Wieder sitze ich hier. Allein, die Augen gerötet vor Tränen. Allein mit einem Stift und meinem Buch.
Ich verzweifle, bin allein, allein auf der Welt. Freunde, Freunde, die einem zuhören und immer für einen da sind- die bräuchte ich jetzt. Eine starke Schulter, an die ich mich anlehnen kann, eine Umarmung. Man denkt, man hat Freunde, doch wenn es darauf ankommt, kennen sie dich nicht. Doch das merkst du erst, wenn es schon zu spät ist.
Meine besten Freunde, ja, die richtigen Freunde, das sind Stift und Papier, die Worte die meine Hand von selbst zu schreiben scheint. Wie von Geisterhand, ohne nachzudenken. Der Stift kratzt über das Papier. Erst ein Buchstabe, dann ein Wort, eine Zeile, ein Satz, eine Seite.
Ich habe mich eingeschlossen. Höre Musik. Ja, die Musik, ein weiterer wahrer Freund. Musik hilft. Es muss nur die richtige Musik sein. Musik drückt aus, was in mir vorgeht, ich aber nicht ausdrücken kann.
Ich bin es leid, meine Gefühle zu unterdrücken, bin es leid, jemanden zu mimen, der ich gar nicht bin. Ich bin nicht das gefühlskalte Mädchen, das immer für alle da ist, nie weint und nie ihre eigenen Gefühle zeigt. Ich kann nicht immer nur für andere da sein, es muss auch mal jemand für mich da sein.
Ich verberge sämtliche Gefühle. Bin mir nicht mal sicher über einige meiner Gefühle. Soll ich oder soll ich nicht? Würde es mir helfen, eine Abfuhr zu bekommen? Und ist das überhaupt die richtige Deutung dessen, was in mir vorgeht?
Der Tod eines Verwandten verändert das Leben. Nicht nur das der anderen, auch meins. Habe ich geweint? Nein, nur beim ersten mal. Danach musste, wollte ich stark sein. Nicht zeigen, dass die Nachrichten des Todes, die Beerdigungen, einfach alles, meine Seele zerfraßen.
Beim letzten mal konnte ich die Katastrophe gerade noch so abwenden. Ich war kurz davor, zu weinen, am Grab, neben mir meine Großcousine. Doch ich konnte es gerade noch so zurückhalten. Das letzte mal richtig geweint habe ich vor zehn Jahren. Da war ich sieben, nun bin ich fast siebzehn.
Ich habe mich selbst zerstört, habe keinen an mich herangelassen. Bin ich gestürzt und habe mich verletzt, bin ich aufgestanden, habe alles schöngeredet und weiter gemacht, damit sich bloß keiner Sorgen um mich machte. Ich ignorierte das, was die anderen sagten, auch wenn es noch so beleidigend war.
Es wird Zeit, an mich zu denken, und nicht an die anderen. Nun habe ich mal Vorrang, und ich kümmere mich nicht mehr um die anderen. Sollen sie doch denken, ich bin egoistisch, sie wissen eh nicht, was wirklich in mir vorgeht, was richtig ist und was nicht.
Ich bin wichtig, nicht die anderen. Meine Träume zählen, nicht die, die die anderen glauben zu erkennen in meinem Verhalten. Ich bin anders, werde immer als Freak gelten.
Aber ich bin lieber ein Freak als jemand, der sich verstellt, um anderen zu gefallen, ich habe lieber wenige Freunde und halte zu ihnen, statt Freundschaft nur zu heucheln. Ich bin da, wenn man mich braucht, aber es muss auch jemand für mich da sein.
Ich habe mich in mein Schneckenhaus zurückgezogen und das Leben nur beobachtet, doch jetzt ist Schluss damit. Es ist mein Leben, ich bin mittendrin, und keiner kann mir etwas sagen.
Hier bin ich nun, und ich bin frei. Ich bin frei und keine Puppe, mit der man alles machen kann. Ich habe meinen eigenen Willen und meine eigenen Vorstellungen und Träume. Und nun ist es an der Zeit, das nachzuholen, was ich in den letzten Jahren verpasst habe.
Ich hole mir mein Selbstbewusstsein, mein Leben wieder.
Und wieder habe ich etwas falsch gemacht. Ich habe nicht um Erlaubnis gebeten.
Um Erlaubnis, etwas zu tun, was ich vorher schon angekündigt, also bescheid gesagt hatte.
Ich ignoriere mein Handy. Ich habe nicht bescheid gesagt. Ich hatte mein Handy in der Hand, als sie anrief. Falsch gedacht.
Mein Handy hat nicht geklingelt. Ich habe vorher gesagt, was ich tue. Ich hatte meinen Hausschlüssel in der Hand, als sie anrief.
Aber die Wahrheit interessiert nicht. Ich habe Unrecht. Das Dorf darf bloß nix mitbekommen.
Meine Schwester ist neidisch. Neidisch worauf?
Ich habe nichts, worauf man neidisch sein könnte.
Ich habe keine Freunde. Ich bin nicht überragend gut im Hockey. Ich fahre nicht überragend gut in den Fahrstunden. Ich bin nicht sonderlich hübsch und auch nicht sonderlich schlau.
Den Scorerpunkt vom letzten Heimspiel kann sie haben. Das ist nichts, auf das ich sonderlich stolz bin. Zufällig war ich halt als letztes am Ball, bevor meine Mitspielerin ihn im Tor versenkte.
Ich bin ein Egoist, weil ich einmal an mich gedacht habe. Nur weil ich nicht mehr will, dass mir die anderen wichtiger sind als ich selbst? Weil ich einmal nicht das tue, was sie von mir will?
Und dann ist da noch er. Wie soll ich eine vernünftige Beziehung zu ihm anfangen oder aufbauen, wenn ich nicht mal alleine mit ihm was unternehmen kann?
Wie soll ich mit dem ersten mal verliebt sein klarkommen, wenn ich dem ganzen nicht freien Lauf geben kann?
Wie soll ich vernünftig und gewissenhaft meine Schulsachen erledigen, wenn ich immer nur schlecht gemacht werde? Wenn ich immer nur darauf achten muss, nichts falsches zu sagen oder zu tun?
Ich bin gefangen in einem Hurricane. Einem Hurricane der Gefühle.
Einerseits will ich die Veränderung. Ich will mich gegen Mobbing und falsche Eifersucht wehren.
Andererseits will ich aber auch nicht, dass ich in zehn Jahren, wenn ich vielleicht in einer anderen Stadt wohne, eine eigene Familie habe, mein eigenes Geld verdiene, nicht mehr mit meiner Familie sprechen kann, weil ich etwas falsches mache, was alles zerstören wird. Ich bin auf jemanden angewiesen. Ich brauche eine starke Schulter zum anlehnen. Jemanden, der mich versteht, der mich tröstet. Der mich in den Arm nimmt und meine Tränen trocknet. Ohne Worte, ohne Bedingungen. Jemanden, der einfach nur mit mir dasitzt und mir über das Haar streicht, um mich zu beruhigen. Jemanden, dem meine Anwesenheit genügt, um glücklich zu sein.
Jemanden, der mich nicht missversteht.
Tag der Veröffentlichung: 13.11.2011
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