1.
Der Raum war fast vollkommen von erdrückender Dunkelheit erfüllt.
Nur durch den kleinen Spalt der geöffneten Tür, drang ein fahler Kerzenschein. Flackernd malte er schwarze Schatten an die hohen Wände.
Das eine, kleine Fenster war mit großen, schweren Decken verhüllt.
Obwohl es draußen wahrscheinlich ebenso dunkel sein würde, wie in diesem Haus, wünschte sich River, es wäre ihr erlaubt nur einen Blick hinter diese Decken zu werfen. Nur um sich zu vergewissern, dass die Welt fern ab der leeren Räume- fern ab dieses so traurigen, einsamen Lebens- noch genauso war, wie diese in ihrer Erinnerung.
Gerne hätte sie wieder einmal den Mond gesehen. Die Bäume, die Straßen, die Wälder. Wie sehr träumte sie davon noch einmal durch den Park zu laufen, im Sand zu spielen und im warmen Sommer in die kalten Fluten des Flusses zu springen. Fast konnte sie das kühle Wasser auf ihre Haut spüren, das frische Gras riechen oder dem Singen der Vögel lauschen.
Langsam schloss sie die Augen und umarmte ihren Teddy ein wenig fester.
Die Stimme ihrer Mutter klang in ihren Ohren. Eine warme, umhüllende Melodie, die River so sehnlichst gerne noch einmal gehört hätte. Die mahnenden, liebenden Worte, die sie so dringender vermisste, als alles andere.
Mit dem Ärmel ihres Kapuzenpullovers wischte sie über die Tränen, die sich aus ihrem Auge geschlichen hatten und über ihre Wange gerollt waren.
Sie wusste, dass sie nicht weinen sollte wie ein kleines Mädchen, aber manchmal, da war es leichter dem Drang nachzugehen.
Tief atmete sie ein, dann tastete sie nach ihrer Decke. Sie schlang diese um ihre Schulter und rutschte vorsichtig von dem Bett. Der Boden unter ihren nackten Füßen war eiskalt und staubig. Sie schloss ihren Teddy in ihre Arme und schlich dann leise durch die Tür, die Treppen hinab in die große Halle.
Sie erinnerte sich wie sie dort am Mittag mit John gespielt hatte.
Es war lustig gewesen, sie hatten gelacht und dann hatte er sie umarmt und gesagt wie lieb er sie habe. Es war das erste Mal gewesen, das ihr dies jemand gesagt hatte. Das erste Mal seit dem Tag an dem sie mit John und Linda fortgegangen war und das erste Mal seit sie ihre Familie verloren hatte.
Seit diesem Tag war es nicht mehr das Gleiche gewesen. Sei tapfer, hatten die Anderen sie ermutigt. Hab keine Angst, ihnen geht es besser dort wo sie sind.
Niemand hatte sie gefragt ob sie nicht vielleicht mit ihnen gehen wollte, ob sie nicht vielleicht auch an diesem besseren Ort sein wollte. Das war nie nur in Erwägung gezogen worden, niemand wollte wissen was ein kleines Mädchen, wie sie es war, dachte. Auch ihre Wünsche, ihre Träume waren in weite Ferne gerückt. Hatte ihre Mommy sie vor einem Monat noch gefragt was sie sich am sehnlichsten wünschte, hätte sie wahrscheinlich mit eine Puppe, oder ein neues Kleid geantwortet, jetzt waren ihr diese Dinge so gleichgültig, wie sie es nur sein konnten. Ihr größter Wunsch war Frieden. Sie wollte sich nicht mehr verstecken und sie wollte nicht mehr allein sein. Wenn alles nur so sein könnte, wie es davor war, dann würde es vollkommen genügen.
Aber das davor gab es nicht mehr, ihre Eltern waren dort geblieben, zusammen mit ihren Erinnerungen. Ihr großes, kindliches Vorstellungsvermögen reiche nicht aus, um dies wieder gut zu machen. Zu viel war schon geschehen. Sie konnte nicht mehr zurück gehen.
Jetzt hatte sie dieses große, dunkle, leere Haus. Sie hatte den kleinen Raum in dem sie schlief. Sie hatte Grammy, die eigentlich nicht einmal ihre Großmutter war und sie hatte John, der sie seit langer Zeit wieder einmal zum Lachen gebracht hatte.
All diese Dinge schienen nicht genug zu sein, sie hatte sie aber nicht geändert. Vielleicht war sie zu jung, oder sie zu dumm gewesen. Vielleicht war es, weil sie nicht stark genug war, oder weil sie keinen Mut besaß. Wochenlang hatte sie einfach gewartet. Darauf das etwas passierte, oder jemand etwas tat. Jetzt wusste sie nicht, wie lange sie noch warten konnte.
Vorsichtig trat sie auf die große, hölzerne Tür zu. Sie schien meterhoch aufzuragen, wo sie nun, das erste Mal nach ihrer Ankunft wirklich vor ihr stand.
Sie war auch nicht vollkommen hölzern, das bemerkte sie erst jetzt. Von nah konnte man die kleinen Eisenplatten sehen, die zur John zur Verstärkung angebracht hatte und die eiserne Kette, die sie und damit auch Rivers Weg nach draußen versperrte. Sie begann zu zittern, bemerkte dies aber kaum. Ihr Verstand arbeitete so schnell, wie es möglich war. Es war mitten in der Nacht und alle schliefen, aber sie wollte sich trotzdem beeilen. Wenn Linda, oder einer der Anderen sie hier vorfand, wusste sie, dass sie eine Menge unangenehmen Fragen zu beantworten hatte. Das wollte sie nicht. So drückte sie den Teddy, den ihr Daddy spaßhalber Mr Petz genannt hatte noch fester an ihren Körper und schlich zurück durch den Saal in die Küche.
Ihre nackten Füße patschten auf den Boden und ihr kam der Gedanke, dass es schlauer gewesen wäre ihre alten Schuhe anzuziehen. Sie waren von ihrer Flucht zerlöchert und abgelaufen, aber wären sicher besser gewesen, als dies.
Dafür war es nun zu spät. Sie wollte nicht zurück. So ging sie leise patschend weiter und kletterte- mit Hilfe eines Stuhls- auf die Spüle. Dich darüber befand sich das einzige Fenster, das sich in dem ganzen Haus noch öffnen ließ. In der Nacht hatte man zwar ein großes Laken davor gehangen, aber dies ließ sich mit etwas Geschick leicht entfernen. Sie strengte sich an- das Scharnier war eingerostet- dann aber war es ihr möglich das Fenster aufzustoßen. Sofort war sie in jene erfrischende, kühle Nachtluft gehüllt, von der sie so oft geträumt hatte. Es war finster, aber sie konnte in einiger Entfernung ein paar alte Bäume erkennen und der Wind brauste in ihren Ohren. Obwohl sie kaum etwas erkennen konnte, war sie gefangen von einem Bild, das in der Vergangenheit alltäglich gewesen war.
Ohne zu zögern trat sie mit einem Fuß- etwas ungeschickt- auf das Fensterbrett. Fast wäre sie abgerutscht und als Folge dessen unsanft auf dem Boden gelandet, dann fand sie halt an dem Rahmen. Vorsichtig trat sie heraus und für eine Minute war ihre Angst vergessen. All ihre Trauer, ihre Verluste schienen von der Nacht einfach so verschluckt zu werden. Sie fühlte sich frei. Gesund.
Es war nicht weit zum Boden, dennoch war sie noch nie aus einem Fenster gesprungen. Es kostete einige Sekunden, bis sie den Mut fand den Schritt in diese verborgene Welt zu machen. Während sie fiel ließ sie Mr Petzt nicht aus ihrer Umarmung. Die Decke war am Fenstergriff hängen geblieben und flatterte nun im Wind. Wie eine Fahne, fand River. Eine weiße Flagge. Sie winkte Frieden, sie bedeutete Hoffnung.
Als sie schließlich- mit einem Lächeln auf den Lippen- Richtung Wald davon ging, dachte sie nicht einmal daran das Fenster, die Pforte zu einem anderen Leben, zu schließen. Die Nacht war noch frisch, so war es nicht verwunderlich, dass sie schon fast eine Meile entfernt war, als die schmerzerfüllten Schreie aus dem Haus, schließlich in die dunkle Nacht drangen.
Tag der Veröffentlichung: 12.03.2012
Alle Rechte vorbehalten