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Alte Sagen und neue Legenden

Die Schenke war mit Abstand eine der heruntergekommensten, die Tyel in seinem langen Leben bisher besucht hatte.

„Verdammt, ich war einmal ein Fürst und nun sitze ich in dieser Spelunke“, fluchte er leise und versenkte den Blick in dem wässrigen Gebräu, dass der Wirt als Bier bezeichnete.

Seit einem Jahrhundert galt er bei den Dunkelelben schon als Abtrünniger, als Verräter.

Und seit genau dieser Zeit jagten seine Brüder ihn von einem Ende der Welt zum anderen.

Es war eine endlose Hast, waren die Dunkelelben doch beinahe unsterblich. Noch Jahrtausende könnten sie ihn jagen und alles würde erst ein Ende haben, wenn Tyel sterbend am Boden lag.

Den Mund vor Ekel verzogen nahm Tyel den zweiten Schluck Bier und hob den Blick.

Plötzlich blieb ihm das Getränk beinahe im Hals stecken und er rang hustend nach Luft.

Zitternd wischte er sich mit dem Ärmel über den Mund und schob den Stuhl soweit zurück, dass er sich ohne Probleme unter der Tischplatte verstecken konnte.

Nur zwei oder drei Tische von ihm entfernt saß Ianu, sein ärgster Feind und der Grund, warum er zum Verräter wurde.

Zitternd vor Wut zog Tyel sich die Kapuze tief ins Gesicht und widerstand der Versuchung, Ianu öffentlich anzugreifen.

Langsam erhob er sich und warf ein paar Silbermünzen auf den Tisch. Bevor er aber unbemerkt die Schenke verlassen konnte, riss ein Trunkenbold den Arm in die Höhe, deutete auf ihn und brüllte: „Ein Elb! Ein leibhaftiger Elbe hat sich aus seinen Wäldern zu uns getraut!“

Eisiger Schrecken befiel Tyel, als er sich umdrehte und Ianu in die Augen blickte. Trotz der Entfernung und der Jahre, die zwischen ihrer letzten Begegnung lagen, erkannte sein Todfeind ihn.

Wie ein Reh auf der Flucht sprang Tyel über den niedrigen Tisch hinweg und hastete zur Tür. Hinter sich hörte er Ianu fluchen. Das metallische Schaben entging seinen geschärften Sinnen nicht und noch vom Schwung mitgerissen warf er sich zu Boden. Eine Handbreite über seinem Kopf hackte der Dolch in den Türrahmen. Tyel tastete nach seinen Zähnen und spuckte sich Blut in die Hand. Bei dem Aufprall hatte er sich auf die Zunge gebissen und fluchte lauthals los.

Doch so unvorsichtig, weiter liegen zu bleiben, war er nicht, also drehte er sich um und zog instinktiv die Beine an.

Im nächsten Moment warf Ianu sich fauchend auf den Dunkelelben und stach mit seinen spitzen Fingernägeln nach den Augen seines Gegners.

„Ianu! Hör auf!“ Wütend rammte Tyel ihm seine Füße in den Magen und stieß ihn zurück.

„Ich bin dein Cousin! Wir sind von gleichem Blut!“

Mit schmerzverzerrtem Gesicht krümmte Ianu sich und starrte seinen Verwandten hasserfüllt an.

„Wir sind nicht von gleichem Blut! Ich bin kein Verräter!“

Tyel nutzte die Ablenkung, die er geschaffen hatte und stolperte rückwärts aus der Tür. Eines Tages hatte es so kommen müssen. Mann gegen Mann, bis auf den Tod.

Er wartete, immer bereit im nächsten Moment zur Seite zu springen. In seiner Konzentration bemerkte er die Elben hinter sich nicht. Ein raues Seil legte sich von hinten um seinen Hals und zog sich zu. Würgend riss Tyel die Hände hoch und griff nach der Schlinge. Wirkungslos glitten seine Finger über das raue Seil und die Fingernägel brachen ab.

Als Tyels Sichtfeld langsam aber sicher schrumpfte, stieß er in letzter Verzweiflung den Arm nach hinten. Ein Schmerzenslaut kam über die Lippen seines Peinigers und die tödliche Schlinge lockerte sich. Erneut stieß er den Arm zurück und das Seil fiel zu Boden.

Blutend hielt sich der Elbe die Nase und taumelte außer Reichweite von Tyels Händen.

Ianu heulte vor Wut und stürzte sich erneut auf Tyel. Wie auf ein unsichtbares Zeichen hin fielen die anderen Elben ebenfalls über ihn her.

Es war ein unfairer Kampf, den Tyel nicht gewinnen konnte. Zwei starke Arme hielten seinen Hals umschlungen und drückten ihn zu Boden.

Schmerzhafte Tritte trafen ihn zwischen die Rippen und ließen ihn einen leisen Schrei ausstoßen.

Ianu packte Tyels dunkles Haar und zerrte seinen Kopf nach oben.

„Wie fühlt es sich an, ein Verräter zu sein Tyel?  Tut es gut?“

Blut lief aus seinem Mund, als Tyel bissig erwiderte: „Ich bin lieber ein Verräter als ein Mörder. Ich habe Nelya nicht umgebracht. Das warst du, du hast deine eigene Schwester umgebracht.“

Wutentbrannt schlug Ianu seinem Feind ins Gesicht.

„Dafür wirst du sterben, du Hund!“

„Töte mich doch Ianu.  Dann habe ich wenigstens meine Liebste wieder. Ich kann sie wieder im Arm halten, ihre liebliche Stimme hören, ihr nahe sein. Bringen wir es hinter uns Ianu. Es hat keinen Sinn mehr. Das hatte es nie. Töte mich endlich.“

Zitternd stand der Elbe vor ihm und kämpfte mit seinen widersprüchlichen Gefühlen. Einerseits wollte er Tyel endlich töten, mit dem Ruhm, den Verräter zur Strecke gebracht zu haben nach Hause kehren und sich feiern zu lassen. Doch andererseits wollte er seinem Feind den Wunsch nicht erfüllen.

Wütend trat er Tyel erneut zwischen die Rippen und stieß einen weiteren Fluch aus.

Ein Brüllen raubte ihnen plötzlich das Gehör und mit lodernder Hitze stießen Flammen vom Himmel herab. In einem letzten Kraftakt hob Tyel die Arme und bedeckte sein Gesicht. Dem Tode nahe lag er so am Boden und wartete stillschweigend auf das Ende.

Jemand zerrte an seinen Handgelenken und versuchte sein Gesicht zu befreien.

„Lasst mich! Ich will es nicht sehen!“

Doch Tyel war zu schwach, um sich zu wehren. Blinzelnd schaute er in zwei hellblaue Augen, die unter einer Maske hervorblitzten.

Diese Augen waren ihm so schmerzlich vertraut und rissen alte Wunden in seiner Seele wieder auf.

„Ich tue dir nichts. Sei unbesorgt.“

Diese Stimme.... so weich und melodisch wie die Klänge einer Harfe. Sie weckten Erinnerungen an den Wald und sonnendurchflutete Lichtungen.

„Nelya... sag mir, bin ich tot, dass ich dich endlich wieder sehe Liebste?“

„Du bist nicht tot. Noch nicht.“

Seufzend sank Tyel in die allumfassende Schwärze der Ohnmacht.

 

Eine raue Zunge strich über Tyels Wange und hinterließ einen nassen Streifen.

Grollend warf er den Arm über seine Augen und wandte den Kopf ab. Eine schuppige Schnauze schob sich unter sein Hemd und kratzte über seine Haut. Erschrocken riss er die Augen auf und starrte in zwei amethystfarbende Augen.

„Huch.“

Der junge Drache legte den Kopf schief und musterte Tyel neugierig. Schließlich beugte er sich wieder nach vorne und leckte ihm erneut durchs Gesicht.

Lachend legte Tyel ihm die Hand auf die Schnauze und musterte ihn näher. Der schwarze, geschuppte Körper war schmal und feingliedrig, die großen, ledernden Flügel standen im erstaunlichen Gegensatz zu dem kleinen Körper.

„Was für ein Drache bist du den? Bestimmt kein Wasserdrache.“

Der Kleine stieß ein dumpfes Grollen aus und reckte den Hals voran, bis er Tyels Stirn berührte. Ein heißer, alles verzerrender Schmerz fuhr in seinen Kopf und er stieß einen Schmerzensschrei aus. Mit flatternden Flügeln sprang der Kleine zurück und kauerte sich zusammen.

„Was hast du getan?“

Zwischen seine wirbelnden Gedanken mischte sich eine leise, kindliche Stimme. Kopfschüttelnd versuchte Tyel wieder einen klaren Gedanken zu fassen, als die Stimme wieder erklang.

Name...

Für einen Moment stockte ihm der Atem und der Dunkelelbe wandte sich um, auf der Suche nach dem Besitzer der Stimme.

Der kleine Drache stieß ein ungeduldiges Geräusch aus und Tyel warf ihm einen fragenden Blick zu.

Name...

Angst erfasste ihn und er kam schwankend auf die Beine.

„Nein, dass kann nicht sein. Das hast du nicht getan. Ich bin kein Reiter.“

Er hatte schon davon gehört, in alten Sagen. Reiter konnten die Gedanken ihres Drachen hören, sobald das Drachenmal auf ihrer Stirn erschien. Vorsichtig berührte er seine Stirn und spürte die Hitze unter seinen Fingern.

Der Drache stand auf und biss dem Dunkelelben leicht ins Bein. Dann knabberte er an einer seiner Krallen.

Gilraen...

Er hob den Kopf und knabberte an Tyels Bein.

Name...

Nun verstand Tyel. Er kniete sich vor Gilraen und flüsterte: „Mein Name ist Tyel. Und du hast mich zu deinem Reiter gemacht. Ich bin ein Drachenreiter. Du hast keinen guten Geschmack was Leute angeht Kleiner.“

Mit einem Geräusch, dass einem Schnurren glich, rollte Gilraen sich in seinen Armen zusammen und schaute blinzelnd zu ihm auf.

Himmelsflug

Ächzend bog der Ast sich durch und berührte beinahe den Boden. Die Muskeln gespannt kauerte Gilraen auf dem dünnen Holz und fixierte etwas in dem dornigen Gebüsch unter sich.

Kopfschüttelnd betrachtete Tyel seinen Drachen und konnte nicht anders, als sich zu wundern. In zwei Monden war Gilraen um das dreifache gewachsen und reichte ihm mittlerweile bis zur Hüfte. Und trotzdem jagte Gilraen noch immer Mäuse, indem er sich auf einem viel zu dünnen Ast kauerte und wartete.

Pass auf Gilraen. Du wirst noch einmal auf die Nase fallen.

Der Drache ignorierte ihn. Seufzend wechselte Tyel in die einzige Sprache, auf die der Drache wirklich reagierte: die Sprache der Elben.

Anar, Gilraen. Ered drego amur rista.

Gilaren wandte den Kopf und starrte seinen Reiter an.

Du bist ein Spielverderber Tyel. Ich will jagen. Se anur ai.

Wie sie es eingeübt hatten, sprang er auf Tyel zu und er fing ihn trotz des Gewichts lachend auf.

„Langsam musst du aber fliegen lernen. Ewig werde ich dich nicht tragen. Du wirst langsam wirklich schwer.“

Gilraen schnurrte nur und legte den Kopf auf seine Schulter. Seit er bei Tyel war, befanden die beiden sich auf der Flucht. Stumm überlegte der Drache, ob es anders sein würde, wenn er groß genug war, um Tyel auf seinem Rücken tragen zu können. Geschickt verbarg er seine Gedanken vor dem Dunkelelben und dachte über das Problem nach.

Tyel steuerte eine freie Lichtung in dem riesigen Wald an, der ihnen als Versteck diente.

Dank Gilraen hatte er sich schnell von seinen Verletzungen erholt, nur eine schmale rote Narbe an seinem Mund erinnerte noch an den Übergriff.

Schließlich stand er auf dem freien Feld, den Drachen im Arm und hob den Blick zum Himmel.

„Du wirst jetzt fliegen. Breite die Flügel aus und flieg. Na los!“

Ohne Vorwarnung warf Tyel Gilraen in die Luft und beobachtete, wie der Drache hilflos mit den Flügeln schlug und wieder zu Boden segelte.

„Nein! Fliegen Gilraen! Naste!“  Er hob den Drachen erneut auf und warf ihn in die Luft. Wieder segelte er nur zu Boden.

„Gilraen, du musst dich auch ein bisschen anstrengen. Von alleine wirst du nicht fliegen können.“

Der Kampfgeist des Drachen war geweckt und er kauerte sich am Boden zusammen, die Flügel ausgebreitet. Er stieß sich vom Boden ab und stand für einen Moment in der Luft.

„Naste, Gilraen! Naste! Ered hathe!“

Kräftig schlug er mit den Flügeln und stieg langsam in die Luft.

Tyel stieß ein dumpfes Lachen aus und blickte Gilraen nach, wie er über den Baumwipfeln verschwand. Langsam suchte er mit seinem Geist nach dem Drachen und spürte, wie die Verbindung immer schwächer wurde, bis sie beinahe ganz verschwand.

Ein Gefühl der Schwere legte sich auf sein Herz und für einen Moment fragte er sich, ob Gilraen überhaupt zurückkehren würde. Er war nicht dazu geboren, ein Reiter zu sein. Sein Schicksal sollte sein, durch Ianus Hand zu sterben. Ein Schwarm Vögel stieg aus den tiefen des Waldes aus und Tyel konnte ein Lächeln nicht unterdrücken. Kaum konnte Gilraen fliegen, jagte er auch schon Vögel.

Den Blick noch immer auf den fliehenden Schwarm gerichtet, erblickte er plötzlich einen silbernen Pfeil. Er kannte diesen Pfeil. Die Dunkelelben nutzten sie. Brennende, alles verzehrende Wut loderte in ihm auf und ohne an die Folgen zu denken sprintete er los. Äste schlugen ihm ins Gesicht und rissen seine Haut auf, doch er spürte den Schmerz nicht. Für ihn zählte nur noch Gilraen und der Elbe, der ihn bedrohte. Elben jagten keine Vögel, dafür waren sie zu sehr mit den Tieren verbunden. Aber den Drachen eines Abtrünnigen würden sie ohne zu Zögern erlegen. Besonders, wenn er noch so klein war.

Durch die Dornenbüsche hindurch sah Tyel den Elben. Er kannte ihn, es war sein Cousin zweiten Grades. Der Elbe suchte mit den Augen den Himmel ab und legte einen zweiten Pfeil auf die Sehne.

Ein Schrei, der mehr einem Tier zu gehören schien, entrang sich Tyels Kehle und er fiel den Elben wie eine Wölfin an, die ihre Jungen verteidigte. Tief bohrten sich die Zähne des Dunkelelben in den Nacken seines Gegners und hinterließen blutige Spuren.

Schreiend wehrte sein Cousin sich und kämpfte darum, Tyel abzuschütteln. Knurrend bohrte Tyel seine Fingernägel in die Oberarme des Mannes und hielt ihn fest.

Hakreth warf sich nach hinten und drückte Tyel gegen den Stamm einer Eiche. Die Rinde kratzte über seine Haut und Tyel ließ fauchend von ihm ab.

Sein Cousin taumelte nach vorne und wirbelte herum. So standen die beiden sich gegenüber, Hakreth blutend und Tyel blutverschmiert und rasend vor Wut.

Zwischen ihnen gab es keine Verwandtschaft mehr, keine Verbundenheit. Nur noch der Wille zum Kampf bis auf den Tod.

Knurrend griff Tyel erneut an und schnappte nach der Kehle seines Feindes. Hakreth wehrte den Angriff mit einem Schlag ab und riss ihm die Wange auf. Der Drachenreiter schlang die Arme um Hakreths Oberschenkel und drückte sich gegen ihn. In dieser Umklammerung stürzten beide zu Boden. Kleine Äste bohrten sich in ihre Haut. Hakreth rammte seinem Cousin das Knie ins Gesicht und hörte das Knirschen der Knochen. Jaulend rutschte Tyel zurück und hielt sich die Nase. Hellrotes Blut lief zwischen seinen Fingern hervor und er warf ihm einen vernichtenden Blick zu. Erneut fielen sie übereinander her wie tollwütige Hunde, kratzten, schlugen und bissen, bis Blut floss. Keuchend ließen sie wieder voneinander ab und belauerten sich.

„Wir müssen das nicht tun Tyel. Ergib dich und liefere deinen Drachen aus.“

„Niemals. Du verstehst das nicht Hakreth. Du hast es nie verstanden. Ianu hasst mich, weil seine Schwester mich liebte. Nur deshalb jagt er mich und deshalb ist sie auch tot.“

Hakreth blickte seinem Cousin in die Augen und schluckte dir Tränen hinunter. Sie waren wie Brüder aufgewachsen und er konnte sich nicht erklären, wie es soweit kommen konnte.

Zitternd legte er die Fingerspitzen an Tyels Wange und flüsterte leise: „Se maroum ami, Tyel. Vertha naro.“

„Nein!“

Bevor Tyel es verhindern konnte, hatte der Elbe einen Dolch aus seinem Stiefel gezogen und sich in die Brust gerammt.

Zitternd fiel er nach hinten und sein Cousin fing ihn auf. Blutend lag er in Tyels Armen und kämpfte um die letzten Augenblicke in seinem Leben.

„Bitte, Hakreth, warum hast du das getan?“

Der Elbe hustete leise und schloss für einen Moment die Augen. Als er zu einer Antwort ansetzte, war seine Stimme heiser und enthielt bereits den Schatten des Todes.

„Sieh was aus uns geworden ist. Wir bekämpfen einander und das ohne Grund. Behüte deinen Drachen und kämpfe dafür, dass unser Volk Frieden findet. Kämpfe dafür. Ich bin der Erste, der sich für den Frieden opfert. Behalte mich in Erinnerung, wenn du in Frieden lebst.“

Zitternd entwich der letzte Atemzug seinen blutigen Lippen und die Dunkelheit des Todes schlich sich in seine Augen.

Schluchzend beugte Tyel sich über ihn und küsste seine Stirn. Einen letzten Hauch Wärme besaß seine Haut noch.

Mit leiser Stimme flüsterte Tyel einen Todessegen vor sich hin und sang leise das Totenlied seines Volkes. Rauschende Flügel klangen hinter ihm auf und er musste sich nicht einmal umdrehen, um zu wissen das Gilraen zurück war.

Geduldig wartete der Drache, bis Tyel geendet hatte. Das letzte Wort verklang zwischen den Bäumen und Tyel hielt die Augen geschlossen. Tränen rannen über sein Gesicht und seine Schultern bebten. Seine Seele schien zu zerreißen und Schuld nagte an seinen Eingeweiden wie ein hungriger Bär. Gilraen bedachte ihn nicht mit tröstenden Worten, sondern schmiegte seinen Geist an Tyels und ließ ihn wissen, dass er da war und seinen Schmerz teilte. Die Nacht legte ihr samtiges Tuch über die Erde und Tyel erhob sich langsam. Seine Muskeln waren steif geworden von den Stunden in der Kälte. Hakreth rutschte von seinem Schoß und blieb reglos auf dem Boden liegen.

Er stand dir sehr nahe, nicht?

Stumm nickte er und rieb sich mit dem Ärmel die Wange trocken.

Kannst du ein Feuer entzünden? Hakreth muss verbrannt werden, damit seine Seele in die ewigen Hallen der Götter einziehen kann.

Gilraen, so jung er noch war, kauerte er sich vor den Toten und blies einen Feuerstrahl aus seinen Nüstern. Knisternd fing die Kleidung des Elben Feuer. Lautlos trat der Drache neben seinen Reitern und lehnte sich an ihn. Dankbar legte Tyel ihm die Hand auf den schuppigen Hals. So standen die beiden da, bis die Flammen den Leichnam verzerrt hatten und die Flammen zum Himmel empor schlugen.

 

Ein kalter Nebel lag über dem Wald und durchnässte jeden, Elbe, Mensch oder Tier. Schnaubend erhob Gilraen sich von seinem Lager und betrachtete seinen Reiter. Tyel hatte die Augen zusammengekniffen und murmelte im Schlaf vor sich hin. Normalerweise schlich der Drache sich nicht in die Gedanken seines Reiters, aber er war zu neugierig.

Staunend versank er in dem Traum, der so echt war, dass es nur eine Erinnerung sein konnte:

 

Er stand in einem Wald. Es war keiner dieser Wälder, in dem sie sich gerade befanden, sondern in einem tiefgrünen, uralten Wald, in dem die Bäume beinahe den Himmel berührten.

Er sah alles aus Tyels Augen und konnte die Sonnenflecken auf dem Boden sehen. Er spürte die Leichtigkeit, die von Tyel Besitz ergriffen hatte.

Ein Lachen drang an seine Ohren und Tyel drehte sich um. Ein junges Mädchen von herzergreifender Schönheit lief auf ihn zu und blieb vor ihm stehen. Ihr Haar leuchtete wie gesponnenes Gold und ihre Augen waren blau wie der wolkenlose Himmel an einem Sommertag. Spitze Ohren lugten unter dem glänzenden Haar hervor.

Die Elbin schaute zu Tyel auf und ihr Blick wurde weich und liebevoll. Eine Welle der Zärtlichkeit rollte über Tyel hinweg und er senkte den Kopf, um sie zu küssen. Sie wartete bis zum letzten Moment, bevor sie kichernd zurückwich und sich umdrehte. Es war ein Spiel, dass die beiden Tag für Tag wiederholten. Als Tyel nach ihrem Gürtel griff, erklang eine scharfe Stimme hinter ihnen auf.

„Nelya! Was tust du bei diesem Gesindel?“

Ruckartig blieb sie stehen und drehte sich zu Ianu um. Tyel hielt den Kopf gesenkt und ballte die Hände zu Fäusten.

„Nichts Ianu. Ich komme mit dir.“

Sie schenkte ihm ein letztes Lächeln und lief auf ihren Bruder zu.

Seufzend legte er den Kopf in den Nacken und atmete tief ein. Dann schritt er nach vorne und verschwand zwischen den Bäumen.

 

Gilraen zuckte zusammen, als der Traum wechselte und zog sich zurück. Der Traum war zu interessant, zu wichtig, als dass er es hätte bleiben lassen können. Erneut sank er in den Strudel der Erinnerungen und ließ sich mitziehen.

 

Trommeln schlugen einen wilden Takt, der das Blut zum Kochen brachte. Tyel rannte zwischen Kämpfenden und Leichen hindurch. Blut spritzte seine Beine hinauf und durchtränkte seine Kleidung. Er wusste nicht, warum er kämpfte. Er wusste nur, dass er Nelya finden musste. Ein hochgewachsener Mann stellte sich ihm in den Weg. Tyel knurrte und umklammerte den Griff seines Schwertes. Als der Mensch ebenfalls sein Schwert hob, sprang Tyel voran und rammte ihm seine Waffe in den Bauch. Knirschend durchdrang sie die Rüstung und schnitt in das Fleisch. Blut spritzte hervor und durchweichte Tyels Handschuhe. Würgend fiel der Mann auf die Knie und riss ihm das Schwert aus der Hand. Ohne es wiederzuholen rannte er weiter und wich jedem Schwert, jeder Person aus und rannte um den Felsen, hinter dem Nelya verschwunden war.

Eisiger Schrecken umklammerte sein Herz und brachten ihn zum Halten. Nelya hing in Ianus Armen, leblos und blutüberströmt. Ein Dolch ragte aus ihrer Brust. Die Hand, die den Dolch geführt hatte, war Ianus. Er hatte seine Schwester getötet, seine einzige Schwester. Ihre Augen weiteten sich, als sie Tyel erblickte und sie flüsterte: „Tyel, Liebster...“

Mit einem letzten erstickten Laut drang ein Schwall Blut aus ihrem Mund und ihre Seele entfloh ihrem Körper.

Tyels Blick hob sich und er blickte in Ianus Augen. Kein Wort wollte über seine Lippen kommen, doch Ianu nahm ihm jede Chance zu reden.

Er ließ Nelya fallen und zog den Dolch aus ihrer Brust. Klirrend landete er vor Tyels Füßen. Verwirrt beugte der Dunkelelbe sich hinab und ergriff die Waffe.

„Verräter! Tyel, du Verräter! Du hast meine Schwester getötet!“

Nun kannte er den Plan. Er sollte als Verräter getötet werden. Fluchend wirbelte er herum und floh erneut durch die Kämpfenden. Tränen verschleierten seine Sicht und sein Herz schien unter dem Schmerz zu zerbrechen. Keiner hielt ihn auf, als er aus den Bergen floh und seinen Weg ins Reich der Menschen antrat.

 

Angriff

Gilraen musterte seinen Reiter nachdenklich. Dunkle Ringe lagen unter seinen Augen und Selbsthass fraß sich tief in seine schneeweiße Haut.

Der Drache hatte ihm nicht gestanden, in seinen Träumen gewühlt zu haben. Langsam griff Tyel nach dem abgewetzten Holzlöffel und rührte gähnend den Eintopf um. In seinen dunklen Augen lag bereits ein Hauch von Amethyst. Er würde sich immer mehr verändern, bis er wahrhaft wie ein Drachenreiter aussah.

Hast du schlecht geträumt?

Tyel brauchte einen Moment, um die Schatten der Nacht abzuschütteln und hob verwirrt den Blick.

„Ja. Aber das geht vorbei. Sobald der Nebel verschwunden ist, bin ich wieder auf den Beinen.“

Er schenkte Gilraen ein trauriges Lächeln und blickte wieder in den brodelnden Eintopf.

Seine Gedanken wanderten zu seinem Cousin, dessen Seele nun bei den Göttern sein musste.

Ob er wohl von den ewigen Hallen in die Welt blicken konnte und seinem Cousin zürnte, der Schuld an seinen Tod war?

Mit zusammengebissenen Zähnen senkte Tyel den Kopf und legte die Hände an die Schläfen. In seinem Kopf schwirrten die Stimmen der Toten umher, an deren Ableben er Schuld war.

Gilraens Geist schmiegte sich wie zuvor an seinen und hielt die Stimmen fern.

Dankbar flüsterte Tyel: „Ohne dich wüsste ich nicht, was ich jetzt machen würde.“

Wenn wir schon davon reden. Was willst du als nächstes tun? Ewig können wir hier nicht bleiben. Ianu ist uns dicht auf den Fersen. Wohin?

Tyel biss sich auf die Unterlippe und dachte über die Möglichkeiten nach.

 Ihm war bewusst, dass er immer weiter auf das Reich der Elben zuging, und das wäre ihr sicherer Tod. Er könnte ins Reich der Menschen gehen, doch diese Wesen waren ihm zu fremdartig.

Aber es blieb kein anderer Ausweg.

„Wir werden zu den Menschen gehen. Sie sind zwar nicht wie wir, aber es ist sicher.“

Gilraen erhob sich und schüttelte die Flügel aus.

Gut. Lass uns aufbrechen!

Als würde er es schon sein ganzes Leben tun, stieg Gilraen in die Luft und verschwand zwischen den Bäumen. Tyel räumte seine Sachen zusammen und schulterte das Nötigste.

Leichtfüßig sprang er durch den Wald und vertiefte sich in seine Gedanken. Der Traum in der letzte Nacht hatte ihn verwirrt. Ein Teil von ihm hatte gewusst, dass er nur träumte, und doch fühlte es sich an, als würde er es erneut erleben. Die Trommeln hatten in seinen Ohren gedröhnt, sein Blut zum Kochen gebracht und ihn in einen wahren Blutrausch versetzt. Die Angst hatte seine Kehle verschnürt, als er sah wie Nelya verschwand. Auch jetzt begann sein Herz zu rasen, dachte er an den Kampf zurück. Wie alt war er damals gewesen? Nicht älter als sechzehn Sommer und er hätte noch Jahrhunderte warten müssen, bevor er hätte kämpfen dürfen. Und trotzdem hatte er zum Schwert gegriffen und gekämpft.

Wütend unterdrückte er die aufsteigenden Tränen und schüttelte den Kopf. Sicher, er hatte Nelya geliebt, davon geträumt sie zu heiraten, aber es war für immer zu spät. Sie war tot, von ihrem eigenen Bruder aus dem Leben gerissen und er würde sie nie wieder in den Armen halten.

Eine Wurzel schlang sich um sein Fußgelenk und brachte Tyel zu Fall. Dumpf schlug er auf dem Boden auf und keuchte vor Schmerz. Ein stechender Schmerz fuhr in seinen Fuß und er betastete vorsichtig die schmerzende Stelle. Gebrochen war sein Fuß sicher nicht, aber er würde nur beschwerlich laufen können.

Hitzewellen fuhren durch seinen Körper und ließen ihn zittern. Tyel war sich sicher, dass es nicht von ihm ausging, sondern von Gilraen. Suchend schickte er seinen Geist aus, erreichte den Drachen aber nicht. Tyel legte den Kopf in den Nacken und brüllte: „Gilraen! Gilraen! Wo bist du? Komm zurück!“

Nichts außer Stille antwortete ihm und er senkte den Kopf, Tränen in den Augen. Wo war sein Drache? Hatte Ianu ihn gefangen und getötet? War er wieder Schuld an dem Tod eines Unschuldigen?

In der Ferne hörte er ein Brüllen, dass ihm nur zu bekannt war. Das letzte Mal hatte er es gehört, als Ianu ihn fast zu Tode geprügelt hatte.

Schwankend erhob er sich und entlastete den verletzten Fuß. Sein Blick suchte die Baumwipfel ab und entdeckte den Schatten, der über ihn hinweg flog, zurück zur Lichtung. So schnell sein verletzter Fuß es zuließ, humpelte Tyel den Weg zurück und näherte sich langsam der Lichtung. Ein riesiger Drache stand auf dem aufgerissenen Boden und hielt den Kopf gesenkt. Die schwarzen Schuppen glänzten im Licht und die amethystfarbenen Augen des Drachen leuchteten, als er Tyel im Gestrüpp erblickte. Ein dumpfes Grollen drang aus der Brust des Drachen und dieser wendete den Kopf, um Tyel zu beschnüffeln. Und erst jetzt erkannte der Dunkelelbe Gilraen wieder. Aber wie er in kurzer Zeit so viel hatte wachsen können, war ihm schleierhaft.

Drachen können selbst entscheiden, wann sie erwachsen werden. Und für mich war die Zeit gekommen. Jetzt bin ich erwachsen. Und du kannst auf mir reiten.

Selbst seine Stimme hatte sich verändert. Sie war tief, dunkel und grollend wie der Donner über den Bergen.

Für einen Moment bekam Tyel Angst vor dem Drachen, doch das Gefühl verschwand so schnell wie es gekommen war.

Fliegen wir?

Tyels Lippen verzogen sich zu einem Lächeln und er nickte.

„Wir werden fliegen.“

Raschelnd breitete Gilraen die Flügel aus und verdunkelte für einen Moment den Himmel. Dann lagen sie am Boden und die Sonne drang wieder zu Tyel durch.

Mit einem mulmigen Gefühl in der Magengrube kletterte der Dunkelelbe auf Gilraens Rücken und legte die Hände auf die glatten Schuppen.

„Wo soll ich mich festhalten Gilraen? Dein Hals ist zu glatt.“

Warte. Nimm die Hände weg.

Gehorsam hob Tyel die Hände und schreckte zusammen, als einzelne Schuppen sich zur Seite bewegten und weiße Stacheln empor schnellten.

„Was ist das?“

Das sind Stacheln. Ich bin ein Schatten der Nacht. Jeder meiner Art kann das.

Zögernd legte Tyel die Hände um einen der Stacheln und presste die Beine an den geschuppten Leib des Drachens.

Er spürte, wie die Muskeln sich spannten, als Gilraen in die Knie ging und sich vom Boden abstieß. Wind peitschte Tyel ins Gesicht, als sein Drache die Flügel nach unten schnellen ließ und in den Himmel hinaufschoss..

Tyels Zähne klapperten von der plötzlichen Kälte und er beugte sich tief über den langen Hals. Langsam glitt Gilraen in einen Gleitflug über und stieß erneut ein Brüllen aus.

Tief unter ihnen lag der Wald. Endlos erstreckte er sich unter ihnen wie ein grünes Meer.

Lachend richtete Tyel sich auf und lockerte seinen Griff. Er fühlte sich befreit, als wären jegliche Fesseln von ihm abgefallen.

„Das ist wunderbar!“, brüllte er gegen den Wind an und beugte sich nach vorne.

Ich zeige dir etwas Wunderbares. Aber du musst mir vertrauen.

Tyel griff den Stachel fester, als Gilraen höher stieg und die Wolkendecke durchdrang.

Für einen Moment stand er so senkrecht in der Luft, bevor er sich rückwärts fallen ließ.

Der Wind drückte den Dunkelelben gegen den blanken Rücken seines Drachen. Die Schuppen rissen sein Hemd auf und kratzten über seine Haut. Lachend drehte Tyel den Kopf, um einen Blick auf den Erdboden zu erhaschen. Er raste auf die beiden zu, schien unaufhaltsam ihr Ende bringen zu wollen. Im letzten Moment drehte Gilraen sich um und breitete die Flügel aus. Seine Klauen streiften die Baumwipfel und rissen die Blätter ab.

„Einerseits hatte ich Angst zu sterben, andererseits war es unglaublich.“

Gilraen lachte grollend und segelte über die Bäume hinweg. Die beiden waren gefangen in ihrer Glückseligkeit, als der erste Pfeil an ihnen vorbeizischte.

Erschrocken beugte Tyel sich nach vorne und lugte über Gilraens Schulter in die Tiefe. Er sah die Bogenschützen nicht, hatte aber eine Ahnung, wer es war. „Flieg weg Gilraen! Sie schießen auf uns!“

Gilraen drehte ab, doch der nächste Pfeil hielt ihn auf. Fauchend versuchte er an Höhe zu gewinnen, als der erste Pfeil die ledernde Flügelhaut durchschlug.

Ein stechender Schmerz fuhr durch Tyels Rücken und er bog das Rückrat durch. Gilraen schrie auf und trudelte in die Tiefe. Ein Pfeilhagel ging über den beiden nieder und zerrissen Gilraens Flügel. Drache und Reiter schrieen gleichermaßen, bevor sie mit einem erderschütternden Krachen auf dem Waldboden aufschlug. Tyel wurde von Gilraens Rücken geschleudert und blieb wenige Meter entfernt liegen. Rasende Schmerzen tobten in seinem Rücken und machten ihn bewegungsunfähig.

„Also wenn ich dich verletzte, schmerzt es auch deinem Drachen. Und andersrum ebenfalls. Eine interessante Begebenheit.“

„Ianu“, flüsterte Tyel und versuchte sich aufzurichten. Seine Arme knickten unter ihm ein und er blieb auf dem Rücken liegen.

Sein Blick begegnete Ianus kalten, blauen Augen. Sein Feind beugte sich über ihn und grinste hämisch.

Wütend spuckte Tyel ihm ins Gesicht und bleckte die Zähne. Sein Blick ging an dem Elben vorbei und blieb an Gilraen hängen. Verzweifelt wehrte der Drache sich, doch eine schwere Eisenkette um seinen Hals zog ihn zu Boden. Ianus Schergen fesselten den Drachen an den Boden. Selbst sein Maul banden sie zu.

„Wehrst du dich, stirbt dein Drache. Wehrt dein Drache sich, stirbst du.“

Ianu blickte ihn kalt an. Ein leichtes Lächeln überzog seine Lippen und Tyel schwante Böses.

Ein harter Fußtritt traf seine Schläfe. Sterne explodierten vor seinen Augen und er fiel in die Schwärze der Ohnmacht.

 

 

Vergessen

Tyels Kopf pochte unangenehm und sein Mund war ausgetrocknet. Nur langsam kehrten die Erinnerungen zurück und er öffnete blinzelnd die Augen. Er sah nur Schemen, die vor seinen Augen hin und her huschten. Dumpfe Geräusche drangen an sein Ohr und er versuchte sie einzuordnen. Er hörte Stimmen, helle Stimmen, die sich flüsternd unterhielten. Einzelne Worte konnte er nicht hören.

Gilraen?

Suchend schickte er seinen Geist aus und hoffte auf eine Antwort. Als er nichts hörte, ließ er den Kopf hängen und schloss die Augen wieder.

Tyel!

Die Stimme schien sein Trommelfell von innen zu zerreißen und mit einem Mal war er hellwach. Die Schemen wurden zu scharfen Umrissen und er konnte sehen, dass er in einem Kerker gefangen sein musste. Dunkle Steinwände hielten jedes Licht ab und Eisenstangen so dick wie sein Oberarm versperrten den Ausgang.

 Tyel! Endlich bist du wach! Seit Stunden schreie ich deinen Geist schon an! Geht es dir gut?

Stumm nickte Tyel, bis ihm klar wurde, dass Gilraen ihn ja nicht sehen konnte.

Ja. Ich fühle mich nur ein bisschen schwummrig. Kein Grund zur Sorge. Was ist mir dir?

Es ist alles in Ordnung mit mir Tyel. Man hat mich nur gefesselt. Ich kann mich nicht bewegen. Sei unbesorgt, alles wird gut.

Schritte hallten von den steinernen Wänden wieder und Tyel richtete sich ein wenig auf. Mit schweren Eisenketten gefesselt hing er von der Decke und wusste nicht, wie er sich befreien konnte. Ianu tauchte auf der anderen Seite des Gitters auf und grinste Tyel höhnisch an.

„Dies ist wahrhaft ein schöner Anblick. Du hier, Tyel, gefesselt, unfähig zu laufen. Selbst wenn du nicht gefesselt wärst, könntest du nicht laufen. Es ist seltsam, wie leicht sich die Sehnen an den Füßen durchtrennen lassen. Ein Schnitt, und man kann nie wieder laufen. Du hast Glück, dass Vinjaron dich lebend sehen will. Aber du bist ein Reiter, also musst du nicht auf beiden Beinen stehen. Du lässt dich einfach tragen.“

Tyel wusste nicht, wovon der Elbe sprach, doch Angst beschlich ihn.

„Holt ihn raus. Und tragt den hohen Herrn bitte. Ich würde zwar zu gerne sehen, wie er vor mir am Boden kriecht, aber ihr wisst was Vinjaron von einem Drachenreiter hält.“

Zwei Männer zogen das Gitter auf und traten auf Tyel zu. Nach und nach lösten sie die Fesseln. Klirrend fiel eine nach der anderen zu Boden und als die letzte fiel, sank der Dunkelelbe in die Arme der Fremden. So schleiften sie ihn durch die Gänge, immer tiefer in den Berg hinein. Für Tyel bestand kein Zweifel, dass er sich in Iab Sanir befand, der Stadt der Dunkelelben, die hoch oben in den nordischen Bergen lag.

Zitternd versuchte er seine Füße auf den Boden zu setzten, um zu laufen, doch sie gehorchten ihm nicht.

Gilraen! Ich kann nicht laufen!

Augenblicklich war die Präsenz des Drachens wieder da

Bleib ruhig. Tue nichts unüberlegtes. Unser Leben hängt davon ab.

Am Rande der Panik atmete Tyel tief ein und versuchte seinen Geist zu beruhigen. Eine hölzerne Tür kam in Sicht. Sie war verziert mit den Zeichen der drei mächtigsten Clans der Dunkelelben: der Adler des Ameragon, der Falke des Carim und der Schneetiger der Narié.

Lautlos schwang die Tür auf und ließ die Besucher ein. Schneeweißer Marmorboden eröffnete sich ihnen, der ihre Spiegelbilder grotesk verzerrt spiegelte. Buntes Licht fiel in den Saal und ließ alles in diffusen Farben glitzern. Tyel hob den Blick zur Decke und konnte nicht aufhören zu staunen. Das Dach bildete eine riesige Kuppel, gemacht aus reinem Edelstein.

Sie schleiften ihn vor einen steinernen Thron und ließen ihn zu Boden fallen. Grollend stemmte er sich hoch und kniete vor den Stufen.

„Dies ist also der Reiter? Ich hatte ihn mir anders vorgestellt. Um genauer zu sein hatte ich gedacht, er könne laufen.“

Tyels Blick wanderte zu dem Mann auf dem Thron. Ein schwarzer Kapuzenumhang verhüllte den Körper und warf einen dunklen Schatten auf sein Gesicht.

Seit dem großen Krieg hatte es keinen Anführer aller Dunkelelben gegeben. Stumm rechnete Tyel nach. Er hatte sechzehn Sommer gezählt, als der Krieg begann und der Anführer starb.

„Seit fünfhundert Jahren saß keiner mehr auf diesem Thron. Und es sollte nie wieder einer tun. Wie kannst du es dir anmaßen, diesen Thron zu besteigen und über die Dunkelelben herrschen zu wollen? Sicher ist dies deine Absicht.“

Einen Moment herrschte Stille, bevor der Mann antwortete: „Du bist nicht dumm, Drachenreiter. Und sicher, dass ist meine Absicht. Ich bin Vinjaron, Herrscher der Dunkelelben und Vernichter der Menschheit. Und du wirst mir helfen. Ein Drache an meiner Seite, und dazu sein Reiter. Wir werden die Menschen aus unserer angestammten Heimat vertreiben. Früher lebten wir dort, lange Zeit vor ihnen, und sie vertrieben uns. Jetzt werden wir zurückkehren und sie vernichten. Wie klingt das für dich?“

Blinzelnd schaute Tyel von seinen Händen auf und brauchte einen Moment, um zu bemerken, dass Vinjaron wirklich ihn mit der Frage gemeint hatte und auf eine Antwort wartete.

„Ich weiß nicht. Halsbrecherisch, dumm, größenwahnsinnig, verrückt. Soll ich fortfahren? Da fällt mir noch einiges ein.“

Ein dumpfes Grollen erklang unter der Kapuze hervor. Tyel senkte den Kopf und lächelte verstohlen.

„Sag mir, ist dir dein Leben lieb?“

Tyel zuckte gleichgültig mit den Schultern und erwiderte leise: „Ich wurde schon mit einem gebrochenen Herzen geboren und lebe seit fünf Jahrhunderten damit. Womit willst du mir drohen? Mich zu töten? Ich bitte darum.“

 „Du schwörst mir also nicht die Treue?“

Der Dunkelelbe schüttelt den Kopf und starrte direkt in das Dunkel der Kapuze.

„Dann hast du es nicht anders gewollt. Bringt ihn in die Kammer. Aber bringt ihn nicht um.“

Die beiden Elben packten ihn erneut an den Armen und zogen ihn zurück. Tyel hatte keine Ahnung, was die Kammer war, aber so wie er Ianu kannte und Vinjaron einschätzte, konnte es nichts gutes sein.

Die Kammer lag tief im Berg verborgen, eingemeißelt in Felsen. Die Elben zogen Tyel zu der entlegensten Wand hinüber und legten ihm erneut Eisenfesseln an.

Tyel zerrte fauchend an den Ketten und ließ den Blick  durch den Raum wandern.

Der Atem stockte ihm in der Kehle, und er wusste nun, was die Kammer war. Foltergerät um Foltergerät reihte sich aneinander, eines grausamer als das andere.

„ Sollen wir ihm die Augen verbinden?“

Sein Blick huschte zu Ianu. Der Dunkelelbe hoffte, dass er das Grauen nicht sehen musste.

„Nein. Die schlimmste Folter ist, zu sehen was als nächstes passiert und es nicht verhindern zu können. Nicht wahr, Tyel?“

Erinnerungen stiegen in ihm hoch und er schob trotzig den Kiefer vor.

Gilraen, tue mir einen Gefallen. Trenne die Verbindung. Sofort.

Tyel? Was ist mit dir?

Der Dunkelelbe verdrängte den Drachen aus seinen Gedanken und fixierte Ianu. Der Elbe schritt an den Geräten vorbei, ließ die Finger über das ein oder andere Instrument wandern.

Dann drehte er sich schwungvoll um und rannte beinahe zu Tyel zurück.

„Wir fangen hiermit an.“

Aus den Falten seines Umhangs zog er ein scharfes Messer hervor und setzte es an Tyels Handgelenk an.

„Nein, dass würde dich umbringen. Wir schneiden woanders. Zieht ihm das Hemd aus.“

Gehorsam sprangen seine Handlanger nach vorne und zerrten das grob gewebte Hemd herunter. Zitternd verfolgte Tyel mit den Augen das Messer, wie es seinen Arm entlangwanderte und an seinem Schlüsselbein hielt.

„Das ist eine gute Stelle. Hier fangen wir an.“

Zuerst spürte Tyel nichts, doch dann schlich sich der brennende Schmerz in seine Adern. Seine Zähne knirschten unter dem Druck, als er sie zusammenbiss, um nicht zu schreien. Genussvoll zog Ianu das Messer über den Körper seines Feindes, vom Schlüsselbein bis hinab zur Hüfte. Hellrotes Blut trat aus der Schnittwunde hervor und ließ über die schneeweiße Haut.

Tyel keuchte, als Ianu das Messer zurückzog und ihn musterte.

„Das ist erträglich. Nehmen wir etwas anderes. Leanas, heize die Kohlen an.“

Gehorsam trabte der angesprochene Elbe zu dem Kohlebecken in einer Nische des Raumes, während Ianu sich an einem langen Eisenstab zu schaffen machte.

Es schien Stunden zu dauern, bevor die Kohlen glühten und Ianu grinsend vor ihn trat.

„Du liebst doch das Feuer, so als Drachenreiter. Jetzt wirst du spüren, was es wirklich heißt, in Flammen zu stehen.“

Leanas reichte ihm den erhitzten Eisenstab und Ianu verschwand aus Tyels Sichtfeld.

Der Dunkelelbe spürte die Hitze, bevor der Stab seine Haut berührte. Seine Haut zog sich zusammen, als wolle sie ihrem Schicksal entfliehen. Hatte Tyel sich vorgenommen, keinen Laut des Schmerzes über seine Lippen kommen zu lassen, so scheiterte er kläglich.

Schreie, eines Tieres ähnlich, entrangen sich seiner Kehle, als er den Rücken durchbog und sich gegen das glühende Eisen wehrte. Unbarmherzig wanderte der Schmerz über seinen Rücken und jagte Wellen schier unerträglichen Schmerzes durch seinen Körper. Kurz bevor sein Körper den Schmerzen nicht mehr standhalten konnte, verschwand das Eisen von seiner Haut und die Stande landete klirrend am Boden.

„Gibst du auf?“

Tyel konnte Ianu nicht sehen, hörte aber seine Stimme und wandte den Kopf.

„Niemals. Niemals gebe ich auf.“ Seine Stimme war heiser vor Schmerz und Tränen.

Die Schritte des Elben hallten wieder, als er auf und ab schritt.

„Lasst ihn hängen. Wir gehen zu dem Drachen.“

„Nein!“

Tyel hob den Kopf. Er wollte Gilraen die Schmerzen ersparen, wollte ihn schützen. Nicht noch ein Unschuldiger durfte wegen ihm sterben.

„Ich gebe auf Ianu. Ich gebe um Gilraens Willen auf. Lasst ihn in Frieden.“

Ergeben ließ er den Kopf hängen und versuchte die Tränen hinunter zu schlucken.

„Bringt ihn in die Halle. Und zieht ihm was an.“

Die Ketten lösten sich von seinen Handgelenken und starke Arme umschlangen ihn.

Immer wieder wurde ihm schwarz vor Augen und nur mit Mühe hielt er sich bei Bewusstsein.

Kalter Marmor schmiegte sich an seine Haut und er stöhnte vor Erleichterung. Der kühle Boden tat seiner brennenden Haut gut.

„Hast du dich entschieden, Drachenreiter?“

Leise, aber hörbar kamen die Worte über Tyels Lippen: „Ja. Hiermit schwöre ich dir die Treue Vinjaron. Bei meinem Blut, meinem Leben, meiner Seele. Ich bin dir ergeben bis in den Tod.“

Warmer Atem streifte seine Haut, als sich jemand über ihn beugte.

„Deine Vergangenheit ist zu gefährlich. Du wirst vergessen. Du vergisst wer du bist, wen du liebst, wofür du kämpfst. Vergiss und gehorche mir.“

Die monotone Stimme zerrte Tyel in die abgrundtiefe Schlucht des Vergessens hinab und löschte alles aus. Wer er war, wofür er kämpfte, wen er geliebt hatte.

Alles verschwand, zurück blieb nur der Gehorsam.

 

Begegnung

Tyel kniete am Boden und hielt den Kopf gesenkt. Das lange schwarze Haar verdeckte sein Gesicht und streifte den kühlen Marmorboden.

„Ihr habt mich gerufen Herr?“

Vinjaron drehte einen der Ringe um seinen Finger und betrachtete mit einem triumphierenden Lächeln seinen Diener. Mit einem Drachenreiter an seiner Seite konnte er seinen Plan in die Tat umsetzen.

„Ja. Tyel, du musst etwas für mich tun.“

„Was immer Ihr wünscht.“

Der selbsternannte Herrscher der Dunkelelben unterdrückte ein Lachen, ein verschlagenes Glitzern in den Augen.

„Du wirst nach Narot reisen, der Hauptstadt der Menschen. Du als Drachenreiter dürftest ja schnell dorthin kommen. Reise dorthin und bringe mir den Kopf des Königs. Dann können wir mit dem Krieg beginnen. Ohne König sind die Menschen kopflos.“

Tyel nickte gehorsam und erhob sich. Langsam schritt er aus dem Thronsaal, hinauf zum höchsten Turm der Burg.

Gilraen drehte den Kopf, als er seinen Reiter hörte und grollte leise.

Mit einem traurigen Lächeln strich Tyel über die schwarzen Schuppen und zog sich auf seinen Rücken. Brüllend sprang Gilraen in die Tiefe hinab und breitete die Flügel aus. Pfeifend fuhr der Wind unter die dünne Lederhaut und die beiden segelten über die Berggipfel hinweg.

Fünf Jahre waren seit der Folter vergangen und noch immer wusste Tyel nichts von seiner Vergangenheit. Aber es war ihm egal. Niemand gab ihm einen Grund, darüber nachzudenken.

 

Harucka kniete am Boden und strich sich das widerspenstige rote Haar aus dem Gesicht. Immer wieder riss die Wolkendecke auf und schickte einen Regenschauer zu Boden.

Seufzend legte sie den Kopf in den Nacken und musterte die dunklen Wolken. Bald würde es wieder regnen. Kopfschüttelnd erhob sie sich und bahnte sich einen Weg durch die Bäume. In der Nähe verlief ein Bach. Sicherlich würde sie dort genug Feuerholz finden, um ein Feuer zu entzünden das die wilden Tiere abhielt.

Wütend schlug sie einen Ast beiseite und blieb wie angewurzelt stehen. In der Mitte des schmalen Bachs stand bereits ein Mann und schien sich lachend mit der Luft zu unterhalten. Ein tiefes Grollen erschütterte den Boden und Haruckas Blick wanderte zur Seite. Auf der kleinen Lichtung kauerte ein tiefschwarzer Drache und musterte den Jungen.

Wenn sie sich jetzt bewegen würde, würde der Drache sie hören und sicherlich verschlingen.

Ihr Blick wanderte zurück zu dem Mann. Das schwarze Haar reichte ihm bis zu den Hüften und verdeckte die schneeweiße Haut vollkommen.

Plötzlich hob er den Kopf und ließ den Blick über die Lichtung wandern. Selbst aus der Entfernung sah Harucka die misstrauischen dunklen Augen Sein Blick wanderte weiter, bis er sich in Haruckas Augen bohrte und ihre Kehle vor Angst zuschnürte.

Instinktiv wirbelte sie herum und floh durch den Wald. Es dauerte nicht lange und sie spürte den Atem ihres Verfolgers im Nacken. Wie Klauen legten sich die Hände des Mannes um ihre Oberarme und zerrten sie zu sich herum. Ihr Blick begegnete dem zweier schwarzen Augen, in denen amethystfarbende Punkte leuchteten.

„Du hast mich beobachtet. Wer bist du? Gehörst du zu den Menschen? Haben sie dich geschickt? Sprich!“

Wütend schüttelte er sie und Harucka legte ihre Hände über seine.

„Du tust mir weh!“

In seine Augen trat ein seltsamer Ausdruck, als würde er sich an etwas längst vergessenes erinnern. Der Griff seiner Hände lockerte sich und er flüsterte: „Es tut mir leid. Verzeih mir. Habe ich dir sehr weh getan?“

Harucka schüttelte den Kopf und trat einen Schritt zurück.

„Nein.  Nicht sehr. Hast du Angst vor Menschen? Du hast eben beinahe panisch geklungen.“

Er trat zurück und schlang die Arme um seinen Oberkörper.  Harucka konnte die lange rote Narbe sehen, die von seinem Schlüsselbein bis hinunter zur Hüfte reichte.

„Nein. Ich habe keine Angst. Ich...ich...“

Er verstummte und wandte den Blick ab. Dann blickte er wieder auf und zog die Mundwinkel nach oben.

„Ich traue keinen Menschen, dass ist alles. Viel zu lange habe ich gegen sie gekämpft.“

Harucka lächelte und nickte verständnisvoll.

„Ich weiß. Ich bin kein Mensch. Kein ganzer. Ich bin eine Halbelbin. Meine Mutter kam aus den Bergen.“

Die amethystfarbenden Punkte in seinen Augen leuchteten auf, als er den Heimatort ihrer Mutter hörte und er sagte: „Ich bin Tyel aus dem Clan der Adler. Ich habe noch nie eine Halbelbin gesehen. Wurdest du vor dem Krieg geboren, oder wie konnte eine Dunkelelbin sich auf einen Menschen einlassen?“

Harucka lächelte und erwiderte: „Nein. Mein Vater war ein abtrünniger Mensch. Er hat mit den Elben gekämpft. Ich bin Harucka.“

Tyel drehte sich um und blickte zur Lichtung zurück.

„Sie ist eine Dunkelelbin. Lass mich doch reden Gilraen.“

Verwirrt musterte Harucka ihn, bis er sich ihr zuwandte und die Schultern zuckte.

„Gilraen, mein Drache, ist immer misstrauisch. Es ist nicht gegen dich persönlich.“

Plötzlich knickten Tyels Beine ein und er ging zu Boden. Augenblicklich kniete sich Harucka neben ihn und legte die Hand auf seine Schulter.

„Was ist mit dir?“

Tyel schüttelte den Kopf und versuchte, ihre Hand beiseite zu schieben.

„Es ist nichts. Ein Feind hat mich einmal verwundet, und die Magier waren zu schwach, die Wunde wirklich zu heilen. Von Zeit zu Zeit knicken meine Beine ein. Es geht gleich wieder.“

Harucka ließ nicht locker und zog Tyel auf die Beine.

„Mein Lager ist dort hinten. Komm mit, ich kann dir helfen.“

„Ich will keine Hilfe!“, protestierte der Dunkelelbe schwach, doch Harucka zog ihn unbarmherzig weiter.

Langsam ließ sie ihn auf die Decke sinken und begann in ihrem Reisebeutel zu wühlen.

„Du kannst mir nicht helfen. Wenn die Magier mich nicht heilen konnten, wie willst du mir dann helfen?“

„Weißt du, Magie ist nicht die Lösung für alles Tyel. Warte einen Moment.“

Sie zog einen Beutel mit Kräutern hervor und kniete sich neben ihn.

„Wo hat dein Feind dich verwundet?“

Tyel deutete auf seine Füße und Harucka sah die Narben, die sich von einem Knöchel bis zum anderen zogen und an der die Sehnen durchgeschnitten worden waren.

Verwundert bemerkte sie, dass Tyel keinerlei Schuhe trug und zog seinen Fuß auf ihren Schoß.

„Wie konnte dein Feind an beiden Füßen die Sehnen durchtrennen?“

Tyel zog die Augenbrauen zusammen.

„Ich weiß nicht. Ich kann mich nicht erinnern.“

Verwundert schüttelte sie den Kopf und ließ die Finger über die kleineren Kratzer gleiten und spürte, wie die Magie in ihre Hände floss.

Helles Licht ging von ihrer Hand aus und die Kratzer verblassten.

„Du beherrschst Magie!“

Überrascht beugte Tyel sich nach vorne und beobachtete jede von Haruckas Bewegungen.

Vorsichtig tastete sie sich an die Narbe heran und spürte die fremde Magie, die die Sehnen zusammenhielt. Der Magier hatte keineswegs versucht, die Sehnen zu heilen, sondern hat lediglich eine magische Verbindung geschaffen, die er jederzeit lösen konnte.

Vielleicht um ihn an sich zu binden? Harucka verwarf den Gedanken wieder. Wahrscheinlich hatte er es einfach nicht besser gewusst.

In langsamer, mühsamer Arbeit löste Harucka die magische Verbindung und verknüpfte die Sehnen wieder miteinander.

Schließlich verlosch das Licht und Harucka beugte sich keuchend nach vorne. Besorgt legte Tyel seine Hand auf ihren Rücken. Sie hob den Blick und lächelte ihn wehmütig an. Für einen Moment bewunderte Tyel das klare Blau ihrer Augen, bevor er sich räusperte und fragte: „Geht es dir gut?“

„Ja. Es ist nur schwerer als gedacht. Ich kann heute nicht mehr für dich tun. Aber wenn du bleibst, kann ich deinen anderen Fuß auch noch heilen.“

Tyel biss sich auf die Unterlippe und nickte zögerlich. Er zog seinen Fuß zurück und streckte ihn Testweise. Harucka schlug ihm leicht auf den Hinterkopf und fauchte: „ Hör auf damit! Lass doch erst einmal alles ruhen! Seid ihr Männer eigentlich immer so?“

Fragend zog Tyel die fein geschwungenen Augenbrauen hoch.

„Wie denn?“

„ So unempfindlich gegenüber Schmerzen. Wunden verschwinden nicht, wenn man sie ignoriert.“

Der Dunkelelbe lachte leise und hob den Blick zum Himmel.

„Ich ignoriere meine Wunden, weil ich weiter kämpfen muss. Ich muss für meine Liebsten kämpfen. Verstehst du?“

Harucka nickte und schlang die Arme um die Knie. Das niedrige Feuer ließ ihre Haare aufleuchten und Tyel legte den Kopf schief. Er hatte noch nie gelocktes Haar bei einer Elbin gesehen.

Sie blickte zu ihm herüber und musterte ihn sorgfältig.

„Was ist mit deinen Fingernägeln?“

Sie nahm seine Hand und zog sie zu sich herüber. Staunend betrachtete sie die klauenförmigen, schwarzen Fingernägel und strich über die Spitzen hinweg.

„Ich bin Drachenreiter. Da verändert man sich. Hier.“

Er schob seine Haare zur Seite und entblößte das Mal auf seiner Stirn.

„Und dein Drache...“

„Ist Gilraen“, vervollständigte Tyel ihre unausgesprochene Frage und ließ sein Haar wieder über das Mal fallen.

Harucka blickte in die Flammen und dachte über die seltsame Begebenheit nach, dass sie mit einem Drachenreiter zusammen saß.

„Ich glaube, du solltest dich ausruhen. Du hast viel Magie gewirkt. Ruh dich aus, ich halte die Tiere fern.“

Überrascht blickte Harucka ihn an. Ihre Lippen verzogen sich zu einem liebevollen Lächeln und sie nickte zustimmend.

„Gut. Aber weck mich vor dem Morgengrauen auf, damit ich den Rest der Wache halten kann und du auch Schlaf findest.“

Tyel machte eine wegwerfende Handbewegung und richtete den Blick ins Dunkel der Nacht.

Glaube, dass ich verrückt bin Gilraen, aber ich mag dieses Mädchen wirklich.

 

 

 

 

 

Reise

Harucka öffnete blinzelnd die Augen und starrte in das erloschene Feuer. Ihre Gedanken wanderten zum vorhergehenden Abend und ein Lächeln stahl sich auf ihre Lippen.

Obwohl Tyel wahrscheinlich nicht einer der nettesten Elben war und dazu noch ein Drachenreiter, schien er einer der wenigen Dunkelelben zu sein, den man vertrauen konnte.

Vorsichtig richtete sie sich auf und blickte sich um.

Tyel saß an einem Baumstamm gelehnt dort und schlief.

„Männer“, flüsterte sie kopfschüttelnd und stand auf. Zärtlich legte sie ihm die Decke um die Schultern und machte sich auf die Suche nach Brennholz. Dabei schlug sie einen großen Bogen um die Lichtung, auf die der Drache lag. Ohne Tyel würde sie sich ihm nicht nähern. Schließlich knisterte das Feuer vor sich hin und Harucka beobachtete Tyel aus sicherer Entfernung. Die lange Haarmähne verdeckten sein Gesicht. Ein Ruck ging durch seinen Körper und er drehte den Kopf.

 „Morgen. Ich bin eingeschlafen, verzeih.“

Harucka wischte die Bemerkung mit einer Handbewegung beiseite und erwiderte: „Da gibt es nichts zu verzeihen. Es ist schließlich nichts passiert.“

Tyel gähnte und zog die Decke enger um sich.

„Ich sollte mein Hemd holen. Es ist kalt. Wohin reist du noch Harucka?“

Sie blickte in den Wald hinein und zog die Schultern hoch.

„Dahin, wo meine Füße mich hintragen. Ich habe kein festes Ziel. Und wo reist du hin mit deinem Drachen?“

„Nach Narot. Ich muss zum König. Wenn du möchtest, kannst du mich begleiten. Gilraen kann auch zwei tragen.“

Erschrocken riss Harucka die Augen auf.

„Auf deinem Drachen? Ich weiß nicht. Ist das nicht ein bisschen... gefährlich?“

„Nein! Vertrau mir. Ich würde nicht zulassen, dass dir etwas passiert.“

Seine Stimme stockte und er zog die Augenbrauen zusammen. Dann schüttelte er den Kopf und packte ihre Hand.

„Komm mit. Wir brechen auf!“

„Moment, ich muss noch packen und das Feuer löschen!“

Ungeduldig wartete der Dunkelelbe, bis alles gepackt und das Feuer gelöscht war. Dann packte er erneut ihr Handgelenk und rannte los. Stolpernd lief sie ihm hinterher und stoppte ruckartig, als sie vor Gilraen stand. Der Drache hob den knochigen Kopf und musterte sie misstrauisch.

„Das ist Harucka. Sie hat meinen Fuß geheilt. Sie kommt mit uns.“

Ohne auf ihren Protest zu achten zog Tyel sie an die Seite des Drachens und schob sie auf den Rücken hinauf. Verunsichert legte sie die Hände auf den schuppigen Hals und starrte auf die schneeweißen Stacheln, die zwischen den Schuppen hervorstanden.

Elegant sprang Tyel hinter ihr auf den Rücken und legte einen Arm um ihre Hüfte.

„Vertrau mir. Du wirst nicht fallen.“

Gilraen breitete die Flügel aus und schnellte in die Luft. Harucka kniff die Augen zusammen und hielt den Kopf gesenkt. Wind peitschte ihr ins Gesicht und ihr Herz raste vor Angst.

„Mach die Augen auf“, flüsterte Tyel neben ihrem Ohr und verstärkte den Druck um ihre Hüfte.

Sie öffnete die Augen einen Spalt breit und blickte in die Tiefe. Der Wald unter ihr sah aus wie ein einziges grünes Meer und sie bohrte ihre Fingernägel in Tyels Oberschenkel. Er lachte leise und lehnte sich zurück.

„Schau nicht nach unten. Schau nach vorne.“

Zitternd befolgte sie seinen Rat und blickte nach vorne. Der blaue Himmel lag vor ihnen und in einiger Entfernung glaubte sie die Berge der nordischen Lande zu sehen.

„Wie schön“, flüsterte sie.

„Aber, Tyel, wie willst du unbemerkt nach Narot kommen? Mit Gilraen bist du doch viel zu auffällig.“

Tyel stutzte und blickte zur Seite.

„Da hast du Recht. Ich kenne mich dort unten nicht aus. Glaubst du, wir könnten uns irgendwo Pferde besorgen? Das wäre weitaus unauffälliger.“

Harucka beugte sich nach vorne und schaute in die Tiefe.

„Nicht weit von hier liegt Sas Samar. Vielleicht gibt es dort Pferde.“

Tyel zog die Augenbrauen zusammen und dachte kurz nach.

„War Sas Samar nicht einmal eine Stadt der Dunkelelben?“

Harucka nickte.

Gilraen glitt auf den Erdboden zu und schlug grollend mit den Flügeln, als sie auf dem Boden landeten.

Sas Samar war eine kleine Stadt, oder viel mehr ein großes Dorf, eingebettet zwischen Feldern und Tälern.

Tyel strich sich das Haar aus den Augen und musterte den Wachposten.

„Er wird mich nicht durchlassen. Ich bin ein Dunkelelbe.“

„Wenn er in seinem ganzen Leben schon mal einen Dunkelelben gesehen hat, schneide ich mir die Haare ab“, brummte Harucka und lächelte den Wachposten an. Dieser streckte den Arm aus und hielt ihnen die Handfläche entgegen.

„Halt! Wer seid ihr?“

Tyel bleckte die Zähne und setzte zu einer knurrenden Antwort an, aber Harucka kam ihm zuvor.

„Wir sind Reisende. Unsere Pferde flohen und nun suchen wir neue. Und eine Schenke, in der wir die Nacht verbringen können.“

Der Wachposten musterte Tyel näher und winkte sie dann durch.

„Aber nehmt euch in Acht. Dunkelelben schleichen hier durch die Straßen des Nachts und ihr wisst, was man über sie erzählt.“

Der Wachposten bemerkte die verwirrten Gesichter der beiden und flüsterte verschwörerisch: „Sie überfallen nachts unschuldige Leute und saugen ihnen das Blut aus den Adern.“

„Danke, wir werden uns in Acht nehmen.“

Harucka packte Tyel am Arm und zog ihn mit sich. Wütend trat der Dunkelelbe nach einem Holzfass und warf einen Blick über die Schulter zurück.

„Deshalb hasse ich Menschen. Sie verbreiten Gerüchte, die nicht einmal annähernd an der Wahrheit grenzen. Er sollte sich in Acht nehmen, dass ich ihm nicht zeige, was Dunkelelben des Nachts wirklich mit Menschen tun.“

„Vergiss ihn einfach. Er hört etwas und gibt es wieder an jeden, der es hören will.“

Noch immer aufgebracht fuhr Tyel sich mit der Hand durchs Haar und schüttelte den Kopf.

„Lass uns ein paar Pferde suchen.“

Die Wahl fiel schließlich auf zwei einfache Reitpferde, die den Weg bis Narot schaffen würde ohne aus dem Leben zu scheiden.

Die Schenke, in der sie sich einfanden, war dunkel und stickig, genau wie Tyel es gedacht hatte. Hier würde es niemand anstößig finden, wenn ein Elb in Begleitung eines Menschen auftauchte. Und er behielt recht: keiner drehte sich zu den beiden um, als sie sich an einem der niedrigen Tische Platz nahmen. Tyels Blick wanderte durch den Raum und es war ihm, als würde er die Schenke kennen.

„Es ist dreckig hier. Und ich glaube, dass Bier schmeckt nicht besser, als der Raum hier aussieht“, bemerkte er trocken. Harucka stieß ein leises Kichern aus und senkte den Kopf.

„Ich hole zwei Zimmer. Warte hier Harucka und lauf mir nicht weg.“

Der Dunkelelbe schlängelte sich zwischen den Tischen hindurch und blieb vor der Theke stehen. Der Wirt blickte weiterhin auf sein Glas und putzte es mit einem schmutzigen Lappen, der mehr Dreck verbreitete als aufzunehmen.

Tyel räusperte sich vernehmlich und wartete. Als noch immer keine Reaktion kam, schlug er mit der flachen Hand auf den Tresen und bohrte die Fingernägel in das Holz.

„Habt Ihr noch Zimmer frei?“

Diesmal hob der Wirt den Kopf und starrte ihn aus wässrigen Augen an.

„Sicher. Wir haben ein Zimmer frei. Ihr müsst es mit Eurer Begleitung teilen. Und fangt mir keinen Streit an.“

Der Wirt griff unter die Theke und zog einen Schlüssel sowie einen Dolch hervor. Verwirrt nahm der Dunkelelbe beides an sich und betrachtete die Waffe nachdenklich.

„Wieso gebt Ihr mir einen Dolch?“

Der Wirt deutete zur Tür und erwiderte: „Ihr wart vor fünf Jahren schon einmal hier. Ein anderer Elb griff Euch an und warf den Dolch. Knapp über Eurem Kopf schlug er im Türrahmen ein. Nun, wollen wir über den Preis sprechen?“

Tyel lehnte sich zurück und nickte.

„Ihr seid zu zweit, also sechs Gold Tillionen pro Person und Nacht. Ich hörte, Ihr reist zu Pferd. Zwei Gold Tillionen pro Pferd und Nacht. Eure Speisen müsst Ihr auch noch bezahlen.“

Wütend funkelte Tyel den Wirt an und griff in die Tasche. Er kannte sich mit dem Gold der Menschen nicht aus, wusste aber das der Preis mehr als unangemessen war. Stumm zählte er die Münzen ab und legte noch welche für Speise und Trank hinzu.

Schnaubend setzte er sich zu Harucka und verschränkte die Arme vor der Brust.

„Menschen sind so gierig. Ich habe ein kleines Vermögen bezahlt, um uns und die Pferde für eine Nacht unterzubringen. Wir in den nordischen Landen zahlen nicht mit Gold. Wir zahlen mit Edelsteinen, Vieh oder nützlichen Dingen. Wofür ist dieses Gold? Ich kann es weder essen noch damit jagen.“

Die Halbelbin konnte ein Lächeln nicht unterdrücken und legte eine Hand auf seinen Arm.

„Man merkt, dass du nie unter Menschen warst. Sie sehen das Glitzern des Goldes und ihr Denken setzt aus. Aber vielleicht gibt es auch Ausnahmen. Was ist mit den abtrünnigen Menschen, die bei Euch leben?“

Tyel stieß ein bitteres Lachen aus.

„Sie sind nicht anders. Sie verschenken ihr ganzes Vermögen für einen Edelstein. Haus, Vieh, Hof, Frau, Kinder. Alles für so ein unbedeutendes Ding.“

Eine Kellnerin kam mit dem Bestellten an ihren Tisch und unterbrach das Gespräch damit.

Angeekelt verzog Tyel nach dem ersten Schluck Bier das Gesicht.

„Diese Brühe nennen sie Bier? Das würde ich nicht einmal meinem Pferd geben? Geschweige den einem Feind!“

Ein junger Mann, der beinahe direkt neben ihnen saß, drehte sich auf seinem Stuhl herum und fauchte: „Sei ruhig, Elb! Ihr solltet euch in eure Berge und Wälder verkriechen und nicht in unserem Königreich  herumlungern und unschuldige Menschen belästigen.“

Fauchend bleckte Tyel die Zähne und erwiderte: „Ich lebte hier, bevor einer an eure mickrige Rasse gedacht hatte! Ich fischte in Euren Seen und entzündete mein Lagerfeuer dort, wo Eure Häuser nun stehen. Meine Familie lebte in dieser Stadt, bevor ein Mensch auch nur seine Augen auf diese Häuser richtete.“

Beide Männer erhoben sich, zum Kampf bereit. Harucka ergriff Tyels Unterarm und wollte ihn auf den Stuhl zurückziehen.

„Bitte Tyel, lass es sein.“

„Ja, hör auf deine Freundin! Lass es sein! Ich verstehe sowieso nicht, wie tief sich ein Mensch sinken lassen kann, um sich mit einem Elben das Bett zu teilen.“

Wutentbrannt sprang sie auf und ein Klatschen hallte durch den Schankraum. Die Wange des Jungen färbte sich rot und gespanntes Schweigen machte sich breit.

Als der Junge ausholte, um Harucka zu schlagen, packte Tyel sein Handgelenk und verdrehte seinen Arm.

Ehe Harucka wusste, wie ihr geschah, kämpften der Dunkelelb und der Mensch miteinander und kippten über den Tisch.

„Tyel! Nein!“

Sie hechtete förmlich nach vorne und versuchte einen seiner Arme zu fassen. In einem Knäuel aus Armen und Beinen rollten die beiden über den Boden.

Verzweifelt griff sie in das Gewirr hinein und erwischte langes, schwarzes Haar. Wütend zog sie daran und Tyel löste sich von dem Jungen.

„Lass mich los! Ich schlage ihm die Zähne aus!“

„Nein! Du wirst nicht kämpfen!“

Tyel richtete sich auf und zog an seinem Haar. Widerwillig ließ Harucka ihn los und musterte den Jungen. Blut lief zwischen seinen Fingern hervor, als er seine Nase bedeckte. Mit stampfenden Schritten kam der Wirt auf sie zu und deutete auf die Tür.

„Raus! Verschwinde Elbe! Und nimm sie gleich mit!“

Bevor der Dunkelelbe auch noch dem Wirt an die Kehle sprang, zog sie Tyel mit sich und stolperte auf die Straße.

„Komm mit! Wir reiten weiter. Was hast du dir dabei gedacht?“

Tyel senkte den Kopf und flüsterte: „Ich wollte dich beschützen. Er sollte dich nicht schlagen. Verzeih mir.“

Harucka lächelte ihn an drückte kurz seinen Arm.

„Sei unbesorgt. Wie könnte ich dir böse sein? Du wolltest mich beschützen. Das ist mehr als ich verlangen kann.“

Träume

Der Wind heulte und trieb Harucka die Tränen in die Augen. Schützend hob sie den Arm vor das Gesicht und hielt den Kopf gesenkt. In den letzten Tagen hatte ein Schneesturm eingesetzt, wie man ihn selten erlebt hatte.

Blinzelnd schaute sie nach vorne und suchte Tyel. Sie konnten einen dunkel Schemen vor sich ausmachen und schüttelte den Kopf. Wenn sie so weiter ritten, würden sie sich verlieren.

„Tyel! Ich sehe dich nicht mehr! Komm zurück!“

Plötzlich tauchte der Dunkelelb vor ihr auf  und zügelte sein Pferd.

„So geht es nicht weiter! Gibt es irgendwo hier ein Dorf?“, schrie er gegen den Wind an.

Harucka nickte und deutete nach vorne.

„In drei Meilen kommen wir an einem vorbei!“

Tyel nickte und ritt weiter. Harucka heftete sich an seine Fersen und klopfte ihrem Braunen den Hals. Das Fell war durchweicht und sie fluchte leise. Wenn es so weiter ging, würden weder sie noch die Pferde jemals in Narot ankommen.

Keiner von ihnen bemerkte die Wölfe, die sich durch die Schneewehen kämpften.

Tyel hielt ebenfalls den Kopf gesenkt und kämpfte stumm gegen den Wind an. Als er den Kopf drehte, um nach Harucka zu sehen, sah er den ersten Wolf.

„Harucka!“ Sein Schrei ging in dem tosenden Wind unter. Knurrend sprang das Tier voran und schlug die Zähne in den Hals von Haruckas Pferd. Ihr Schrei mischte sich mit dem des Reittieres und Tyel riss sein Pferd herum.

Panik machte sich in ihm breit und er rammte dem Fuchs die Fersen in die Flanke. Andere Wölfe traten aus dem Schneegestöber hervor und griffen das verwundete Tier an.

Ein Kampfschrei entrang sich Tyels Kehle und er zog den Dolch hervor, der ihm der Wirt der Schenke gegeben hatte. Der erste Wolf geriet unter die Hufe des Pferdes, während Tyel nach einem weiteren schlug. Der Dolch riss eine tiefe Wunde in die Seite des Raubtieres und es jaulte leise auf. Plötzlich war der Dunkelelbe das Ziel des angreifenden Rudels. Knurrend hob er den Dolch und ließ die Klinge aufblitzend. Kläffend stürzte sich einer der Wölfe auf ihn und schlug die Zähne in seine Seite. Mit einem Aufschrei fiel er zu Boden und wehrte sich gegen den Wolf.

Stöhnend stemmte Harucka sich auf und blickte sich um. Ihr Pferd hatte den Angriff der Wölfe nicht überlebt. Plötzlich galoppierte Tyels Fuchs an ihr vorbei. Sorge stieg in ihr auf und sie rannte los. Unweit von ihr entfernt lag der Dunkelelb am Boden und rang noch immer mit dem grauen Tier. Blut färbte den Schnee rot und Harucka schrie auf.

„Lass ihn los!“

Wütend suchte sie nach etwas, mit dem sie auf den Wolf einschlagen konnte. Aus dem weiß des Bodens ragte ein Ast hervor. Sie zog an dem splittrigen Holz und sprang auf den Wolf zu. Wütend schlug sie ihm den Ast auf den Hinterkopf. Zitternd brach das Tier zusammen und blieb reglos liegen.

„Tyel!“ Harucka zerrte Tyel unter dem Tier hervor und strich das schwarze Haar zurück.

Sein Gesicht hatte die Farbe des Schnees unter ihnen.

„Bitte! Wach auf!“

Schluchzend hob Harucka das Gesicht zum Himmel und schrie: „Gilraen! Warum hilfst du nicht?“

Rauschende Flügel erklangen und der schwarze Drache landete neben ihnen.

„Tu etwas!“, schrie sie ihn an. Gilraen senkte den Kopf und breitete die Flügel aus.

Harucka verstand und zerrte Tyel auf seinen Rücken. Nur zögernd kletterte sie hinter ihm auf den geschuppten Rücken und hielt sich mit einer Hand an einem der weißen Stachel fest.

Etwas heißes rann über ihre Hand und sie senkte den Kopf.

Blut lief über ihre Haut und tropfte auf die schwarzen Schuppen hinab.

„Beeil dich Gilraen! Drei Meilen von hier liegt ein Dorf. Flieg los!“

 

Mit schmerzverzerrtem Gesicht kniff Tyel die Augen zusammen und tastete nach der schmerzenden Stelle. Er erinnerte sich daran, mit einem Wolf gekämpft zu haben um Harucka zu schützen.

Das Tier hatte die Zähne in seine Seite geschlagen und nicht mehr von ihm abgelassen.

„Tyel?“

Haruckas leise Stimme drang an sein Ohr und er öffnete blinzelnd die Augen.

„Was ist passiert?“

Sie schenkte ihm ein leichtes Lächeln und strich ihm das Haar aus den Augen.

„Ein Wolf hat dich angegriffen. Ich habe ihn mit einen Ast geschlagen. Dann haben wir dich hierher gebracht.“

Stöhnend richtete Tyel sich auf und legte die Hände auf den weißen Verband um seine Mitte.

„Wohin gebracht?“

„Zu mir, Tyel. Lange nicht gesehen.“

Blinzelnd schaute der Dunkelelbe auf und starrte in zwei dunkle Augen, die seinen nicht unähnlich waren.

„Breged! Warum nimmst du mich auf?“

Verwirrt blickte Harucka zwischen den beiden Dunkelelben hin und her.

„Ihr kennt euch?“

„Kennen? Breged ist mein Halbbruder! Wir sind zwar nicht zusammen aufgewachsen, aber wir kennen uns. Wieso nimmst du mich auf? Sprich!“

Breged lachte leise und senkte den Kopf.

„Ja, er ist mein Halbbruder und ich hasse ihn. Aber ich werde dich nicht sterben lassen Tyel. Du sollst durch meine Hand sterben und nicht durch die Zähne eines Wolfes. Aber sei unbesorgt, es bleiben dir noch ein paar Lebensjahre.“

Ohne ein weiteres Wort trat Breged zurück und verließ das Zimmer. Zitternd schaute Tyel ihm nach und warf Harucka dann einen bösartigen Blick zu.

„Wieso bringst du mich zu Breged? Er will mich lieber tot sehen als lebendig“

Harucka legte ihre Hand auf seine Schulter und flüsterte: „Von einem Feind weißt du, was du zu erwarten hast. Ein Freund kann jederzeit dein Vertrauen missbrauchen und dir ein Messer in den Rücken rammen.“

Tyel stieß ein tiefes Seufzen aus und lächelte wehmütig.

„Wenn ich dich so reden höre, wünsche ich mir, dass du mein Feind bist. Dann weiß ich, dass du mich niemals als Freund verraten würdest.“

 Harucka lehnte sich zurück und zog die Beine an den Oberkörper.

„Dann sieh mich ab jetzt als dein Feind. Und pass nachts auf deinen Rücken auf. Nicht das ich dich erdolche.“

Tyel lachte leise und blickte ihr nach, als sie aus dem Zimmer ging und die Tür hinter sich zuzog.

Gilraen?

Zuerst spürte Tyel nichts, aber dann meldete sich der Drache zögerlich.

Du redest mit mir? Ich dachte, dein neuer Gesprächspartner wäre jetzt Harucka.

Verwirrt schüttelte er den Kopf und machte eine wegwerfende Handbewegung.

Sicher rede ich mit dir. Ich reise mit ihr, da unterhalten wir uns schon mal. Das ist doch selbstverständlich

Das ist nicht alles, dass weißt du. Du magst sie zu sehr. Du solltest sie hier lassen und mit mir weiterziehen. Denk daran, wir haben einen Auftrag, und für einen Menschen werde ich keinen Ungehorsam begehen.

Der Dunkelelbe beugte sich nach vorne und strich sein Haar zurück.

Sie ist zur Hälfte auch eine Dunkelelbin. Und ich begehe keinen Ungehorsam. Ich lasse mir nur Zeit und reise unauffällig. Das dürfte auch in Vinjarons Interesse liegen. Und nun lass mich in Frieden.

Abrupt brach er die Verbindung ab und ließ sich zurück in die Kissen fallen. Seine Gedanken umkreisten stetig Vinjaron, Gilraen und Harucka.

Etwas schien die drei zu verbinden, doch was es war, vermochte Tyel nicht zu sagen. Lange konnte er nicht mehr über dieses Dreieck nachdenken, denn seine Verletzung und die Erschöpfung ließen ihn schnell einschlafen.

 

Der Dunkelelbe blinzelte ins helle Sonnenlicht und blickte sich um. Ihm war bewusst, dass er träumte, aber es kam ihm trotzdem nicht wie ein Traum vor.

Vor ihm ragten Felsen in die Höhe. Er musste sich wieder in den Bergen befinden. Lächelnd legte er eine Hand auf den rauen Stein und spürte die prickelnde Wärme an seiner Haut.

„Du weißt, weshalb du hier bist Tyel?“

Überrascht drehte der Dunkelelbe sich um.

Eine verschollene Erinnerung stieg in ihm auf und er flüsterte: „Nelya!“

Die Elbin nickte und senkte den Kopf. Das silberblonde Haar floss ihr über die Schultern und verdeckte ihr Gesicht.

„Ja, ich bin es. Nun, weißt du, weshalb ich hier bin?“

Tyel schüttelte den Kopf und flüsterte: „Nein.“

„Du bist hier, weil ich es so wollte. Das war mal unser Ort. Hier haben wir uns immer getroffen, wenn wir meinem Bruder nicht begegnen wollten. Wirst du auch mit Harucka hier hin gehen?“

Langsam trat sie nach vorne und hob das Kinn. Ihr Blick begegnete dem Tyels und er wandte die Augen ab.

„Ich wüsste nicht, was dich Harucka angeht.“

Nelya legte eine Hand auf seine Brust und lehnte sich an ihn.

„Ich dachte, du würdest mich lieben. Und dann reist du mit dieser Halbelbin durchs Land? Wieso tust du mir das an Tyel?“

Er schüttelte den Kopf und trat einen Schritt zurück. Plötzlich stand er mit dem Rücken an den Felsen gedrückt da, Nelya vor sich.

Blinzelnd versuchte er seinen Kopf frei zu bekommen und drehte den Kopf zur Seite.

„Sie hat mir geholfen. Und du bist tot Nelya. Schon lange.“

„Aber ich steh doch vor dir“, flüsterte sie und wickelte eine Strähne seines Haars um ihren Finger.

„Ich träume Nelya, und du bist tot. Ich kann tun, was ich will. Soll ich den Rest meines Lebens alleine sein?“

Wütend schob er sie ein Stück zurück und wich ihr aus.

„Aber Tyel, du liebst mich doch.“

Verzweifelt schüttelte er den Kopf und legte sich die Hände über die Ohren.

„Du bist tot Nelya. Geh und lass mich in Frieden!“

Zitternd fiel er auf die Knie und vergrub das Gesicht in seinen Armen.

Wahrheit

„Du scheinst schlecht geschlafen zu haben.“

Tyel zuckte die Schultern und wandte den Blick ab. Sein Traum verfolgte ihn immer noch und schuf ein unangenehmes Schweigen zwischen ihm und Harucka.

„Was ist los?“

Bestimmt nahm sie sein Gesicht zwischen die Hände und zwang ihn, sie anzusehen.

„Los, erzähl es mir.“

Der Dunkelelb seufzte tief und senkte den Kopf.

„Ich hatte vor langer Zeit einmal eine Liebste. Ihr Bruder wollte nicht, dass wir zusammen waren, geschweige denn uns sehen. Weißt du, ich komme aus dem Clan der Falken. Wir sind verflucht, ausgestoßen. Wir dürfen nur Angehörige unseres Clans heiraten und sollten uns nicht mit denen aus den anderen Clans abgeben. Mein Vater war der Clanführer und ich bin sein erstgeborener Sohn. Breged kam zwei Monde nach mir zur Welt. Er darf nie den Clan anführen, selbst wenn ich sterbe nicht. Dieser Umstand hat die Situation zwischen mir und Nelya noch erschwert.

Als dann der Krieg zwischen Elben und Menschen ausbrach, kämpfte ich mit den anderen. Zwischen all den Kämpfenden sah ich Nelya hinter einem Felsen verschwinden und folgte ihr. Ianu, ihr Bruder, hielt sie in den Armen. Er hat sie erstochen. Einfach erstochen, seine eigene Schwester. Bevor ich etwas tun konnte, warf er mir den Dolch vor die Füße und schrie, ich sei ein Verräter. Ich war feige. Ich bin geflohen ohne mich zu wehren.

Es war alles gut, bis gestern. Kannst du dir vorstellen, jemanden zu verlieren, denn du liebst und dann von ihm zu träumen? Glaub mir, sie hat keine süßen Worte für mich gehabt.“

Harucka hatte schweigend zugehört und geduldig gewartet, bis er geendet hatte.

Nun räusperte sie sich und nahm Tyels Hand.

„Manche Menschen, und sicherlich auch Elben, haben das Gleiche wie du. Wenn ihre Liebsten starben, träumten sie Jahre später von ihnen. Es bedeutet nur, dass du langsam mit Nelya abschließt. Es hört sicher bald auf. Vertrau mir.“

Der Dunkelelbe lächelte sie dankbar an und lehnte sich zurück.

„Wahrscheinlich hast du recht. Wie immer. Aber es ist trotzdem nicht sehr erheiternd, wenn man sich die Vorwürfe seiner Liebsten anhören muss. Was weißt du über Vinjaron?“

Harucka zuckte von dem plötzlichen Themenwechsel zusammen und schaute ihn einen Moment verwirrt an. Dann trat etwas in ihre Augen, dass Tyel nur als abgrundtiefen Hass beschreiben konnte.

„Sicher kenne ich ihn. Er ist eines der schlimmsten Übel, die dieser Welt zuteil wurden. Er hat das Dorf zerstört, in dem ich mit meiner Familie lebte.“

Betroffen zuckte Tyel zusammen und wandte den Blick ab. Er hatte gewusst, dass Vinjaron kein gütiger Herrscher war, doch dass er Dörfer zerstörte, war ihm neu.

„Wieso hat er das getan?“

Harucka zuckte die Schultern und senkte den Kopf.

„Ich weiß es nicht. Nur ich und ein paar andere aus dem Dorf haben den Angriff überlebt. Weder meine Eltern, noch meine Geschwister konnten fliehen. Glaubst du, dass ist gerecht Tyel?“

Tränen standen in ihren Augen und ein Gefühl von Schuld überfiel den Dunkelelben. Zögernd legte er einen Arm um ihre Schulter und starrte auf einen Riss im Holzboden.

„Nein, dass ist nicht gerecht. Wenn ich könnte, würde ich ihn dafür bestrafen.“

Ein Räuspern unterbrach ihn und Tyel warf einen Blick zur Tür. Breged tippte ungeduldig mit der Fußspitze auf den Boden und deutete mit dem Kinn zur Tür.

„Komm Harucka. Mein Bruder muss sich ausruhen. Sonst werde ich ihn nie los.“

Zögernd erhob die Halbelbin sich und schob sich an Breged vorbei.

„Und du Tyel, solltest schnell wieder auf die Beine kommen. Sonst ist ein Angriff der Wölfe nicht mehr das Einzige, dass dir Schmerzen bereitet.“

Grollend fiel Tyel zurück und verfluchte im Stillen Vinjaron. Er hatte nie gedacht, was dieser Auftrag für ihn bereit hielt. Ohne es zu wollen, legte sich die Decke des Schlafs über ihn und er wurde zurück zu dem Ort gezogen, an dem er Nelya zum ersten Mal getroffen hatte.

 

„Wenigstens ist es diesmal ein Wald“, flüsterte Tyel. Ein Hauch Ironie schwang in seiner Stimme mit und er schüttelte den Kopf. Wenn er Harucka glauben schenkte, war er selbst für diese Träume verantwortlich. Ein Rascheln hinter ihm ließ ihn beinahe verzweifeln.

„Verschwinde Nelya. Lass mich in Ruhe.“

„Ich bin nur hier, um dich zu warnen. Du solltest gehen und Harucka in Frieden lassen.“

Wütend wirbelte der Dunkelelbe herum und funkelte seine ehemalige Geliebte an.

„Wieso?“

„Weil du Schuld an ihrem Tod sein wirst. Wegen dir wird sie sterben, weil Vinjaron dich jagt und sie im Weg war. Du solltest dich von ihr fern halten, wenn du ihr Leben schützen willst.“

Angst verkrampfte seine Muskeln und Tyel wich zurück.

„Und wie sollte ich das anstellen?“

„Du brichst jetzt auf, fliegst mit Gilraen nach Narot und tust, was Vinjaron dir sagt. Und du hältst dich für immer von Harucka fern.“

Nelya lächelte ihn diabolisch an und trat so dicht an ihn heran, dass ihr Geruch in seiner Nase brannte.

„Ich würde eher sterben, als sie zu verlassen.“

„Dann stirb“, erwiderte Nelya heftig und stieß ihn zurück.

Mit einem Laut des Schreckens auf den Lippen fuhr Tyel aus dem Schlaf hoch und beugte sich nach vorne.

Sein Herz raste, als wolle es seinem Brustkorb entfliehen und er blickte sich hektisch im Zimmer um.

Ein Gefühl der Kälte legte sich um seinen Hals und er schüttelte den Kopf, um das Gefühl loszuwerden. Plötzlich schnitt ihm etwas die Luft ab und Tyel  sprang auf. Seine Hände schossen zu der Schlinge an seinem Hals. Seine Finger strichen über glatte Haut hinweg und er fluchte leise. Es musste Magie sein, die ihn fesselte.

Tyels Sichtfeld schrumpfte und er fiel auf die Knie.

„Harucka!“

Der Hilferuf kam nur leise über seine Lippen, aber es reichte. Die Tür flog auf und Harucka kniete neben ihm.

„Tyel! Was ist mit dir?“

Zitternd kratzte er über seinen Hals und rang nach Luft. Die Halbelbin verstand und schloss die Augen. Prickelnde Wärme legte sich über die tödliche Fessel und langsam kehrte die Luft in Tyels Lungen wieder ein.

Stöhnend sank er nach vorne und legte die Stirn auf den Boden.

„Ich bin fast gestorben. Wann hört das auf?“

Harucka zuckte die Schultern und flüsterte: „Hast du vor dem Angriff etwas geträumt?“

„Ja. Wieder von Nelya. Aber ich wüsste nicht, was das damit zu tun hat.“

Sie zog ihn an den Haaren zurück und musterte ihn kritisch.

„Du bist durch ein Band mit einem Magier verbunden. Damals als ich deinen Fuß heilte fiel mit das auf. Er könnte sich in deine Träume schleichen und sie kontrollieren. Hast du ihn verärgert?“

Tyel dachte angestrengt nach und zog die Stirn kraus.

„Ja. Ich sagte Nelya, dass ich eher sterben würde als zu tun, was sie sagte. Und sie antwortete, dann solle ich doch sterben.“

Harucka nickte, als würde sich ihre Vermutung damit bestätigen.

„Sicher. Du tatest nicht, was er verlangte und er wollte dich töten. Weißt du, wer dahinter steckt?“

Der Dunkelelb schüttelte den Kopf und massierte sich die Schläfen.

„Du bereitest mir Kopfschmerzen Harucka. Lass die ganzen Verschwörungspläne heute ruhen. Sonst werde ich nicht mehr zur Ruhe kommen.“

„Ich lasse dich in Frieden, wenn du mir erlaubst, das zweite Band ebenfalls zu lösen.“

Ohne zu Zögern stimmte Tyel zu und zog sich auf das Bett zurück. Wieder umgaben Haruckas Hände das silberne Leuchten, als sie die Magie heraufbeschwor und das Band löste.

„Ich sollte gehen. Magie erfordert viel. Gute Nacht, Tyel.“

Von dem abrupten Abschied verwirrt, starrte der Dunkelelb ihr hinterher und zog die Augenbrauen zusammen.

„Mag sie noch so sehr wie eine Dunkelelbin aussehen, ihr Benehmen ist wie das eines Menschen. Komplex und ohne jeglichen Verstand.“

Grollend ließ er sich zurückfallen und kniff die Augen zusammen.

Ein metallisches Schaben erklang neben seinem Bett und eine scharfe Klinge legte sich an seine Kehle.

„Bleibe ruhig Tyel. Ich habe nicht die Absicht, dich zu töten. Vorerst. Hör mir zu.“

Tyel öffnete die Augen und grinste seinen Bruder an.

„Warum hältst du mir jedes Mal, wenn du ein Wort mit mir wechseln willst, ein Messer an die Kehle? Über solche Kindereien sollten wir schon längst hinweg sein.“

Breged verdrehte die Augen nach oben und schüttelte den Kopf.

„Du würdest noch immer scherzen, wenn das Messer in deinem Rücken stecken würde, nicht?“

„Nun, Frohsinn erhellt das Leben ungemein. Aber genug der Scherze. Was liegt dir auf der Seele Breged?“

Der Dunkelelbe packte den Griff seines Messer fester und Blut lief Tyels Hals hinab.

„Du musst verschwinden. Ich hörte Gesänge der Macht und sah die Falken am Himmel kreisen, als ich gestern jagte. Ein Clanführer lagert in der Nähe und ich weiß, was er sucht. Nimm Harucka und flieh. Morgen bei Sonnenaufgang werden sie hier sein. Ich gebe dir meine besten Pferde.“

Das Messer an seiner Kehle verschwand und Tyel erhob sich ruckartig.

„Wovon sprichst du?“

Breged packte seinen Arm und schüttelte den Dunkelelben leicht.

„Es bleibt keine Zeit. Nimm Harucka und geh in den Stall. Die Pferde sind bereit gesattelt.“

Tyel legte seinem Halbbruder die Hand auf die Schulter und flüsterte: „Wieso tust du das? Wir hassen uns.“

Lachend strich dieser seine Hand ab und erwiderte: „Wir haben denselben Vater. Das ist Grund genug. Und danach stehst du in meiner Schuld. Aber jetzt geh. Deine Zeit verrinnt.“

Dankbar drückte Tyel kurz Bregeds Schulter und rannte los.

Hatte er wirklich gedacht, dass sie sicher waren, so hatte sich diese Hoffnung nun zerschlagen.

 

 

Der Attentäter

Schnaubend galoppierte der kräftige Rappe voran. Tyel warf einen misstrauischen Blick in die Ebene und suchte nach seinen Feinden. Seit er Bregeds Haus verlassen hatte, war er von einem Kampf zum nächsten geeilt. Attentäter, abtrünnige Menschen und Dunkelelben hatten am Wegesrand gelauert und sie angegriffen. Tyel hatte einen Schlag an die Wade erhalten, der eine lange Risswunde hinterließ. Harucka hatte tapfer an seiner Seite gekämpft, doch ohne Waffe konnte sie ihm nur schwer helfen.

Tyels Blick glitt zurück auf den Weg. Ein Gebüsch am Rande des Weges veranlasste den Dunkelelben dazu, die Hand zu heben und den Hengst durchzuparieren.

„Was ist?“, flüsterte Harucka und blickte sich nervös um.

Tyel deutete nach vorne und erwiderte: „Da vorne. Siehst du die Äste? Sie wurden abgeschnitten. Dunkelelben würden sich zwar ebenfalls dort verstecken, aber niemals so auffällig die Äste absägen. Es müssen Menschen sein.“

Ängstlich ließ Harucka ihr Pferd rückwärts treten und warf einen Blick zurück.

„Was sollen wir tun?“

Fast beiläufig zuckte Tyel mit den Schultern und erwiderte: „Wenn wir hier stehen und auf sie deuten, werden sie erst recht angreifen. Lassen wir ihnen den Vortritt nicht und reiten hin.“

Er zog das Schwert, dass er zusammen mit dem Pferd von seinem Bruder bekommen hatte, aus der Scheide und trieb sein Pferd voran. Die Klinge glänzte im schwachen Licht des späten Nachmittags und versprach grausam unter den Feinden zu wüten.

Als Harucka ihm nachritt, waren drei Attentäter bereits aus ihrem Versteck hervor gesprungen und griffen den Dunkelelben an.

Tyel parierte einen Schlag mit der flachen Klinge und schlug mit dem Bein gegen die Flanke seines Hengstes. Wiehernd warf das Tier den Kopf zurück und stieg mit den Vorderbeinen in die Luft. Einer der Männer hechtete förmlich zurück und stolperte außer Reichweite der schlagenden Hufe.

Zufrieden ließ Tyel sein Pferd herumwirbeln, so dass sich der zweite der Männer plötzlich vor dem Reittier wiederfand. Ohne ein sichtliches Zögern schloss Tyel die Beine und der Rappe sprang mit gesenktem Kopf voran. Es war eine unfaire Methode, einen Gegner zu überreiten, doch im Angesicht der Situation schien es dem Dunkelelben gerechtfertigt.

Ein weiterer Mann sprang aus dem Gebüsch hervor und rannte mit gezogenem Schwert auf seinen Verbündeten zu.

Fauchend riss Tyel sein eigenes Schwert in die Höhe und wollte es auf den Mann, der ihm am nächsten stand, hinab schwingen lassen. Doch ein anderer kam ihm zuvor. Der Krummsäbel fuhr mit solcher Wucht auf den Mann nieder, dass ihm fast das Haupt abgetrennt wurde.

Misstrauisch musterte der Dunkelelben seinen Gegenüber und versuchte zu verstehen, wieso er seinen Mitstreiter getötet hatte. 

Wortlos belauerten die beiden sich, bis Harucka ihr Pferd neben Tyel lenkte und ihm die Hand auf die Schulter legte.

„Wieso zögerst du Tyel?“

Der Dunkelelbe deutete mit dem Kinn auf den toten Mann.

„Weil er seinen Partner getötet hat. Auf welcher Seite stehst du?“

Zögernd strich der Mann seine Kapuze zurück und erwiderte: „Ich bin Násie. Und dies war nicht mein Partner.“

Hellblaue Augen musterten die beiden nachdenklich und blieben an dem Mal auf Tyels Stirn hängen.

„Du bist ein Drachenreiter. Wo ist dein Drache?“

 Tyel wendete sein Pferd und hob den Blick zum Himmel.

„Das wüsste ich auch gerne. Gilraen! Komm her!“

Zuerst geschah nichts, doch dann senkte sich ein Schatten über den Boden und der Drache landete leichtfüßig auf dem trockenen Boden.

Was ist, Tyel?

Wo warst du? Wir wurden angegriffen! Du hättest helfen müssen!

Der Drache senkte den Kopf und stieß ein dumpfes Grollen aus.

Ich habe dir bereits gesagt, dass ich nicht mein Leben für einen Menschen aufs Spiel setze. Du hättest es wissen müssen. Lass die beiden alleine und flieg mit mir nach Narot. Wir müssen den König besiegen.

Zitternd sog Tyel die Luft ein und umklammerte die Zügel, bis seine Fingerknöchel weiß hervortraten.

„Es reicht Gilraen!“

Haruckas Pferd machte einen Satz nach vorne, als die Stimme des Dunkelelben wie ein Peitschenknall über die Ebene hinweghallte.

Gilraen hob den Kopf und breitete leicht die Flügel aus. Die Reaktion seines Reiters überraschte ihn.

„Es reicht! Siehst du nicht, was Vinjaron tut? Sicher, ich mag die Menschen genauso wenig wie die meisten meiner Art, aber der König hat uns nichts getan! Er war es nicht, der uns in die Berge verbannte, so dass sich die Elben von uns trennten und in die Wälder und an die Küsten gingen! Er war es nicht schuld, dass die anderen Elben nichts mit uns zu tun haben wollen! Wir waren es selbst schuld! Sieh es ein! Ich werde keinen Unschuldigen töten! Wie sollen andere denn besser von uns denken, wenn wir so sind, wie in ihren schlimmsten Alpträumen? Und wenn du das nicht einsehen kannst, dann geh!“

Mit schreckgeweiteten Augen beobachteten Harucka und Násie den Streit.

Der Drache bleckte die Zähne und ließ dunkle Flammen über den Boden streichen. Seine Muskeln zitterten vor Wut und alles sah danach aus, als würden Drache und Reiter jeden Moment übereinander herfallen.

Du hast keine Ahnung, wovon du redest Tyel. Du bist verwirrt, du weißt nicht, was richtig und falsch ist. Vergiss Harucka.  Sie tut dir nicht gut.

Tyel schüttelte den Kopf und starrte verbissen auf die Mähne seines Pferdes.

„Du weißt nicht, was richtig oder falsch ist. Geh! Lass mich in Frieden!“

Gilraens Stimme wurde weich und schmeichelnd.

Du bist mein Reiter. Wir sind untrennbar verbunden. Gib das nicht auf.

Die amethystfarbenden Punkte in den dunklen Augen des Dunkelelben leuchteten auf und schienen die gesamte Iris einzunehmen, als er fauchte: „Flieg davon! Geh zu Vinjaron! Sag ihm, dass ich nicht zulassen werde, dass er mein Volk versklavt! Ich bin nicht länger dein Reiter Gilraen!“

Ein stechender Schmerz fuhr durch Tyels Kopf, ähnlich dem, den er empfunden hatte, als Gilraen ihn mit seinem Drachenmal gezeichnet hatte.

Für einen Moment kam es ihm so vor, als würde Gilraen versuchen, sich an seinen Geist zu klammern, doch der Eindruck verschwand so schnell wie er gekommen war.

Gilraen stieß ein lautes Brüllen aus und sprang in die Luft. Mit heftig schlagenden Flügeln verschwand er in dem wolkenverhangenen Himmel. Násie blickte dem Wesen nach und achtete weder auf Harucka, noch auf Tyel. Sein sandfarbendes Haar schimmerte leicht im schwachen Licht und er stieß einen tiefen Seufzer aus.

„Tyel! Was ist mit deinem Mal passiert?“

Er wandte den Kopf und sah, dass Harucka den Dunkelelben aus dem Sattel zog und vorsichtig zu Boden gleiten ließ. Er hatte die Hände vors Gesicht geschlagen und lag reglos da.

„Was ist mit ihm?“

Der Attentäter trat auf die beiden zu und kniete sich neben Tyel. Staunend beobachtete er, wie die klauenförmigen Fingernägel sich zu normalen Nägeln verformten.

Harucka zog vorsichtig an Tyels Handgelenken und flüsterte beruhigend auf ihn ein. Násie streckte die Hände aus, um ihn zu helfen und berührte die kühle Haut. Die feinen Härchen auf seinen Armen stellten sich auf und er unterdrückte nur mit Mühe ein Schaudern. Er hatte noch nie einen Dunkelelben aus der Nähe gesehen. Sicher traf man in Schenken öfters auf Wald- oder Küstenelben, aber die Bewohner der Berge traten nur ins Reich der Menschen, wenn ein Krieg bevorstand.

Langsam ließ Tyel die Hände sinken und starrte blinzelnd in die Sonne. Das dunkel seiner Augen war den ametyhstfarbenden Punkten gewichen und verliehen den Augen eine beunruhigende Intensität.

Doch das beunruhigernsten an den Veränderungen war das einst silberfarbende Mal auf seiner Stirn, dass sich nun im tiefen schwarz von der schneeweißen Haut abhob.

 Zitternd erhob Tyel sich und blickte zum Himmel hinauf.

Harucka legte ihre Hand auf seine Schulter und schüttelte ihn leicht.

„Was ist mit dir?“

Der Dunkelelbe senkte den Blick und starrte den Attentäter herausfordernd an.

„Ich kann Gilraen nicht mehr spüren. Ich bin nicht mehr sein Reiter.“

 

Die knisternden Flammen des kleinen Lagerfeuers warfen groteske Schatten an die Wände des kleinen Felsvorsprungs, unter dem sich Harucka, Násie und Tyel zurückgezogen hatten.

Schweigend beobachtete der Attentäter den Dunkelelben. Er hatte das Gefühl, dass Tyel ihm die Schuld an dem Verlust seines Drachens gab.

Plötzlich begegnete sein Blick dem der hellen Augen des Reiters und Násie wandte betreten den Blick ab.

„Woran kann es liegen, dass du nicht mehr mit Gilraen verbunden bist?“

Harucka stocherte gedankenverloren in der Glut des Feuers und musterte ihren Gefährten. Sie wusste, dass Tyel mehr unter der Trennung litt, als er selbst zugeben wollte.

„Ich weiß es nicht. Vielleicht liegt es daran, dass ich nicht mehr sein Reiter sein wollte.“

Násie senkte den Kopf und starrte auf den Felsigen Boden zwischen seinen Füßen. Ihm entging nicht, wie weich die Stimme des Dunkelelben wurde, wenn er mit Harucka redete.

„Und wieso willst du mit uns reisen, Násie?“

Der Mensch brauchte einen Moment, um zu merken, dass Tyel mit ihm redete.

„Weil ich auch nach Narot muss. Familienangelegenheit.“

„Dein Name ist elbisch.“

Násie hob den Kopf und blickte den Dunkelelben überrascht an.

„Das habe ich nicht gewusst. Meine Eltern haben früher an der Grenze zu den nordischen Lande gelebt. Vielleicht kommt es daher.“

Tyels Blick besagte deutlich, dass er dem Menschen nicht glaubte, enthielt sich aber einer Bemerkung.

„Ich werde ohne Gilraen nach Narot reisen. Vielleicht kann ich den König dazu bringen, mir Gehör zu schenken.“

Seinen Worten zum Trotz stieg in Tyel der Verdacht auf, dass der König ihn nicht anhören würde. Und das unbestimmte Gefühl, dass er Vinjaron in die Hände gespielt hatte, machte sich in ihm breit.

 

 

 

 

 

Impressum

Texte: Scar Manson
Bildmaterialien: Helena G. (ich liebe dieses Cover)
Tag der Veröffentlichung: 25.07.2014

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Für Bran, dem ich für seine Kreativität und Begeisterung danke. Und für alle, die Bücher über Dunkelelben und Drachen zu schätzen wissen. Und jap, ungewollt kriegt man ein paar Lektionen in Dunkelelbisch sobald man das Buch liest. Die Sprache stammt übrigens aus der Feder von Bran. Er ist der Einzige, der sich zutraute eine ganze Sprache zu entwickeln, die sogar ein gewisses Maß an Logik besitzt.

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