung, Lilli.“ Frido war von Lillis Geschichte ergriffen. Er fand, dass Lilli trotz ihrer Kleidung sehr hübsch war und konnte seinen Blick kaum von ihren kecken Augen lassen:“ Vielleicht kann ich Dir helfen. Ich kenne einige Leute, die können dich an einen Ort bringen, wo der böse Herzog dich niemals findet. Zuerst müsstest Du mir allerdings mal helfen. Ich muss nämlich meinen Freund Aki aus dem Verlies holen, bevor er bestraft oder von Graf Dunkelfels mitgenommen wird. Außerdem müssen mein Freund und ich unbedingt eine Schriftrolle und einen Ring, die der böse Herzog gestohlen hat und irgendwo in seinen Gemächern aufbewahrt, an uns bringen, bevor wir abhauen. Das ist unheimlich wichtig“. „Na wenn es weiter nichts ist“, spottete Lilli: “Aus dem Verlies hier ist – soweit ich weiß - noch nie einer entkommen und der Herzog hat schätzungsweise dreizehn Räume in diesem Schloß, zu denen nur er Zutritt hat. Da wird es sicherlich eine Kleinigkeit sein, eine Schriftrolle und einen Ring zu finden“

Nachdem man ihn in das dunkle Verlies geworfen hatte, blieb Aki zunächst einmal regungslos auf dem Boden liegen und wartete bis der Kerkermeister die Tür wieder abgeschlossen hatte und kein Geräusch von draußen mehr zu hören war. Aki hatte die ganze Zeit seinen Rucksack auf dem Rücken. Sie hatten ihn auch nicht durchsucht. Seine Ausrüstung war ihm also erhalten geblieben. Er nahm zuerst seine Taschenlampe aus dem Rucksack und knipste sie an. Aki erschrak, denn er war nicht allein. Auf dem Boden lag ein Mann in Lumpen, der aber so erschöpft war, dass er sich nicht einmal über das elektrische Taschenlampenlicht wundern konnte. Er stammelte nur: „ Essen, Gib mir bitte etwas zu essen, sonst verhungere ich“. Aki hatte zum Glück noch einen Kanten Brot und eine Wurst von dem Proviant im Rucksack. Er halft dem Mann, sich etwas aufrecht zu setzen, und schnitt mit seinem Taschenmesser die Wurst und das Brot in sehr kleine Stücke, die er dem Mann nach und nach langsam aß. Danach schlief der Mann erschöpft wieder ein. Aki hatte gesehen, dass der Mann auf einem Mauervorsprung Kerzenreste gesammelt hatte. Aus diesen bastelte Aki eine Kerze und zündete sie mit seinem Feuerzeug an. Die Taschenlampe konnte er danach erst mal wieder einpacken. Als der Mann erwachte sprach er leise aber deutlich: „ Vielen Dank mein Freund. Du hast mir das Leben gerettet. Seit vier Wochen habe ich täglich nur eine Suppe bekommen, die aus so gut wie nichts anderem als Wasser bestand. Man hat mir nichts gelassen, das ich irgendwie als Werkzeug hätte verwenden. Nicht einmal einen Löffel habe ich für die Wassersuppe bekommen. Ich war am Ende meiner Kräfte.“ „Es freut mich, wenn ich Ihnen helfen konnte, mein Herr“ antwortete Aki, “Ich glaube nur nicht, dass uns beiden das alles sehr viel nützt. So sind wir doch hier in dem Verließ gefangen ohne Aussicht auf einen Weg in die Freiheit.“ Der Mann, dessen Alter nur schwer einzuschätzen war, weil er sich wochenlang nicht waschen konnte, gehungert hatte und dessen Kleidung zerrissen war, versuchte zu lächeln: „So schnell wie Du mit deiner Hilfe bist, so schnell scheinst Du auch mit Deiner Zunge zu sein. Aber sei versichert, es gibt einen Weg hier heraus und ich zeige ihn dir. Immerhin hast Du, Alba, den früheren ersten Baumeister des Herzogs vor Dir. Keiner kennt die Burg besser als, einschließlich ihrer Geheimnisse.“ Aki antwortete verlegen: „Entschuldigung, ich wollte nicht vorlaut sein, mein Name ist Aki. Seit Stunden, in denen ihr geschlafen habt, denke ich darüber nach, wie ich hier rauskommen könnte. Aber ehrlich gesagt- eingefallen ist mir noch nichts.“ „ Dann lass uns mal zusammen nachdenken“ sagte Alba ermutigend und steckte verschwörerisch den Kopf mit Aki zusammen, obwohl sie hier unten kein Mensch der Welt hören konnte.


Unterdessen hatte Lilli Frido erklärt, dass sie von den Wachen respektvoll behandelt würde, weil sie offiziell als Gast des Herzogs in der Burg war. So würde es ihr bestimmt möglich sein, an den Wachen vorbei bis in den Keller der Burg vorzudringen. Allerdings war der weitere Weg zum Verlies dann von vier Posten bewacht, die den Befehl hatten niemand durchzulassen. Im Raum vor dem Verlies, wo Gefangene verhört oder auch manchmal gefoltert wurden, hielt sich zusätzlich noch der einäugige Kerkermeister auf. Nach Lillis Einschätzung bestand für sie deshalb keine Möglichkeit, bis zum Verlies vorzudringen und Aki zu befreien. Aber Frido hatte schon eine Idee und fragte Lilli, ob es in der Burg einem Imker oder Bienenstock gäbe. „Unter dem linken Burgfried steht ein Korb mit Bienen. Der Imker kommt alle paar Tage unten aus der Stadt, um jetzt im Sommer den Honig zu holen- aber warum fragst Du? Hast du Hunger auf Honig?“

Etwa zur selben Zeit wurde Aki vom früheren erste Baumeister Alba erklärt, dass er beim Bau der Burg einige Vorkehrungen getroffen hatte, von denen nicht einmal seinen Herrn, der Herzog, Kenntnis hatte. Schon kurz nach Beginn der Arbeiten hatte er nämlich bemerkt, was für ein grausamer und undankbarer Mann der Herzog doch war. Alba befürchtet schon damals, eines Tages in Ungnade zu fallen, spätestens, wenn er dem Herzog die Rechnung für seine meisterlichen Arbeiten präsentieren würde. So war es dann auch gekommen. Als die Arbeiten an der Burg abgeschlossen waren, kam es wegen der Rechnung Albas zum Streit mit dem Herzog. Dieser gipfelte darin, dass der Herzog Alba, der für seinen Arbeiten keinen Pfennig erhalten hatte, als vermeintlichen Betrüger verhaften lies. Doch selbst für diesen Fall war vom umsichtigen Alba Vorsorge getroffen worden: „Kannst Du da oben rechts in der Ecke einen Stein erkennen, der eine andere Farbe als die übrigen Steine hat?“ fragte Alba „Ehrlich gesagt – bei diesem Licht kann ich nichts erkennen“, antwortete Aki. „Aber auch ich habe ein paar Geheimnisse.“ Sprach`s und knipste die Taschenlampe an. Sofort erkannte er in dem Bereich, auf den Alba gedeutet hatte, einen Stein, der im Licht etwas grünlich schimmerte. „Den müssen wir rausholen. Er ist zwar gemauert. Die Fuge ist aber nicht sehr tief und dient nur der Tarnung, “ erklärte Alba weiter. Aki kletterte also auf Albas Schultern und begann, den Fugenmörtel rund um den Stein mit seinem Taschenmesser herauszukratzen. Obwohl der Stein tatsächlich nicht fest eingemauert war, war dies für beide sehr anstrengend und dauerte fast eine Stunde. Es war jetzt schon später Vormittag und das Leben in der Burg war nach dem großen und ausschweifenden Fest am Abend zuvor längst wieder erwacht. Höchste Zeit, dass sie hier wegkamen.


Frido hatte die Morgenstunde genutzt, um den Bienenkorb an sich zu bringen. Die Bienen waren wegen der morgendlichen Kühle noch träge. Das nutzte Frido aus und stülpte einen Sack über den Korb und lies ihn komplett mitgehen. Lilli hatte inzwischen ein festliches Kleid angezogen, dass ihr der Herzog einmal gegeben hatte. Es war ein weit ausladendes Festkleid mit einem riesige Reifrock. Darunter konnte sich Frido mühelos verbergen. Lilli nahm dann ein Tablett in die Hand, auf dem sich der Sack mit dem Bienenkorb befand. Um den braunen Stoffsack zu verbergen, hatte Lilli noch ein schönes buntes Tuch darüber gelegt. So begab sich Lilli samt dem verborgenen Frido und dem Bienenkorb langsam in die Richtung zum Kellerabgang. Mehreren Wachposten erzählte sie ungefragt, dass sie für den Herzog, ihrem Oheim, einen großen Kuchen gebacken habe und jetzt noch einen Wein aus dem Keller holen wolle. Da alles eine Überraschung sei, sollten sie sich unterstehen, dem Herzog etwas von ihrem Plan zu sagen. Auf diese Weise ließen die Wachen sich täuschen, denn der zugedeckte Bienenkorb auf dem Tablett hatte tatsächlich die Form eines großen Kuchens. So gelangten Lilli und Frido tatsächlich problemlos in den Keller der Burg. Hier musste jetzt der zweite Teil von Fridos Plan folgen, denn der Weg zum Weinkeller der Burg führte nach links, der Weg zum Verlies nach rechts. Lilli bog ab in Richtung Verlies, wo sie auf die vier Posten vor dem Raum des Kerkermeisters stieß. Als Lilli diesen die Geschichte mit dem Kuchen erzählte, lachten die Kerle laut und riefen: „Hier ist kein Durchgang für Dich, Kleine. Der Weinkeller ist in der anderen Richtung. Also verschwinde, aber schnell!“ Auf diesem Moment hatte Frido gewartet, der sich unter Lillis Riesenkleid verborgen hatte. Er sprang hervor, griff blitzschnell nach vorn unter das Tuch auf dem Tablett und schleuderte den Sack samt Bienenkorb mitten zwischen die Posten. Frido war sehr flink und die Aktion war so überraschend, dass die Posten nicht reagieren konnten. Praktisch im selben Moment waren die Soldaten von einem Schwarm wildgewordener Bienen umhüllt. Die Bienen brummten laut und aggressiv. Sofort begannen sie, die Posten anzugreifen und zu stechen. Diese warfen ihre Ausrüstung beiseite und schlugen wild um sich. Tische und Stühle stürzten um. Frido und Lilli hatten sich zuvor in Lillis Zimmer mit einem Aufguß von Liebstöckelkraut, Lavendel und Rizinusöl eingerieben, um sich vor den Bienen zu schützen. Das Gebräu tat seine Wirkung. Keine einzige Biene griff die beiden an. Lilli warf ihr unpraktisches Festkleid ab. Darunter trug sie ihre Reiterhosen und Bluse. Die beiden konnten unbehelligt durch das Chaos bis zur Tür zum Zimmer des Kerkermeisters laufen und diese öffnen. Sofort flogen die Bienen auch in diese Raum und begannen, auch den Kerkermeister zu attackieren und zu stechen. Der Einäugige nahm sofort reiß aus und ließ zum Glück den Schlüssel zum Verlies an seinem Platz an einem Haken an der Wand hängen. Frido riss den Schlüssel herunter, steckte ihn hektisch in das Schloß der Zellentür und öffnete sie. Er leuchtete mit einer Fackel aus dem Vorraum in das dunkle Verlies. Das Verlies war zum Entsetzen von Frido und Lilli leer. Frido bekam nun Panik, dass sie zu spät gekommen waren und Aki sich schon auf dem Weg zum Graf von Dunkelfels befand. Aber Frido irrte sich.

Nur Minuten vor dem Angriff von Frido und Lilli, war Aki nämlich mit dem Auskratzen der Fugen fertig geworden. Er nahm den freigelegten Stein heraus und fragte Alba, was nun zu tun sei, denn das Loch war schließlich viel zu klein, um Hindurchschlüpfen zu können. Alba kicherte und erklärte: „Der Herzog hält diesen Raum wohl für sein sicherstes Verlies. Tatsächlich ist es für den, der sich auskennt und das entsprechende Werkzeug besitzt, nur ein weiterer Durchgang zum Weinkeller des Herzog. Hinter dem Stein findest Du einen Hebel aus Eisen, den musst du nach links bewegen“. Aki ertastete den Hebel, umfasste ihn mit seiner rechten Hand und legte den Hebel nach links um. „Du kannst jetzt von meiner Schulter runterkommen“ sagte Alba, „der Mechanismus braucht einige Sekunden.“ Kaum hatte Alba das gesagt, öffnete sich ein Teil der hinteren Wand des Verlieses wie eine Tür und die beiden konnten hindurchschlüpfen. Alba ging langsam vor. Er war jetzt wieder ziemlich schwach. Immerhin hatte Aki sich bei der Arbeit mehr als eine Stunde auf seiner Schulter abstützen müssen. Sie gelangten durch die Öffnung in einen schmalen Raum. Hier befand sich ein regelrechtes Lager mit Fackeln, Werkzeugen und Kleidung. Das also war Albas kleines Geheimnis. Gerade als Alba die Geheimtür in der Wand zum Verlies wieder schließen wollte, hörten sie laute Geräusche, die von einem Tumult vor der Tür des Verlies herrührten. Waffen fielen klirrend zu Boden. Männer riefen wild durcheinander und fluchten. Alba hielt einen Moment inne, dann aber zog er die Geheimtür rasch wieder zu. „Komm, Aki lass uns weitergehen, vor dem Verlies ist irgendetwas im Gange. Ein Kampf oder so etwas. Besser wir sehen zu, dass wir hier wegkommen!“ Aki war aufgeregt. Trotzdem antwortete er äußerlich ruhig: „Nein warte bitte noch einen Moment, Alba. Ich habe oben in der Burg meinen Freund Frido. Es kann gut sein, dass er mich in diesem Moment aus dem Verlies holen will und den Kampf mit den Wachen angezettelt hat.“ Doch Alba antwortete: „Das ist unmöglich. Kein Fremder kann hier unter bis zum Verlies vordringen. Für unsere eigene Sicherheit darfst du die Tür nicht noch einmal öffnen. Es könnten die Häscher des Herzogs auf der anderen Seite sein. Wenn sie den Gang finden, dann Gnade uns Gott“. Aki wollte sich gerade abwenden und Alba folgen, der - eine Fackel in der Hand – schon ein Stück weitergangen war, als er die hohe Fistelstimme von Gisbert in seinem Kopf vernahm: „Aki, ein Freund braucht in diesem Moment deine Hilfe“. Da wandte sich Aki nochmals um und öffnete selbst die Geheimtür, die aus dem Verlies führte, vorsichtig noch einmal einen Spalt breit. Er blickte hindurch und sah Fridos blonden Schopf. Auch konnte er Frido Stimme vernehmen, als dieser sagte: „Liebe Lilli, ich glaube es ist alles verloren, ich habe dich unnötig in Gefahr gebracht. Jetzt sitzen wir hier unten und können wohl nicht nach oben zurück. Die Wachen haben dich erkannt. Das alles tut mir unendlich leid“ Aki öffnete die Tür vollständig. Frido bemerkte dies nicht, weil er Aki den Rücken zuwandte. Da sagte Aki laut: „Wenn Du mit dem Süßholzraspeln fertig bist, solltest Du dich sputen und mit mir durch die geheime Tür hinter deinem Rücken verschwinden, lieber Frido und bring deine Freundin mit“ Überrascht drehte sich Frido mit einem Ruck um und sah Aki eine Sekunde erstaunt an. Doch dann reagierte Frido sofort. Glücklich fasste er Lilli an die Hand und sagte: „Es scheint, dass der, den wir befreien wollten, nun uns beide befreit. Komm schnell“. So zog er Lilli mit sich durch die offene Geheimtür. Sobald sie im Nebenraum waren, betätigte Aki den Hebel und schloss die Tür wieder zu. „Alba wir sind jetzt vollzählig. Führe uns jetzt schnell aus dem Keller heraus“, sagte Aki. Alba hatte sich bereits andere Kleidung aus dem Vorrat angezogen. Zusammen gingen sie den schmalen Gang entlang. Schließlich gelangten sie in einen merkwürdigen runden Raum aus Holz, der die Form eines riesigen Fasses hatte. „Wir sind jetzt im Weinkeller des Herzogs, in einem der großen Fässer, das nur eine Attrappe ist“, erklärte Alba und sagte weiter: „Ich für meinen Teil werde jetzt aus der Burg verschwinden. Wenn jemand von Euch mitkommen will, so führe ich ihn gern hinaus.“ Doch Aki antwortete: „Wir haben hier noch eine Aufgabe zu erledigen. Bevor du gehst Alba, beantworte uns bitte noch eine Frage. Hier ist ein gezeichneter Plan der Burg. Wo würde der böse Herzog deiner Meinung nach ein kleines aber überaus wertvolles Ding verstecken, wenn er es sogar vor dem Zauberer Derius verbergen wollte?“ Alba überlegte einen Augenblick und erklärte den dreien, dass es drei Möglichkeiten gäbe, wo der Herzog eine solche Sache verstecken könnte. In seinem Schlafgemach an der Ostseite gab es hinter einem Schrank eine kleine Aussparung in der Wand, die nur dem Herzog und Alba bekannt war. In dem Badezimmer des Herzogs gab es im Fußboden eine lose Fliese. Der Herzog hatte Alba untersagt, die Fliese zu befestigen und Alba nahm an, er nutzte den Holraum unter dem Stein. Auch diese Versteck kannte Derius, dem ansonsten die Baupläne der Burg bestens bekannt waren, nicht. Schließlich trug der Herzog unter seinem Gewand ständig einen Beutel, der mit einem Gürtel befestigt war. Auch dort konnte sich der den Gegenstand nach der Einschätzung von Alba befinden.


Nachdem Alba die Verstecke genau beschrieben hatte, verabschiedete er sich und verschwand durch eine Tür. Die drei waren jetzt allein. Frido stellte Aki seine neue Begleiterin Lilli vor. Danach erzählten die beiden Freunde sich, was ihnen seit der Verhaftung Akis widerfahren war. Sie beratschlagten, wie sie weiter vorgehen sollten, um an den Ring und das alte Pergament zu gelangen. Wie selbstverständlich beteiligte sich Lilli an der Diskussion und schließlich stand fest, dass sie zunächst in den Privaträumen des Herzogs nachsehen würden.
Die drei warteten bis zum Einbruch der Dunkelheit. Dann huschten sie die Treppe des Kellers vorsichtig hinauf. Lilli hatte Aki erklärt, dass der Herzog für gewöhnlich erst sehr spät seine Privatgemächer aufsuchte. So gelangten sie unbemerkt bis zu der Tür, die die Privatgemächer des Herzogs von den übrigen Räumen der Burg trennte. Nur wenige Vertraute des Herzogs durften diese Tür passieren. Die Tür war gewöhnlich auch verschlossen und bewacht. Und tatsächlich saß auf einem Stuhl vor der Tür ein Wachposten. Er hatte seine Augen geschlossen und döste vor sich hin. Neben ihm stand ein halbvoller Kelch mit Wein. Frido schlich auf Zehenspitzen an dem Posten vorbei zur Tür. Aki hatte ihm sein Taschenmesser gegeben. Die Türschlösser zur damaligen Zeit waren sehr groß und grob. Sie waren nicht zu vergleichen mit modernen Sicherheitsschlössern. Frido hatte das Türschloss nach wenigen Minuten überwunden und die Tür geöffnet . Nun war es Akis Aufgabe, in die Gemächer des Herzogs zu schleichen und die möglichen Verstecke zu überprüfen. Frido und Lilli sollten nicht mitkommen. Sie sollten auf dem Flur hinter einem Vorhang warten, um Akis Rückzug zu decken und ihm zur Hilfe zu kommen, falls es brenzlig wurde. Gerade als Aki neben dem schlafenden Posten vorbeiging, gab dieser ein lautes schnarchendes Geräusch von sich, so dass Aki zusammenfuhr und ihm fast seine Taschenlampe aus der Hand gefallen wäre. Zum Glück erwachte der Posten nicht und Aki kam problemlos in die Gemächer des Herzogs. Er zog die Tür hinter sich zu. Nachdem er die Taschenlampe angeknipste hatte, orientierte er sich kurz. Die Karte von den Räumlichkeiten hatte er sich zuvor so gut es ging eingeprägt. Nach fünf Minuten hatte er das erste von Alba beschriebene Versteck gefunden. Dort gab es ein Kästchen mit Perlen und Goldmünzen, aber keinen Ring und auch keine Schriftstücke. Aki begab sich ins Badezimmer und klopfte die Stelle ab, wo sich die lose Fliese befand. Anhand des Geräusches konnte er die lose Fliese mit dem Hohlraum darunter erkennen und hob sie vorsichtig an. Darunter befand sich nur ein kleiner merkwürdig geschwungener Schlüssel, sonst nichts. Er hatte zwar keine Ahnung, zu welchem Schloss dieser Schlüssel passen könnte. Da man aber nie wissen konnte, ergriff Aki den Schlüssel und steckte ihn ein. Da hörte er plötzlich laute Geräusche vor der Tür. Kein Zweifel: Der Herzog schimpfte laut mit dem Posten vor der Tür und geigte ihm ganz gehörig den Marsch, wahrscheinlich weil er geschlafen hatte. Aber was machte der Herzog schon um diese Zeit in seinen Privatgemächern? Nach Lillis Erklärung hätten sie mindestens noch eine Stunden Zeit gehabt, bevor sich der Herzog zur Nachruhe begab. Als der Herzog festgestellt hatte, dass die Tür zu seinen Gemächern nicht verschlossen war, gab er sofort Alarm. „Wache! Sofort meine Gemächer durchsuchen! Hier hat sich offenbar jemand Zutritt verschafft! Er könnte noch da sein!“ Aki überlegte fieberhaft, was zu tun sei. Der Rückweg war ihm abgeschnitten. Es gab nur die eine Tür zu den Gemächern des Herzogs.
Nach wenigen Augenblicken stürmten fünf Mann in die Gemächer des Herzogs und durchsuchten jeden Winkel. Jeder Schrank wurde betrachtet und geöffnet. Aki zog sich immer weiter zurück. Als er sich im hintersten Zimmer befand und schon keinen Ausweg mehr sah, kam ihm eine rettende Idee.

Fünfzehn Minuten später meldete der Vorgesetze der Wachen dem Herzog: „Hoheit, wir haben alles durchsucht. Es ist niemand in Euern Gemächern. Gute Nacht.“ Doch der Herzog wollte gar nicht schlafen. Er hatte nämlich Derius, den Zauberer, zu einem vertraulichen Gespräch in seine Räumlichkeiten gebeten. Dies war auch der Grund, warum er so ungewöhnlich früh in seinen Privatgemächern erschienen war. Die beiden setzten sich in dem hintersten Zimmer auf zwei Sessel. Bis vor wenigen Minuten war Aki noch in diesem Zimmer gewesen. Jetzt kauerte er - nur etwa drei Meter vom Herzog und Derius entfernt – draußen vor dem Fenster auf einem Mauervorsprung. Er hatte sich mit seinem schmalen Körper durch die Fensteröffnung gezwängt. Glasscheiben gab es damals glücklicherweise noch nicht. Vor der Öffnung befand sich eine Fensterbank, die breiter als die Öffnung war, so dass sich Aki neben der Fensteröffnung direkt an der Außenmauer abhocken konnte, was sehr anstrengend war. Aki musste sich gut festhalten und sich ganz dicht an die Mauerwand pressen, um nicht abzustürzen. Akis Herz schlug so heftig, dass er Angst hatte, man könnte es drinnen hören. Derius und der Herzog unterhielten sich: „Neidhard, Ihr solltet mich endlich einweihen und mir den Ring und das Pergament zeigen. Ich wäre bestimmt in der Lage, das darin liegende Geheimnis zu entschlüsseln.“ „Alles zu seiner Zeit, Derius“ antwortete der Herzog, „Zuerst müssen wir überlegen, was wir mit Heinbarth von der Aue machen, der sich von den Wanderern der Zeiten abgewandt hat, um uns zu dienen. Ist er uns jetzt überhaupt noch nützlich oder stellt er eine Gefahr für unser Unternehmung dar.“ Derius kicherte: „ Er ist im Moment noch berauscht von der Liebe zu der hübschen Anna, mit der ich ihn verkuppelt haben. Läuft ihr hinterher wie ein dummer Esel. Dabei ist er eigentlich ein Mann von Bildung. Ich hätte nicht gedacht, dass der von mir gebraute und ihm heimlich verabreichte Liebestrank so große Wirkung hat. Natürlich musste ich mit einem Zauberspruch noch etwas nachhelfen. Die Wirkung lässt inzwischen aber schon wieder nach. Später reut es Heinbarth bestimmt, dass er berauscht vom blonden Gift die Bruderschaft verraten und Euch den Ring und das Pergament gegeben hat.“ Kühl entgegnete der Herzog: „Dann muss er verschwinden. Organisiere du das Derius. Lass es so aussehen, als habe er sich aus verschmähter Liebe vom Burgfried gestürzt. Danach werde ich Dir den Ring und das Pergament zeigen“. Nach einigen weiteren belanglosen Floskeln verabschiedete sich Derius und ging. Aki konnte hören, wie er die Tür hinter sich zuzog. Der Herzog trank seinen Wein noch aus, zog sich sein Nachthemd an und begab sich zu Bett. Wie kam Aki jetzt aus dieser Situation heraus? Sollte er quer durch die Privatgemächer des Herzogs spazieren? Spätestens an der Tür würde der Posten ihn festnehmen. Nach unter waren es gut und gerne fünfzehn Meter. Außerdem befand er sich über dem Burggraben. Er wurde, falls er abstürze wahrscheinlich jämmerlich ertrinken. Also gab es nur eine Möglichkeit: Er musste sich in den Gemächern des Herzogs verstecken und eine günstige Gelegenheit zur Flucht abwarten. Vorsichtig schlüpfte er durch Fenster zurück in das Zimmer, wo sich eben noch der Herzog mit Derius unterhalten hatte. Aus dem Nebenzimmer hörte er ein Schnarrchen. Der Herzog schlief also schon. Auf Zehenspitzen schlich sich Aki zu einer großen Truhe, die auf dem Flur der Privatgemächer stand. Er öffnete vorsichtig und lautlos den Deckel. Die Truhe war leer. Offenbar war sie bloß ein Zierstück, was die Sache einfacher machte. Aki stieg hinein und kauerte sich ab. Langsam schloss er den Deckel über sich.


In der Zwischenzeit überlegten Frido und Lilli fieberhaft, was sie tun sollten. Sie waren hinter dem Vorhang unentdeckt geblieben. Die Wachen waren zahlreich an ihnen vorbeigelaufen und hatten die Privatgemächer des Herzogs durchsucht. Offenbar hatten sie Aki aber nicht gefunden. Das alles war jetzt schon etwa eine Stunde her. Inzwischen war wieder Ruhe eingekehrt. Derius war nach der Privataudienz auch schon gegangen. Jetzt saß wieder nur ein Wachposten auf dem Stuhl neben der Tür zu den Privatgemächern des Herzogs. Der Soldat war allerdings im Gegensatz zum ersten Posten hellwach. Frido flüsterte Lilli ins Ohr: Wir müssen die Wache ablenken, sonst kommt Aki hier nie raus. Pass auf, Lilli, wir locken die Wache zum Vorhang. Du lenkst ihn ab und ich haue drauf.“ Frido schnappte sich eine der unbenutzten hölzernen Pechfackeln. Sie hatte genau die richtige Länge. Danach sprach Frido hinter dem Vorhang mit möglichst tiefer Stimme die Worte: “Soldat, Ich bin der wahre Herr des Schlosses!“ Dabei hielt er zusätzlich mit seinen Händen vor dem Mund, um seine Stimme zu verstellen. Der Soldat war völlig überrascht und glaubte, seinen Ohren nicht zu trauen. Nachdem Frido den Spruch nochmals wiederholt hatte, stand der Soldat langsam auf, zückte sein Schwert und ging zögerlich in Richtung des Vorhanges, hinter dem Frido und Lilli sich versteckt hatten. Als er etwa einem Meter vor dem Vorhang stand, stecke Lilly an der linken Seite des Vorhanges plötzlich Ihren Kopf hervor. Sie hatte sich zuvor eilig noch ein Tuch über den Kopf gezogen und rief: „Hey, hier ist der Schlossgeist!“ Die Verkleidung und der Überraschung reichten aus, um dem Soldat kurz verwirren und für eine Sekunde abzulenken. Darauf hatte Frido nur gewartet. Er sprang am anderen Ende des Vorhanges hervor und schlug mit einem kurzen harten Schlag dem Soldaten von hinten das Holz ins Genick, so dass dieser bewusstlos zu Boden fiel. „So der schläft erst mal. Wir sollten ihn fesseln und knebeln, damit er uns nicht die ganze Truppe auf den Pelz hetzt“, raunte Frido möglichst cool.

Danach machte er sich zum zweiten Mal an dem Türschloss zu schaffen, um die Tür zu den Privatgemächern des Herzogs zu öffnen.

Aki war inzwischen in seinem Versteck etwas zur Ruhe gekommen. Seien Beine schmerzten noch von der anstrengenden und gefährliche Hocke am Fenstersims des Burgfrieds. Er war erschöpft. Plötzlich hatte er wieder das Gefühl, Gisberts Stimme in seinem Kopf zu hören. Ihm war so, als sagte der Alte mit seiner Fistelstimme: „Bleib ganz ruhig Aki, Rettung naht schon bald. Versuch die Gelegenheit zu nutzen und die Sachen von Neidhard zu durchsuchen. Denke an deine Mission“. Aki bekam ein gutes Gefühl und schöpfte neue Kraft. Er stieg langsam aus der Truhe heraus und schloss den Deckel wieder lautlos. Dann schlich er zielstrebig zum Schlafzimmer des Herzogs. Es war stockdunkel. Er traute sich nicht, die Taschenlampe anzuknipsen, weil er befürchtete, er könnte den bösen Herzog aufwecken oder die Wache vor der Tür könnte etwas merken und Alarm schlagen. Noch einmal könnte er die Leibgardisten des Herzogs sicherlich nicht austricksen. Als er im Schlafzimmer angekommen war, tastete er sich zu den Sachen des Herzogs hervor. Seine Kleider und seine Waffen lagen im Zimmer verstreut. Aki tastete alles, was er schemenhaft erkennen konnte, mit den Händen ab. Ein Gürtel mit einem Geheimversteck war nicht dabei. Offenbar legt Neidhart seinen Gürtel nicht einmal nachts ab, wenn er schlief. Wie aber sollte Aki an den Inhalt des Gürtels gelangen, wenn Neidhart den Gürtel um den Leib trug. Einen Augenblick dachte Aki sogar daran, den schlafenden Herzog durchzukitzeln und ihm, wenn er sich erhob, ganzschnell den Gürtel zu entwenden. Doch dann nahmen die Ereignisse ohne das Zutun von Aki ihren Lauf. Plötzlich gab es ein lautes Scheppern, das Aki zusammenzucken ließ. Eine Person war offenbar in die Gemächer eingedrungen, dann aber in der Dunkelheit gestolpert und hatte einen kleinen Tisch umgestoßen Geschirr fiel scheppernd auf den Steinboden und zerbarst. Der Lärm war so ohrenbetäubend, dass eigentlich die ganze Burg aufwachen musste. Die stolpernde Gestalt stürze der Länge nach hin und blieb ausgerechnet direkt vor das Bett des Herzogs liegen. Neidhard war natürlich von dem Lärm erwacht und war sofort auf den Beinen. Er griff sein Schwert und herrschte die am Boden liegenden Gestalt mit harter Stimme an:“ Wage es nicht dich zu bewegen Bursche, wenn dir dein Leben lieb ist. Mein Schwert ist auf dich gerichtet.“ Dann schickte sich der Herzog an, eine Kerze anzuzünden, um seinen nächtlichen Besucher zu betrachten. Aki ahnte schon, wer da in die Gemächer des Herzogs hereingestolpert war. Und tatsächlich: Als Neidhard die Kerze angezündete und in Richtung des am Boden liegenden Eindringlings hielt, erkannt Aki sofort seinen Freund Frido. „Steh jetzt langsam auf und zeig mir deine Hände, Bursche“ befahl der Herzog. Aki war mucksmäuschenstill. Der Herzog sah genau in seine Richtung. Er hatte ihn offenbar nur deshalb noch nicht bemerkt, weil die kleine Kerze nur wenig Licht gab und der größte Teil des Zimmers noch in Dunkelheit lag. Frido tat inzwischen, wie ihm befohlen war. Er erhob sich langsam und blickte dabei auf die Klinge des Schwertes, das ihm Neidhard entgegenstreckte. Aki überlegte fieberhaft, wie er seinem Freund helfen konnte. „Sprich, was Du in meinen Gemächern suchst, Spitzbube. Wenn Du nicht sofort sprichst, bist Du des Todes“. Der Herzog wollte eine Erklärung und zwar sofort. Die Lage für Frido wurde immer bedrohlicher. Die Klinge des Schwertes kam immer näher. Im allerletzten Moment hatte Aki eine Idee. Er holte seinen Fotoapparat aus dem Rucksack. Den hatten ihm seine Eltern geschenkt. Es war eine kleine Digitalkamera. Eigentlich fotografierte Aki gar nicht gerne. Meistens fand er die Bilder, die er gemachte hatte, ziemlich blöd. Aber für das Ritterturnier hatte er die Kamera natürlich eingepackt. Jetzt konnte sie die Rettung sein. Die Kamera verfügte nämlich über ein automatisches Blitzlicht. Drückte man bei wenig Licht den Auslöser, löste automatisch das Blitzlicht aus. Aki hielt die Kamera in Richtung des Herzogs und drückte auf den Auslöser. Gleißende Helligkeit durchzuckte für den Bruchteil einer Sekunde den Raum. Neidhard ließ das Schwert fallen, riss seine Arme hoch und hielt sich geschockt die Augen zu. „Hilfe, ich bin geblendet, meine Augen“ jammerte er. Jetzt trat Aki hervor und rief: „Los komm Frido, lass uns abhauen.“ Dabei drückte er den Auslöser der Kamera zur Vorsicht noch zweimal. Beim zweiten und dritten Blitz erkannte Aki den ledernen Beutel, den der Herzog über seinem Nachthemd vor seiner Brust trug. Der Herzog war immer noch verwirrt und hatte keine Orientierung. Diese einmalige Chance musste Aki nutzen. Er trat noch einen Schritt näher an Neidhart heran, ergriff den Beutel, der nur von dünnen Lederschnüren gehalten wurde mit seiner rechten Hand und riss ihn mit einem kräftigen Ruck ab. Frido hatte sich in diesem Moment von seinem Schrecken erholt. Er murmelte an Aki gewandt etwas wie: “Danke Kumpel“. Dann nahmen beide ihre Beine in die Hand und spurteten aus dem Zimmer. Den Beutel hielt Aki in der Hand. Vor der Tür stand Lilli ganz aufgeregt und fragte entsetzt:“ Was war denn das für entsetzlicher Krach da drinnen?“ „Frag jetzt nicht, wir müssen hier möglichst schnell abhauen“ rief ihr Aki zu. Ohne zu Zögern oder weitere Fragen schloss sie sich den beiden an. An ihren angespannten Gesichtern konnte sie sehen, dass die Lage mal wieder brenzlig war. Die drei liefen zurück in den Weinkeller und versteckten sich wieder in dem Fass. Glücklicherweise hatte sie niemand unterwegs gesehen. Als sie gerade wieder zu Atem gekommen waren, holte Aki den Lederbeutel hervor, den er Neidhard weggenommen hatte , öffnete ihn und schaute hinein. Frido maulte ungeduldig: „Aki, spann uns jetzt nicht auf die Folter. Haben wir die Sachen für Gisbert oder müssen wir etwa noch mal darauf zu dem Herzog und seinen Soldaten?“.
Aki war sich wohl selbst noch nicht ganz sicher. Er griff in den Beutel und holte zunächst ein aufgerolltes Pergament hervor: „ Das könnte die Karte sein. Mal schauen.“ Mit diesen Worten öffnete er das Band, mit dem die Rolle zusammengebunden war und entrollte das Pergament. Vor den dreien lag eine kleine Landkarte. Die Zeichen und die Schrift konnten sie allerdings nicht entziffern, weil es altägyptischen Schriftzeichen waren. Die Karte war - wie Gisbert ihnen erklärt hatte – bereits mehrere tausend Jahre alt und stammte noch aus dem alten Ägypten. Seit damals wurde sie von den Hütern des Quells der ewigen Weisheit bewacht und immer nur in vertrauenswürdige Hände weitergegeben, bis zu dem verhängnisvollen Tag, an dem Heinbarth sie dem Herzog Neidhard ausgehändigt hatte. Aki erzählte seinen beiden Kameraden, dass Neidhard und Derius das Geheimnis der Karte noch nicht entschlüsselt hatten, wie er aus dem belauschten Gespräch erfahren hatte. „Na da wird Gisbert bestimmt sehr froh sein“ sagte Frido. „Schau mal nach, ob der Ring auch im Beutel ist“. Aki fasst erneut in den Beutel und zog einen goldenen Fingerring mit einem roten Stein heraus. Er betrachtete ihn kurz und fand ihn eigentlich nicht besonders. Wäre nicht das große Gewicht gewesen, hätte man ihn auch für einen Ring aus einem Kaugummiautomaten halten können. Aki steckte Lilli den Ring an den Finger und sagte „Liebe Lilli. Jetzt bist Du unser wertvollstes Stück. Pass bitte noch ein bisschen auf den Ring auf. Wir können leider noch nicht aufbrechen. Frido und ich haben hier noch etwas zu erledigen.“ Frido sah ihn fragend an: „ Was ist denn jetzt los. Wir haben doch alles, was wir holen sollten. Lass uns schnell abhauen.“

„Nein“ sagte Aki entschieden. „Zuerst müssen wir Heinbarth von der Aue“ noch retten, denn Derius will ihn umbringen“. Frido verstand nicht: “Aber das ist doch der Verräter, der die Bruderschaft verraten hat. Warum sollten wir also etwas riskieren, um gerade ihm zu helfen“. „Ganz einfach, lieber Frido. Heinbarth war nicht bei Sinnen, als er das tat. Derius hat ihn mit einem Liebetrank verzaubert, deshalb ist er einer Frau namens Anna verfallen. Aber jetzt lässt die Wirkung nach und Derius will ihn umbringen. Wir müssen etwas unternehmen“.

Was die drei Freunde unternehmen und wie das Abenteuer von Aki in der Ritterzeit weitergeht, erfahrt Ihr im nächsten Teil der Geschichte.

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 22.10.2011

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