Es passierte Mitte Oktober. Um genau zu sein, es war der 14. Oktober, ein Freitag. Der Tag an dem meine Frau, wie jedes Jahr, Geburtstag hat. Der goldene Oktober schien sich zu Ende zu neigen. Die letzten Tage waren wirklich ein Genuss gewesen.
Jetzt allerdings legte sich morgens ein Nebel über die Berge und Täler der deutschen Mittelgebirge. Die Temperatur sank des Nachts bis unter den Gefrierpunkt und tagsüber wurde es vielleicht knapp 15 Grad warm. Die Dächer waren am morgen von Raureif überzogen und ganz oben auf den Bergrücken sah man vereinzelt weiße Tannen glitzern.
Ich wurde wie fast jeden morgen von Odin meinem Windhundmischling gegen sieben Uhr geweckt. Odin war seit etwa zwei Monaten bei uns.
Ich freute mich darüber, dass er mich jeden morgen zwang, spazieren zu gehen. Ich brauche die Bewegung, um einigermaßen fit zu bleiben, aber auch um endlich mal abzunehmen. Seit einiger Zeit liefen wir vom Montag bis Freitag vor dem Frühstück mit einigen Bekannten eine große Runde um den Hausberg. Treffen war immer gegen 7:45 Uhr am Gispel
Nach dem Aufstehen trat ich auf die Terrasse und sah nach dem Wetter. Da wir auf halbem Weg zum Berggipfel wohnen, kann man normalerweise über das ganze Tal schauen. Heute Morgen konnte ich vom im Tal liegenden Dorf absolut nichts mehr sehen. Der Nebel füllte alles aus. Es sieht dann so aus, als ob man auf einer Wolke leben würde.
Der Gispel liegt genau ein Bergrücken weiter. Wir gingen also um 7:30 Uhr los und Odin war wie immer sehr ausgelassen bei der Sache. Zum Schutz gegen die morgendliche Kälte hatte ich mir einen dicken Armeepullover übergezogen und ein US-Käppi aufgesetzt. Meine Glatze neigt bei diesen Temperaturen doch schnell zu frieren.
Der Spaziergang mit den Bekannten und ihren vier Hunden war wie immer mit leichten Gesprächen durchsetzt. An diesem Morgen beteiligte ich mich nicht besonders intensiv daran. Mir gingen einige Sachen durch den Kopf. Heute war nicht nur der Geburtstag meiner Frau, ich hatte am Nachmittag auch ein Gespräch mit der hiesigen Bank.
Nach einer guten Stunde, in der die Hunde mindestens ein Rudel Rehe und zwei Kaninchen gejagt hatten, ohne besonders erfolgreich gewesen zu sein, trafen wir wieder am Gispel ein. Die Bekannten verabschiedeten sich und ich hatte noch ca. 900 Meter Fußweg alleine mit Odin vor mir.
Der Weg führt zwischen Pferdeweiden einige hundert Meter an der Bergflanke entlang. Danach verläuft ein mit Gras bewachsener Weg ziemlich steil 300 Meter gerade hinunter Richtung Dorf. Am Ende dieses Weges muss ich nur noch 300 Meter links der Straße folgen und bin dann zu Hause.
Ich ließ Odin ohne Leine laufen, damit er sich austoben konnte und den Rest des Tages Ruhe gab. Wenn er sich morgens austobte, war der Tag so gut wie gerettet.
Das Gras glitzerte stellenweise vom überzogenen Raureif und Odin lief den Weg öfter als ich. Er sprang den Weg mindesten drei bis viermal rauf und an mir vorbei, auch wieder hinunter. Der Nebel hatte sich inzwischen völlig verzogen und es versprach zwar ein kühler aber klarer Tag zu werden.
Mit den Gedanken bei dem Geburtstag meiner Frau und an das Gespräch mit unserer Bank, folgte ich dem Wiesenweg nach unten. Etwa in der Mitte des Weges geschah es.
Das Unglück!
Der linke Fuß schoss auf dem nassen Grass plötzlich mit Urgewalt nach vorne, so dass sich mein Oberkörper gefährlich weit nach hinten neigte.
Ich versuchte das Gleichgewicht zu halten, indem ich wie wild mit beiden Armen ruderte.
Doch leider verlor ich diesen ungleichen Kampf und fiel rückwärts ins nasse Gras. Dummerweise geriet dabei das linke Bein unter mein Hinterteil, das sich gerade wie ein D-Zug nach unten bewegte.
Als mein Hintern auf den unteren Teil des Beines knallte, ertönte ein ziemlich hässliches Krachen.
Der Schmerz dabei war noch nicht einmal besonders groß. Am Anfang! Allein die Gedanken, die mir dabei durch den Kopf schossen, waren schmerzhafter.
- Wie komm ich wieder hoch?
- Kann ich noch auftreten?
- Wie weit ist es noch bis nach Hause?
- Was mache ich jetzt?
Zuerst vermutete ich eine heftige Verstauchung oder einen eventuellen Bänderriss. Ein Blick auf den merkwürdig abgewinkelten Fuß ließ mich zweifeln.
Weh tat es immer noch nicht so richtig.
Ich nahm das Bein in Höhe des Knies in beide Hände und schlenkerte es hin und her. Der Fuß machte eine Bewegung, die mich an eine Figur aus dem Marionettentheater erinnerte. An Puppen, denen man die Fäden durchgeschnitten hat. Es sah aus als würde der Fuß nur noch an einigen Sehnen mit ein wenig Fleisch hängen.
Den Gedanken an einen Versuch mich hinzustellen, strich ich sofort und rigoros aus meinem Kopf. Das Teil trägt dich heute nicht mehr, dachte ich.
Was tun? Leichte Panik begann auf mich zuzurollen.
Eine Verstauchung war das nicht, wohl eher ein Bruch.
Die ersten Häuser waren noch etwa 300 Meter entfernt.
Vielleicht, wenn ich auf einem Bein und mit der Hand an der Weidenabgrenzung entlang humpeln würde?
Ein Blick auf den dünnen Draht der bis hinunter ins Dorf ging, ließ mich diesen Gedanken sofort vergessen.
Auf einem Bein humpeln?
Gleich fingen sicher die Schmerzen an und ob ich dann die Erschütterungen ertragen würde? Das Gras ist immer noch nass und noch einen ähnlichen Sturz würde ich wohl nicht überleben.
Also auch nicht besser.
Inzwischen hatte Odin bemerkt, dass ich mich auf sein Niveau, sprich auf seine Höhe herabgelassen hatte. Freudestrahlend sprang er auf mich zu und versuchte meine Brillengläser zu reinigen. Noch viel zu geschockt, ließ ich das auch noch zu. Er wusch mir so ziemlich das ganze Gesicht.
Die Wiese um mich herum war fast weiß von Raureif. Die Hand, mit der ich mich im nassen Gras abstützte, wurde langsam kalt. Eine unangenehme Nässe kroch mir langsam durch die Hose den Hintern hoch.
Auch fingen langsam die Nerven des Beines an, Schmerzsignale ans Hirn zu senden.
Bei diesen Überlegungen hatte ich vergessen Odin im Auge zu behalten. Er nutzte das aus, in dem er mit einem Happs plötzlich meine Schirmmütze herab riss und sie auf direktes Verlangen meinerseits nicht mehr heraus gab.
Kalte Hände, nasser Hintern und jetzt auch noch kalte Ohren. Langsam wurde ein Drama daraus.
Ich versuchte abzuschätzen, wie lange ich es so aushalten würde, ohne dauerhaften Schaden davonzutragen.
1 Stunde oder 2? Und wenn erst nach 5 Stunden jemand kommt?
Das konnte ich einfach nicht riskieren.
Bevor also gleich die große Schmerzwelle auf dich zurollt, dachte ich mir, versuchst du so nahe wie möglich an das erste oder zweite Haus zu gelangen.
Gesagt getan, ich robbte mit nassem Hintern und den Händen im Gras einfach weiter den Weg nach unten. Die ersten paar Meter gingen ziemlich leicht. Dann reagierten die Nerven des gebrochenen Beines.
Kurz darauf reagierten meine Stimmbänder.
Was soll´s, dachte ich mir. Vielleicht hört dich jemand. Also ließ ich den Schmerz einfach über meinen weit geöffneten Mund heraus.
Der Einzige, der erfreut darauf reagierte, war Odin. Na klar. Gleich singt er mit, dachte ich.
Der Weg schien kein Ende zu nehmen und langsam froren mir die Hände ab. Ich denke, inzwischen liefen mir auch die ersten Tränen übers Gesicht. Aber das bemerkte ich erst viel später.
Nach etwa 150 Metern gelangte ich auf Höhe der ersten Häuser. Nur lagen diese seitlich noch mindestens 60 Meter weit weg. Getrennt waren diese vom Weg durch eine tief, morastige Wiese.
In diesem Moment hatte ich zum ersten male Glück im Unglück.
An einem Haus auf der rechten Seite öffnete sich die Tür und ein junger Mann trat hervor, um seinen Mülleimer heraus zu schieben.
Ich fing nun an richtig laut zu stöhnen.
Das veranlasste zumindest Odin erstaunt stehen zu bleiben, und sein Zerstörungswerk an meiner Mütze kurz zu unterbrechen.
Nach dem zweiten lauten Stöhnen in der kalten klaren Luft, stutzte auch der junge Mann und schaute herüber.
Ich fing an, wie wild zu winken und Hallo zu rufen. Der junge Mann schaute zwar herüber, machte aber keine Anstalten zu mir zu kommen.
Vermutlich dachte er, ich nehme im kalten Gras ein erfrischendes Bad und sing dabei. Also ließ ich alle Hemmungen fallen und rief das erste Mal in meinem Leben richtig um Hilfe.
Das funktionierte seltsamer Weise sogar.
Er ließ alles liegen und kam flotten Schrittes auf mich zu. Schon von Ferne rief er mir zu:
„Kann ich Ihnen helfen?“
Wie hatte ich mich auf diese Worte gefreut.
Ich war so gut wie gerettet.
Ich stöhnte zur Sicherheit noch einige Male und sagte dann laut, dass ich mir vermutlich das Bein gebrochen hätte.
Ein Wunder geschah als der junge Mann kommentarlos ein Handy aus der Tasche zog und sofort den Notruf wählte. Nachdem er die genaue Lage des Unglücksortes beschrieben hatte, fragte er tatsächlich mich ob ich jemanden informieren möchte. Mit freundlichen Augen hielt er mir sein Handy hin. Ich fühlte mich, als hätte ich bereits den Weihmachtsmann im Oktober getroffen.
Im Nachhinein muss ich sagen, dass der junge Mann sich wirklich nach Lehrbuch verhalten hatte. Ob ich das so gut hinbekommen hätte, muss ich leider bezweifeln.
Ich bat ihn meine Nummer zu Hause anzurufen und nachdem er diese eingegeben hatte, hielt er mir das Handy hin. Ich lauschte Minutenlang dem klingeln.
Wo war meine Frau? Wo war mein Sohn?
Als ich ging schliefen beide. Aber so fest?
Inzwischen war es zehn vor Neun und die Sonne stand hoch am Himmel. Entnervt gab ich ihm das Handy zurück. Zumindest war der Rettungsdienst informiert. Das war doch schon etwas.
Dann fragte mich der junge Mann tatsächlich, ob er noch etwas für mich tun könnte. Ich fühlte mich fast wie im Himmel bei soviel Aufmerksamkeit.
Inzwischen wurden die ausgesandten Schmerzsignale im Bein doch ziemlich unangenehm.Auf meine Bitte hin fing er Odin ein und leinte ihn an. Als er mit zwei spitzen Fingern dem Hund das Käppi abnahm und fragte:
„Möchten Sie das wiederhaben?“, konnte ich nur noch auflachen. Oder war es doch mehr ein Schluchzen?
Ich bat ihn den Müll einfach in der Wiese zu entsorgen. Odin warf dem Teil noch einen langen, traurigen Blick hinterher.Ich versuchte noch einmal zu Hause jemanden zu erreichen. Nach minutenlangem Klingeln leider wieder kein Glück.
In der Ferne ließ mich Sirenengeheul aufhorchen. Meine Rettung nahte. Das Geheul kam näher.
Und entfernte sich dann wieder.
Hatten die keine Straßenkarten an Bord? Aber vielleicht fuhren sie ja zum Altenheim, das auf der Rückseite des Gispels lag.
Das Geheul verklang langsam in der Ferne. Vermutlich gab es im Altersheim noch jemanden mit einer Arschkarte. Ich wünschte ihm viel Glück.
Als das Geheul plötzlich doch wieder näher kam, versuchte ich mein Glück auf dem Handy zum dritten Mal. Jetzt hatte ich tatsächlich jemanden geweckt. Meine Frau war endlich am Apparat. Natürlich war sie von meiner kurzen Erklärung geschockt und versprach sofort zu kommen.
Seltsamerweise musste ich erst jetzt, nachdem ich zu Hause Mitteilung gemacht hatte, alle informiert waren und meine Rettung eingeleitet, richtig aufschluchzen. Ich konnte meine Tränen einfach nicht mehr zurückhalten.
Zum Glück hatte ich mich nach kurzer Zeit wieder im Griff. Danach fing mein ganzer Körper an zu zittern. Ich konnte es einfach nicht mehr stoppen.
Ich zeigte ganz einfach Nerven.
Der Rettungswagen erschien endlich am Ende der Straße, wo sich ein Wendehammer befindet. Dieser liegt genau gegenüber dem Haus des jungen Mannes.
Die Türe des Wagens öffnete sich und zwei Rettungssanitäter näherten sich uns über die Wiese. Nun wird alles gut, konnte ich nur noch denken.
„Wer hat uns gerufen?“, war die erste Frage an uns.
Der junge Mann trat mit Odin an der Leine den Sanitätern entgegen. „Ich habe Sie zu diesem Wendehammer gebeten.“
„Dann geben Sie nächstes Mal auch den richtigen an. Wir haben alle Wendehämmer hier abgeklappert“, fuhr er den jungen Mann an.
„Ich sagte: „Den Wendehammer am Ende dieser Straße“ und das ist der hier, wo sie jetzt stehen, ist doch ganz einfach.“
Anscheinend wollten sie erstmal eine Diskussionsrunde eröffnen und diverse Schuldfragen abklären. Mein Bein hatte immens etwas dagegen. Um die Aufmerksam wieder auf mich zu lenken, fing ich mal mit stöhnen an.
„Ist das der Verletzte?“, fragte der Sanitäter den jungen Mann und tat so, als ob ich schon ohnmächtig oder zumindest debil wäre. Am liebsten hätte ich auf den Hund gezeigt.
Nach einem kritischen Blick auf mein Bein unterhielten sich die beiden weiß gekleideten Samariter kurz. Dann lief Einer zurück und holte eine größere Tasche mit den nötigen Utensilien.
Darunter befand sich auch eine aufblasbare Schiene für Beinbrüche. Vorsichtig wurde mein Bein angehoben und die Gummischiene darunter geschoben. Mit einem kleinen Blasebalg, der in der Hand gehalten wurde, pumpte nun einer der Männer die Schiene auf und fragte immer wieder nach meinem Befinden.
Er schaute mich ziemlich ernst an, denn ich war seit einiger Zeit dabei, ziemlich hastig zu atmen. Die Atemstöße kamen immer schneller und kürzer.
„Sie Hyperventilieren. Wenn sie sich nicht zusammenreißen haben wir gleich noch ein Problem.“, meinte er zu mir.
Das fehlte mir noch, schoss es mir durch den Kopf. Hyperventilieren, wie oft hab ich das in Filmen gesehen oder in Büchern gelesen.
Endlich wusste ich was damit gemeint war, wenn die Schauspieler anfingen in kleine braune Tüten zu pusten.
Ich hatte das wirklich bisher für einen Witz gehalten. Da ich eine solche Tüte nicht entdecken konnte und mir auch nicht nach Witzen war, hörte ich also auf den guten Mann und zwang mich wieder ruhiger zu atmen. Auch der Sanitäter atmete vernehmlich auf. Ich hatte ihm wohl soeben eine große Sorge abgenommen.
„Vermutlich gebrochen“ meinte ich zu ihm und zeigte mit dem Kinn Richtung Bein.
„Das kann ich nur bestätigen. Beim Aufpumpen der Schiene hat es vernehmlich geknirscht!“ antwortete er.
Mir wurde schlecht.
Nun hatte ich die Bestätigung. Gebrochen. Am Geburtstag meiner Frau, an diesem herrlichen Morgen.
„Ich versuche jetzt mal den Schuh abzunehmen, bevor der Fuß ganz angeschwollen ist.“ Langsam aber stetig zog er mir den Schuh aus. Da es sich um teuere Diabetikerschuhe handelt, war ich froh, dass sie nicht mit einer Rettungsschere abgenommen wurden. Also biss ich die Zähne zusammen.
Fast nur nebenbei bemerkte ich, dass meine Frau eingetroffen war. Hinter ihr drückte sich mein Sohn herum. Vermutlich hat ihn seine Neugier aus dem Bett gelockt. Er steht auf Horror und Blut wie die ganze junge Generation. Leider konnte ich mit Blut nicht dienen und auch der Knochen zeigte nicht zersplittert aus dem Unterschenkel.
Ich grinste beiden aufmunternd zu.
„He däd, warum haste nicht Odin geschickt?“ versuchte mein Sprössling ungeschickt zu scherzen.
„Na, weil er nicht an die Klingel kommt und ihr habt ja gepennt und hättet ihn nicht rein gelassen“, erwiderte ich leicht erbost.
„Oh Gott, wie ist denn das passiert?“ rief dann meine Frau und schlug die Hände vors Gesicht.
Ich erzählte es dann an diesem Morgen zum dritten Male.
Meine Frau war natürlich ziemlich aufgeregt und verängstigt.
Ich beruhigte sie so gut ich konnte. Wir hatten anscheinend die Rollen vertauscht. An die genauen Worte kann ich mich aber wirklich nicht mehr erinnern. Dafür wurden jetzt die Schmerzen zu unangenehm. Ich musste zwischen durch immer wieder mal richtig aufstöhnen.
Einer der Sanitäter begutachtete nun den Wiesenweg, schätzte die Entfernung vom Rettungswagen zu mir und sah mich dann mit einem kritischen Blick an. Danach unterhielt er sich mit dem jungen Mann. Sie diskutierten wohl ob der Weg den Rettungswagen tragen würde.
Anschließend schätzten sie nochmals kurz mein Gewicht und riskierten dann lieber die Fahrt über den Wiesenweg.
Ich kann es ihnen nicht verübeln. Für Schwerstarbeit wurden die beiden sicher nicht bezahlt.
Der Wagen fuhr langsam schaukelnd über die Wiese und hielt wenige Meter neben mir. Die Türe wurde geöffnet und beide Sanitäter hoben eine Tragbahre heraus, die sie neben mir legten. Danach bat man mich auf diese Bahre zu klettern.
Einer hielt vorsichtig mein Bein und ich stemmte mich herüber auf die Bahre. Es war fast ein Kinderspiel.
Die Bahre wurde von beiden Sanitätern vorne und hinten gepackt und mit einem Kommandoruf hoben sie diese an. Mit einem vernehmlichen Klicken, rastete die Bahre in ca. 1,20 Meter Höhe ein. Unter der Bahre befand sich ein Fahrgestell, das wie ein Scherengitter ausgefahren war. Der vordere der beiden Männer schnaufte dabei vernehmlich und murmelte etwas von übergroßen Gewichten, die in Wiesen herumliegen. Der meinte doch wohl nicht mich?
Ich wies ihn trocken darauf hin, dass er noch von Glück reden kann. Hätte ich mir vor einem Jahr das Bein gebrochen, müsste er vorher in der Muckibude trainieren, bevor er mich aufheben könnte.
Irgendwie kam mein Scherz nicht an. Ich neige leider bei Stresssituationen immer zu einem gewissen schwärzlichen Humor. Muss wohl Vererbung Väterlicherseits sein.
Nun wurde auch der junge Mann genötigt, beim Einfahren der Bahre in den Rettungswagen Hilfestellung zu leisten.
Da der ganze Hang ziemlich steil war, sollte er meine Bahre seitlich abstützten, damit ich nicht den Weg bis ins Dorf alleine fahre. Schließlich habe ich keinen Bahrenführerschein. Ich wünschte allen viel Glück, drückte im Geiste die Daumen und die Hände krampfhaft an den Bahrenrand. Mit krebsrotem Gesicht und viel schnaufen, schafften die Drei mich die vier Meter bis zum Rettungswagen.
Frau, Sohn und Hund hüpften dabei interessiert um uns herum.
Mit fiel ein Stein vom Herzen, als ich endlich im Wagen lag. Der Fahrer stieg ein, der zweite Mann kam zu mir und die Türen wurden geschlossen. Meine Frau rief mir noch zu, dass sie gleich ins Krankenhaus fahren würde.
Endlich in Sicherheit, schoss es mir durch den Kopf.
Aber bevor es losging, musste erst einmal der Puls sowie der Blutdruck gemessen werden. Anschließend wurde ich nach der Intensität meiner Schmerzen gefragt. Sollten diese zu stark sein, könnte man auch den Rettungsarzt informieren.
Sollte es sein, dachte ich, dass diese netten Leute keine Schmerzmittel verabreichen dürfen? Da hätte ich mir auch ein Taxi bestellen können. Damit wäre die ganze Aktion schneller abgelaufen.
Meine Vermutung erwies sich leider als richtig. Eine Spritze duften diese Hilfssanitöter nicht setzen. Ich biss die Zähne zusammen. Sollte ich jetzt auch noch auf einen Arzt warten, dauerte es mit Sicherheit noch Stunden.
„Fahr los. Bis zum Krankenhaus halte ich locker aus“, war dann mein Kommentar dazu.
Er schaute mich mit ernster Miene an und suchte vermutlich nach Anzeichen von Schmerzen. Ich grinste krampfhaft zurück.
„Okay, fahr los!“ rief er nach vorne.
Endlich! Der Wagen rumpelte langsam über den Wiesenweg Richtung Dorf. Das Schaukeln war nicht gerade sehr angenehm.
„Soll ich die Liege etwas höher stellen?“ fragte mich mein Lebensretter. „Dann federt das Unterteil besser und die Stöße vom Wagen kommen nicht so durch.“
Ich nickte nur und versuchte mich festzuhalten und nicht auf die Schmerzen im Bein zu achten.
Es dauerte lange bis der Wagen endlich die feste Straße erreichte. Ich atmete vernehmlich auf und entspannte mich dann ein wenig. Mein Sanitäter nahm das mit einem Lächeln zur Kenntnis.
Die Fahrt in das 15 km entfernte Kreiskrankenhaus dauerte endlos. Immer wieder kontrollierte mein Rettungsengel dabei den Blutdruck und fühlte meinen Puls.
Verkürzt wurde die Zeit nur durch das Ausfüllen, der wie überall unnötige Formulare.
Name, wann geboren und warum, Krankenkasse, Grund der Vergnügungsreise, usw. Der übliche Quatsch.
Wir kamen darüber rasch ins Gespräch. Wir redeten dann über Urlaub und insbesondere über Südfrankreich. Fast gerieten wir dabei ins Schwärmen über Land, Leute und insbesondere über das Essen und den Wein. Es lenkte tatsächlich ein wenig ab. Die Zeit verging wesentlich schneller und ich achtete nicht so sehr auf die Schmerzen.
Nach einer guten halben Stunde erreichten wir ohne Schwierigkeiten das Krankenhaus.
„Jetzt wird ihnen geholfen!“ kalauerte mein Retter.
Die Türe wurde geöffnet und die Bahre heraus geschoben. Auf glattem Asphalt war wohl alles kein Problem. Das Unterteil wurde ausgeklappt und dann fuhren wir ins Krankenhaus hinein.
Gleich werden die Schmerzen weniger, konnte ich nur noch denken.
Wir fuhren in einen hellen, großen Raum, wo uns eine junge, hübsche Krankenschwester empfing. Auch sie befragte mich zu meinen persönlichen Daten. Da ich ja gut ansprechbar war, sah ich keinen Grund diese zu verheimlichen. Sogar meine Krankenkassenkarte hatte ich dabei. Damit konnte ich sie glücklich machen. Ich sah es an ihren Augen.
Sie fragte mich ob ich Schmerzen hätte. Sofort verfiel ich in halblautes Stöhnen. Mit meinen treuen, blauen Augen schaute ich sie an und bettelte um Schmerzmittel.
„Gleich kommt der Arzt und schaut es sich an“, meinte sie. Ich hoffte, das es nicht nur beim Schauen bliebe.
Lächelnd verschwand sie mit ihren Zetteln. Leider war es auch die letzte Angehörige aus dem Krankenhaus, die ich für längere Zeit gesehen hatte.
Die Sanitäter raschelten noch eine Weile mit Papieren herum und verabschiedeten sich dann von mir. Sie wünschten mir noch viel Glück. Ich wünschte ihnen einen ruhigen Tag und dachte dabei an die armen Schweine die heute auch Pech haben würden.
Mein Retter zwinkerte mir zu, und meinte tatsächlich:
„Och, ein paar Unfälle wären mir lieber. Geht der Tag schneller rum.“
Vermutlich stumpft diese Art der Arbeit, mit der Zeit, den Menschen doch ab.
Nun lag ich ganz alleine in dem fast leeren Raum. Meine Uhr zeigte viertel vor Zehn.
Nach zwanzig Minuten liegen und stöhnen, erschien ein junger Mann, den ich für einen Pfleger hielt. Für einen angehenden Arzt sah er ziemlich jung aus. Er befragte mich, wie alle anderen nach meinen Schmerzen, beruhigte mich, und verschwand mit der Bemerkung: “Gleich kommt der Arzt.“
Alle interessierten sich für meine Schmerzen. Aber keiner tat etwas dagegen. Vielleicht sollte ich lauter stöhnen.
Nach weiteren zwanzig Minuten erschien der junge Mann wieder um irgendwelche Tätigkeiten in dem Raum zu verrichten. Meine Frage, ob die Herren Ärzte denn bald mit ihrem Frühstück fertig wären, quittierte er mit einem Lächeln: „Gleich kommt jemand.“
Ich glaubte ihm kein Wort.
Entweder saßen alle bei einem leckeren Frühstück oder man versuchte verzweifelt den Arzt vom Golfplatz zu locken. Vermutlich war ein Beinbruch nichts, womit man einen Arzt von beiden weglocken konnte.
Normal denken konnte ich bei den Schmerzen zwar nicht mehr, aber der Gedanke an Frühstück setzte mir trotzdem alle Zahnbrücken unter Wasser. Ich hatte seit dem Aufstehen keinen Schluck Wasser bekommen, nichts gegessen und das Schlimmste, ich war auch noch nicht auf der Toilette gewesen.
Ich prüfte meinen Blasendruck und kam zu dem Entschluss es noch eine weitere Stunde aushalten zu können, höchstens. Den Pinkelwunsch notierte ich mir ganz oben auf meiner Prioritätenlisten, direkt unter den Schmerzmitteln.
Wiederum verging etliche Zeit in der ich versuchte immer lauter zu stöhnen. Es muss weit nach elf gewesen sein, als der junge Mann wieder lächelnd auftauchte. Ich hatte den bösen Wunsch ihm dieses Lächeln aus dem Gesicht zu wischen. Irgendwie. Am besten mit einer der herum liegenden größeren Gerätschaften.
„Dann wollen wir mal was gegen die Schmerzen tun.“ Sagte er zu mir.
Sein Lächeln war wie das eines Engels. Einfach entzückend.
Er hantierte mehrere Minuten herum. Es kam mir zumindest so lange vor. Jetzt konnte ich mich in einen Junkie versetzen, der vor seinem Schuss sitzt und warten muss bis die Suppe im Löffel am Kochen ist.
„Gleich wird ihnen schwindelig und sie werden eventuell etwas benommen sein“, erklärte er, bevor er mir einen Zugang in die Armbeuge legte. Wenn er wüsste, was ich alles für ein vernünftiges Schmerzmittel tun würde. Meine Seele oder meine Familie hätte ich in diesem Moment verkauft. Was ist da ein wenig Schwindel. Und benommen war ich seit dem Sturz sowieso.
Dann wurde mir schwindelig. Aber die Schmerzen waren wie weggeblasen. Wohlig schloss ich die Augen und fuhr Karussell.
Da mein Magen ja noch leer war konnte da nicht viel passieren. Nach einigen Minuten wurde ich sanft gerüttelt.
„Auf zum Röntgen“, meinte mein Dealer. Da man in diesem Zustand überall hin auf einer Liege gefahren wird, war mir das egal.
Ich sah viele Lichter über mir dahin gleiten. Leute standen in den Gängen und betrachteten mich. Mir war das alles egal. Das Zeug in meinen Kreislauf war gut. Ein echter Hammer. Auch das Klettern von der Liege auf den Röntgenstisch ging problemlos. Die gesamte Prozedur ist nur noch schemenhaft in meinem Gedächtnis verankert. Ähnlich musste sich ein Junkie direkt nach seinem Schuss fühlen.
Es war nach zwölf, als ich endlich in den Gipsraum geschoben wurde. Einen Arzt hatte ich, zumindest wissentlich, bisher nicht gesehen. Auch in dem Gipsraum ließ man mir die Zeit alles sehr genau zu betrachten. Nach einer weiteren halben Stunde erschien der Hausmeister in der Tür.
Klein, dick, unrasiert und in einem schmuddeligen Kittel.
Schon wollte ich mich aufrichten und fragen ob ich die Liege wegfahren müsste oder ob ich sonst im Weg wäre.
„Sie wissen ja, dass sie da einen ziemlich bösen Bruch fabriziert haben“, fährt mich der vermeintliche Hausmeister an.
Mein Hirn schaltete um von Hausmeister auf Chefarzt.
Mein Vertrauen hinkte allerdings noch hinterher.
„Beim nächsten Mal gebe ich mir mehr Mühe“, schoss es mir als erste mögliche Antwort durch den Kopf.
Aber da dieser Mann vermutlich an meinem Bein herumschnippeln würde, unterließ ich es ihn zu provozieren und nickte nur und gab ihm Recht.
„Das wird eine schwere, komplizierte Operation. Da müssen wir eine Platte mit Schrauben einsetzen. Schauen Sie hier.“ Mit diesen Worten hielt er mir einige blaue Röntgenbilder vor die Nase, auf denen ich so gut wie nichts erkennen konnte.
„Da haben Sie volle Arbeit geleistet. Das Wadenbein ist gebrochen, das Schienbein hat einen gedrehten Bruch und vom Sprunggelenk ist auch ein Stück abgesprungen. Sehen sie hier.“ Er zeigte irgendwo auf diesem Blau auf einen Punkt. Ich sah gar nichts und nickte.
„Heute ist der OP-Saal allerdings voll belegt. Das können wir erst am Montag machen. Wenn sie möchten können sie sich aber in ein anderes Krankenhaus verlegen lassen“, erklärte er mir.
Anderes Krankenhaus?
Mir fielen auf Anhieb nur Anstalten ein, die mindestens 100 km weiter weg waren. Bis ich da ankomme, ist mit Sicherheit Essig mit operieren und Feierabend. Es ist Freitagmittag. Und wer soll mich dort besuchen? So weit weg.
Ich spielte den großmütigen und bestand darauf, dass ich bleibe und dass ich hier operiert werde. Das schien ihm zu schmeicheln.
„Es geht wirklich erst am Montag. Einige Notfälle sind dazu gekommen. Aber eine OP am Montag ist auch sinnvoll bei ihnen, da bis dahin das Bein ein wenig abschwellen kann“, erklärte er mir nochmals.
„Ich habe damit kein Problem und würde gerne bis Montag warten“, log ich. Ich wurde nicht mal rot dabei. Das musste am Schmerzmittel liegen. Ich hätte sogar eine noch größere Schleimspur hinterlassen, nur damit ich endlich auf ein Zimmer und ins Bett käme. Aber davor haben die Götter bekannter Weise den Schmerz gesetzt.
Mit den Worten :
„Okay dann bis zur OP am Montag“, verabschiedete er sich von mir, die Röntgenbilder in der Hand.
Hinter ihm standen inzwischen mein männlicher Engel und meine Frau. Die gute hatte eine Riesen Reisetasche in der Hand und war kurz vor dem Weinen. Wollte sie mich verlassen? Oder sollte die Tasche etwa für mich sein. Das sah nach Wochen aus, aber nicht nach Tagen.
Ich hoffte nur, sie hatte meinen Diabetikerbedarf dabei und vor allem Ohrstöpsel. Ohne diese habe ich so meine Probleme mit dem Schlafen in Krankenhäusern.
Sie redete auf mich ein, ohne dass ich wirklich etwas verstand. Der angehende Nachwuchschirurg holte eine große Schere, nahm das linke Hosenbein und sah meine Frau fragend an.
„Bevor wir gipsen können, muss erst die Hose runter“, sagte er zu meiner Frau gewandt.
Die wiederum schaute mich an. Mir wurde mulmig und ich beeilte mich zu sagen, dass ich es schaffe die Hose auszuziehen. Die Schmerzen waren ja deutlich erträglicher geworden.
„Wäre schön wenn wir die Hose so retten könnten“, sagte meine Frau schnippisch. Gesagt getan. Ich flutschte innerhalb von 15 Sekunden aus der Hose.
Mein junger Pfleger schob anschließend meine Frau sanft beiseite und meinte: „Jetzt können wir jetzt gipsen damit es ruhig gestellt ist.“
Ich antwortete:“ Ich muss erstmal meine Blase leeren bevor gegipst wird.“
Kein Problem für ihn. Er hielt mir eine große Glasflasche hin.
Ich schluckte. „Hier? Jetzt?“ stammelte ich.
„Klar wo denn sonst. Mach mal.“
„Kann ich nicht! Wenn alle zugucken! Ist so schon schwierig genug“, versuchte ich mich zu rechtfertigen.
Für meinen Gipser war das kein Problem. Er verschwand zur Rauchpause und schloss die Edelstahlschiebetür bis auf einen winzigen Spalt, so dass ich die Stimmen dahinter noch vernehmen konnte. Ich fummelte an meinem Slip und schaute meine Frau an. „Und?“ fragte ich sie.
„Ja, mach mal“, sagte sie allen Ernstes zu mir.
„Nä, also bitte. Geh Du auch raus. Das klappt sonst nie“, versuchte ich sie zu überzeugen.
Als ich endlich alleine war, versuchte ich dann im Liegen das Wasser zu lassen. Ich war einfach zu aufgeregt oder die Wasserleitung hatte sich beim Sturz verbogen. Nichts klappte. Jetzt hätte ich einige der Entspannungsübungen gebrauchen können, vor die ich mich in der letzten Kur immer erfolgreich gedrückt habe.
Nach etlichen Minuten, die mir wie Stunden vorkamen, überlegte ich mir eine andere Strategie.
Im Liegen habe ich noch nie gepinkelt. Das heißt, als ich ein oder zwei Jahre alt gewesen bin, muss das wohl ganz gut geklappt haben. Vermutlich hatte ich es wieder verlernt.
Also musste ich es im Stehen versuchen. Ich rutschte langsam von der Liege, bis ich aufrecht saß und die Beine herunter baumelten. Leider war diese Stellung noch unbequemer. Sollte ich es wirklich riskieren? Ich rutschte ganz herunter und stellte mich auf das gesunde Bein. „Geht doch“, dachte ich mir. Jetzt nur nicht umfallen. Das wäre fatal.
Eine Hand an der Liege, damit ich nicht umfalle, die andere hielt die Pinkelflasche. Den kleinen Rest hing ich einfach in die Flasche hinein. Aber auch hier klappte nichts. Langsam verzweifelte ich.
Die Tür ging auf und meine Frau fragte: “ Fertig?“
„Aus, vorbei“, dachte ich mir. Die gesamte Konzentration war futsch. Und ich stand so kurz davor einen Tropfen raus zu quetschen.
“Bitte noch eine Minute“, quengelte ich.
Aber vergebene Liebesmühe. Nichts passierte mehr.
Vor Verzweiflung lief mir fast das Wasser aus den Augen. Wenn es geholfen hätte, ich würde es laufen lassen. Ich kontrollierte nochmals den Blasendruck und glaubte noch eine weitere Stunde zu ertragen. Bevor der Pfleger noch schimpfen würde, kletterte ich lieber schnell wieder auf die Liege.
Das Schmerzmittel war wirklich so gut, das alles ohne Probleme zu machen war.
Endlich erschien auch wieder der Stuckateur.
„Sie müssen sich auf den Bauch legen. Wir werden Sie jetzt ganz langsam drehen.“
Ich kam mir vor wie ein Walfisch auf dem Trockenen. Er hielt vorsichtig mein Bein und ich wälzte mich Stückchenweise herum.
„Und Sie können mir dabei helfen“, verpflichtete er auch schon meine Frau. Ein Pfleger, der auch an die Kostensenkung im Gesundheitswesen dachte. Die ließ natürlich die Tasche sofort fallen und war Feuer und Flamme. Da ich nicht mehr sehen konnte, was nun hinter mir geschah, schickte ich ein Stoßgebet zum Himmel und biss die Zähne zusammen.
Der Gips sollte von Vorne offen sein. Es sollte eine so genannte Gipshalbschale werden. Wenn der Gips erst hart ist, kann man diese Halbschale mittels Bandagen fest an das Bein fixieren. Das hat den Vorteil, dass man es abnehmen kann ohne die Flex einzusetzen. Außerdem konnte man bei der Rückbildung der Schwellungen die Bandagen anschließend wieder strammer wickeln. Ich war mit allem einverstanden.
Da ich ja jetzt auf dem Bauch lag, brauchte er also nur noch die einzelnen Gipsstreifen anfeuchten und mir auf das rückseitige Bein legen. Bevor er damit anfing, wurde aber noch eine Schutzgaze aufgelegt, damit ich keinen direkten Kontakt mit dem aggressiven Gips hatte.
Es ging alles ziemlich schnell und wie ich meine auch professionell von- statten. Ich hörte nur, wie er meiner Frau kurze Kommandos gab und das beide minutenlang beschäftigt waren, das nasse Zeug auf meinem Bein zu verteilen.
Was mich nur irritierte, war, das der Bruch am Unterschenkel war und der Gips inzwischen fast bis an die Unterhose reichte. Das wurde ja ein mordsmäßiges Ding.
„Erschrecken Sie nicht, aber gleich wird ihr Mann mich verfluchen und beschimpfen“, sagte er plötzlich zu meiner Frau.
„Das tut der doch nicht“ antwortete sie im Brustton der Überzeugung.
„Wir müssen jetzt den Fuß fixieren, bis der Gips hart geworden ist. Schließlich will ihr Mann sicher keinen Spitzfuß behalten“ erklärte er uns. „Bitte versuchen sie den Fuß soweit wie möglich nach innen zu drehen“, bat er mich dann.
Ich versuchte. Er half.
Er nahm den Fuß fest in beide Hände und drehte das Bein, in die ihm genehme Position. Das Gefühl das dabei entstand, konnte nicht schlimmer sein als der Versuch es ganz abzureißen.
Ich knirschte vernehmlich mit den Zähnen und griff beiderseits feste in die Liege. In Gedanken zerbrach ich die Edelstahlrohre der Liege mit Leichtigkeit. Das Knirschen war dann aber doch wohl eher mein Bein als der Edelstahl. Zwischen den zusammengebissenen Zähnen begann ich diesen Kurpfuscher zu verfluchen. Ihn und all seine späteren Nachkommen.
„Sehen sie, ich hatte Recht“, grinste er meine Frau an.
“Halten Sie durch. Nur ein paar Minuten bis das Zeugs hart geworden ist. Ohne Schmerzmittel könnte ich nicht einmal ihren Fuß anfassen. Das machen sie ganz gut. Nur Mut“, so quatschte er auf mich ein.
Vermutlich dachte er bereits daran, wenn ich ihn mit gesundem Bein zu fassen bekomme.
Da waren sie wieder, die Tränen der Schmerzen und die der Wut. Warum mir. Ich musste in vergangenen Leben ganze Völkerschaften abgeschlachtet haben, um in diesem solche Schmerzen ertragen zu müssen.
Aber irgendwann ging auch diese Qual vorüber. Dumm war nur, dass der Fuß jetzt in diese zuerst unbequeme Haltung fest zementiert war. Es verging einige Zeit, bis sich der Körper daran gewöhnte, der Schmerz nach und nach weniger wurde.
Ich schnaufte vernehmlich auf und wischte mir den Schweiß von der Stirn.
„Geht doch“ grinste mein Pfleger. Dann half er mir wieder beim Wälzen auf die Rückenlage. Dabei mussten die beiden den riesigen Gips mit vier Händen halten. In diesem Moment wünschte ich mir einen Kran. Aber auch das schaffte ich.
Nachdem mir der Gute Mann noch den restlichen Gips von meinem Fuß gewaschen hatte, begann er anschließend die Bandagen anzubringen.
„Das ganze nennt sich ein Jumbo“, klärte er uns auf.
Meine Frau hielt derweil den Gips in die Höhe. Er wickelte das ganze ziemlich stramm, aber es war nicht unangenehm. Jetzt, wo alles fest umwickelt und still gelegt war, beruhigten sich auch das aufgewühlte Fleisch und die zerfetzten Nerven.
„Dann fahren wir sie jetzt auf ihr Zimmer“ beendete der Meisterstuckateur die Prozedur. Der Vorteil im Krankenhaus wurde mir wieder bewusst, als sie mich auf der Liege bis ans Bett im vierten Stock gefahren hatten. Man musste nirgendwo wirklich zu Fuß hingehen.
Mich erwartete ein zwei Bett Zimmer, das bereits mit einem anderen Patienten belegt war. Als ich endlich von der Liege aufs Bett rutschen konnte, der Fuß eingegipst und die Schmerzmittel nochmals erneuert waren, schnaufte ich fast zufrieden auf.
Es war zwei Uhr und ich hatte bisher nichts getrunken oder gegessen. Ich war total geschafft. Meine Frau räumte mir die Sachen aus der Reisetasche in einen Spind und beschaffte mir sogar etwas Wasser. Endlich ein kühles Nass. Die Blase war mir in diesem Moment total egal. Gierig soff ich die ganze Flasche aus.
Meine Frau hatte sich dann irgendwann verabschiedet mit dem Versprechen bestimmt morgen wiederzukommen.
Mein Bettnachbar stellte sich als Manfred aus dem Nachbarort heraus. Er war Mitte sechzig und hatte bereits vor 10 Tagen eine Hüftgelenksoperation hinter sich.
Im Laufe des Nachmittags stellte sich dann auch die Stationsschwester vor. Sie war wohl um die Fünfzig, mager und höchstens 1,55 Meter groß. In ihrem faltigen Gesicht saß ein ziemlich mürrischer Mund.
„Isch bin de Schwäsdr Moniga“, begrüßte sie mich.
Das diese ersten Worte in breitestem sächsisch vorgetragen wurden, erschreckte mich weniger, als die Duftwolke die mir entgegen schlug. Es war eine Mischung aus Veilchenblüten und starken Tabakqualm. Erschreckt rutschte ich einige Zentimeter nach hinten als sie näher trat.
Mir fielen sofort die Zeilen aus einem „Spiegelzitat“ ein, in dem sächsisch als die unerotischste Mundart im Deutschen bezeichnet wurde. Ich konnte dem nur beipflichten. Aber man darf das wohl nicht so Ernst nehmen, denn sonst gäbe es das sächsische Volk schon lange nicht mehr.
„Und ich bin der Hörmi“, verriet ich ihr gleich meinen Spitznamen.
Fasziniert betrachtete ich dabei ihre nikotingelben Finger.
„Sie send Diabediggor?“ Das war mehr eine Feststellung als eine Frage. Ich konnte nur noch nicken.
„Und wälche Medigomente nähmen Se sonst noch?“
Ich zeigte auf den Stapel, den mir meine Frau auf dem Nachttisch gelegt hatte.
„Das nähm isch mo alles mid un schau es mo dursch. Danoch begommen se de Tobletten vom Grongnhaus. Ihor Insulin nähm isch ooch mit und läche es in den Gühlschrong. Isch schreibä ooch iberoll ihorn Nomen druff. “
Und rigoros strich sie bei diesen Worten den gesamten Plunder ein und rauschte davon. Das war das letzte Mal das ich meine Tabletten und das Insulin gesehen habe. Es verschwand wohl in irgendwelche Dealerkanäle des Krankenhauses.
Der restliche Nachmittag ist durch die Schmerzmittel nur noch verschwommen in meiner Erinnerung. Irgendwann dämmerte ich auch mal einige Minuten weg.
Als es um 17:00 Uhr endlich etwas zu essen gab, tauchte ich aus der Dämmerung wieder auf. Enttäuscht schaute ich auf die zwei mickrigen Scheiben Brot und den zwei noch kleineren Scheiben Wurst. Würde ich eine dieser Wurstscheiben gegen die Fensterscheibe werfen, hätte man meinen können, an dieser Scheibe gäbe es einen kleinen blinden Fleck. Diesen hätte man glatt mit dem Ärmel wegwischen können. Soviel zur Wurstscheibendicke. Dazu gab es einen Holundertee ohne Zucker. Mein Magen knurrte dazu recht ärgerlich, als er sich diese Bescherung ansah.
„Das ist die Diabetikerration. Neun Broteinheiten am Tag gibt’s im Krankenhaus. Da müssen sie sich dran gewöhnen“, meinte die Lehrschwester, die das Essen austeilte. Mein Kommentar, dass auf diesen Teller mal höchstens eine Broteinheit lag und keine neun nahm sie ungerührt zur Kenntnis.
Hätte ich doch nicht verraten, dass ich Diabetiker bin. Ganz oben auf meiner Liste der gewünschten Dinge notierte ich bereits für meine Frau am nächsten Tag ein Bündel Bananen. Die hielten sich einige Tage und machten satt.
Nachdem ich auch den Tee intus hatte, meldete sich mein Tagesproblem wieder, die Blase. Nach der Flasche Wasser und dem Tee weigerte sie sich vehement, noch weitere Flüssigkeit aufzunehmen. Also nochmals der Versuch mit der Flasche die rechts am Bett in einer Halterung hing. Aber obwohl der Bettnachbar keinen Versuch machte, mir was abzuschauen, sondern interessiert den Sportnachrichten folgte, gelang es mir nicht, mich so zu entspannen, das ich mir endlich Erleichterung verschaffen konnte.
Nach langen Minuten des vergeblichen Bemühens klingelte ich der Schwester und bat um ein paar Krücken. Diese wurden mir sogar recht schnell an das Bett gestellt. Jedes Bett hatte am Fußende eine Vorrichtung, an der man diese Krücken fest klicken konnte. Es waren einfache Besenhalterungen aus dem Bauhaus. Einfach aber Genial.
Als die Schwester das Zimmer verlassen hatte, bereitete ich mich auf das große Abenteuer geistig vor. In Gedanken ging ich mehrmals die vier Meter bis zur Toilette hin und her und merkte mir die strategisch wichtigen Punkte, die es zu umschiffen galt. Langsam schwang ich meinen Jumbogips aus dem Bett und senkte ihn nach unten.
Leichter Schwindel erfasste mich. Ruhig setzte ich mich einige Minuten auf die Bettkante und holte tief Luft. Danach ergriff ich die eingerasteten Krücken aus ihren Halterungen und schwang mich mit winzigen Schritten bis zur Toilettentür. Mit dem Ellebogen drückte ich diese auf und sah endlich das Ziel meiner Träume vor mir liegen. Die Toilettenschüssel. Nach einigen umständlichen Hantierungen mit der Tür und dem Klodeckel, sowie einigen tiefen Atemzügen konnte ich das ganze Übel endlich auslaufen lassen.
Nach zehn Stunden hatte ich es endlich geschafft. Ein neuer persönlicher Einhaltebestrekord. Als ich wieder mit einem seligen Lächeln im Bett lag, kam auch die Nachtschwester um noch nach unseren Wünschen zu fragen. Ich orderte nochmals einen großen Nachschlag Schmerzmittel, der mir auch gewährt wurde.
Nachdem ich mir auch noch zwei Ohrstopfen in die Gehörgänge gedreht hatte, weiß ich nicht mehr viel. Ich verfiel in einen komaähnlichen Schlaf bis zum anderen Morgen.
Leider beginnt der Morgen im Krankenhaus recht früh. Halb sechs war wecken. Um halb acht kam das voluminöse Frühstück von zwei Scheiben Brot und einer Ecke Käse. Garniert was das ganze mit einer Tasse lauwarmen Muckefuckkaffee a la Krankenhaus.
Anschließend die tägliche Reinigung der Stube, durch die chemisch geschulte Putzfrau. Diese Frau erzählte und fragte in zehn Minuten mehr als sämtliche Schwestern und Ärzte in den nächsten zwei Wochen. Und das jeden Morgen.
Danach gab es für eine halbe Stunde Krückengehverbot, wegen dem nassen Fußboden.
An diesem Morgen ging es mir schon recht gut. Die Schmerzen waren auf ein erträgliches Maß geschrumpft. Weitere Schmerzmittel lehnte ich erstmal ab. Gegen Mittag erschien nochmals der als Hausmeister verkleidete Chefarzt um den Gips zu begutachten.
„Toller Jumbogips, den sie da haben. Der muss bis zur OP erst mal dran bleiben“, meinte er.
Solange ich es schaffte damit auf die Toilette zu humpeln, war mir das egal. Zur weiteren Abschwellung verordnete er stündlich zu wechselnde Eisbeutel. Soviel Eis und keine Getränke waren in Sicht.
Gegen Nachmittag kam dann meine Frau zu Besuch, im Anhang meine halbe Familie. Mutter, Bruder und seine Frau.
Ich hatte den Geburtstag meiner Frau total vergessen. Anstatt zu Hause Kuchen zu mampfen, hatten sich alle entschlossen den armen Hörmi im Krankenhaus zu besuchen.
Ich war für die Abwechslung dankbar, meine Frau aber sauer, wegen dem ganzen Essen, das jetzt eingefroren werden musste. Na, dann gab es auch keine Hungersnot, während meiner Abwesenheit, meinte ich süffisant.
Bei den hiesigen Portionen würde ich wohl die Pfunde Kiloweise verlieren bis ich nach Hause durfte.
Die Mahlzeiten waren dann auch die absoluten Highlights des Tages, während des ganzen langweiligen Wochenendes.
Langweilig wurde aber der Bettnachbar nach der fünften Wiederholung seiner Kurerwartungen und der Geschichte der tollen Hüftgelenks OP.
Bereits nach wenigen Stunden kannte ich das halbe Leben von Manfred. Lange beschrieb er mir immer wieder, wo sein Kurort liegt, wie toll man dort kuren kann und wie er sich darauf freut, mit der neuen Hüfte endlich wieder zu laufen.
Leider wiederholte er diese Geschichte das ganze Wochenende, bis zum Erbrechen. Vermutlich werde ich die geistigen Bilder dieses Kurortes im Leben nicht mehr aus meinem Kopf bekommen. Nur gut, das er wenigstens zweimal am Tag von seiner Frau Besuch bekam, so dass ich jedes Mal Zeit hatte Luft zu holen und ein wenig zu dösen.
Ein weiteres Problem, ich getraue es kaum zu sagen, war mein Stuhlgang. Eigentlich mein nicht vorhandener. Ich hatte seit Donnertag nicht mehr den großen Gang auf der Toilette geschafft. Normalerweise ist der Morgen meine Zeit um das wichtigste Geschäft des Tages durchzuführen. Aber am Freitagmorgen war ich ja verhindert und am Samstag war vermutlich mein Magen noch zu geschockt um zu reagieren. Da ich gelernt habe die rigorosen Maßnahmen im Krankenhaus bei Null Stuhlgang über mehrere Tage zu fürchten, geriet ich langsam in Panik.
Ähnliches passierte mir vor einigen Monaten, als ich mit einer Nierenkolik eingeliefert wurde und das Röntgenbild einen vollen Darm anzeigte. Sofort tauchte jemand mit einer Magensonde auf, die man mir durch die Nase bis auf den Grund schieben wollte. Damals gelang es mir nur mit Mühe solches zu verhindern. Mit einem Jumbogipsbein könnte ich noch nicht einmal weglaufen. Dieses Risiko wollte ich nicht eingehen.
Also quälte ich mich jede Stunde einmal zur Toilette. Diese war mit einer Sitzerhöhung versehen, die wohl obligatorisch bei den Hüftoperierten war. Aber auch ich mit meinem Jumbogips konnte darauf besser Platz nehmen. Versucht mal mit einem steif, ausgestreckten Bein auf der Toilette zu sitzen. Es Bedarf schon einiger Übung alles ohne Krämpfe und Verrenkungen hinzubekommen.
Meinem Bettnachbarn war ein gesunder Stuhlgang gegeben. Und das mehrmals am Tag. Die Spuren seiner Gänge konnte man ohne Mühe an dem erhöhten Sitz erkennen. In Braun. Ich vermutete, dass im Nachbardorf der Abtritt noch im Außenbereich liegt und ohne Wasserspülung funktioniert. Anders konnte ich mir diese Sauerei nicht erklären.
Aber all die ganze Quälerei nutzte nichts. Ich fürchtete mich schon vor der morgendlichen Visite. Das erste des Tages war das Blutdruck messen, gefolgt vom Pulstasten. Das nächste aber war dann auch schon die gefürchtete Frage nach dem Stuhlgang.
Die Magensonde vor Augen klingelte ich nach der Schwester und bat um Hilfe. Diese wurde mir auch sofort gewährt.
„Ich läch Ihnen mo was uff de Doaledde. Fiohren Se 's nur glääch ein“, mit diesen Worten verschwand die Hexe.
Es konnte sich doch wohl nur um ein Zäpfchen handeln. Bei meinem letzten Krankenhausbesuch wegen einer Nierenkolik hatte mich ein freundlicher Pfleger mit diversen Einläufen und Zäpfchen dermaßen beglückt, das ich nicht umhin kam zu vermuten, dass er besondere Freude daran empfand. Der Mann war stockschwul. Aber egal. Er hatte seine Sache sehr gut gemacht. Ich konnte mich nicht beschweren. Ich gönnte ihm bei dieser Behandlung seinen Spaß dabei.
Ich quälte mich zur Toilette und besah mir die bereitgelegte Bescherung. Auf einem kleinen Hocker neben dem Waschtisch lag auf einem Tuch ein riesig wirkendes Zäpfchen, daneben ein kleiner Klecks Vaseline und ein Gummihandschuh. Ich erblasste.
Ich versuchte abzuschätzen was schlimmer sein könnte. Die Nikotinfinger an meinem Hintern oder die Verrenkungen mit dem Gipsbein bei der „Do-it-your-self“ Methode.
Fragt nicht, wie ich es geschafft habe. Mein Hirn verweigert bis heute die Erinnerung daran. Vermutlich hat das ja schon fast jeder einmal gemacht. Jetzt stellt euch das aber mal mit einem riesigen Gipsbein vor, das man aber auch nicht aufstellen durfte. Die Standfestigkeit war überhaupt nicht gegeben und bücken? Na ja.
Den Rest überlass ich Eurer Phantasie.
Leider ließ sich das Problem auch damit nicht lösen. Alle Bemühungen endeten mit Schweißausbrüchen und im Frust. Im Laufe des Sonntags ließ ich mir deswegen noch einmal Tropfen verabreichen, die die gewünschte Wirkung erzwingen sollten. Es dauerte dann noch bis Montagmorgen, bis das Großereignis eintrat. Mir fiel unter anderem ein Stein vom Herzen und diverses, anderes in den Topf.
Am Sonntagnachmittag erschien eine Schwester, um mich noch einmal in den Röntgenraum zu fahren. Man wollte eine Lungenaufnahme von mir haben, bevor man mich zur OP freigab.
Sie half mir in einen Rollstuhl, drückte mir die Krücken in die Hand und wollte losbrausen. Da der riesige Gips an meinem Bein verhinderte, dass ich mir eine Hose anziehen konnte, trug ich nur einen kleinen Slip.
Als meine sächsische Oberaufseherin das auf dem Flur bemerkte, stoppte sie sofort die ganze Operation. Wir mussten zurück fahren und mir wurde schamhaft eine Decke über die Beine gelegt. So den züchtigen Blicken der Schwestern und Patienten verborgen, durften wir dann passieren,
Da es Sonntag war, gab es auch keine großen Schlangen im Röntgensaal und ich wurde gleich zu dem großen Automaten hinein gefahren.
Die Röntgenschwester kam herein, nahm mir die Decke weg und bat mich auch mein T-Shirt auszuziehen.
Nachdem ich dieses mit einem Griff ausgezogen hatte, ergriff ich die Krücken und stemmte mich vor einen großen, viereckigen Kasten mit einer Glasscheibe davor. Die Schwester nahm mir die Krücken aus der Hand und ich umfasste den Rand dieses Kastens um nicht umzufallen. Mit der flachen Hand auf meinem Rücken drückte sie mir den Brustkasten gegen die Glasscheibe.
Nun ist mir von Natur eine recht flexible Pigmentierung der Haut gegeben, zumindest was das Auffangen von Sonnenstrahlen betrifft. Im zarten Alter von vier Jahren wurde ich von meinen Eltern einen Sommer lang dermaßen der Sonne im Schwimmbad ausgesetzt, dass weder meine Großmutter mit der Wurzelbürste oder gar der Hausarzt diese tiefe Schwärze aus meine Haut heraus bekommen haben. Diese blieb mir den Rest meines Lebens erhalten. Auch wenn sie im Winter leicht erblasste, so reichte es trotzdem noch, jedem einen mehrwöchigen Karibikurlaub vorzugaukeln. Bereits ein winziger Sonnenstrahl reichte aus, um wieder einer tiefe Bräune zu erzielen die jeden Südländer erblassen lies.
Die Frage, die dann also von der Röntgenschwester kam, hatte ich schon oft gehört:
„Wo waren sie denn im Urlaub?“
„Türkei, dieses Jahr in Kemer.“
„Waren sie lange da gewesen?“ legte sie nach.
„Leider nur zwei Wochen.“
„Sie sind sicher letzte Woche wieder gekommen“ stellte sie fest.
„Nein, ich war Anfang Mai dort gewesen.“
„Ist nicht wahr!“ staunte sie. „Das glaub ich nicht. Das wäre ja dann über vier Monate her?“ rechnete sie blitzschnell.
„Korrekt.“
„Sie wollen sagen, Sie waren vor über VIER Monaten für ZWEI Wochen in der Türkei gewesen und sind immer noch BRAUN wie ein Neger“, fasste sie alles zusammen.
„So ist es.“
Sie schüttelte mehrmals den Kopf und rief plötzlich:
„Wiiilmaaaaaa!!!“ Der Ruf erinnerte mich stark an Fred Feuerstein wenn er in Panik nach seiner Frau ruft.
Eine weitere Schwester in weißem Kittel erschien nach diesem Geschrei.
„Nun schau Dir diese Schweinerei hier an!“ kreischte die Erste und zeigte auf mich. „Stell Dir vor, der war im MAI im Urlaub für nur ZWEI WOCHEN! Und der ist IMMER noch BRAUN“, schrie sie weiter.
Ich drehte mich auf einem Bein grinsend halb zu ihnen herum, damit sie auch die Vorderseite bewundern konnten.
„Nääää, ehrlich?“ fragte die Zweite verwundert: „Das gibt es doch wohl nicht.“ Sie wollte es auch nicht glauben.
„Wissen Sie was uns der Urlaub in Mallorca gekostet hat? Und wir sind am Donnerstag zurückgekommen nach zwei Wochen Sonne anbeten und sind immer noch nicht richtig braun.“
„Sehen Sie sich das an“, kreischte wieder die Erste, stellte sich neben mich und schob bei geöffnetem Kittel ihre Bluse hoch und zeigte mir Ihren blassen Bauch. Die Zweite nicht faul folgte sofort ihrem Beispiel. Da standen zwei Krankenschwestern vor mir, mit nacktem blassen Bauch und glotzten mich wütend an.
Es fiel mir schwer nicht umzufallen.
„Tja, das weiß doch jeder, dass man in Mallorca nicht mehr braun werden kann. Einfach zuviel Touristen die einem die Sonne wegnehmen. Richtig braun wird man nur noch in der Türkei“, nahm ich sie hoch und konnte mir ein Grinsen einfach nicht mehr verkneifen.
„Der verscheißert uns doch“, meckerte Wilma.
„Nein, wirklich. Das hängt mit der Erdkrümmung, den einfallenden Sonnenstrahlen und der Anzahl der zu bräunenden Körper zusammen. Das Verhältnis ist in der Türkei einfach noch besser als auf Mallorca“, brachte ich noch halbwegs ohne stottern über die Lippen, bevor ich laut auflachen musste.
Sie meckerten noch eine Weile herum bis ich sie darauf hinwies, dass ich nur auf einem Bein stehen konnte.
Die Röntgenaufnahmen waren dann auch schnell gemacht. Anschließend wurde ich wieder mit dem Rollstuhl und dem breitesten Grinsen des ganzen Krankenhauses auf meine Station geschoben.
Das Wochenende ohne Schmerzen überlebt und den Morgen mit einem gesunden Stuhlgang gestartet, so erwartete ich meine OP am Montagmorgen.
Zuerst kam die morgendliche Visite.
Hier konnte ich zum ersten Mal unseren Stationsarzt begutachten. Er hatte den Allerweltsnamen Müller und ich schätzte ihn um die vierzig Jahre alt, groß und schlank mit kurzen hellen Haaren. Er wirkte sportlich, nett und kompetent. In seinem Gesicht saßen zwei sehr humorvolle Augen.
Anders sein Trabant. Es war der Stationsoberpfleger Herr Franz, den ich hier auch zum ersten Mal zu Gesicht bekam. Ebenso groß wie unser Stationsarzt Müller, aber mit einem deutlich hervorstehenden Bauch und einer so hohen Denkerstirn, dass sie bis zum Nacken reichte. Er war außerdem das Opfer einer ausgewachsenen Rüsselpest, sprich ihn lief permanent die Nase.
Bei dieser Visite kam es allerdings zu den ersten Ausfällen. Mein Bettnachbar, der zuerst visitiert wurde, wies den Stationsarzt auf seine Wunde an der Hüfte hin. Diese hatte über Nacht angefangen zu nässen. Ein kurzer Blick darauf und eine Reihe von Anweisungen wurden erteilt.
Davon war eine, dass ich sofort verlegt werden sollte. Erst im Nachhinein wurde mir die Bedeutung dieser Maßnahme erklärt. Man befürchtete eine bakterielle Entzündung und wollte damit eine Miniepidemie vermeiden.
Der Stationsarzt Müller machte Manfred klar, dass man alles noch einmal öffnen müsste, um sich die Wunde von innen anzusehen. Darum wäre es unumgänglich, dass er sofort in den OP-Saal muss.
Zumindest an diesem Morgen hatte Manfred die Arschkarte gezogen. Er war merklich blass um die Nase, als ich aus dem Zimmer gefahren wurde. Seine Kur für den Freitag konnte er wohl knicken. Warum sollte es auch immer nur mir schlecht gehen, dachte ich leichthin und genoss die Fahrt ins Nebenzimmer.
Hier erwartete mich ein Zweibettzimmer, das ebenfalls mit einem Kunden belegt war. Dieser war aber wohl noch nicht in den Genuss der hiesigen Spezialität gekommen: Hüftgelenks Erneuerungen.
Mein Hüftanwärter war Mitte vierzig und ziemlich groß. Ich schätzte ihn auf 1,85 oder 1,90 m. Er war etwas korpulent und hinkte beim Gehen eindeutig mit dem linken Bein.
Viel konnte ich an diesem Tag mit meinem neuen Bettnachbar nicht mehr erzählen, denn kurz darauf erschien auch wieder Dr. Müller mit dem Oberpfleger Franz.
Damit der Doktor mein Bein besichtigen konnte, musste der Oberpfleger meinen Jumbogips hochhalten und die Bandagen abwickeln. Unangenehm dabei war nur, dass der Herr Oberpfleger sich einen ausgewachsenen Schnupfen über das Wochenende zugezogen hatte. Seine Nase tropfte unaufhörlich auf meinen Gips. Auch durch Hochziehen und gelegentliches Abwischen konnte er den Nasenausfluss nicht in den Griff bekommen. Ich betete, dass ich mir diesen Nasentripper nicht auch noch zuzog.
Mit den Worten: “ Damit sie – schnief - auch was zu tun haben - schnief -. wickeln sie mal – schnief - wieder die Bandagen auf – tropf -“, drückte er mir die abgewickelten Bänder in die Hand.
Leicht angeekelt nahm ich diese Tätigkeit auf. Ich hoffte nur, dass dieses wandelnde Bazillenmutterschiff seine Bakterien unter Kontrolle hatte und nicht auf meine Bandagen übertragen hatte.
Der Stationsarzt war mit der Besichtigung meines Beines inzwischen fertig und gab die Anweisung mich für den OP fertig zu machen. Der Oberpfleger Franz erschien nach wenigen Augenblicken mit einem Einwegrasierer in der Hand und einem süffisanten Grinsen im Gesicht.
Ohne Wasser oder Schaum strich er über meinen Unterschenkel vom Knie bis zum Knöchel mit dem Einwegrasierer.
Er verweigerte allerdings die weitere Arbeit als ich ihm das andere Bein zwecks harmonischer Gleichberechtigung hinhielt. Ich musste also mit diesem kosmetischen Makel in den OP-Saal gefahren werden.
Die vorher verabreichte Knockout Spritze sorgte dafür, dass mir das ziemlich egal war. Außerdem sind auch die Erinnerungen an diese Prozedur und den Weg nach unten zum OP nur noch verschwommen vorhanden.
Eine Überraschung allerdings gab es noch im Vorraum zum OP. Die OP-Schwester war nämlich männlich und ein ehemaliger Nachbar.
Da ich ohne Brille auf meinem Bett lag, war das Erkennen ganz allein sein Verdienst. Als er meinen Namen auf dem Klemmbrett gelesen hatte und die Geschichte der Entstehung für diesen Bruch von mir gehört hatte, bekam er fast einen Lachanfall.
Ich weiß jedenfalls noch, dass wir die Zeit mit angenehmer Plauderei über unsere Häuser und deren Erbauung vor einigen Jahren verbrachten. Die Erzählung, dass er nach dem Wegzug aus unserer Straße ein altes Haus in einer anderen Stadt gekauft hatte, war das Letzte, was ich noch mit vollem Bewusstsein mitbekam.
Das Nächste war das langsame Auftauchen aus der Narkose im Aufwachraum. Ich schwebte auf diversen rosa Wölkchen, hatte keine Schmerzen aber irgendjemand versuchte mich wach zu bekommen. Verärgert schlug ich irgendwann die Augen auf und starrte böse die Schwester an, die mich sanft rüttelte.
„Dann können wir Sie ja nach oben bringen.“ begrüßte sie mich.
Den Rest des Tages verbrachte ich stark gedopt. Ich dämmerte immer wieder weg und kam erst am Dienstagmorgen wieder richtig zu mir.
An diesem Morgen konnte ich mich dann auch richtig mit meinem neuen Bettnachbarn bekannt machen. Bernd, so sein Name, war Kachelofenbauer und hatte mit dreizehn einen schweren Schlittenunfall gehabt. Durch die damalige, heute veraltete Operationstechnik, war im Laufe der Zeit sein Hüftgelenk total zermahlen und das Bein dadurch steif geworden. Man hatte sich entschlossen ihm trotz seiner noch jungen Jahre eine neue Hüfte zu verpassen. Die Operation sollte im Laufe des Tages durchgeführt werden.
Aus diesem Grund sprang er auch schon im Totenhemdchen und Netzhöschen herum. Er war schon ganz zappelig vor Aufregung.
Aber das sein Schwager in diesem Krankenhaus in der Küche als Koch arbeitete, dass erzählte er mir etwa drei oder viermal. Besonders die Geschichte, als er vor einigen Monaten zur Untersuchung hier war und er jeden Morgen sein Rührei mit Speck bekam, fand meine ungeteilte Aufmerksamkeit. Er und sein damaliger Bettnachbar ließen es sich eine Woche richtig gut gehen. Jeden Morgen Eier, Frikadellen, Würstchen und mittags extra große Portionen. Der Mann gefiel mir. Die Zukunft sah gleich viel rosiger aus.
Als Bernd endlich mit seinem Bett und einer Krankenschwester verschwand, hatte ich das Zimmer den ganzen Tag für mich alleine. Außer Verbandswechsel und stündlicher Kontrolle durch die Schwestern verging der Dienstag mit Dösen, Lesen und Fernsehen. Die einzigen Störungen waren das Telefon und mehrere Besucher, die alle nach Bernd fragten. Darunter auch der vermeintliche Küchenchef. Zumindest sah er ganz danach aus und roch auch entsprechend. Ihn informierte ich ganz besonders ausführlich und in wohlgesetzten Worten. Die anderen Vertröstete ich alle auf morgen.
Beim Verbandswechsel konnte ich das erste Mal die Operationsnarbe bewundern. Sie zog sich über den Innenknöchel des linken Fußes cirka 25 cm nach oben. Das ganze war mit etwa 8 eisernen Klammern getackert, die wie Krokodilzähne aussahen.
Da Diabetes die Wundheilung leider immer sehr verzögert, sollte ich mich auf eine lange Liegezeit einstellen.Von diesem Tage an wurde deshalb täglich nach der Wunde gesehen und auch immer frisch verbunden.
Als am Abend das heiß ersehnte Galadinner serviert wurde, bemerkte ich, dass mein Insulin Pen leer geworden war. Also bat ich die Oberaufseherin um eine weitere Ampulle meines Insulins, dass ja sicher im Kühlschrank deponiert war. Nach gut einer Stunde erschien sie mit der Ampulle einer total anderen Marke. Die hätte auch mit Gewalt nicht in meinen Pen gepasst. Als ich mich beschwerte, war ihr einziger Kommentar, das wäre das einzige war sie noch gefunden hätte im Kühlschrank.
Ich wies sie darauf hin, dass ich am Freitagnachmittag einen Vorrat für mindestens 4 Wochen in ihre Obhut gegeben hatte.
Es wäre trotzdem nichts mehr da und sie könnte schließlich nicht den Kühlschrank abschließen oder sich den ganzen Tag davor setzen.
Ich musste tatsächlich einen Aufstand machen und mit Nachdruck einen Arzt verlangen, bevor sich die Oberhexe auf den Weg machte, mir mein passendes Insulin zu besorgen.
Sie schaffte es tatsächlich noch vor dem Einschlafen.
Als Bernd aber auch am späten Abend noch nicht auftauchte, freute ich mich zumindest über eine Ohrstöpselfreie Nacht. Das war echter Luxus. Eine ganze Nacht ein Zimmer für mich alleine. Das war wohl die einzige, wirklich gute Nacht in den zwei Wochen, die ich dort verbringen durfte.
Aber auch am Mittwoch wurde es Nachmittag, als man mir meinen Küchenfreund wieder ins Zimmer rollte. Ihm ging es schon wieder ganz gut. Aus Vorsorge hatte man ihn so lange auf der Intensivstation behalten. Er durfte, im Gegensatz zu mir, auch bald danach wieder aufstehen und langsam mit einer Gehhilfe herum spazieren.
Mir wurde solches zwecks Abschwellung des Beines vorerst verboten. Meinen Jumbogips hatte man mir allerdings um mehr als die Hälfte gekürzt, so dass die Gänge zur Toilette leichter wurden. Trotz des Aufstehverbots ließ ich mir diese Gänge nicht nehmen. Für die Benutzung einer Bettpfanne hätte man mich betäuben und festschnallen müssen.
Von nun an begann für uns beiden die große Langeweile. Unterbrochen nur von den jeweiligen Mahlzeiten, an deren Größe ich mich inzwischen fast gewöhnt hatte.
Bernd war ein recht angenehmer Bettnachbar, solange er Besuch hatte. Da er nichts las, außer seiner Autozeitschrift, auch nicht gerne TV sah und sein Bettradio nicht funktionierte, war ich das Ziel seiner Erzählungen. Nach einigen Tagen kannte ich mich recht gut in seiner Familie, seiner Arbeit und seinen Hobbys aus.
Dumm war nur, dass er jedem, der in das Zimmer kam, von seiner Verbindung zum hiesigen Küchenchef erzählte. Egal, ob sein oder mein Besucher, egal ob Arzt oder Pfleger.
Also wartete die halbe Station gespannt auf das erste Frühstück. Meine Erwartungen waren durch seine ewigen Wiederholungen, der köstlichen Genüsse, bis ins Unendliche gesteigert.
Am Donnerstagmorgen sollte es endlich soweit sein. Ich entfernte den Deckel von meinem Frühstückstablett und sah genau das, was ich seit einer Woche jeden morgen entdeckte.
Fast nichts. Ein einzelnes Brötchen, eine winzige Scheibe Brot, kaum Margarine und eine winzige Scheibe Wurst. Dazu den echten Krankenhaus Kaffee mit kaum Milch und ohne Zucker.
Ganz anders sah es bei meinem Bettnachbarn aus. Ein lautes Aufseufzen ließ mich herumdrehen um zu sehen, welche Genüsse auf seinem Tablett garniert waren. Tatsächlich war eine große Schüssel mit Rührei und Schinken neben den trockenen Brötchen platziert.
Ich wünschte ihm einen guten Appetit und machte mich mit einigen Widerwillen an mein eigenes Frühstück.
Bernd verstand das gar nicht. Ich konnte ihn beschwichtigen, indem ich ihm vorlog, dass mir das doch überhaupt nichts ausmachen würde. Er solle es sich bloß gut schmecken lassen. Was er dann auch, zwar leicht verärgert, aber trotzdem mit gutem Appetit tat.
Es vergingen keine zwei Stunden als sein Schwager, der Koch, persönlich erschien. Nach einer kurzen Begrüßung fragte er nach dem Frühstück und wie es gemundet habe. Bernd konnte sich ja nicht beklagen, wies aber doch freundlicher weise darauf hin, dass mir doch das Herz geblutet habe.
Der Meisterkoch druckste ein wenig herum, kam dann aber doch damit heraus, dass vom Krankenhaus eine Endkontrolle vorgenommen wurde. Diese Endkontrolle bestand darin, dass eine Ernährungstante die leider mit allen entscheidenden Daten der Patienten versehen war, sich jedes Gericht ansah. Da ich als Diabetiker geführt wurde, kamen solche Genüsse auf meinen Tablett nicht ungeschoren an ihr vorbei.
Aus der Traum. Überwachung total.
„Aber keine Panik. Ich pack dem Bernd morgen die doppelte Portion aufs Tablett. Die könnt ihr euch dann teilen“, sagte er verschmitzt zu uns.
Ich atmete auf und hatte wieder Spaß am Leben gefunden.
Und tatsächlich sollten die Tage bis zu meiner Entlassung alle mit einem wirklich guten Frühstück beginnen. Was sich dann aber leider auch bei den Schwestern und Ärzten herum sprach. Der Herr Oberpfleger war sich sogar nicht zu schade, einen offiziellen Protest beim Stationsarzt anzubringen. Die einzige Reaktion des Arztes darauf war, dass er nun seine Visiten immer genau während unserer Frühstückszeit legte.
Entweder wollte er schon morgens wissen, was es mittags in der Kantine zu essen gab, oder wir sollten uns nicht an den zu heißen Eiern oder Würstchen verbrennen. Gefolgt wurde er immer vom Oberpfleger Franz oder der sächsischen Oberaufseherin, die uns jedes Mal mit mürrischem Gesicht betrachteten und blöde Kommentare abgaben. Franz meinte tatsächlich andere Patienten hätten sich bereits bei ihm beschwert, dass Bernd ein so üppiges Frühstück erhalten würde.
Hallo, der einzige andere Patient der davon wusste war ich. Und ich profitierte ja auch davon, hatte mich also nie beschwert.
Wie mir Bernd erzählte, war es auch den Krankenhausangehörigen erlaubt, sich solche leckeren Sachen aus der Küche bzw. Kantine zu besorgen. Nur mussten diese dafür bezahlen. Und wir bekamen es von ihnen auch noch umsonst bis ans Bett gebracht. Jetzt schmeckte es mir doppelt so gut.
Da der Stationsarzt Chirurg und kein Diabetologe war, kam er auch nie auf den Gedanken, dass dieses Essen mir eigentlich nicht erlaubt war. Ich widerstand auch mühelos dem Versuch ihn dahingehend aufzuklären.
Am Sonntag gab es Rinderbraten mit Burgundersoße und Kartoffeln. Die Beilage bestand wie üblich aus zerkochtem Gemüse ohne Geschmack. An diesem Wochenende hatte unser Herr Oberpfleger Dienst und brachte uns sogar die Tabletts an die Betten. Am Wochenende durften die Hilfsschülerinnen wegen ihrer Minderjährigkeit leider nicht arbeiten. Wenn es nach ihm gegangen wäre, hätte man die Kinderarbeit längst wieder eingeführt.
Mit dem üblichen missgelaunten Grunzen stellte er uns die Tabletts hin und wollte uns noch mit diversen Kommentaren unseren ruhigen Sonntag vermiesen.
Dann machte ich den Fehler, den Deckel von meinem Essen zu lüpfen, um ersten Blickkontakt mit diesem aufzunehmen. Der Oberpfleger Franz stand derweil vor meinem Bett, unterhielt sich mit dem Nachbarn und schielte aber dabei zu meinem Essen.
Mir fiel fast der Deckel aus der Hand.
Nicht nur, dass der Braten, der in der Soße schwamm fast überdimensional wirkte im Gegensatz zu den zwei Kartoffeln die daneben lagen.
Nein, es lagen auch noch zwei dieser immens großen Bratenstücke auf meinem Teller. Schnell ließ ich den Deckel wieder fallen.
Leider zu langsam. Dem Herrn Oberpfleger waren inzwischen die Augen fast aus den Höhlen gekrochen.
„Was ist denn das?“ stammelte er.
„Mein Essen!“ fiel mir nur als Kommentar ein.
Mit bösen Kommentaren auf der Zunge und Geschimpfe über die Krankenhausküche und deren Kontrollen, verließ er endlich das Zimmer.
Wir konnten uns mit einem breiten Grinsen über die Köstlichkeiten hermachen. Vermutlich hatte der Oberpfleger nur ein trockenes Brot von zu Hause mitbekommen.
Der Sonntag war auf diese Weise gerettet. Aber ich war gewarnt. Solange eine Schwester oder Arzt im Zimmer war, vermied ich es, schon mal unter den Deckel meines Essentabletts zu schauen. Vermutlich reichte der Oberpfleger jetzt eine schriftliche Beschwerde bei der Krankenhausverwaltung ein.
Jeden Morgen kurz nach dem Frühstück und der Visite tauchte der Chefkoch auf, fragte wie es uns geschmeckt hatte. Er wollte außerdem wissen, welche Wünsche wir für den nächsten Morgen hätten. Bei diesem Service konnte ich mich wirklich nicht beschweren. Wir orderten in den 10 Tagen die ganze Palette der Küche einmal durch. Von Rührei über Frikadellen bis zum Bratwürstchen. Der Morgen wurde das absolute Highlight des Tages.
Zunehmen konnte man dabei trotzdem nicht, da die restlichen Mahrzeiten eher karg bis frugal ausfielen.
Nachdem die Schmerzmittel des Nachts nicht mehr verabreicht wurden und mein Bettnachbar wieder im gleichen Zimmer schlafen durfte, wurden die Nächte langsam aber sicher zur Hölle.
Der Nachteil bei Hüftoperationen ist, dass die frisch operierten Patienten nur auf dem Rücken liegen dürfen. Die OP-Narbe befindet sich an der Seite und darf nicht belastet werden. Zwischen den Beinen erhalten sie meist einen 20 Kilo schweren Sandsack. Der soll verhindern, dass sie sich im Schlaf versehentlich umdrehen und sich dabei an der OP-Narbe verletzen. Das bewirkt allerdings auch, dass diese Patienten extrem schnarchen.
Ich hatte mal gelesen, dass der Geräuschpegel einer fahrenden Straßenbahn bei ca. 90-100 Dezibel liegt und wenn der Lärm länger andauert, auch zu Gehörschäden führen kann.
Das winzige Rachenzäpfchen von Bernd schlug die tonnenschwere Straßenbahn um Längen. Hätte mein Bett unter den Düsen eines startenden Urlauberjets gestanden, wäre der Lärm nicht wesentlich lauter gewesen.
Es hätte sogar einen klaren Vorteil gegeben. Nach dem Start wäre Ruhe eingekehrt. Ich aber musste mir diesen Lärm bis zum Morgen anhören.
Ich drehte mir verzweifelt die Wachspfropfen bis auf den Grund meiner Gehörgänge, zog dann die Kopfhörer meines Bettradios auf und drehte den Sender so laut es ging. Es half alles nichts.
Ich bettelte jeden Abend bei der Nachtschwester um eine Schlaftablette. Diese hatten allerdings nicht mehr Wirkung als ein Drink aus der Minibar. Also so gut wie keine.
Ich überredete sogar Bernd sich auch von der Nachtschwester eine Tablette geben zu lassen, damit ich mir die doppelte Ration genehmigen konnte.
Jeden Abend betete ich, dass ich zuerst einschlafe und möglichst lange durchhalte bevor mich der neben mir liegende Flughafen weckte. Aber die Ruhezeiten wurden immer kürzer. Am Ende schlief ich nur noch bis kurz vor zwei Uhr Morgens. Den Rest der Nacht lauschte ich dem Nachtprogramm im Radio und den Düsenjägern die durch den Raum donnerten.
Das alles war für sich genommen schlimm genug. Aber Bernd schaffte es, dem ganzen noch Krönung zu verpassen. Jeden Morgen wenn er aufgewacht war, bestand sein erster Satz in dem Kommentar:
„Hei Hörmi, war das wieder eine miese Nacht. Ich hab kein Auge zugemacht und lag die ganze Nacht wach.“
Wer zum Teufel ist dann die ganze Nacht mit dem Düsenjet geflogen, fragte ich mich.
Und tatsächlich, kurz nach dem Frühstück, wenn die neugierige Putzfrau durch war, drehte Bernd sein Kopfteil und die Augenlider nach unten, stellte sein Gaumensegel auf Sturm und nach ca. 2 Minuten warf er wieder die Motoren an.
Ich wurde langsam aber sicher wahnsinnig.
Unterbrechungen gab es dann nur beim Mittag und Abendessen, bei Besuchen, Strumpf- und Bettwäschewechsel.
Ich konnte es den Strafgefangenen nach empfinden, die mit Schlafentzug gefoltert wurden. Meine Bitte um Verlegung wären die Schwestern auch nachgekommen. Allerdings war die gesamte Station belegt mit Hüft-Patienten. Das heißt, die lagen alle auf dem Rücken.
Ich überlegte mir ob ich in der Entbindungsstation Asyl beantragen könnte. Kinderlungen sind zwar auch recht ausdauernd aber noch lange nicht so stark ausgeprägt, wie die von Bernd.
Am Montagmorgen hatte unsere Sachsenhexe wieder die Aufsicht und verteilte nach dem obligatorischen Blutdruckmessen und Fieberkontrolle die Tablettenrationen des Tages. Normalerweise erhalte ich morgens 4 Tabletten und für die Nacht nochmals eine. Alle diese Tabletten sind relativ klein und weiß. Irgendjemand oder irgendwas hatte unser Sachsengirl am Wochenende durcheinander gebracht. Was sie mir auf den Nachttisch stellte war ein glatter Mordversuch.
In jedem der kleinen Fächer der Tablettenschachtel befanden sich Mengen von weißen und bunten, großen und kleinen Tabletten.
Das Ganze sah aus wie eine gute Mischung von M&M’s für eine mittelgroße Party.
„Schwester Monica. Sie haben sich sicher vertan mit meinen Tabletten“, rief ich ihr hinterher.
„Isch verdu mich nie. Schlucken Se die Dingor“, war ihr Kommentar dazu.
„Wenn Sie sich also nie vertun, dann wollen sie mich also mit Absicht vergiften“, stellte ich fest. „Außerdem heiße ich nicht Manfred S.“ entzifferte ich außerdem das winzige Schildchen an der Tablettenschachtel.
Wie auf einem Besen geritten schoss sie heran. Sie hatte mir tatsächlich die Pillendose vom guten Manfred auf den Tisch gestellt. Der war nach seiner zweiten Operation noch nicht gut auf dem Damm und erhielt wegen der Infektionsgefahr starke Tabletten.
Kommentarlos tauschte sie die Schachteln aus und stellte mir mein gewohntes Quantum an Tabletten hin.
Dieser Vorfall bestärkte nicht gerade mein Vertrauen und meine Beziehung zum Krankenhauspersonal und im besonderes zu unserer Aufseherin.
Nachdem also das langweilige Wochenende und die anstrengenden Nächte am Montag geschafft waren, wurde ich zur Kontrolle nochmals in die Röntgenabteilung gefahren.
Chauffeurin war eine der neuen Schwesternschülerinnen, die meiner Meinung nach noch mindestens einige Jahre die Hauptschule besuchen müssten. Den Kittel den sie tragen musste, erinnerte mich fatal an die Kittel von Waisenkindern in den Kriegsjahren, wie man sie in alten Filmen gesehen hat. Einfaches blaues Muster und wie ein Sack an zwei schmalen Trägern über die Schultern hängend.
Sie war nicht nur so schnell mit dem Rollstuhl, dass sie bis zum Ausgang dreimal die Ecken mit meinem Gipsfuß gestreift hatte, sondern mich auch ohne Decke blitzschnell am Oberaufseher vorbei in den Aufzug geschoben hatte. Ich hatte nur ein T-Shirt und meinen kleinen obligatorischen Schlüpfer an. Das es im Krankenhaus angenehm warm war, fror ich ja nicht. Außerdem konnte von mir aus jeder meine braunen Stelzen bewundern.
Hinter den Aufzügen befindet sich der große Warteraum, voll gestellt mit Stuhlreihen und Getränkeautomaten. Man fühlt sich sofort in die Romantik der 60 Jahre zurückversetzt, als es noch große Bahnhofswarteräume gab.
Heute Morgen war der Bahnhof gerammelt voll
An der Stirnwand befindet sich eine große Glasscheibe mit einer kleinen Öffnung für die Anmeldungen. Neben dieser Anmeldung verläuft ein schmaler Gang, von dem die einzelnen Röntgenräume abzweigen.
Nach dem meine Hilfskraft meine Unterlagen bei der Anmeldung abgegeben hatte, stellte sie mich direkt daneben an die Wand ab.
Neben mir befand ebenfalls ein Patient in einem Rollstuhl. Wir beide starrten von unserer Position aus auf die besetzten Stuhlreihen, die wiederum zurück starrten. Mein Nachbar war älteren Datums und verfiel von Zeit zu Zeit in leichte Schwingungen. Er fing an zu zucken und zu nicken.
„Auch zum Röntgen?“ sprach ich ihn an.
Er zuckte nach vorne.
„Wir haben ja Logenplätze“, zwang ich ihm ein Gespräch auf.
Er zuckte nach hinten.
„Warten Sie schon lange?“ plauderte ich einfach weiter und tat, als wenn mein Nachbar in der Lage wäre normal zu antworten.
Er grinste die vorderen Stuhlreihen blöde an und zuckte.
Ich nahm mir daran ein Beispiel und grinste auch blöde. Vielleicht hielten uns ja die Leute für leicht debil. Ein sabbernder Alter und ein halb nackter Brauner. Es muss ein tolles Bild gewesen sein.
Aus dem verglasten Anmelderaum stürmte plötzlich eine Schwester heraus, eine Decke auf dem Arm. Kaum bei mir angekommen, breitete sie diese über meine Beine aus, mit den Worten:
„Wer hat sie denn so herunter geschickt?“
„Schwester Monika“, kam es über meine Lippen, bevor ich nachdenken konnte. „Aber mir ist nicht kalt“, setzte ich noch hinzu.
„Egal, man muss sie doch den Leuten hier nicht so zur Schau stellen.“
Ich war ihr direkt dankbar. Es gab doch noch Menschen in diesem Krankenhaus.
Sie verschwand in ihrem Glaskabuff um hektisch zu telefonieren. Vermutlich machte sie gerade die Oberhexe zur Sau. Leichte Schadenfreude durchströmte mich.
Nachdem ich mich dann noch eine weitere, halbe Stunde mit meinen Nachbarn etwas einseitig unterhalten hatte, kam ich endlich zum Röntgen. Das Röntgen selber war für mich inzwischen Routine.
Wilma und ihre Freundin konnte ich heute leider nicht entdecken. Was schade war, da ich ihnen gerne noch etwas über den Bräunungsfaktor der italienischen Sonne erzählt hätte.
Nach dem Röntgen erwischte mich allerdings die Rache der Obersächsin. Obwohl die Anmeldung mich dreimal als fertig auf meiner Station meldete, ließ mich meine sächsische Freundin über eine Stunde im Wartesaal sitzen. Da ich während dieser Zeit aber dem Schnarchen meines Bettnachbarn entronnen war, nahm ich das gelassen zu Kenntnis.
Jeden Nachmittag erhielt ich eine vom Dr. Müller verschriebene Lymphdrainage. Diese dient der Abführung von Gewebeflüssigkeit aus den oberen Hautschichten. Mein Bein sollte dadurch besser abschwellen.
Dabei wird die Haut am Bein sehr zart in Richtung Becken massiert. Die Massage fühlt sich an wie ein leichtes Streicheln und begann immer am Oberschenkel Richtung Leistengegend. Nach und nach wird die Massage dann nach unten verlagert bis sie an den Fußballen angelangt ist. Das Ganze war sehr angenehm und wurde am Anfang von einer älteren, sehr erfahrenen Dame durchgeführt. Es brachte nicht nur Abwechslung ins langweilige Krankenhausleben, sondern fühlte sich auch noch gut an.
An Montag erschien statt der älteren Dame allerdings ein Mann, den ich auf Anfang 30 schätzte. Da ich bei Massagen nicht auf das Geschlecht fixiert bin, nahm ich auch das mit Gleichmut hin.
Am Dienstag brachte dieser junge Mann allerdings zwei junge Leute mit zu der Massage. Einen Jungen und ein Mädel. Beide so um die 16 oder 17 Jahre alt. Er stellte sie als Praktikanten vor, denen er in den nächsten Tagen einiges aus seiner Praxis im Krankenhaus zeigen und erklären musste. Er fragte höflich, ob sie bei der ganzen Prozedur zugegen sein dürften. Dagegen war von meiner Seite nichts einzuwenden.
Während der Masseur die Bandagen von meinen Gips entfernte und ich diese wieder aufrollte, erklärte er den beiden jungen Leuten genau was er nun tat. Jeden Handgriff erläuterte er genau und beugte sich dabei auch so zur Seite, dass die hinter ihm stehenden Praktikanten alles ganz genau mitbekommen konnten.
Die allerdings unterhielten sich über ganz andere Sachen. Es schien den beiden um CDs und die nächste Fete zu gehen. Das taten sie aber nicht im Flüsterton, sondern so frech laut, dass wir auch alles mitbekamen.
Mein Masseur erhob nach einigen Minuten die Stimme um noch gehört zu werden und sah mich entschuldigend an. Ich grinste zurück.
Nach einer Weile gaben sich die beiden noch nicht mal mehr die Mühe Interesse zu heucheln, sondern stellten sich ans Fenster und schauten bei ihrem Palaver heraus.
Inzwischen war mein Masseur verstummt.
„Ihr wisst doch noch, wo die Frau Schneider liegt“, meinte er plötzlich zu den Beiden.
„Klar, waren wir ja jetzt dreimal gewesen“, sagte das Mädchen.
„Und ihr wisst ja auch, was wir immer mit ihr machen“, stellte er fest.
„Jau“, der Junge
„Dann geht doch schon mal zu Frau Schneider und beschäftigt euch mir ihr. Ich komme gleich nach sobald ich hier fertig bin.“
Die beiden verschwanden wie der Blitz.
„Ist das Ihr Ernst, die beiden auf unschuldige Patienten loszulassen?“ staunte ich ihn an.
Er winkte ab.
„Da können die nicht viel verkehrt machen. Das haben die schon oft gemacht.“
Die arme Frau. Entweder lag sie schon in Koma oder bereits in der Pathologie. Da ich bei dieser Katastrophe nicht mein Gewissen belasten wollte, unterließ ich weitere Fragen, schloss die Augen und genoss den Rest der ruhigen Massage.
Diese Massagen sind auch das Einzige, was ich vermisse seit ich aus dem Krankenhaus bin.
Gleich im Anschluss der Massage erschien die Krückentherapeutin. Diese junge Frau sollte mir das richtige Gehen an den Krücken beibringen. Sie stellte sich vor mein Bett, schaute dabei Bernd an, und meinte zu mir:
„Können wir?“
Das hatte mich beim ersten Mal etwas irritiert, bis ich bemerkte, dass die Gute fürchterlich schielt. Sie sah trotzdem jeden Fehler, den ich beim Krückenlaufen machte. Unerbittlich wies sie mich jedes Mal darauf hin.
Heute trainierten wir das Treppensteigen.
Sich nur auf Krücken mit einem Bein zu bewegen, kostet mehr Kraft als ich geglaubt habe. Das ganze Gewicht lastet auf den Schultern. Schon nach wenigen Metern hat man von der ungewohnten Haltung Kreuzschmerzen. Da half nur viel üben.
Als ich den langen Gang bis zum Treppenhaus sah, in dem wir üben wollten, fragte ich zuerst nach einem fahrbaren Untersatz. Ich hätte auch einen Rollstuhl genommen.
„Sie sind kräftig genug. Das schaffen sie“, baute sie mich auf.
Ihr Wort in Gottes Gehörgang. Ich schickte ein Stoßgebet zum Himmel und nahm Anlauf.
„Richtig schwingen mit dem anderen Bein“, wurde ich sofort ermahnt.
Ich schwang so gut ich konnte. Nach einigen Metern musste ich erstmal Pause machen. Nach cirka 5 Minuten hatten wir endlich das Treppenhaus erreicht.
Die Krücke musste ich in die linke Hand nehmen und auf gleiche Höhe wie das Standbein stellen. Die rechte Hand umfasste das Treppengeländer und der rechte Unterarm lag auf diesen feste auf. Rechts und links feste aufgestemmt und ein kleiner Sprung mit dem Bein. Schon war ich eine Stufe höher. Das klappte ja gut.
Wir exerzierten es auf jeder Stufe durch bis zum obersten Absatz, wo sich ein Aussichtsfenster befand. Da wir uns hier im fünften Stock befanden, hatte man von hier oben einen herrlichen Ausblick über die ganze Stadt. Ich durfte mich Ausruhen und eine Weile den Anblick genießen, derweil meine Therapeutin den Kopf zur Wand drehte und ebenfalls die Aussicht genoss.
Nachdem wir auf dieser Treppe einige Male geübt hatten, war ich in ihren Augen fit für zu Hause. Am liebsten hätte ich sie beim Wort genommen und wäre zum Ausgang gehumpelt.
Am Mittwochmorgen wurden mir endlich die Krokodilzähne aus dem Bein entfernt. Natürlich während des Frühstücks. Es musste dem Stationsarzt und besonders unserer Freundin eine besondere Freude gewesen sein unser opulentes Mahl zu stören. Achtmal hörte ich es in der Metallschüssel klappern, bevor ich einen neuen frischen Verband erhielt. Die Narbe hielt auch ohne Krokodilszähne. Die Entlassung rückte näher.
Da ich ja nun den Krückenfahrschein besaß, trieb mich das Schnarchen meines Bettnachbarn des Öfteren aus dem Zimmer. Auch der Stationsarzt hatte gegen diese Ausflüge nichts mehr einzuwenden, da die Schwellung des Beines deutlich zurückgegangen war.
Am Donnerstag bemerkte ich bei einem meiner Ausflüge seltsame Leute in grünen Lederjacken. Polizei saß auf dem Gang.
Die Vorgeschichte konnte ich am Morgen in der Zeitung lesen, die mir meine Frau jeden Tag mitbrachte.
Am gestrigen Abend lief, laut dem Zeitungsbericht, ein Mann um die siebzig in einer Mietswohnung der hiesigen Stadt Amok. Er war wohl mit der jährlichen Mieterhöhung gar nicht einverstanden. In dem Punkt war ich schon mal einig mit ihm.
Wutentbrannt rannte er wohl einen Stockwerk höher zu der jungen Besitzerin der Wohnanlage, klingelte Sturm und schlug diese beim öffnen der Tür mit einer Flasche nieder.
Nicht genug, ob dieser Gewalttat, rannte er wieder in seine Wohnung zurück und setzte diese in Brand.
Der Rauch wurde früh genug bemerkt und dann auch rasch gelöscht. Die Wohnung allerdings war ausgebrannt und die junge Frau musste ins Krankenhaus, mit einer Gehirnerschütterung und einer großen Platzwunde.
Die beiden Polizisten saßen vor dem Nebenzimmer, an dem ich bisher immer mit Verwunderung vorbeigehumpelt bin. An jedem Zimmer auf dieser Station standen die Namen der innen liegenden Patienten. Nur auf dem Schild dieses Zimmers hatte nie etwas gestanden.
Es stand zwar immer noch nichts auf diesem Schild, aber davor standen zwei Stühle, worauf die Polizisten saßen.
Einer von ihnen war hektisch mit einem Handy am telefonieren.
„Nein, einer Verlegung hat der Arzt nicht zugestimmt.
„Ja…..“
„Ja, der Haftbefehl wurde beantragt.“
„Nein….“
„Wir sollten ihn gleich bekommen.“
„Ja…“
So ging das eine Weile. Ich konnte gut mithören, da ich ja nur langsam mit den Krücken an den beiden Trachtenheinis vorbeikam.
Aber das es mit der Zeitungsgeschichte am Morgen zusammenhing. soviel reimte ich mir zusammen. Auf dem Nebenzimmer lag, entweder der Amokläufer oder die Wohnungsbesitzerin. Aber die wäre sicher nicht bewacht worden.
Ich machte also am Ende des Ganges kehrt, um Manfred ein wenig Angst zu machen.
Mit den Worten: „Sperr deine Habseligkeiten weg. Im Nebenzimmer werden jetzt Schwerverbrecher versorgt“ hatte ich seine volle Aufmerksamkeit. „Aber damit dir nichts passiert, haben sie eine schwere Stallwache davor gesetzt. Musst dir also keine Sorgen machen.“
Er wollte das gar nicht glauben, schnappte sich sein Laufgestell und ich hatte tatsächlich den ganzen Nachmittag Ruhe.
Besser er ging den Polizisten auf den Nerv mit seiner neugierigen Art als mir mit seinem Schnarchen.
Am nächsten Morgen war der Spuk auch schon wieder vorbei. Der Mann war in die nächste Kreisstadt verlegt worden. Er hatte wohl, größere Brandverletzungen bei seinen Eskapaden erlitten.
Endlich näherte sich das Ende meiner Krankenhauszeit. Seit Tagen löcherte ich den Stationsarzt mit einer genauen Terminzusage, wann ich denn nach Hause dürfte.
Da die Operationsnarbe immer noch nicht ganz verheilt war, musste ich versprechen, den täglichen Verbandswechsel beim Hausarzt machen zu lassen. Nichts leichter als dieses Versprechen. Versprechen kann sich schließlich jeder Mal.
Nachdem erst einmal das Wort Freitag gefallen war, erzählte ich natürlich dem ganzen Personal, das ich am Freitag entlassen würde. Das klopfte ich solange fest, bis dem Dr. Müller nichts anderes übrig blieb, als mir tatsächlich für Freitag die Entlassungspapiere fertig zu machen.
In der letzten Nacht hatte ich gar nicht mehr geschlafen, sondern nur noch dem donnernden Bernd zugehört.
Aber auch das ging einmal vorbei und ich durfte mir zum letzten Mal das gute Frühstück munden lassen. Bei der Visite jagte mir der Lümmel von Doktor noch einen Schreck ein, als er mich fragte, ob denn schon feststände wann ich nach Hause dürfte.
„Heute! Sagten Sie jedenfalls gestern“, brüllte ich ihn fast an. Er grinste nur.
„Dann bleibt mir wohl nichts anderes übrig, als Ihnen die Papiere fertig zu machen.“
Das wollte ich hören. Jetzt konnte ich den Rest vom Frühstück genießen. Gegen neun kam dann meine Frau und besorgte mir auf Rezept im Krankenhaus ein paar Krücken für zu Hause. An mein Insulin und meine abgegebenen Tabletten dachte ich leider nicht mehr. Aber die waren mit Sicherheit schon in den Drogenkanälen verschwunden.
Und wirklich gegen 10:00 Uhr hatte die Oberaufseherin meine Papiere in der Hand und winkte damit.
„Scheenen Daach noch. Se sind entlossn. Bidde räumen Se dos Bätt und dos Zimmor.“ raunzte sie.
Es hörte sich an wie: Du hast zwei Minuten Zeit die Stadt zu verlassen Fremder. Ich stand seit zwei Stunden fertig vor dem Bett, die Reisetasche in der Hand.
„Und wie soll ich bis zum Auto kommen?“ fragte ich verwundert.
„Se hamm doch Krüggn. Benutzn Se de doch“, meckerte sie.
Bis zum Aufzug und von da bis zum Ausgang waren es etliche Meter. Soweit war ich noch nie gehumpelt mit diesen Dingern. Mir brach der Schweiß aus.
Sollte ich auf diesen Teufelsdingern umfallen, konnte man mich gleich wieder in den OP schieben.
„Sie können meinen Mann doch nicht bis zum Auto auf Krücken humpeln lassen“ mischte sich jetzt empört meine Frau ein. Ich nickte dazu heftig.
Nachdem wir minutenlang auf sie eingeredet hatten, beauftragte sie die kleinste Lehrschwester mich mit dem ältesten Rollstuhl der Station nach unten zu bringen. Verschüchtert kam die Kleine in ihrem Waisenhauskittel herein, die mich schon zum Röntgen gebracht hatte.
„Abor nur bis zom Empfang“, schnauzte die Oberaufseherin in Richtung Waisenhausmädel. Die konnte nur nicken und sagte nichts.
Erst als wir im Aufzug waren, taute sie auf.
„Wo möchten Sie denn hin?“ fragte sie.
„Fahr mich bis nach draußen. Da steht eine Bank und meine Frau kann derweil das Auto holen“, bat ich sie.
Sie freute sich dem Oberkommando für einige Minuten entronnen zu sein.
Auf der Bank vor dem Krankenhaus wartete ich etwa 10 Minuten auf meine Frau, die sofort losgelaufen war das Auto holen.
In Gedanken nahm ich Abschied von diesem riesigen Kasten in meinem Rücken und all den seltsamen Leuten darin.
Während der restlich 9 Minuten und 50 Sekunden schimpfte ich auf die Krankenhausverwaltung, die es nicht fertig brachte, vernünftige Parkplätze in Gehweite zu bauen und genoss dann die Herbstsonne in meinem Gesicht.
Auf der Fahrt nach Hause sah ich mich regelrecht satt an den Herbstfarben der Wälder, dem blauen Himmel und dem geschäftigen Gewusel der Menschen, die unterwegs waren. Ich fühlte mich wieder voll im Leben.
Zu Hause angekommen, setzte ich mich zuerst auf die Bank, die wir vor dem Haus stehen haben. Erst dann bat ich meine Frau die Haustür zu öffnen und Odin heraus zu lassen.
Er sah mich staunend an, schnupperte dann an mir eine Weile herum, als könnte er nicht glauben was er da sah, nahm dann Anlauf und sprang auf mich. Wäre die Bank nicht mit der Rückseite gegen die Hauswand gestellt, er hätte uns beide umgeschmissen.
Die weitere Genesungszeit würde sicher noch sehr lange Zeit in Anspruch nehmen und viel Mühe kosten. Aber das konnte ich jetzt mit meiner Frau und Odin gemeinsam angehen.
Tag der Veröffentlichung: 26.10.2010
Alle Rechte vorbehalten