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“Das macht er nie wieder!”, höre ich noch Großvater sagen. Es sind nur wenige Erinnerungen an ihn geblieben. Stark verblichen und schwammig, mit einem farblichen Stich ins Ocker-braun-gelborange. Eine Farbe, die ich auch heute noch mit den Siebziger Jahren verbinde. Und wenn mir heutzutage ein junges Mädchen mit einem T-Shirt gemustert in braunen und orangen Kreisen und Kullerchen entgegenkommt, denke ich sofort an die Tapete, die wir damals in der heimatlichen Diele hängen hatten.
Man wurde schon gleich an der Wohnungstür erdrückt. Bildlich gesprochen. Und ans Drücken erinnert diese verquirlte Farbmusterung auch. Nämlich an das, was man auf der Sanitärkeramik nach einem durchzechten und verfressenen Abend beim Griechen oder Grillabend mit Nudelsalat herausdrückt.
Es ist erstaunlich, dass einem zumeist nur die negativen Eindrücke und Erlebnisse im Gedächtnis haften.
Erinnert sich denn heute noch jemand, an welchem Wochentage Charles und Diana geheiratet haben? In welchem Jahr unser Lieblingseis Brauner Bär, das mit dem Karamellkern, wieder aufgelegt wurde? Nein, aber wir alle können uns noch recht gut an den Einsturz des World Trade Center erinnern. Oder an den Tag, als unsere Aktie wertlos wurde und wir alles dem Insolvenzverwalter in einem kleinen handlichen Pappkarton in die Hand drückten.
“Das macht er nie wieder!”, sagte Großvater laut und überzeugt. Mir schmerzten die Hände und die Erinnerung an damals in meinen Hirnwindungen, wo sich das Erlebte bis auf Ewigkeiten eingebrannt hat. Großvater rauchte gerne Zigarillos, Zigarren, nicht irgendwelche, sondern Fehlfarben oder gar die ganz teuren.
Wenn der qualmende und stinkende Stummel nicht gerade zwischen seiner Unter- und Oberlippe klemmte, legte er diesen auf dem Ascher ab. Ja, ‘auf’! Denn er besaß einen von diesen Standaschenbechern mit beweglicher Scheibe, welche sich mit Druck auf dem oben befindlichen Knopf, wie ein Brummkreisel in eine Rotation bringen ließ und dabei jeden Asche- und Stummelrest in sein Inneres beförderte. Das mit dem Brummkreisel gefiel Klein-Holger recht gut. Solange jedenfalls, bis er dabei ertappt wurde, wie wieder mal ein wertvoller, noch nicht ganz verrauchter und verbrauchter Rest eines kubanischen Tabaktorpedos in die ewigen Jagdgründe verpuffte. “Das macht er nie wieder!”, und die gerollte Zeitung wurde wieder zwischen Polster und Sessellehne geklemmt, wie ich aus tränenverschmierten Augen wahrnehmen konnte. Solche Erfahrungen prägen. Besonders, wenn man erst etwa zweieinhalb bis drei Jahre auf dieser rohen und grausamen Welt zugebracht hat.
Es sind solche Gedanken, mit denen man sich die Hirnwindungen martert, wenn man mit sich für einen Moment allein ist. Ein langer Moment, ein qualvoll langer Moment. Ein Moment des einsamen Kämpfers.
Ich verschnaufe und hole tief Luft. Am hölzernen Treppengeländer festhaltend, wische ich mir mit dem Hemdsärmel der freien Hand den dicken Schweißfilm von meiner Stirn. Bäche voller Wasser mit Salz drohen mir die Sicht zu trüben. Die Augenbrauen, die sie aufhalten sollen, sind längst durchnässt und schwenken die weiße Fahne der Kapitulation.
Doch ich muss weiterkämpfen. Gegen mich, gegen meine nachlassende und immer schwächer werdende Kondition. Ich habe eine Aufgabe zu erfüllen. Ein Ziel.
Und dieses Ziel liegt in der fünften Etage direkt unter dem Dach.
Horst Evers, seines Zeichens bekannter Lesebühnen-Literat, hat einmal folgendes postuliert: “Schwitzen ist, wenn Muskeln weinen!”
Recht hat er. Meine Muskeln sind purer Verzweifelung erlegen. Denn noch ist der Umzug nicht beendet. Bisher sind nur kleine Teile meiner Platten- und Büchersammlung in das neue Heim geschafft worden. Also nicht nur Bücher. So ein paar. Sondern Bücher: nämlich viele! Und die Schallplatten erst!
“Das macht er nie wieder!”, sagt mein inneres ich, welches in der dritten Person über mich spricht. Ich sehe mich dabei vor meinem inneren Auge auf einem Flohmarkt, vielleicht der am Arkonaplatz, oder gar der auf dem Boxi, wühlend in einer Kiste mit vinylen Ausgaben meiner favorisierten Musik. Ich ziehe eine Scheibe hinaus, verharre kurz, und schiebe dieses Tonträgerjuwel wieder zurück zu den anderen seiner Art. Nein, ich werde wohl so schnell keine Platten mehr kaufen. Schon in Panik vor einem nächsten Wohnungswechsel. Stück für Stück heimgetragen, machen sie ja fast nichts aus. Doch angenommen, an jedem Wochenende bringt man fünf dieser Plastikscheiben mit in Rille gepresster Tonkonservierung in die eigenen vier Wände, sind das in 52 Wochen bereits 260 Stück. Der durchschnittliche Berliner zieht statistisch gesehen etwa alle drei bis vier Jahre um. Heißt also, bei jedem Umzug hat sich die Plattensammlung um etwa 780 bis über 1000 Stück vergrößert. Ein Wahnsinn!
“Das macht er nie wieder!”, denkt sich der statistische Durchschnittsberliner hier, und meint damit, dass er dann einfach nicht mehr umziehen wird.
“Das macht er nie wieder!”, sagt die Freundin, und bezieht das darauf, dass ich dann wohl nicht mehr, also nicht mehr in diesem Leben, einen Umzug alleine machen werde. Stattdessen, nimmt man einen Kredit auf, und beauftragt profisionelle Umzugshelfer, die sich für einen abbuckeln können.
“Ein Freund, ein guter Freund, das ist das Schönste, was es gibt auf der Welt…!”
Zwischenzeitlich bin ich mit meiner Plattenkiste in der dritten Etage angekommen, und pausiere nochmals. Auch hier wohnt gewissermaßen ein Musikfreund. Anfangs haben wir es nicht für voll genommen, da wir bei uns oben unterm Dach nichts mitbekommen von unseren neuen Nachbarn. Ganz im Gegensatz zu meiner alten Behausung, wo die Wände dünn wie Pergamentpapier waren. Wo ich Gesundheit gesagt habe, bevor mein dortiger Nachbar überhaupt genossen hatte. Ich habe es halt mitbekommen, wenn er “ha, ha, haa…” schon Luft holte. Dabei zog er immer die Nase ein wenig kraus. Konnte man sehen, so dünn waren da die Wände.
Zu manchen Tageszeiten beschallt unser neuer Nachbar die halbe Straße mit den Hits der Dreißiger, der Vierziger und dem Besten von Gestern. Bei offener Terrassentür schwärmt uns dann schon mal die Zarah von ihrem Waldemar vor. Dem mit den schwarzen Haaren. Oder die Comdian Harmonists piek-piek-piek-en sich an ihrem Kaktus.
Drifte mit meinen Gedanken ab, und überlege, ob ich ihm nicht mal einen Austausch von Tonträgern vorschlage. So von Musikfreund zu Musikfreund. AC/DC gegen Willy Fritsch und die Harvey, Jethro Tull gegen Rühmann und Albers. Da hätte dann auch die übrige Nachbarschaft, um nicht zu sagen, die ganze Malplaquetstraße was von.
“An der Kaserne vor dem großen Tor, steht eine Laterne…”
Durchhaltemusik!
Lale steht praktisch neben mir im Treppenhaus, um meinen Durchhaltewillen in diesem Kampf gegen die Stufen und meine nachlassende Kondition, mit diesem Gesäusel in meine Gehörgänge zu stärken.
Irgendwie schaffe ich es dann auch mit letzten Kraftanstrengungen samt Plattenkiste bis in die Fünfte. Lasse die Kiste nach Übertreten der Türschwelle auf den Boden knallen und breche umgehend zusammen.
Nach einiger Zeit wache ich auf und schaue dem Tod in die leeren Augenhöhlen. Das Gerippe steht offensichtlich schnaufend im Türrahmen. Zumindest schaut es so aus. Die Sense hängt in seiner knochigen Hand und zieht sie schwer nach unten.
Nun will er mir wohl an meinen schweißnassen Kragen.
Aus einem Augenwinkel sehe ich etwas Schwarzes die Luft teilen und höre es Zischen. Gevatter Tod ist viel zu baff, als ihn die schwere 78er Schellack trifft und seinen knochigen Körper in Folge des Aufeinandertreffens auseinander fallen lässt. Die knochigen Splitter zerfallen anschließend in kleinste Staub- und Ascheteilchen.
“Das ist für Marlene! Und all die anderen, die Du mir genommen hast, Du Scheißkerl!” Erkenne im Treppenhaus nun meinen Nachbarn, der ein wenig ausschaut wie mein seliger Großvater. Er zwinkert mir zu und sagt mit Blick auf die Überreste des Sensenmannes: “Das macht er nie wieder!”

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Tag der Veröffentlichung: 19.07.2009

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