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Im August kamen mein Arbeitgeber und unser Betriebsarzt zu der Einsicht, dass ein fast blinder Buchhalter der Firma nicht sonderlich dienlich wäre. Sie entschlossen, mich los zu werden. Trotz meines noch jugendlichen Alters sollte ich die Frührente beantragen.
Notgedrungen sandte ich den Antrag zusammen mit einem Gutachten unseres Betriebsarztes an die BFA. In diesem Gutachten wurde klar dargelegt warum ich nicht mehr arbeiten kann. Verständlich, dass in Berlin all diejenigen misstrauisch beäugt werden, die versuchen die Abkürzung zum begehrten Rententopf zu nehmen. Ich erhielt also schon nach einigen Monaten die Aufforderung, meine dargelegte Arbeitsunfähigkeit bei zwei Ärzten in der nachbarlichen Kreisstadt unter Beweis zu stellen.
Die Untersuchungen, die an zwei auf einander folgenden Tagen gemacht wurden. brannten sich für immer in mein Gedächtnis und änderten meine Sichtweise über Ärzte und vor allem über meine Zukunft.


Mittwoch den 09.11.200X

6.30 Uhr - Mitten in der Nacht.
Ich zwinge mühsam meine verklebten Augen auf und schaue mit verschleiertem Blick auf die Radiouhr. Ganz langsam kommen meine Gedanken sowie meine Sehkraft in Schwung. Heute wird endlich meine langweilige Routine durchbrochen. Das Highlight der Woche, eine Untersuchung für die BFA steht auf dem Tagesprogramm. Ich bin gespannt, ob die beiden Ärzte genauso misstrauisch sind wie die Beamten bei der BFA. Zumindest werden sie versuchen, mir die Unsinnigkeit meines Antrages zu beweisen.
Ich bin jetzt einigermaßen wach und der nächste Gedanke gilt meinem Bein. Vor etwa 4 Wochen habe ich es mir gleich dreimal gebrochen und bin seitdem dazu verdonnert, mich einbeinig mit Hilfe zweier Krücken vorwärts zu bewegen. Vier Wochen gar nichts tun und zu nichts nütze zu sein ist schwer und vor allem langweilig. Schon jeder Toiletten- oder Duschgang ist eine riesige Abwechslung und erfordert eine Unmenge an vorausschauender Planung.
Also vorsichtig ein Bein aus dem Bett geschwungen bevor sich Odin, mein Hund, sich auf mich stürzt und ins Bad gehumpelt.
Nachdem ich fertig bin sitzt Odin vor der Tür und grinst mich erwartungsvoll an.

Wir humpeln also gemeinsam in die Küche, wobei ich höre wie meine Frau mit der Hand gegen die Türe meines Sohnes wummert und dabei etwas von Aufstehen brüllt.
Ach ja, fällt mir ein, er soll für mich heute den Fahrer machen.
Er hat zwar noch eine halbe Stunde Zeit, aber genauso lange benötigt er immer um sich anzuziehen. Und tatsächlich, Punkt sieben taucht er auf und schaut aus roten und müden Augen um sich. Ich habe meine Zweifel ob er mich erkennt.
Inzwischen habe ich meinen Kaffee getrunken, wobei mir einfällt, das ja nüchternes Erscheinen angesagt ist. Nervös versuche ich meinen Sohn in Richtung Ausgang zu dirigieren und schon nach cirka 15 Minuten sitzen wir im Auto.

Auf den Weg in die Kreisstadt, wo mein heutiger Arzt seine Praxis hat, brauche ich meinem Sohn nur zweimal den richtigen Weg weisen. Was soll er sich auch den komplizierten Weg merken, er hat ja einen erwachsenen Navigator neben sich. Auf Anhieb finden wir in der Altstadt die Straße und auch das Gemeindehaus, worin der Arzt seine Niederlassung hat.

Der Himmel meint es gut und schickt uns einen Parkplatz genau gegenüber der Praxis. Tatsächlich sind sogar mehrere Plätze frei. Das Schild, auf dem irgendetwas über eine Stunde Parkzeit für Anwohner angedeutet wird, übersehe ich geflissentlich.
Ich schwinge mich mit meinen Krücken über die Straße und anschließend drei Stufen hinauf, durch zwei Glasstüren hindurch, direkt an die Rezeption einer ziemlich großen Doppelpraxis. Beim erklimmen der Praxisstufen bemerke ich, das einer der Ärzte Kardiologe ist. Mein Instinkt schlägt sogleich Alarm. Herzspezialist? Ich habe Zucker und kann schlecht sehen. Was soll ich bei einem Pumpendoktor? Vermutlich weiß die BFA mal wieder mehr als ich.

Der Raum hinter der Rezeptionstheke ist so groß, das sich dahinter fast ein Dutzend Damen in weiß tummeln. Vor der Theke verläuft ein schmaler Flur der sich in der Ferne im Dunkeln verliert. Von ihm gehen rechts und links unglaublich viele schmale Türen ab.
Nach ausrufen der Tageszeit und meiner persönlichen Vorstellung erhalte ich ein großes Klemmbrett mit diversen Formularen inklusive einem Schreibstift.
Mit dem Klemmbrett zwischen den Zähnen und dem Stift hinter dem Ohr humple ich ins Wartezimmer, das überraschend voll ist. Der Raum ist vielleicht 40 qm groß und quadratisch. An den Wänden aneinander gereiht steht Stuhl neben Stuhl und fast jeder ist besetzt.
Nach einem raschen rundum Blick komme ich mir wieder richtig jung vor. Vermutlich wurde durch mein eindringen in diese Gruft das Durchschnittsalter um Jahrzehnte nach unten katapultiert. Alles ist vorhanden zwischen Dämmerzustand und Scheintod. So also sieht die Warteliste für eine Herz OP aus. Ich hoffe nur, dass hier nicht alle auf eine neue Pumpe warten. Soviel Autobahnunglücke gibt’s im ganzen Jahr nicht.

Nachdem ich umständlich einen freien Sitzplatz erklommen habe, erlebe ich den ersten Lichtblick des Tages. Mein Sohn hat nicht nur die Praxis sondern auch das Wartezimmer gefunden. Nuschelnd teilt er mir mit, dass er in die Oberstadt zum Frühstücken geht. Ich kann ihn nicht aufhalten und wünsche ihm deshalb viel Erfolg. Wenn auch nur einige wenige Patienten zwischendurch reanimiert werden müssen, kann das hier noch endlos dauern. Er kann sich also viel Zeit lassen.

Inzwischen versuche ich die von hoch bezahlten Spezialisten ausgetüftelten Fragen in den Formularen zu beantworten. Hätte ich die diversen Ordner über meinen Krankheitsverlauf mitgebracht, wären die Antworten kein Problem. So aber komme ich mir vor wie in einer Prüfung der Ärztekommission oder wie bei einer der vielen Quizsendungen.
Ich schreibe auf, woran ich mich erinnere. Das meiste vermutlich mit falschem Datum. Einen Teil habe ich wie üblich vergessen und den Rest erfinde ich einfach neu. Meist fallen mir die richtigen Antworten immer erst Stunden später ein.

Schon nach 45 Minuten werde ich aufgerufen und versuche mit den Krücken und dem Klemmbrett die Rezeption zu erreichen. Einer der noch rüstigen Zweibeiner hat endlich ein einsehen und trägt mir das Klemmbrett hinterher.
Die unter Mühen erstellten Formulare verschwinden kommentarlos hinter der Rezeption in einer dicken Mappe. Vermutlich schaut da kein Schwein mehr rein. Anschließend darf ich das Labor suchen.
Ich schaue auf die erste Tür und habe das zweite Mal Glück an diesem Tag. „Labor“ steht dort auf einem kleinen weißen Schild, direkt vor meiner Nase.
Die Tür öffne ich mit Hilfe meines Ellebogens und schwinge mich hinein. Der Raum ist schmal und lang, dafür aber hell, denn ein großes Fenster füllt die gesamte Stirnseite aus. Auf der linken Seite des Raumes sind zwei Plastikvorhänge die wohl noch einige Zellen abteilen sollen. Die rechte Seite ist mit einer Küchenzeile zugebaut. Mehrere Schwestern schwirren umher und beachten mich nicht. Eine kleine resolute Dame mit russischen Akzent bittet mich auf den Blutabnahme Stuhl und ich denke mir: Jetzt geht es los.
Als erstes aber nur mit Fragen!
Genau die habe ich bereits auf den Formularen beantwortet. Vermutlich hat der Arzt auch noch alle Antworten bereits als Unterlage von der BFA erhalten. Bestimmt ist dies schon Teil der Prüfung um das Erinnerungsvermögen zu testen.
Wie alt, wie groß, wie schwer.
Ich verkneife mir den Hinweis auf das von mir soeben ausgefüllte Formular und gebe trotzdem freundlich Auskunft. Alles wird fleißig in den Computer gehämmert. Da schaut sicher auch keine Sau mehr nach.
Nach Messen meines Blutdrucks, der unverständlicher Weise ganz schön hoch ist, darf ich das nette Zimmer wieder verlassen.

Ich weiß jetzt schon, dass ich diesen Stuhl wieder sehen werde. Nämlich bei der Blutabnahme. Aber davor haben die Götter den Arzt gesetzt.
Nach einer kleinen Wartezeit von knapp einer Stunde darf ich tatsächlich sein heiliges Büro betreten. Ein enger Schlauch erwartet mich. Auf der rechten Seite stehen riesige Apparaturen die eine Liege verdecken.
Geradeaus vor dem Fenster steht ein großer Schreibtisch. Der Raum ist so schmal, das der Schreibtisch nicht mehr quer hineingepasst hat sondern längs im Raum steht. Der Sessel dahinter benötigt soviel Platz, dass der Besucherstuhl vor dem Schreibtisch nur noch quer gestellt werden kann. Würde er korrekt davor stehen, müsste sich jeder Besucher vorher die Knie brechen lassen. Ich quetsche mich in den Raum und mit artistisch anmutenden Bewegungen setze ich mich auf den kleinen Besucherstuhl.
Und wieder denke ich: Jetzt geht’s los.
Leider wieder mit einer ausgiebigen Fragestunde.
Ich berichte also alles das, was ich auf den Formularen ausgefüllt habe (und was er als Unterlagen bereits vor sich liegen hat) noch einmal mündlich. Soweit ich mich noch erinnern kann. Unterbrochen werden wir dabei höchsten drei bis viermal vom Telefon und von panisch hereinstürzenden Schwestern.

Nach dieser etwas einseitigen Fragestunde folgt eine eingehende Untersuchung auf der Liege, die in diesem winzigen Zimmer zwischen Schreibtisch und einem Ultraschallapparat geklemmt ist. Er fragt zumindest höflich ob er mir bei der Erreichung derselben behilflich sein kann. Ich verkneife mir die Antwort, dass er mir bloß aus dem Weg gehen soll und murmele leise:
“Danke, geht schon.“
Nachdem ich mich einbeinig aus meinen Sachen heraus gequält habe, zwänge ich mich zwischen mehreren gefährlich aussehenden Apparaten auf die Liege. Genau jetzt muss der Herr Doktor natürlich mal woanders nachschauen.
Mit der Bemerkung, ich soll mich schon mal hinlegen, er komme gleich wieder, entschwindet mein Arzt. Was glaubt er, wie lange ich für das Hinlegen benötige? Vermutlich Stunden. Zumindest habe ich das Gefühl soviel Zeit wäre vergangen, als er endlich wieder im Zimmer erscheint.
Er beginnt die Untersuchung am Kopf, Hals und Brust. Er drückt, knetet und horcht durch seine Apparatur. Besondere Aufmerksamkeit widmet er natürlich der Herzgegend. Klar, er ist Kardiologe, denke ich bei mir.
Das Telefon klingelt. Das Gespräch dauert glücklicher weise nur 10 Minuten. Zwischenzeitlich haben sich zwei Sprechstundenhilfen eingefunden, die, nachdem sie mich 5 Minuten lang gemustert haben, mir freundlich zuzwinkern.
Nach weiteren zehn Minuten kann er sich meinem Körper wieder für eine Minute widmen. Er hat den Faden verloren und beschäftigt sich mit meinen Füssen. Was ist mit den Sachen zwischen der Pumpe und den Füssen? Vermutlich hat er mit Fortpflanzung und Verdauung nicht viel am Hut. Das eine funktioniert bei mir sowieso jeden Tag prima, und das andere wird nicht mehr benötigt.
Er schnalzt mit der Zunge, als er meine Füße sieht und schüttelt den Kopf.
Zwischendurch spricht er mit anderen Patienten ihre Tablettenliste am Telefon durch. Die Schwestern, die jetzt im Zimmer stehen, sind nicht so freundlich wie die letzten, bleiben aber dafür länger. Vermutlich hat sich herumgesprochen, dass bei Herrn Doktor ein blauäugiger Bär liegt. Ich hoffe, ich enttäusche niemanden.
Nachdem auch diese Schwestern abgefertigt sind und den Raum verlassen haben, fordert mich der Arzt auf, mich hinzustellen und Rumpfbeugen zu machen.
Erstaunt stelle ich fest, dass die Untersuchung auf der Liege sich wie von selbst erledigt hat. Für das bisschen hätte ich mir auf das T-Shirt hochschieben und den linken Socken ausziehen können.
Als ich endlich auf einem Bein vor ihm stehe und nach meinen Krücken frage, stellt er erstaunt fest, dass ich wohl einen Beinbruch habe. Seine misstrauische Frage, ob ich nur auf einem Bein stehen kann, muss ich leider bejahen.
Er schüttelt den Kopf und ist vermutlich bestürzt, dass ich seine Untersuchung auf diese Art und Weise boykottiere. Damit ist er gar nicht einverstanden.
Ich darf dann aber die folgenden Übungen im Sitzen machen. Das heißt, meine Hände auf dem Rücken und einmal im Nacken verschränken. Es gelingt mir tadellos. Das war’s. Habe ich bestanden? Zumindest soweit, das ich mich anziehen darf um wieder das Wartezimmer aufzusuchen.
Jetzt beginnt erst die wahre Untersuchung.
Herr Doktor hat sich eine ganze Liste Untersuchungen, oder soll ich besser sagen Folterungen, ausgedacht, die sein Labor, alle Maschinen und Räume sowie sämtliche Krankenschwestern für mindestens einen Tag beschäftigen.

Die Tour de Tortur kann beginnen.

Ich wusste es schon zu beginn, es fängt an mit der Blutabnahme.
Also wieder ins Labor und auf den Blutabnahmestuhl gehockt. Ich kenne mich ja inzwischen aus.
Die resolute kleine Dame aus den Weiten Sibiriens bittet mich unfreundlich eine Faust zu machen. Bei meinen Krallenhänden nicht ganz einfach. Sie schimpft laut da sie keine „Vänne“ finden kann.
„Nicht gutt“ meint sie.
Nach zweimaligem Probestechen findet sie trotzdem eine Ader zum ablassen. Wie üblich schaue ich erst gar nicht hin.
Ich zähle langsam die Röhrchen mit, die sich mit meinem kostbaren Blut füllen. Als ich langsam das Gefühl bekomme, in einem Vampirfilm die Hauptrolle zu spielen, hört mein russischer Blutsauger endlich auf. Vermutlich stammt sie doch aus den Kaparten. Ein riesiger Tupfer wird auf die Wunde gedrückt und mit breiten, besonders langen Klebestreifen kreuzartig fixiert. Im Geiste sehe ich beim abreißen sämtliche Armhaare an dem Pflaster kleben. Autsch.

„Bittä nähmen sie Tablett und Bächär und machen auf Toilette ein wänig Urin“ sagt sie zu mir.
In diesem Moment schließe ich die Schwester in mein Herz. Allerdings mehr auf die dunkle Seite. Wie zum Teufel soll ich mit zwei Krücken und dem Tablett auf die Toilette kommen?
Der Becher ist ein handelsüblicher Kaffeebecher aus dem Automaten ohne Deckel. Klasse, da schwappt mir der Mist auch noch über die Finger wenn er voll ist.
Ich versuche die Toilette ohne das Tablett zu erreichen, komme aber nur bis zur Tür, als mich Ihre Stimme erreicht.
„Bittä auch Bächär mitnähmän!!!“ ruft sie laut.
Ich kehre um, greife mit zwei Fingern den Becher und lasse das Tablett stehen.
Der Rest ist Routine. Pinkeln und Händewaschen geht auch. Aber was ist mit dem Becher? Ich lasse ihn auf dem Spülkasten stehen, betrete wieder das Labor und versuche meiner Herzensdame eine Lageskizze zu machen.
Eine weitere nette Dame aus dem Labor winkt allerdings ab und holt den halbvollen Becher mit der Frage:
„Das ist Ihrer?“. Na, geht doch!
Nach nur einer weiteren halben Stunde Pause nimmt mich mein Lieblingsvampir durch den langen engen Flur mit bis ganz nach hinten zur allerletzten Tür.
„Röntgen“ steht auf der Tür geschrieben.
„Bittä ausziehän!“
Das gelingt mir ohne Probleme in dem winzigen Raum, in dem sogar ein Hocker steht. Danach darf ich den Röntgenraum betreten und muss mich vor einen großen weißen Apparat stellen. Die Lunge soll es also sein. Das kenne ich bereits.
Ich stelle die Krücken an die Seite und umklammere den vor mir stehenden weißen Kasten. Sie drückt mir von hinten die Schultern gegen die Platte und nach nur 2 Minuten Luft anhalten ist auch das geschafft.
Ich darf im Kabuff nochmals Platz nehmen derweil meine Vampirette die Bilder begutachtet, ob ich auch keinen Fehler gemacht habe.
Sie taucht wieder auf mit der Frage:„Sie könnän stähen? Langä? Mit Händä nach obbän?“
Mir wird mulmig.
Ich sehe mich im Geiste auf einem Bein mit den Händen nach oben wie eine Ballerina stehen. Anstatt Schwanensee die sterbende Krückette.
Das schaff ich nie.
Ich murmele, dass ich wohl auf die Fresse fallen werde bei diesem Versuch.
„Muss röntgän Speiseröhrä“ meint resolut die kleine Dame.
Hä? Hab ich was verpasst? Wieso meine Speiseröhre? Ich habe damit absolut keine beschwerden. Mir schmeckt alles und schlucken kann ich eine ganze Menge.
Wieso lässt die BFA mich nur an den Körperteilen untersuchen die gesund sind? Vermutlich muss ich das nicht verstehen. Das fällt sicher unter Politik und die versteht kein normal Sterblicher.
Ich humple wieder vor die Apparatur und sie nimmt mir rigoros die Krücken weg. Schnell halte ich mich an dem weißen Kasten für die Lungen-Aufnahmen fest.
„Händä hoch!“ fährt sie mich an.
Ich drücke mich mit der Schulter gegen den Kasten und es geht. Ich falle nicht um. Na also.
„Ich muss gäbän Kontrastmittäl. Sie haltän in Mund bis ich saggä schluckän.
Wänn sie schluckän ich machä Aufnahmä. Wänn sie schluckän vorhär, wir wiedärhollän Prozädur bis klappt.“
Ich bin in der Hölle.
Nun verstehe ich auch weshalb sie vor mir stehend, die ganze Zeit mit einem großen Löffel in einem Kaffeepappbecher rumrührt. Sieht genauso aus wie mein Urin Becher.
„Ich gäbän jätzt Kontrastmittäl!“ warnt sie mich vor.
Sie nimmt einen Löffel voll von einem weißen Brei und versucht ihn mir zwischen die Lippen zu quetschen. Und ich Trottel dachte, ich darf selber aus dem Becher trinken.
„Machän sie ändlich Mund auf!!!“ schreit sie mich an.
Ich klappe vor Schrecken die Luke auf und sie kippt einen Teil der Brühe hinein und den großen Rest über meine Brust. Das ganze wiederholt sich noch dreimal.
Ich bin versucht den ganzen Mist runter zu schlucken während mir das Zeugs langsam über die Brust auf die Hose läuft. Aber ich beherrsche mich tapfer.
Endlich hat sie vom füttern genug und verschwindet mit den Worten
„Luft anhaltän!“.
Kurz bevor die Türe endgültig zuschlägt höre ich sie noch rufen „Schluckääään!!!“.
Erschrocken würge ich den ganzen Brei hinunter. Das ganze schmeckt ein wenig nach Vanille, macht aber nicht satt.
Ich darf mir danach sogar an einem Miniwaschbecken die Brust waschen und wieder im Kabuff warten. Natürlich gibt’s keine Seife oder Handtücher. Wir sind ja nicht im Ritz.
Nach ungefähr 5 Vater Unser endlich die erlösenden Worte:
„Okai, färtig. Sie könnän gähän!“.
Noch nie fühlte ich mich so leicht und frei.

Mein herrlich voller Warteraum mit den wahnsinnig netten alten Leuten erwartet mich. Die Gespräche drehen sich um Herztabletten, Herzschrittmacher und deren Inspektionen.
Eine alte Dame wird von einem jungen, hübschen und gut gebauten Mädchen, so um die 20 herein, geführt. Sie trägt einen engen weißen Pullover und eine lange, knapp sitzende braune Hose, die sehr schön mit ihrem braunen Haar und den braunen Augen harmoniert.
Endlich mal was fürs Auge.
Wäre mein Sohn nicht zum Frühstücken würde er jetzt anfangen zu sabbern. Genau seine Modelklasse. Die Kleine, sie ist mindestens 1,78 m, führt ihre Großmutter liebevoll auf einen Stuhl und kümmert sich rührend um sie.
Nach einem scharfen Blick, den sie einmal rund durch das Zimmer kreisen lässt, fragt sie mit angenehm samtener Stimme:
„Hat vielleicht jemand hier eine Zigarette, ne Kippe?“.
Welch ordinäre Worte aus diesem hübschen Mund.
Sie erntet mit ihrer Frage nur erstaunte Blicke. Kein Wunder. Das erste was diesen Herzpatienten vor ihren Operationen weggenommen wurde, waren garantiert die Zigaretten. Als keiner antwortet, fühle wenigstens ich mich dazu verpflichtet sie darauf hinzuweisen, dass sie in meinem Fall leider 30 Jahre zu spät fragt.
Sie fasst es nicht, schaut sich noch einmal mit einem Suchtblick im Raum um und murmelt
„Au Mann! 30 Jahre!“

Kurz darauf werde ich zum Hürdenlauf gebeten.
Hürdenlauf deshalb, weil die nächste Untersuchung in einem Raum stattfindet, der eine Ebene höher liegt, als der Rest der Praxis.
Fünf Stufen, die außerdem noch unterschiedlich hoch und ohne Geländer sind, führen dahin.
Ich zeige wie geschickt ich im springen auf Treppen bin und komme natürlich ins stolpern. Das fehlt mir noch, dass ich mir hier noch mehr Knochen breche.
Ich fange mich soeben und höre hinter mir die Schwester aufstöhnen. Wenigstens eine die sich Sorgen um mich macht. Oder macht sie sich Sorgen um ihren Job?
In dem kleinen, rechteckigen Raum, den man über diese mörderische Treppe erreicht, darf ich mich neben einem Lungentestapparat setzen. Mir wird ein großes Rohr vor das Gesicht gehalten. Lungenfunktionstest tippe ich!
Die Schwester gibt mir Recht. Dieses voluminöse Rohr soll ich feste mit meinen Lippen umschließen Mein Mund ist gerade große genug dafür. Ob sie auch etwas für kleine Futterluken haben? Ich puste und atme nach Anweisung während die kleine Schwester auf Ihren Monitor starrt.
„Nun werden sie einen Luftdruck spüren. Der ist aber gewollt und soll sie nicht erschrecken. Atmen sie einfach normal weiter.“
Früher musste man für den Lungenfunktionstest Ballons zum platzen bringen. Das scheint hier die Hightech-Variante zu sein.
Der Apparat fängt an Luftwellen in meinen Hals zu schießen. Tut zwar nicht weh ist aber auch nicht gerade angenehm. Etwa so, als hätte die Herzensdame bei einer heftigen Knutscherei plötzlich etwas Wichtiges zu erzählen und versucht dabei laut zu sprechen. Zwischendurch macht mir die Kleine Mut.
„Wollen doch mal sehen, dass wir Sie hier schnell durchschleusen mit den ganzen Tests.“
Dieser Test war auf jeden Fall schnell und tat gar nicht weh.
Auf meine Frage, wie meine Lunge denn abgeschnitten hat, erhalte ich zumindest für diesen Tag meine dritte gute Antwort. „Überdurchschnittlich gut!“ sagt sie.
Genau für diese Antwort habe ich seit 30 Jahren nicht mehr geraucht.
Beim verlassen des Testgeländes stolpere ich wieder über die unterschiedlich hohen Stufen und falle einer anderen Schwester in den Arm.
Das war knapp. Sie führt mich hilfreich wieder in den Wartesaal.
Die kleine Suchtkranke mit der klasse Figur hat anscheinend ein Opfer gefunden und ist zum Qualmen vor die Türe gegangen. Inzwischen ist auch mein Sohn wieder aufgetaucht, sabbernder Weise. Ist mir klar, er hat sie vor der Türe gesehen. Er beweist mir, dass er noch lebt und verschwindet wieder.

Der nächste Test erwartet mich wieder im Labor.
Dieses Mal muss ich in die erste kleine Zelle, die hinter einem Plastikvorhang versteckt liegt. Dahinter befindet sich eine Liege, ein großer weißer EKG-Apparat und eine nette ältere Dame. Sie lächelt mich an und bittet mich auf die Liege. Vorher allerdings habe ich meinen Oberkörper freizumachen.
„Fertig!“ rufe ich und lege mich auf den Rücken.
Sie schreckt über ihren Apparat zusammen und ist erstaunt, dass ich bereits mit Ausziehen fertig bin.
Sie weiß nicht wie schnell ich darin wirklich sein kann.
Ich erkläre ihr, dass ich bei Arztbesuchen immer leicht abzulegende Kleidung trage und verrate ihr natürlich nicht die anderen Gelegenheiten.
Sie nähert sich mir wie ein Oktopus, nämlich mit dutzenden von Saugnäpfen in der Hand. Diese sehen kalt und eklig aus. Nachdenklich betrachtet sie meinen behaarten Oberkörper.
„Naturpullover“, bemerke ich, “Selbst gezüchtet und nachwachsend.“
Sie befestigt einige der Saugnäpfe an meiner unbehaarten Seite und meint schließlich: „Wir versuchen mal ob es hält. Eigentlich müsste ich mindestens drei Stellen hier oben rasieren.“
Sie deutet dabei auf meine Brust.
Heißer Schreck durchfährt mich. Ich sehe mich im Schwimmbad mit drei kreisrunden Ausschnitten in meinem Pullover herum stolzieren. Das sieht sicher aus als hätte ich die Motten oder als wären das Einschüsse.
Sie beruhigt mich. Vermutlich hat sie den Wechsel meiner Gesichtsfarbe bemerkt.
Sie klebt die Dinger auf meine Brust und erklärt mir dabei, dass es sich bei diesem Vorgang um ein EKG handelt. Endlich mal ein vernünftiger Test, bei dem ich nur liegen und atmen muss. Auch Sie fragt mich nach der Belastungsmöglichkeit meines gebrochenen Beines.
Da diese bei Null liegt entfällt also ein Belastung EKG auf dem Ergometer. Dafür murmelt sie etwas von einem 24 Stunden EKG. Mein Herz ist okay, bin ich versucht zu rufen. Aber was weiß ich schon. Wenn die lange genug herum suchen, finden sie auch etwas das kaputt ist.
Mit einem leisen –plopp- entfernt sie die ekligen Saugnäpfe und meint:
„Fertig!“
Ich darf die zweite kleine Zelle aufsuchen, die auch mit einem Plastikvorhang abgetrennt ist. Dahinter sind ebenfalls eine Liege und ein Stuhl verborgen. Ich muss mir nur die Hosenbeine aufkrempeln und die Arme freimachen bevor ich mich hinlegen darf. Es sollen meine Hauptschlagadern getestet werden auf Ablagerungen und Durchflussgeschwindigkeit.
Hört sich toll an.
Auf die Frage, ob solches bereits einmal gemacht wurde, schüttele ich beschämt den Kopf. Ich weiß nur nicht warum ich mich schäme. Ich hätte dieses sicher mal von meinem Hausarzt verlangen sollen. So werden Schuldgefühle erzeugt.
Die Schwester verschwindet mit der Bemerkung, in ein paar Minuten wieder zu kommen. Bis dahin, ertönt dann der bekannte Satz, soll ich mich hinlegen. Wie gehabt lege ich mich in den nächsten 5 Sekunden auf die Liege und warte.
Nur durch den Plastikvorhang vom Labor getrennt bekomme ich alle Geräusche und Gespräche mit. Der Blutentnahmestuhl ist anscheinend auch der Befragungs- oder wie ich ihn nenne, der heiße Stuhl.
Das Verhör wird von meiner kleinen Freundin aus Russland vorgenommen. Ihre Ausbildung in Befragungstechnik hat sie vermutlich beim KGB mit Bravour gemacht.
Da ich Zeit und Muße habe schließe ich die Augen und lausche den Verhören. Es läuft immer nach dem gleichen Schema ab. Katharina die Schreckliche stellt ihre Fragen und hämmert anschließend die Antworten in einen Computer.
„Namä“
„Altär“
„Größä“
„Gäwicht“
„Warum Sie gekommän“
Die einem netten Gespräch dienenden nützlichen Floskeln und Fragen wie nach dem Wetter oder der Gesundheit entfallen hierbei völlig.
Die Patienten geben eingeschüchtert und rückhaltlos sofort Antwort.
Die ersten Patienten sind alles ältere Damen, bei deren Größe und Gewichtsangaben ich jedes Mal zusammen zucke. Meine Phantasie weigert sich dabei gedankliche Bilder zu produzieren. Die meisten Patienten kommen zur Inspektion ihres Herzschrittmachers.
Langsam drifte ich mit meinen Gedanken ab und höre das Frage und Antwortspiel nur noch im Hintergrund. Plötzlich lässt sich ein Mann auf den heißen Stuhl nieder. Katharina schaltet nun zwei Gangarten höher da er ihr anscheinend unsympathisch ist.
Nach den üblichen allgemeinen Auskünften, die bereitwillig gegeben werden, kommt die Frage nach dem Grund der ärztlichen Belästigung. „Herzschrittmacherinspektion“ murmelt verschüchtert der Aspirant.
Sie gibt sich damit noch nicht zufrieden.
„Habän sie gägäbän Schein für Untärsuchung vornä?“
„Nein, den hab ich hier.“ War die kleinlaute Antwort.
„Den sie müssän immärrr vorrhärrrr abgeben, vornä!!!“
Die Antwort: „Das wusste ich nicht. Hat mir keiner gesagt.“ Lässt sie auf keinen Fall gelten. Sie schimpft und murmelt einiges auf russisch oder so vor sich hin.
„Ärmäl hoch für Blutdruck mässän!“ fährt sie ihn an.
Ich hör Kleidergeraschel das ziemlich lange anhält. Das klimpern des Blutdruckmessgerätes klingt ziemlich nervös.
Es raschelt immer noch. Jetzt bekommt er seinen Anschiss:
„Ich Ihnän mal sagän muss, wänn sie kommän bei Arzt, sie gäbän Schein vornä ab.
Sie ziehän an leichtä Kleidung, die gäht schnäll aus.
Verstandän?“
Das hat gesessen. Die Antwort ist kaum zu verstehen. Vermutlich läuft sein Herzschrittmacher gerade heiß. Ich warte auf den Knall mit dem sein Körper auf den Boden aufschlägt aber stattdessen wird die Plastikplane mit einem Ruck zur Seite geschoben und meine Wärterin erscheint wieder.

Sie bindet mir zuerst einen Arm ab und schmiert mir Kleister in die Armbeuge.
Mit einem Sonarkopf fährt sie dann darauf herum und schaltet dabei einen Lautsprecher an. Nach einer Weile ertönt ein lautes Wuuschschsch.
„ Das ist ihr Blut das dort fließt“ sagt sie zu mir.
Hört sich doch gesund an.
Das gleiche geschieht mit dem anderen Arm und beiden Beinen. Das Abbinden des linken gebrochenen Beines ist nicht so schlimm wie ich erwartet habe.
An allen Stellen ertönt das laute Wuuschschsch. Die Stärke und Geschwindigkeit des Blutflusses wird genau auf einem langen Streifen Papier festgehalten.
Sie reißt den Streifen ab ohne hinzusehen und klebt ihn in meine Akte. Mit einem winzigen Papiertuch in der Größe meiner Handfläche darf ich geschätzte 2 Liter Kleister von meinen Extremitäten wischen. Natürlich gelingt mir damit nur eine bessere Verteilung.

Beim Betreten des Warteraumes fällt mir wieder der große Trinkwasserbehälter auf, der mitten an der Längswand zwischen den Stühlen steht. Da es bereits nach 12 Uhr mittags ist und ich langsam aber sicher Hunger und Durst bekomme, lacht mich das Teil nett an. Der Stuhl daneben ist frei. Schon habe ich ihn geentert und besetzt.
Das Gerät hat einen Teil, der die Becher enthält. Die Becher laufen unten spitz zu damit man sie nicht hinstellen kann. Klasse Erfindung. Einen Papierkorb kann ich im ganzen Raum nicht finden.
Den vollen Becher abstellen geht nicht und wohin mit dem leeren?
Es sind zwei Abzapfstellen vorhanden. Ich entziffere eine für kaltes und die andere für normales Wasser.
Fast wahnsinnig vor Durst entnehme ich der Halterung einen der spitzen Becher und halte ihn unter die Zapfstelle für kaltes Wasser.
Der erste Schluck weckt unangenehme Assoziationen. Ich muss heftig die Zähne zusammen beißen um das Wasser am Verlassen meines Magens zu hindern. Es ist mehr als Lauwarm und ohne Kohlensäure.
Der Becher ist noch fast voll. Todesmutig stürze ich den Rest des Bechers hinunter und schließe dabei die Augen.
Hauptsache Flüssigkeit für meine ausgedörrte Kehle, rede ich mir ein. Zum Glück bleibt das Zeugs unten. Den spitzen Becher lege ich dekorativ auf den Wasserspender.

Mein Sohn taucht mal wieder genervt auf und fragt wie lange er noch warten muss. Mit meiner Antwort: “ Genau so lange wie ich.“, scheint er nicht wirklich zufrieden zu sein.
Es ist bereits nach 12 Uhr und um 14 Uhr beginnt seine Schicht. Er geht an die Rezeption und kehrt nach 5 Minuten zurück.
„Du musst nur noch zum Ultraschall, dann bist du hier fertig.“ Verkündet er mir freudestrahlend. Einen Test werde ich schon noch überleben, denke ich mir.
Um 12.30 tippelt er wiederum zur Rezeption und kehrt nach 10 Minuten zurück.
„Den Rest darfst du Morgen absolvieren.“ meldet er. „Wir können verduften.“
Toll, da er nicht warten kann, darf ich Morgen wiederkommen.

Bevor ich die Praxis verlassen kann, taucht die freundliche Dame von der Rezeption auf und bittet mich wiederum in den erhöhten Teil der Praxis.
„Sie müssen doch ihr Dauer-EGK mitnehmen“ teilt sie mir freundlich mit. Ich wusste es. Mindestens eine Schikane haben sie noch für mich.
Wiederum werde ich mit vielen Saugnäpfen verkabelt. Nur haben diese Saugnäpfe Klebestreifen die sogar auf meinen Brusthaaren kleben. Wenn ich nur an das Abziehen denke, bekomme ich bereits Schmerzen.
Der Apparat selber ist etwa Hand groß und besitzt an der oberen Seite einen Klipp, damit man ihn an den Gürtel stecken kann. Die Schwester teilt mir mit, dass es ausreicht, wenn ich es bis zum Aufstehen morgen früh aushalte. Dann dürfte ich auch die Klebestreifen entfernen und den Apparat zur Auswertung an der Rezeption abgeben.
Ich streife mein T-Shirt wieder über und fühle mich jetzt total verkabelt.

Aber auch mich plagt inzwischen der Hunger und ich humple hinaus zum Wagen. Mein Sohn verkündet mir stolz, dass er nur eine Politesse verjagen musste. Er hat ihr mit seiner Erzählung über mich, meinen Krücken und meinen Krankheiten die Tränen in die Augen getrieben.
Er durfte weiterhin hier Parken. Mal sehen was Morgen daraus wird.
Auf der Rückfahrt nimmt er die Autobahn.
Erstens um zu testen ob der Geschwindigkeitsanzeiger meines Wagens auch ausreicht (tut er natürlich, der Wagen wurde noch nie richtig ausgefahren) zweitens um seine Pornosammlung im Videoshop der benachbarten Stadt auf den neuesten Stand zu bringen und drittens um sich bei McDonald noch mal richtig mit Fastfood einzudecken.
Nach diesem kurzen Umweg von einer Stunde durfte auch ich zu Hause ein schnelles Mahl aus zwei Toastschnitten zu mir nehmen, bevor auch schon die Hausfriseuse auftaucht um mir ihre monatliche Aufmerksamkeit zu schenken.
Ich bitte Sie, die an meinem Nacken herumführenden Kabel, nicht zu beschädigen.
„Welches Kabel?“ fragt sie irritiert.
Verdammt, ein Stecker hat sich gelöst. Vermutlich siehst es auf dem Diagramm jetzt so aus, als hätte ich zu Mittag anstatt eines anständigen Essens einen Herzstillstand bekommen.
Schnell fummele ich das lose Kabel wieder an den Saugnapf. Wenn das jetzt nicht Krank aussieht auf dem Diagramm, dann weiß ich es auch nicht mehr.
Den Rest des Tages versuche ich mit dem EKG Apparat zu leben.
Nur in der Toilette fällt es mir doch sehr schwer, weil das Teil laufend auf den Boden knallt. Das muss es ab können, denke ich mir.


Donnerstag, den 10.11.2005

6.00 Uhr - Für mich ist die Nacht gelaufen.
Bei jedem Wenden im Bett habe ich vorsichtig den EKG Kasten mit auf die andere Seite gehoben. Vergaß ich dies, erinnerte mich jedes Mal ein schmerzhaftes Ziehen der angeklebten Saugnäpfe an den Brusthaaren daran.
Irgendwann in der Nacht muss ich das im Schlaf wohl vergessen haben. Als ich gegen 5 Uhr auf die Toilette humpelte, baumelten wieder zwei Strippen lose an mir herunter anstatt an den Saugnäpfen zu sitzen. Wieder Herzstillstand in der Nacht. Ich musste laut Lachen.
Um sechs Uhr aber halte ich es nicht mehr aus und versuche die aufgeklebten Saugnäpfe vorsichtig zu entfernen. Den ersten reiße ich kurz entschlossen mit einem Ruck ab. Ich bin gleichzeitig versucht laut zu schreien.
Für die anderen benötige ich dann 20 Minuten. Aber die Haare sind noch dran.
Als ich nach der Morgentoilette aus dem Bad komme, freut sich der Hund über die weißen Leckerchen und kaut genüsslich die Papiersaugnäpfe durch. Guter Hund. Die kann ich fort schmeißen.
Ich bin zwar erst um 9 Uhr bestellt, aber da mich heute meine Frau zum Arzt fährt, kommen wir auch eine halbe Stunde früher dort an.
Die Dame an der Rezeption erkennt mich sofort wieder, vermutlich anhand der Krücken und fordert auch sofort das EKG Gerät wieder ein.
Ich bin froh es endlich los zu sein.
Den Warteraum kenne ich ja bereits und hoffe, dass mich meine Frau in einer Stunde wieder mitnehmen darf.

Nach etwas über einer Stunde werde ich endlich gebeten, mich vor dem Ultraschallzimmer zu postieren. Da nur noch zwei weitere Kunden vor der Türe hocken, dauert es auch nur bis kurz vor elf, als ich das kleine Zimmer betreten darf.
Darin stehen eine große Liege, ein Schreibtisch und das große Ultraschallgerät mit Monitor. An den Wänden befinden sich einige
Aktenschränke. Das Zimmer ist angenehm abgedunkelt, damit man besser die spannenden Vorgänge auf dem Monitor sehen kann.
Ich nehme auf der Liege Platz und der Arzt entreißt mir gleich meine Krücken, um sie weit hinten in eine Ecke zu stellen.
„Damit sie nicht stören.“ Meint er zu mir. Ich denke eher, damit ich nicht fliehen kann. Mit den hier üblichen Standard Worten:
„Machen Sie sich oben frei und legen Sie sich hin. Ich komme gleich wieder.“ Verschwindet auch er aus dem Raum. Das scheint hier so eine Marotte zu sein.
Oder glauben die wirklich, jeder Patient braucht fürs Ausziehen und hinlegen etwa eine halbe Stunde?
Wie üblich hab ich die Übung in cirka 20 Sekunden geschafft ohne mich zu beeilen. Nach 20 Minuten taucht mein Ultraschalldoktor wieder auf. Ich erkenne an seiner Aussprache, dass er kein geborener Deutscher ist. Auch sein Aussehen weist mehr auf südliche Gefilde hin.

Er schmiert mir meinen Hals und meine nicht mehr vorhandene Schilddrüse dick mit Kleister ein. Beim drücken des US-Kopfes auf meine Halsschlagader beobachtet er genau seinen Monitor.
„Leichte Ablagerungen aber durchlässig.“, meint er. Damit kann ich leben. Sollten die Dinger zu sein, wäre ich auch längst Hirntod.
Er drückt feste unterhalb meines Kehlkopfes auf meine OP-Narbe und stellt fest, was ich auch schon wusste: meine Schilddrüse ist weg.
Anschließend reicht er mir ein winziges Papiertuch und ich schnäuze mich hinein. Verwundert meint er, dass dieses Tuch eigentlich zum abwischen der Gleitcreme wäre.
Ich bemerke, dass dieses Tuch gerade groß genug ist um den kaum vorhandenen Dreck aus meiner Nase aufzunehmen.
Übers Schnupfen kommen wir ins plauschen. Während der nächsten Minuten erfahre ich, das aus Albanien nicht nur Luden und Wettbetrüger Stammen, sondern auch angehende Ärzte. Mein Weltbild, geprägt durch Funk und Fernsehen, gerät mächtig ins wanken.
Seine Heimat liegt in ziemlicher Höhe und hat ein Klima wie in der Schweiz. Nur wenn er ans Meer musste bekam er Heuschnupfen und sein Abitur hat er in der Hauptstadt gemacht, wo auch sein Großvater eine Bank besaß. Der musste jeden Silvester in seiner Bank sitzen und den Jahresabschluss bis Neujahr geschafft haben. Eine Bank die Geld hin und her schob, keine grün angestrichene Gartenbank, darauf besteht er um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen.

Nach diesen interessanten Abschweifungen erfolgt nun die vierte Überprüfung meines Herzmuskels. Diesmal mittels Ultraschall. Er stellt leichte Veränderungen fest, die aber nicht dramatisch oder krankhaft sind.
Da wir uns nun so nahe gekommen sind, erhalte ich mehrere Papiertücher um den Kleister auf mir zu verteilen. Zum trockenreiben reichen aber auch diese nicht. Er überreicht mir wieder meine Fluchtkrücken und ich darf nochmals vor seinem Büro Platz nehmen.

Meine Frau erwartet mich bereits dort und fragt mich genervt wie lange es wohl noch dauern wird. Ich verkneife mir, ihr einfach eine astronomisch hohe Stundenzahl zu nennen. Da ich auch keine Ahnung habe, sehe ich mir die einzelnen Zimmertüren an und hake sie eine nach der anderen im Geiste ab. In jedem Zimmer war ich mindestens einmal gewesen. Es bleibt also nur noch das Abschlussgespräch beim guten Doktor.
Etwa alle 10 Minuten wird jemand zum Arzt herein gerufen, vermutlich auch zu abschließenden Gesprächen.
Auf die Frage meiner Frau, warum die vor mir dran sind, fällt mir nur mein sprichwörtliches Pech ein, das ich jedes Mal im Supermarkt bestätigt bekomme. Egal, an welch kurzer Kassenschlange ich mich anstelle, die anderen sind grundsätzlich schneller. An meiner Kasse passiert immer ungewöhnliches. Das reicht vom Rollenwechsel mit Handicap über die Oma die ihr Wechselgeld von 12 Euro in Cent Stücken fallen lässt bis zum Raubüberfall.
Aber trotzdem macht mich diese Fragerei in gewisser Weise stolz. Meine Frau hält mich wohl doch für etwas Jesusähnliches, der auch auf alles eine Antwort wusste.

Nachdem endlich alle unwichtigen Fälle durchgehechelt und es 12 Uhr Mittag ist, darf auch ich wieder im Allerheiligsten vorsprechen.
Der Arzt begrüßt mich kurz und stöbert in den vor ihm liegenden Aktenberg.
Er beginnt mit der Erklärung, dass er mir, wie ich ja wohl weiß, nichts mitteilen darf, was er in das Gutachten schreiben wird.
Ich Kontere mit dem Hinweis, dass ich solches nicht wissen kann, da ich zum ersten Mal in meinem Leben einen Rentenantrag gestellt habe.
Er stutzt nur kurz und beginnt mit seiner Wühlerei von vorne.
Als nächstes beginnt er tröstlicher Weise mit meinem Herz, an dem er leider nichts finden konnte. Im Geiste bedauere ich ihn fast und wünsche mir einen Herzschrittmacher zu Weihnachten. Er schüttelt bedauernd den Kopf, als hätte er einen potentiellen Kunden verloren.
„Aber der Zucker hat ja ganz schön an ihnen genagt“ erklärt er mir dann mit einem Augenzwinkern. Bedeutet das ein gutes Gutachten? Sagt ja eigentlich schon das Wort „Gutachten“.
Mir ist das inzwischen egal. Hauptsache ich darf endlich nach Hause.
Nach zwei abschließenden Sätzen darf ich tatsächlich diesen Folterkeller verlassen.
Egal welche Prüfungen hier auf einen warten, viele oder nur eine
Vor ein Uhr mittags kommt man hier vermutlich nie heraus.
Ich bin froh dass ich diesen Teil der Untersuchung für die BFA geschafft habe und bereite mich seelisch auf Morgen auf die nächste vor.


Freitag den 11.11.200X

Hoppeditz erwachen oder Karnevalsanfang. Der Beginn der 5. Jahreszeit. Wenn das kein schlechtes Omen ist, was dann.
5.50 Uhr
Das Erwachen ist wie üblich zu früh. Mindestens 10 Minuten zu früh. Mein Blick zur Radiouhr ist verschwommen und ich benötigte einige lange Sekunden bis sich der Blick soweit geklärt hat, dass ich die Uhrzeiger erahnen kann. Ich bleibe einfach solange liegen bis eine Uhrzeit durchgesagt wird. Das ist genauer als mein Blick zur Uhr. Als di Nachrichten kommen stehe ich endlich auf. Jetzt nur keine unvorsichtige oder heftige Bewegung, denn Odin hat sofort bemerkt, das ich wach bin. Stürmisch rammt er mir seine Schnauze ins Gesicht zur Begrüßung.
Heute muss ich um halb acht bei einem Fachaugenarzt vorsprechen.
Komischer Weise hat dieser Augenarzt seine Praxis nur einige hundert Meter weiter neben meinem eigenen Augenarzt. Das aber ist ein Professor mit weltweit gutem Ruf. Bei meinem Glück kennen sich die beiden und hassen sich bestimmt.

Ich humple also mit meinen Krücken zum Nachbarzimmer und sage meiner Frau dass der Hund raus will. Sie sitzt schon im Bett und grunzt unverständliches.
Vermutlich soll das okay heißen. Nehme ich mal vorsichtshalber an. Also weiter ins Bad, Zähne poliert und den Hals frei geschabt.
Ich bin fertig und auch der Hund mit seinem Geschäft. Er liegt natürlich genau vor dem Bad und rührt sich nicht. Er will wohl, dass ich noch mal stürze. Beim Anziehen hopst Odin wie üblich um mich herum. Danach geht es vorsichtig runter in die Küche, schauen ob es schon Kaffee gibt und meine übliche Ration Tabletten futtern.
Andere Leute nennen das schon ein kleines Frühstück. Satt macht es aber nicht.

6.40 Uhr
Meiner Frau ist es endlich gelungen den Hund im Zimmer unseres Sohnes zu bringen. Sein Körbchen hat sie ihm auch reingestellt, damit er noch ein wenig schlafen kann.
Sohnemann bekommt noch einen gestellten Wecker neben dem Bett, damit er nicht vergisst den Hund in 20 Minuten zum Laufen bei den Nachbarn abzugeben. Der vergisst ohne Wecker und seiner Mutter so ziemlich alles inklusive seinem Kopf.
Ich wette, der pennt jetzt bis Mittags durch, wenn Odin ihn lässt. Aber Odin ist jetzt schon scharf auf seinen Hundetreff, da wird er keine Ruhe geben.

Also hopp ins Auto und in die Kreisstadt gefahren. Natürlich fragt mich meine Frau, wo genau der Augenarzt seine Praxis hat. Durchs Internet hab ich seine ungefähre Adresse und wir finden auf Anhieb einen Parkplatz nur 30 Meter weiter.
Ein Wunder mitten in der Stadt. Schnell schaue ich zum noch dunklen Himmel, ob ich einen hellen Stern erkennen kann. Aber dieses Wunder bleibt wohl ohne Beleuchtung.
Ich humple voraus bis zur entsprechenden Haustür und sehe mit Schrecken, dass die Praxis im zweiten Stock ist. Gut das es wenigstens einen Aufzug gibt.
Das war ja einfach. Keine halb acht und wir sind da.

Wir betreten die Praxisräume und werden begrüßt von der Sprechstundenhilfe mit „Sie sind Herr A.!“.
Wow, bin ich so bekannt?
Ich bestätige also ihre Vermutung und werfe den Stapel Schreiben, den ich mitbringen soll, aufs Pult. Natürlich will Sie auch noch meine Krankenkassenkarte. Soviel dazu das ich von der BFA vorgeladen wurde.
Endlich ist sie zufrieden und es kommt der übliche Spruch, dass ich mich gefälligst ins Wartezimmer verziehen soll. Wenigstens gibt es zwei bequeme Stühle und da wir die Ersten sind, auch noch die volle Wahlmöglichkeit.

An der Rezeption herrscht ein Kommen und Gehen. Aber das waren vermutlich alles Angestellte, da kein weiterer Patient zu uns in den Warteraum kommt. Man kann die Rezeption sehr schön durch die offene Tür bewundern. Der Rest der Wand wird eingenommen von einer riesigen, durchsichtigen Scheibe, so dass an der Rezeption nichts verborgen bleibt. Der Warteraum selber wird übergangslos zum Flur von dem verschiedene Behandlungszimmer abgehen. Alles macht einen ziemlich offenen Eindruck. Auf diesem Flur stehen auch weitere Stühle.
Wenn man den Flur, der einen leichten links knick macht, ganz bis zum Ende geht, erreicht man die Rezeption wieder auf der anderen Seite. Das ganze entpuppt sich als Rundgang.
Endlich geht es los. Mein erster Aufruf.
Ein hübsches, aber mageres junges Mädchen lächelt mich freundlich an und bittet mich Platz zu nehmen vor zwei großen Apparaten. Vor jedem Apparat steht ein Drehhocker und jede Apparatur hat zwei Gucklöcher mit einer Kinnstütze davor.
Das kommt mir auf jeden Fall bekannt vor. Vermutlich etwas zum Testen des Sehvermögens.
Das Mädchen fragt mich dann erstmal die Sachen, die bereits in den abgegebenen Schreiben und Formularen zigmal angegeben sind, um es in einen Computer zu tippen.
Freundlich wie ich bin, gebe ich zu meiner Person zum x-ten male Auskunft. Ist ja kein Geheimnis wie ich heiße und wann und wo ich geboren wurde. Das zumindest lässt sich ja nicht verleugnen.
Auf die Frage meiner Medikation ziehe ich blitzschnell eine gut vorbereitete Liste meiner Medikamente heraus und halte sie Ihr hin. Verblüfft stottert Sie, dass sie diese Angaben dann später eingeben wird. Ist für sie vermutlich eine Tagesarbeit.
Der erste Test beginnt. Denke ich.
Aber ich habe nur mit dem Rechten und dann mit dem Linken Auge in das erste Gerät zu schauen, auf dem eine Landstraße mal scharf und dann wieder unscharf wird. Fragen werden dabei keine gestellt.
Mal was Neues. Bei dem zweiten Gerät werde ich kurz darauf hingewiesen das ich einen kleinen Luftzug spüren könnte. Dieser sei aber gewollt und ich darf nicht erschrecken. Ich verkrampfe nur leicht, als mich ein Luftdruck wie aus einer Luftpistole mitten aufs Auge trifft.
Nachdem auch das linke Auge beschossen ist, erhalte ich die gute Nachricht, dass mein Augen Innendruck in Ordnung ist. Die erste Gute Nachricht des Tages. Ich sollte sie entsprechend feiern, eventuell mit Kaffee und Brötchen. Beides ist hier natürlich nicht zu erhalten.
Ich schwinge mich zurück ins Wartezimmer und erfahre von meiner Frau, das es unten an der Straße, nur wenige Meter weiter, Kaffee und Brötchen in einem Cafe gibt. Sie verschwindet für die nächste Stunde um es sich gut gehen zu lassen. Mahlzeit.
Ich hingegen werde nach einiger Zeit vom gleichen Mädel in ein weiteres Zimmer gebeten.
Aha, denke ich mir, hier wird sicher die Sehschärfe getestet.
Und richtig, bequem in einem Augenarztsessel sitzend, betrachte ich die an die Wand geworfenen Buchstaben und Zahlen. Ich vermute zumindest, es handelt sich um solche. Denn erkennen kann ich nichts.
Erst nach wiederholter Vergrößerung kann ich beide Buchstaben erkennen. Mehr passen auch nicht auf das Projektionsfeld.
Das Mädel lässt sich keine Frustration anmerken. Sie hat sich gut im Griff.
Da man in dieser Größe wohl nur zwei Buchstaben besitzt und ich sie bereits auswendig kenne, hält sie mir den gereckten Daumen und den Zeigefinger in ca. einem Meter Abstand vors Gesicht.
Ihre Frage nach der Anzahl Ihrer Finger, die ich erkennen kann, beantworte ich wohl falsch. Ich soll doch noch mal richtig hinschauen und überlegen, meint sie. Ich korrigier meine Antwort, dass ich nur einen Finger sehe, dahin gehend, dass ich auch zusätzlich einen Daumen erkennen kann. Dieser ist anders als der Finger aber nach oben gereckt.
Auf meine Frage, ob das nun korrekt ist, fängt sie an zu kichern.
Den zweiten Versuch habe ich aber auf Anhieb richtig. Zwei Finger und einen Daumen antworte ich.
Was freut sie sich da. Zur Belohnung darf ich wieder ins Wartezimmer.

So langsam füllt sich der Warteraum und meine Frau ist noch nicht zurück. Ich träume von frischen Brötchen und einem Kaffee.
Mein Fingermädel kommt wieder und führt mich humpelnder weise einmal rund durch das überraschend große Areal der ganzen Praxis. Groß ist meine Überraschung als ich auf der anderen Seite der Anmeldung wieder heraus komme.
Der Flur führt tatsächlich einmal Rund durch die ganze Praxis.
Sie weiß vermutlich, dass ich Bewegung brauche und die Abkürzung an der Anmeldung vorbei gar nicht mag. Ich darf mich dann in ein winziges Zimmer zwängen.

Nun beginnt eine richtige Tortour.
Ich sehe einen großen, weiß-ovalen Schirm, der in der Mitte einen schwarzen Punkt hat mit einem Kinn Gestell davor. An der rechten Seite auf dem Tisch ist ein weißer Klingelknopf installiert. „Gesichtsfeld Erkennung“ triumphiere ich.
Mein Mädel bestätigt das und hilft mir beim Setzen und Verstecken meiner Krücken.
Mit dem rechten Auge fixiere ich den schwarzen Punkt in der Mitte. Das Mädel, das auf der anderen Seite des Schirmes sitzt, bewegt langsam einen hellen Lichtfleck von der Seite hin zum Mittelpunkt des Schirmes.
In dem Moment wo ich diesen Lichtfleck bewusst erkenne, muss ich den Klingelknopf drücken. Das ganze wird natürlich aus so ziemlich allen Richtungen wiederholt, noch einmal wiederholt und dann noch ein paar Richtungen zusätzlich erfunden. Zur endgültigen Verwirrung werden dann auch noch viele Richtungen wiederholt.

Die Geschwindigkeit, mit der der Lichtpunkt von außen nach innen und umgekehrt wandert, könnte von jeder Schnecke locker getopt werden. Nur die tektonischen Erdplattenbewegungen dürften langsamer driften.
Nachdem es langsam langweilig wird, darf ich endlich auch einmal das linke Auge benutzen. Fertig, denke ich nach 20 Minuten.
Mein Kreuz fühlt sich inzwischen auch fertig an, da der Stuhl nicht höhenverstellbar ist. Um ehrlich zu sein, kreischt meine Bandscheibe inzwischen dringend nach einem Notarzt oder Wunderheiler.
Ich werde kreidebleich, als das dumme junge Ding meint: „ Und nun wieder das rechte Auge.“
Will sie feststellen ob ich geschummelt habe oder wann meine Bandscheibe den Geist aufgibt? Also das ganze noch einmal.
Und wieder wird der blöde Punkt mit entnervender Langsamkeit über den Schirm geschoben. Zwischendurch werd ich immer wieder gefragt, ob ich auch nicht den hellen Lichtfleck hinterher schaue. Denn dann könnten wir das ganze wiederholen.
Ich will natürlich nicht bis übermorgen hier mit gekrümmten Rücken sitzen. Allein bei dem Gedanken bricht mir sofort der Schweiß aus. Ich verbiete mir einfach an den hellen Lichtpunkt zu denken.
Prompt verpasse ich natürlich meinen nächsten Einsatz und drücke dafür die Klingel danach gleich dreimal.
Aber auch diese Quälerei nähert sich nach einer dreiviertel Stunde dem Ende.
Sie malt irgendwelche Punkte und Kurven auf Listen und Tabellen und verschwindet für 5 Minuten.
Danach erscheint sie mit einer wirklich großen Frau, die wohl etwas zu sagen hat. Sie ist etwa Ende 20 und so groß, das sie sich glatt in meiner Glatze spiegeln kann.
Sie erklärt dem dummen Ding, was sie alles falsch gemacht hat und mir tropft der Angstschweiß auf das Hemd. Das Herz will mir fast zerspringen und ich bete: Bitte nicht noch einmal.
Ich verstehe aus der Unterhaltung aber, dass die ganze Übung jetzt auch noch rückwärts zu veranstalten ist. Also den Punkt so lange aus meinem Gesichtsfeld wandern lassen, bis ich ihn nicht mehr sehen kann.
Mein Kreuz schreit gequält auf. Das überlebe ich einfach nicht.
Die nächste halbe Stunde habe ich irgendwie aus meinem Gedächtnis gestrichen. Das Gehirn ist bei extrem Situationen wirklich zu ungeahnten Leistungen imstande.
Ich erinnere mich nur dunkel, dass ich, um das ganze abzukürzen, ziemlich früh meinen Klingelknopf drücke. Mir tut inzwischen auch die Hand weh, die auf dem Klingelknopf liegen muss.

Ich darf endlich wieder im Warteraum sitzen. Dem Himmel sei Dank. Welch eine Erholung. für meinen geschundenen Rücken. Meine Frau ist inzwischen auch wieder aufgetaucht und riecht lecker nach Kaffee und Brötchen.
Nachdem Sie mich ca. 10 Minuten mit der Frage quält, wie lange das alles noch dauert, verschwindet Sie, um mit Sohnemann zu telefonieren. Sie meldet schon nach kurzer Zeit Erfolg. D. h. Sohnemann hat tatsächlich den Hund abgegeben und ihn auch wieder abgeholt.
Welch ein Wunder. Ein toller Tag dieser Karnevalsanfang. Wunder über Wunder geschehen.
Nach weiteren 10 Minuten darf ich das nächste Zimmer in diesem Kaninchenbau kennen lernen. Das Schielzimmer.
Nach diversen Stereo und Schieltests kann ich die Dame dieses Zimmers wohl nicht länger glücklich machen. Ich werde mit der Bemerkung entlassen, dass ich nicht schiele und mir keine Gedanken machen brauche. Klasse, nun weiß ich auch das.
Zwischendurch kann ich meinen ersten Blick auf Herrn Doktor werfen.
Meine Frau macht mich darauf aufmerksam, dass Herr Doktor keiner ist. NUR Facharzt wie sie meint. Mir ist das egal. Ich sehe nur, dass er wahnsinnig lang ist. Kommt er überhaupt durch die Türen? Kein Wunder das er so große Sprechstundenhilfen hat. Er will sicher nicht immer nur herunter schauen.

Es ist fast Mittag und meine Frau macht mich verrückt. Immer wenn ich ein wenig einnicke, fängt sie an, über diese unsäglich lange Prozedur und Quälerei zu meckern. Wer wird denn hier untersucht? Sie darf ja hier ruhig sitzen, etwas lesen oder stricken oder sogar gehen und shoppen. Nur schade, dass die Einkaufsmeile noch so weit von hier weg ist. Den Parkplatz vor dem Haus kann man natürlich nicht so einfach aufgeben. Wer weiß, wann wieder solch ein Glückstag ist. Mit hoher Stimme fragt sie mich, warum ich plötzlich so blöde grinse.

Zum Glück geht’s jetzt weiter.
Wiederum werde ich durch das ganze Areal gelotst. Hinter der Rezeption, vor einem winzigen Kabuff, machen wir halt. Bewegung tut mir ja gut und Abkürzungen sind hier vielleicht verboten. Oder es gibt Einbahnstraßen. Vielleicht gefällt aber auch den Schwestern der Anblick meiner schwingenden Krücken und Beine. Der Gedanke läst mich Lächeln.
Darf es denn solch kleine Räume geben? Denke ich mir als sie mir die Türe öffnet.
Also: es steht in diesem fensterlosen Kabuff genau ein Stuhl und ein Teewagen mit diversen Geräten darauf. Weiteren Platz gibt es nicht. Irgendwie quetsche ich mich in diesen Stuhl und versuche meine Knie einzuziehen.
Wenigstens ist die folgende Übung einfach.
Ich werde verkabelt um die Stärke und Geschwindigkeit meiner Augennervenströme zu messen. Einen Clip bekomme ich ans Ohrläppchen, einen auf meine Glatze geklebt und der auf meiner Stirn will natürlich nicht haften.
Mir wird erklärt, dass das normalerweise nur bei den älteren Damen passiert, weil die sich morgens mit irgendwelchen Cremes einschmieren. Muss wohl noch von meinem letzten Schweißausbruch stammen. Sie hält das Teil einfach mit Ihrem Finger fest und macht einen Blitzapparat an. Ich danke im Geiste dem Herrn, dass sie mir das Teil nicht angetackert hat.
Ein Auge hält sie mir allerdings mit einem Pappstreifen zu und nach 3 Minuten das andere Auge.
Der Apparat spukt einen langen Streifen aus, den sicher keine Sau richtig lesen kann. Jedenfalls wirft sie noch nicht einmal einen Blick darauf. Vermutlich bin ich bereits Hirntod.
Ich muss Sitzen bleiben, denn nun folgt ein Dämmerungssehtest.
„Fein.“ meine ich, „In der Dämmerung sehe ich gar nichts.“
Sie glaubt mir nicht und meint ich soll jetzt mal 5 – 10 Minuten im Dunkeln sitzen bleiben, damit sich meine Augen anpassen können. Angst brauche ich keine haben, sie lässt die Türe in meinem Rücken einen Spalt weit offen. Soviel zu absoluter Dunkelheit.
Vertrauensvoll strahle ich Sie an. Sie ist wirklich gut zu mir.
Und tatsächlich, nach 30 Minuten schaut sie wieder bei mir rein.
Der Test selber ist dann in 2 Minuten vorbei, nachdem ich wirklich überhaupt nichts von Ihren Zeichen in diesem dunklen Apparat erkennen kann.
Ich bleibe also Nachtblind.
Und ab geht’s wieder in den Warteraum zur Erholung. Aber da sitzt ja meine Frau. Also doch keine Erholung.
Genervt fragt sie mich, wie viel sie noch in den Parkautomat werfen soll. Da ich keine Ahnung habe, wie lange alles noch dauert, sage ich ihr, sie soll alles rein werfen. Aber einen Hinweis habe ich von der großen Dame bekommen. Der Doktor will mich noch zweimal sehen.
Einmal so wie ich bin und einmal voll gedröhnt mit Augentropfen.
Ein Ende ist also abzusehen.

Ich betrete das Allerheiligste, das Chefzimmer. Interessiert sitze ich im Augenstuhl und fahre den Sitz probeweise ein paar male rauf und runter.
Funktioniert.
Auch die ganzen Apparaturen lassen sich prima rein und raus schwenken. So langsam fasse ich Vertrauen zu dem langen Lulatsch und bereits nach 15 Minuten betritt er den Raum.
Erzählen Sie mal was, meint er zu mir. Klasse Test. Sprechproben will er auch.
Also fang ich mit meinem Zucker an und Ende mit den Laseroperationen seines Kollegen.
Er schaut mir mit einem besonders hellen Licht abwechselnd in beide Augen und murmelt unverständliches zu seiner Sprechstundenhilfe. Aber soviel verstehe ich. Es ist das gleiche was auch mein Augenarzt immer murmelt. Also hat auch er nichts anderes entdeckt.
Alles was er mir daraufhin noch erzählt, weiß ich auch schon. Und dass ich schlecht sehe bemerke ich jeden Morgen nach dem Aufstehen.
Nur als ich ihm von meinen Schwierigkeiten als Buchhalter erzähle scheint er nicht sonderlich erschüttert zu sein.
„Mit entsprechend großen Bildschirmen und großer Schrift können sie auch weiterhin als Buchhalter arbeiten. Oder umschulen auf Telefonverkäufer.“
Meine Hoffnung auf Rente schwindet wie Schnee im Hochsommer. Wenn der lange Blödel sein Gutachten abgibt habe ich keine Chancen mehr eine Rente zu erhalten.
Er schüttet mir noch einige Ampullen Flüssigkeit in beide Augen und schickt mich mit nassen Wangen wieder ins Wartezimmer.

Bereits nach einer knappen Stunde Wartezeit darf ich wieder ins Allerheiligste. Und das mit weit gemachten Pupillen.
Gut, das ich diese Praxis bis auf den letzten Zentimeter kennen gelernt habe. Nun weiß ich, warum ich jedes Mal durch alle Flure geführt wurde. Diesmal lässt er mich eine geschlagene halbe Stunde in seinem teuren Stuhl sitzen.
Ich dämmere langsam geschwächt durch Hunger und Durst ins Koma, als mit Schwung die Türe aufgerissen wird und der Doc herein stürmt. Kraftvoll wie er wirkt, hat er sicher sehr gut zu Mittag gegessen. Der Glückliche.
Wieder schaut er mir mit hellem Licht in die Augen und lässt mich mal nach oben mal nach rechts und auch alle anderen Richtungen schauen.
Seine Kommentare zu den Laserungen seines Kollegen sind durchweg positiv. Nur dass er sie verdammt mutig nennt, macht mir doch ein wenig Angst. Aber diese Konsequenzen muss ein Arzt einfach bei solch schwierigen Patienten abwägen.
Und welche Konsequenzen darf ich tragen? Und wieso bin ich schwierig? Ich hoffe er meint meine Augenkrankheit.
Nun kommt er zum Letzten. Ich bin so was von froh. Aber dann sehe ich, welche Übung noch auf mich wartet.
Die Dreigläserspiegelung.
Dabei wird der Augapfel leicht betäubt und eine Linse direkt darauf gesetzt. Durch fleißiges drehen dieser Linse kann der Arzt damit den ganzen Augapfelhintergrund ausleuchten. Das Aufsetzen ist ja schon unangenehm. Aber nichts gegen das Drehen. Man hat das Gefühl das Auge wird herausgeschraubt.
Ich stöhne leise auf, als die Linse mit einem leisen schmatzen auf meinen Augapfel gedrückt wird.
„Na Sie kennen das doch.“, muntert er mich auf.
Ich denke an Brötchen und Kaffee. Es hilft nichts. Es ist trotzdem eklig.
Austherapiert und nicht weiter Behandlungsbedürftig ist sein einziger Kommentar bevor er mich aus seiner Praxis entlässt.
Zu seinem Gutachten darf er mir sowieso nichts sagen. Das hab ich inzwischen begriffen. Vermutlich Berufs- oder Arztgeheimnis. Wäre ja noch schöner wenn jeder Patient weiß woran er leidet.

Mit verquollenen Augen und knurrendem Magen verlasse ich fluchtartig diese heiligen Hallen und vergesse dabei beinahe meine Frau. Aber da ich nicht selber Fahren kann, humple ich nochmals zum Warteraum und sage ihr Bescheid. Sie schaut mich mit einem Blick an, der mir den größten Teil aller Schuld der Welt zuteilt.
Zur Belohnung kauft sie mir auf der Rückfahrt sogar zwei Brötchen. Ich hätte vielleicht doch nicht sagen sollen, dass ich mehr als zwei Brötchen haben möchte. Bei mathematischen Rätseln mit unbekannten Größen gibt meine Frau immer sehr früh auf. Und über Mengenlehre brauchen wir erst gar nicht diskutieren.
Ich lasse mir beide trotzdem gut schmecken.


Es waren Drei sehr interessante Tage mit vielen Wundern, verrückten Ärzten, ebensolchen Schwestern und einer leichten Gewichtsabnahme durch Hungern gewesen.

Meine Rente sehe ich in unbekannten Weiten entschwinden.

Wenigstens war mir nie langweilig gewesen.

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 25.10.2010

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