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Juliette



Er sah sie an, und obwohl ihre Augenlider schon lange geschlossen waren, wusste er, dass in ihnen einmal Feuer gelodert hatte. Stark und kräftig, erschreckend und doch wunderschön.
Ihre Haut - hell und makellos. Ihre Lippen - rosa und zart. Ihre freche, gewölbte Nase und ihr kleines, spitzes Kinn.
Es war, als würde ihr Gesicht eine Geschichte erzählen. Eine unendliche Geschichte voller Schmerz, Trauer und Hass, aber auch voller Glück und einer unbeschreiblichen Liebe.
Einer Liebe, wusste er, so stark, wie sie nur sein konnte. Erschreckend, neu und atemberaubend.
Er selbst hatte sie erlebt. Diese kleinen Momente, die - obwohl sie nur von kurzer Dauer in seinem langen Leben waren - er niemals würde vergessen können.
Er hatte eine so lange Zeit gelebt, ohne, dass ihm wirklich bewusst gewesen war, was leben bedeutete. Er war in Trance gewesen, all diese vielen Jahre.
Nicht einen Moment hatte er geglaubt, dass ihm etwas fehlen würde. Nicht einen einzigen.
Bis zu diesem einen Tag.
Er erinnerte sich noch an jede Einzelheit.
Das Wetter, die warme Sonne, die auf seiner Haut prickelte. Der süße Geruch der Blumen und die leichte Brise, die völlig ausreichte, ihr Haar zu zerzausen.
Da war er ihr zum ersten Mal begegnet.
Diesem Mädchen, Juliette. Jung und wunderschön.
Er hatte sie aus der Ferne gesehen, und obwohl er es selbst nicht wirklich für möglich gehalten hatte, kostete es ihn eine ganze Menge Überwindung, sie anzusprechen.
Das sollte ihm schließlich einfach fallen, glaubte er. Er hatte doch schon mit so vielen Menschen gesprochen.
Aber das tat es nicht.
Es war schwerer als irgendetwas Anderes, das er je getan hatte.
Aber auch schöner, viel schöner. In diesem Moment, auf irgendeiner Straße, in irgendeiner Stadt, da war er aufgewacht.
Ganz plötzlich. Ohne jede Vorahnung.
Er hatte sich verliebt. Du glaubst vielleicht nicht an Liebe auf den ersten Blick, hatte er ihr später einmal erzählt, Aber ich, wie könnte ich glauben, dass diese Liebe nicht existiert, habe ich meine doch persönlich getroffen.


Ja, das wusste er. Er hatte sie geliebt. Aus tiefstem Herzen, so stark, wie man einen Menschen nur lieben konnte.
Er liebte sie immer noch.
Und obwohl dies all seinen Vorstellungen widersprochen und all sein Wissen auf den Kopf gestellt hatte, war es irgendwie passiert, dass sie ihn auch geliebt hatte.
Ihre Zeit war begrenzt, schon von dem Moment an, indem er sie zum ersten Mal gesehen hatte. Sie war nicht ewig, nicht so wie er.
Ihre Uhr tickte und tickte und tickte. Er konnte das nicht verhindern, konnte nur zusehen, wie ihre Tage verstrichen.
Mehr als nur einmal hatte er daran gedacht, ihr die Wahrheit zu erzählen. Ihr zu sagen, wer er wirklich war, was mit ihm passieren würde, wenn der Tag käme, in dem sie ihn zurücklassen würde.
Aber er konnte es nicht. Er hatte es noch nie gekonnt.
So war es passiert. Wieder und wieder. Ihre Zeit verstrich.
Er liebte sie aus vollem Herzen, und eines Tages, eines schrecklichen Tages, schloss sie ganz einfach ihre Augen, um sie nie wieder zu öffnen.
Er hatte seine Liebe schon an vielem verloren - an Krankheiten, Unfällen, an Verbrechen. Und immer dann, gerade dann, wenn er glaubte, es könnte nicht schlimmer kommen, ihn
nicht noch mehr verletzen, dann passierte es und es war, als würde sein Herz entzwei brechen.
Vorsichtig trat er an das Bett. Sie lag so ruhig, als hätte sie eben nur die Augen geschlossen. Liebling, Ich bin müde. Ich glaube, ich lege mich hin und schlafe ein wenig.


Sie war so wunderschön, so sanft. Sie war die Liebe seines Lebens.
Vorsichtig lehnte er sich nach vorne, strich über ihre Haare, drückte einen sanften Kuss auf ihre Stirn. Sie war eiskalt.
»Juliette«, flüsterte er. Tränen rollten über seine Wangen. »Ich liebe dich. Ich lasse dich nicht allein. Nie, das verspreche ich dir, selbst, wenn dies für alle Ewigkeit bedeutet. Wir sehen uns wieder, mein Liebling.« Dann küsste er sie noch einmal voller Zärtlichkeit, voller Liebe, wandte sich ab und verließ den Raum.
Der Ort, an dem er sich befand war warm. Diese Wärme war ihm so vertraut. Immer wieder kam er hierher zurück, zu einen Ort der sein Leben auf eine seltsame Weise so verändert hatte.
Es war nicht mehr als eine gewöhnliche Straße. Dort war noch keine Geschichte geschrieben worden, dort war nichts großes Geschehen, dort war die Welt nicht wirklich verändert worden und doch kam er zurück. Immer wieder.
Diese kleine Straße inmitten einer kleinen Stadt- dies war der Ort, an dem jedes seiner unzähligen Leben begann.
Die Sonne prickelte auf seiner Haut. Der Geruch von süßen Blumen kitzelte in seiner Nase. Die Tränen waren noch nicht vollkommen getrocknet, sein Herz - diese tiefe Wunde - noch nicht ganz geheilt, da sah er sie. Ganz plötzlich.
Der sanfte Wind, der wehte, reichte völlig aus, ihre Haare zu zerzausen. Sie lächelte.
Dieses Mädchen. Jung und wunderschön. Er würde niemals aufhören können sie ansprechen, dachte er, er würde zu ihr gehen und sie so glücklich machen, wie er es noch nie zuvor getan hatte.

Juliette.

Impressum

Texte: Das Foto stammt nicht von mir, ich habe es lediglich verändert. (Quelle: Devintart.com)Die Kurzgeschichte stammt von mir, das bedeutet nur ich allein besitze das Copyright.
Tag der Veröffentlichung: 12.01.2012

Alle Rechte vorbehalten

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