An manchen Tagen ist es schlauer seinen Gefühlen aus dem Weg zu gehen. Gleich in dem Moment in den man die Augen aufschlägt ein Lächeln aufzusetzen und es den ganzen Tag instand zu halten. Bis man spät am Abend wieder die Augen schließt. Mit etwas Glück schläft man schnell ein, so dass einem die lästigen Gedanken erspart bleiben. Mit weniger Glück, beginnt der Verstand genau dann, wenn man sich eigentlich entspannen und ausruhen wollte, die Probleme zu verarbeiten. Klar, man kann es dann ignorieren. Einfach den Verstand ausschalten, an etwas anderes denken. Doch im Ganzen ist das schwieriger, als sich einfach den Problem hinzugeben. Das ständige Flüstern, das zwar abwesend, doch immer durch die Gedanken rauscht. Das kleine Schuldgefühl, das an dir nagt. All diese Dinge bringen dich schneller zum aufgeben, wie du dir vorstellen kannst. Egal wie sehr du es dir vorgenommen hast, nur wenige Minuten später erwischt du dich meistens dabei, wie du dich einem dieser Gedanken hingibst. Und nur nach ein paar Sekunden, bist du mit etwas Pech so sehr darin verwickelt, das du es bis zum nächsten Morgen nicht mehr ausschalten kannst, so dass es dich selbst in deinen Träumen hetzt und verfolgt, bis du schließlich durchnässt und voller Angst die Augen aufschlägst. Kurz darauf merkst du dann, dass es fast Zeit ist auszustehen. Dann, zu genau dem Augenblick setzt du wieder dieses Permanente, tapfere Lächeln auf und genau dieser Ablauf beginnt sich zu wiederholen. Vielleicht mit ein paar anderen Höhen und Tiefen, vielleicht fällt es dir leichter das Erlebte zu verdrängen und ja, ganz vielleicht schläfst du in der nächsten Nacht tiefer. Doch egal wie dein Tag nun abläuft, im Großen und Ganzen ist er doch nur ein billiger Abklatsch, des Vergangenen. So solch einer Sorte Mensch bin ich in den letzen drei Monaten geworden. Allein, Traurig und doch ständig lächelnd. Meine Kollegen und Bekannten beschreiben mich als eine nette fröhliche Person. Ich soll viel lachen und ab und zu ein paar tolle Witze reißen. In Wahrheit habe ich schon seit Monaten keinen Witz mehr über meine Lippen gebracht. Das sahen sie jedoch nicht. Was sie aber sahen, war nichts im Vergleich zu dem was sie hätten sehen können. All die vielen Dinge die ich getan hatte. Oh, damit könnte man ein dickes Buch füllen. Bis zur letzen Seite, und man hatte doch nicht all das erzählt, was man erzählen musste um die Geschichte für andere verständlich zu machen. Wenn ich es tat, wenn ich mir bildlich vorstellte, was damals passiert war, dann vergaß ich meist ganz unterbewusst einen Teil. Keinen großen, doch ohne ihn, schien die Geschichte keinen Sinn zu ergeben. Wenn ich zum Beispiel den freudigen Ausdruck auf seinem Gesicht, eine der kleinen Falten, die sich um sein Auge schmiegten, vergaß, dann war die Geschichte es nicht wird erzählt zu werden. Auch wenn es nur in meinem Kopf geschah. Wenn es niemand anders sah. Nein, nicht einmal dann. Aus diesem Grund gab ich mir Mühe mir all das vor Augen zu rufen. Auch wenn es mit verletze. Tief verletzte. Der Tag, sein Lachen, die Wärme, die Vögel und schließlich der Unfall. Die Lichter, der Schmerz, das Blut, die Sirenen. Seine Stimme. Die Angst und die Schreie. Die Menschen, der Geruch. All das rührte mich doch immer wieder zu Tränen. Der ganz normale Abend, der für mich mein ganzes Leben verändern sollte.
Es war Mitte Juni. Ich hatte in dieser kleinen Bar am Stadtrand ein paar Drinks zu viel gehabt. Klar, mein Job war hart, wieso sollte ich dann nicht an den Wochenenden Spaß haben. Da war nichts dabei. Damals. Ich traf einen netten Mann. Er war vielleicht vierzig, sah gut aus und er verstand es mich zum Lachen zu bringen. Warum nicht, dachte ich und unterhielt mich mit ihm. Bis spät in die Nacht. Obwohl ich ihn nicht kannte war er freundlich. Das Reden in seiner Gegenwart viel mir so leicht, wie mit keinem Menschen danach mehr. Ich wusste nicht was das zu bedeuten hatte, aber ich redete in dieser Nacht mehr über mich, als in meinem Leben zuvor. Und dieser Mann, er hörte mir nur zu. Zumindest glaubte ich das. Um ehrlich zu sein, war der Alkohol doch ganz schön angeschlagen. Hin und wieder fehlten mir ein paar Erinnerungen. Zum Beispiel diese, in der er begann zu reden. Ich kann mich nicht mehr wirklich an seine Stimme erinnern. Doch die Dinge die er gesagt hat, die haben sich dafür umso mehr in meinen Verstand eingebrannt. Sie sind gar nicht mehr wegzudenken.
Eines der Dinge die ich nicht mehr genau vor Augen habe, war wie wir gemeinsam in mein Auto gestiegen sind. Ich weiß nicht einmal mehr wer von uns gefahren ist. Genauso wenig weiß ich warum wir nicht einfach ein Taxi gerufen haben, wo wir doch beide so viel Alkohol intus hatten. Naja, wer gefahren ist, das werde ich wahrscheinlich nie erfahren, denn in dem Moment in dem meine Erinnerungen wieder einsetzen, da liege ich schon auf der Straße. Überall ist Blut. Ich schreie, höre seine Stimme und merke er tut es mir gleich. Meine Sicht ist verschwommen und mein Kopf tut weh. Dann wurde es schwarz. Den nächsten Fetzen Erinnerung habe ich im Krankenhaus. Es ist hell. Ich kann nichts sehen. Mein Kopf tut immer noch weh. Dann wieder Dunkelheit.
Laut den Ärzten habe ich zwei volle Tage im Koma gelegen. Ich war fast tot. Viele Organe waren geschädigt. Und er? Ihm ging es am Anfang besser, sagten sie. Ja, er soll bei Bewusstsein gewesen sein. Ich verfluche mich, dass ich es nicht war. Denn seine Lage verschlechterte sich schnell. Er wusste er würde sterben. Und was tat er? Er wollte mir seine Organe geben. Natürlich nicht gleich, aber wenn er tot war. Das sagten die Ärzte. Ich war nicht bei Bewusstsein, so konnten sich nicht fragen. Also taten sie es. Als ich dann aufwachte und sie fragte, erklärten sie mir er habe mein Leben gerettet.
Mittlerweile ist es ein paar Monate her. Ich habe seine Eltern besucht, seine Geschwister. Sie waren traurig. Dann war ich an seinem Grab. Geweint habe ich, dabei kannte ich ihn nicht länger als ein paar Stunden. Ich habe ihm Blumen gekauft, dann habe ich eine Kerze angezündet in der Kirche. Zum neuen Jahr habe ich dann einen Brief an die Zeitung geschrieben. Ich habe mein Erlebnis geschildert und nur wenige Tage später habe ich den Artikel gesehen. Selbst am Abgrund zwischen Leben und Tod gibt es noch Helden, war die Überschrift. Ich finde sie passt. Ein Held das war er. Und trotz der Schuldgefühle, die mich von innen heraus auffressen, wird er mein ganzes Leben lange mein Held sein.
Tag der Veröffentlichung: 24.01.2011
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