Sam zog Lucy hinter sich her. Sie hatten sich beide nachts aus dem Schloss geschlichen, um im Schattenwald etwas ungestört zu sein. Lucy war gerade frisch an das NIMBUS gekommen und Sam war ihre Mentorin im Haus Barbora. Zusätzlich zu ihrer Runenverbindung hatten beide jungen Frauen gleich eine tiefe Verbundenheit gefühlt und schon nach wenigen Tagen sprossen die ersten Knospen junger Liebe. Da sie jedoch den Klatschbasen aus dem Hause Grimm keine Nahrung für Gerüchte bieten wollten, zogen sie sich oft in den Schattenwald zurück. Heute Nacht war eine besondere Nacht für sie beide. Es herrschte eine Mondfinsternis – ein sogenannter Blutmond. Für Blutmagi eine ganz besonders spirituelle Nacht. Sam wollte ihrer Freundin einen der magischsten Orte zeigen, an dem sie je war – Die Blutbuchen-Lichtung. Sie war mitten im Schattenwald, wo der Fluss eine weite Biegung machte. Hier gab es eine weite Lichtung umrahmt von Blutbuchen, die es sonst nirgends im Wald zu finden gab. Und mitten auf der Lichtung, am Ufer des Flusses stand die Statue eines Mannes, der in der einen Hand einen Zauberstab und in der anderen ein Messer hielt und mit sanftem Blick gen Himmel sah.
Als die Mädchen dort ankamen, staunte Lucy nicht schlecht.
„Wow, Sam. Dieser Ort ist ja wunderschön!“ rief sie aus und sah sich um. Das weiche Gras unter ihren Füßen bildete einen dichten Teppich. Dann fiel ihr Blick auf die Statue und sie trat näher heran. „Wer das wohl ist?“ fragte sie und fuhr mit den Fingern sanft über die Hand, die den Zauberstab hielt. Sam trat hinter sie und schlang ihre Arme um sie. „Möchtest du die Geschichte von dieser Lichtung hören?“ raunte sie ihr ins Ohr und gab ihr einen neckischen Kuss aufs Ohrläppchen. Lucy kicherte und nickte. Sie breiteten die mitgebrachte Decke am Fuße der Statue aus und legten sich hin. Sanft streichelte Sam ihrer Freundin über das Haar und begann zu erzählen...
Es war einmal vor langer langer Zeit, da lebte ein junger Magi in einem kleinen Dorf am Rande des Schattenwaldes. Er führte ein genügsames Leben hinter dem Schleier und arbeitete im Dorf der Unbegabten als Heilkundiger. Trotz seiner jungen Jahre kamen die Menschen gern zu ihm, um ihr Unbill zu lindern, kannten sie doch bereits seine Eltern, die vor ihm dieser Profession nach gegangen waren.
Eines Abends saß Jamie in seiner Stube und las in einem alten Grimoir das er von seinen Eltern hinterlassen bekommen hatte, als es heftig an seine Tür schlug. Verwundert stand er auf und öffnete. Vor ihm standen zwei Soldaten in der Dunkelheit, einer hielt eine Laterne und die Zügel ihrer Pferde, der andere sah ihn direkt an. „Seit ihr Jamie der Heiler?“ fragte er mit lauter Stimme, in der Autorität mitschwang. Sorge keimte in Jamie auf, warum sollten Soldaten ihn zu so später Stunde aufsuchen? Sollte jemand mitbekommen haben, dass er oft mehr als nur Kräuter einsetzte, um schlimme Krankheiten zu kurieren?
„Ja, das bin ich.“ antwortete er zögernd. „Warum fragt ihr?“
„Ihr müsst sofort mit kommen. Der Sohn des Grafen ist schwer gestürzt und sein Leibarzt befindet sich derzeit nicht auf dem Schloß!“
Jamie zögerte kurz. Im Dorf seine Magie als Medizin auszugeben war eine Sache. Die Menschen hier waren ungebildet und leichtgläubig. Aber im Schloß... Die Leute dort kannten die Methoden des Hofarztes durchaus. Doch wenn dieser nicht zugegen war und dem jungen Grafen nicht helfen konnte...
„Gut, ich komme mit. Ich muss nur schnell ein paar Dinge einpacken.“ versprach er und zog sich in sein Haus zurück. Er beeilte sich einige Tiegel mit Kräutern und Salben zusammen zu suchen, die er vielleicht benötigen würde. Im Geist ging er durch, welche Verletzungen ihn wohl erwarten könnten. Gehirnerschütterung, Verstauchung, Knochenbrüche... Schmerzstillendes und Fiebersenkendes war auf jeden Fall ratsam. Und dann nahm er seinen Zauberstab. Für die Unbegabten war er nicht sichtbar und er musste immer darauf achten, seine Hand zu so halten, dass man nicht erahnen konnte, was er dort hielt. Als er alles in einem Beutel verstaut hatte, trat er aus dem Haus, verschloss die Tür und wandte sich den Soldaten zu.
„Wir können gehen!“
„Steig auf das Pferd!“ befahl der Soldat, der bereits auf seinem eigenen Pferd saß und deutete auf das zweite Tier. Jamie schüttelte den Kopf. „Ich kann nicht, ich bin noch nie auf einem Pferd geritten!“
Der Soldat rollte mit den Augen und reichte ihm die Hand. „Dann sitze hinter mir auf und halte dich fest. Die Zeit drängt!“
Wenig später flogen sie nahezu über die dunklen Wege, vorbei an Feldern und Hütten Richtung Schattenwald, in dessen Zentrum das Schloß des Grafen lag. Je näher sie dem Schloß kamen um so größer wuchs Jamies Anspannung. Konnte er dem Grafensohn helfen, ohne enttarnt zu werden? Er konnte sich ausmalen, dass die Eltern bei der Behandlung ihres Kindes sehr genau hinsehen würden, was es ihm schwerer machen würde, seine Magie einzusetzen. Vielleicht ist es ja nicht nötig! sagte er sich selbst und versuchte sich zu beruhigen.
Dann hatten sie das Schloß erreicht und ein Diener führte Jamie durch das Schloß in das obere Stockwerk. In dem großen Zimmer war es hell erleuchtet von unzähligen Lüstern und Kerzen. Menschen drängten sich um das Bett, so dass Jamie nicht mal einen Blick auf das Kind werfen konnte. „Bitte lasst mich durch!“ erhob er seine Stimme und schob sanft eine ältere Dame – offensichtlich eine Zofe der Gräfin zur Seite.
„Ihr hört was er sagt!“ erscholl nun eine kräftige Stimme, die dem Gebrüll eines Löwen ähnlich schien. Der Graf erhob sich neben dem Bett und scheuchte die Leute mit einer Handbewegung davon. Murmelnd und schniefend zogen sich alle aus dem Raum zurück und nur der Graf blieb zurück. Auf dem Bett lag zu Jamies Verwunderung jedoch kein Knabe, sondern ein junger Mann. Doch konnte er sich nicht weiter darüber wundern, denn der Patient bedurfte sofortiger Hilfe. Er wand sich unter Schmerzen und war schweiß gebadet vom Fieber. Eilig trat Jamie ans Bett und legte ihm prüfend die Hand auf die Stirn. Während er begann, das Hemd zu öffnen, um ihn weiter zu untersuchen sprach er den Grafen an: „Erzählt mir bitte was geschehen ist, Durchlaucht.“
Schon beim Abtasten der Rippen fühlte er, dass einige davon offenbar gebrochen sein mussten.
„Thomas ist am Vormittag ausgeritten. Das Pferd musste gescheut und ihn abgeworfen haben. Seine Begleiter sagten, er sei auf einem Baumstumpf gelandet. Erst schien es ihm soweit gut zu gehen. Sie sind noch her geritten. Dann beim Abendessen, ging es ihm immer schlechter. Er hatte große Schmerzen und dann stieg das Fieber..“
Der Graf klang zutiefst besorgt. Und dazu hatte er auch jeden Grund. Vorsichtig tastete er die Seite und den Rücken des jungen Mannes ab und fühlte Verhärtungen, wo sich offenbar Blut gesammelt hatte. Das sein Sohn an der Schwelle des Todes stand, verriet der dem Grafen lieber nicht.
„Es sieht nicht gut aus, Durchlaucht. Ich muss das Fieber senken. Bitte sorgt für Tücher und einige Eimer kalten Wassers. Zudem benötige ich eine Kanne mit kochendem Wasser um einen Sud zu kochen, der das Fieber senken wird.“
Der Graf nickte und verließ das Zimmer, um die Wünsche an seinen Diener weiter zu tragen. Jamie nutzte die Gelegenheit und zog seinen Zauberstab aus dem Beutel. Die Spitze legte er an die Rippen des Patienten und schloss die Augen. Er konzentrierte sich auf die Verletzungen die er ertastet hatte.
Dann flüsterte er leise: „Sana auxilium!“ und spürte wie Wärme durch seine Hände und den Zauberstab in den Körper des Verletzen floss. Hinter ihm wurde die Tür wieder geöffnet und er schrak zusammen. So unauffällig wie möglich ließ er seinen Zauberstab im Ärmel seines Hemdes verschwinden und faltete die Hände. : „wie auch wir vergeben unseren Schuldigern!“ murmelte er ein Gebet der Unbegabten. Der Graf, der wieder herein gekommen war, sank neben ihm auf die Knie und stimmte ebenfalls in das Gebet ein. Als sie mit dem obligatorischen „Amen!“ geendet hatten, wurden bereits Wassereimer und Tücher gebracht.
Jamie gab den Dienern Anweisung, wie sie die nassen Tücher zu wickeln hatten, um das Fieber zu senken. Als dann die Kanne mit heißem Wasser kam, kochte er einen Sud aus Weidenrinde und Holunder. Seit er den Zauber gewirkt hatte, war Thomas immer ruhiger geworden. Jetzt schien er zu schlafen. Vorsichtig flößte Jamie ihm einige Löffel des Sudes ein und hielt dabei heimlich seinen Zauberstab an seine Seite. „Sana auxilium!“ flüsterte er leise und wartete, bis die Magie durch seine Hände geströmt war.
Kurze Zeit danach öffnete Thomas matt die Augen und sah ihn direkt an. Jamie vergaß alles um sich herum, denn das waren die zwei schönsten blauen Augen, in die er je geblickt hatte. Schwach lächelte Thomas ihn an. „Du...“ flüsterte er mit heiser, fast tonloser Stimme.
„Ihr habt es geschafft!“ rief mit einem Mal der Graf freudig aus und drängte an die Seite seines Sohnes. „Gott sei gepriesen, dass es dir besser geht!“
Die blauen Augen wandten sich nun von Jamie ab und richteten sich auf seinen Vater. Dann wurden die Lider schwer und er schlief ein.
„Er braucht viel Ruhe um das Fieber aus zu kurieren. Wenn er den Sud trinkt und das Bett hütet wird er in ein paar Tagen wieder auf den Beinen sein!“ versprach Jamie und räumte seine Sachen in den Beutel zurück. Dabei ließ er den Zauberstab ganz unten verschwinden.
„Ich danke dir, Heiler! Die Köchin wird dir eine Mahlzeit bereiten, derweil wird man ein Zimmer für dich herrichten!“ Jamie blickte den Grafen verwundert an. „Aber Durchlaucht, ich muss ins Dorf zurück.“ Doch der Graf schnitt ihm jedes weitere Wort mit einer Handbewegung ab.
„Solange mein Sohn nicht ganz gesund ist, wirst du hier bleiben! Mein Leibarzt ist derzeit nicht anwesend und ich kann nicht riskieren, dass mein Sohn und Erbe stirbt!“ Seine Worte duldeten keine Widerrede und so fügte sich Jamie mit ungutem Gefühl...
Am nächsten Morgen führte ein Diener ihn in das Zimmer des jungen Grafen. Hatte er anfangs noch ein ungutes Gefühl, so freute Jamie sich doch aufrichtig, als er Thomas im Bett sitzen und mit Appetit eine Suppe löffeln sah. Jetzt fiel ihm auf, wie gut der junge Graf aussah. Sein dunkles Haar fiel ihm in sanften Locken über die Schultern, sein Gesicht war freundlich und offen, nichts von dem verkniffenen, strengen Gesichtszügen des Grafen selbst. Jamie wunderte sich erneut, denn die Frau des Grafen hatte er bei einem Marktfest im Sommer schon gesehen und Thomas sah ihr mit ihrem verhärmten Zügen in keiner Weise ähnlich. Noch dazu war sie eigentlich viel zu jung, um seine Mutter sein zu können...
„Du bist wohl der Heiler, der mir gestern Nacht das Leben gerettet hat!“ sagte Thomas fröhlich, als er ihn erblickte. „Komm bitte näher.“ In Jamies Magen flatterten plötzlich unzählige Schmetterlinge. Mit plötzlicher Schüchternheit trat er näher an das Bett heran und fühlte sich mit einem mal verlegen. „Wie ...äh.. wie fühlt ihr euch heute morgen?“ fragte er und umklammerte seinen Beutel mit festen Fingern. Thomas strahlte ihn an. „Oh, dank dir geht es mir hervorragend! Die Seite schmerzt noch ein wenig beim Einatmen, doch das Fieber ist weg und ich würde am liebsten direkt aufstehen.“ Damit hatte Jamie durchaus gerechnet. Der Zauber hatte über Nacht die Rippen gerichtet und zusammenwachsen lassen. Der Sud hatte die Schmerzen betäubt und das Fieber gesenkt. Nur hatte er gehofft, wieder im Dorf zu sein, wenn diese Wunderheilung vollbracht war. Und doch gab es da in ihm einen kleinen Teil, der sich freute, hier zu sein. Die Nähe dieses jungen Mannes genießen zu dürfen... Verlieb dich niemals in Unbegabte!! hatten seine Eltern im eingeschärft. Das durfte nie geschehen, und doch... und doch spürte er jetzt genau das! Er hatte sich in Thomas verliebt. Als ihm dies schlagartig klar wurde, trat er vom Bett zurück.
„Ich... ich bin froh euch so wohl auf zu finden. Offenbar besitzt ihr gute Selbstheilungskräfte. Dann werde ich mich jetzt auf den Heimweg machen, denn das Dorf braucht mich.“
Er verbeugte sich tief und sah im Umwenden den enttäuschten, fast traurigen Blick des jungen Grafen.
„Das ist Schade, ich hätte euch gern richtig gedankt. Könnt ihr nicht noch ein Weilchen bleiben?“ fragte er zaghaft, was so gar nicht zu seinem Stand passen wollte. Jamie schluckte. Wie gern würde er ja sagen und bleiben. Wie gern würde er Thomas näher kennen lernen, Zeit mit ihm verbringen und vielleicht... nein! Das war abwegig. Und gefährlich!
„Es tut mir leid, Durchlaucht! Aber ich habe Patienten, die mich dringend brauchen! Ihr seit auf dem Wege der Besserung. Ruht euch noch ein paar Tage aus, dann könnt ihr wieder ausreiten!“
Damit eilte er aus dem Zimmer und ließ sich auch nicht von Dienern auf dem Flur zurückhalten. Eilig verließ er das Schloß und machte sich auf den Weg durch den Schattenwald zurück in sein Dorf.
Er war schon eine Weile gelaufen, als er Hufgetrappe hinter sich hörte. Sicher hatte der Graf seine Soldaten geschickt, um ihn zurückholen, also versteckte Jamie sich in einem dichten Gebüsch und wartete. Der Reiter preschte an ihm vorbei und als Jamie keine weiteren Pferde hörte, verließ er sein Versteck und setzte seinen Weg fort.
Mit jedem Schritt wuchs eine tiefe Traurigkeit in ihm, denn erst jetzt verstand er, was sein Vater gemeint hatte. Als Jamie sich entschied, im Dorf zu bleiben und nicht seinen Eltern in die Magierenklave bei Berlin zu folgen, hatte sein Vater ihm gesagt, dass es hier für ihn sehr einsam werden würde. Ohne eine Partnerin oder einen Partner, mit dem du sein Geheimnis teilen kannst, wirst du dich nie dazu gehörig fühlen! Doch Jamie war jung und hatte nur abgewunken. Jetzt verstand er, was sein Vater ihm sagen wollte. Sein Herz sehnte sich bereits jetzt nach Thomas, obwohl er ihn gerade erst kennen gelernt hatte und obwohl er nicht mal hoffen durfte, dass seine Gefühle erwidert wurden. Doch selbst wenn es so wäre, da Thomas ein Unbegabter war, musste er sich von ihm fern halten, damit er nicht merkte, dass Jamie ein Magi war. Die Zeit der Hexenverbrennungen war noch nicht so lange her und er kannte aus den Erzählungen seiner Eltern, wie grausam Unbegabte jenen gegenüber waren, die sie für gefährlich mächtig erachteten.
Als er an einer Lichtung ankam, sah er mit einem Mal ein Pferd ohne Reiter auf der Wiese grasen. Das Sattelzeug trug das Wappen des Grafen. Hastig blickte Jamie sich um, doch er konnte niemanden sehen. Langsam ging er auf das Pferd zu.
„Ruhig, ruhig.“ sprach er sanft auf das Tier ein und griff nach dem Zaumzeug. „Wo ist denn dein Reiter?“
„Hier!“ erklang eine Stimme hinter ihm und als er herumwirbelte, sah er Thomas auf einem Baum sitzen, mit spitzbübischem Grinsen. „Ihr!“ fuhr es aus ihm heraus, teils erschrocken, teils freudig erregt. Thomas sprang vom Baum herab und landete etwas unsanft auf einem Knie, die Hand auf seine Seite gepresst. Offensichtlich unterdrückte er den Schmerz und überspielte es mit einem weiteren Lächeln.
„Ich musste dich wieder sehen. Verzeih mir!“ Jetzt erschien auch ein wenig Verlegenheit auf dem Gesicht des jungen Grafen, was ihn für Jamie noch hübscher erscheinen ließ.
„Ihr hättet mir nicht folgen sollen, Durchlaucht.“ zwang sich Jamie zu sagen, auch wenn sein Herz vor Freude hüpfte. „Eure Gesundheit ist noch nicht so weit fortgeschritten, dass ihr schon wieder reiten solltet!“ Er hoffte, dass er tadelnd klang. Doch Thomas trat auf ihn zu und ergriff seine Hand. „Ich weiß, dass du das nicht so meinst! Ich kann spüren, dass da zwischen uns etwas ist. Als ich heute Nacht zwischen Schmerz und Fieberwahn deine Augen erblickt habe, da fühlte ich, dass alles gut werden würde. Ich fühlte mich vollständig. Bitte sag mir, dass du das genau so fühlst!“
Jamies Herz schlug schneller. Natürlich fühlte er genau so. Am liebsten hätte er es hinaus gebrüllt und Thomas in seine Arme gezogen. Und doch wusste er, dass es nicht sein durfte! Also entzog er Thomas seine Hand und trat zurück.
„Ihr irrt Euch, Durchlaucht! Es war das Fieber, dass euch dies vorgaukelte. Bitte, ich flehe euch an, kehr zurück und vergesst mich!“
Doch Thomas folgte ihm und zog ihn zu sich heran. „Ich kann in dein Herz sehen. Bitte stoß mich nicht fort!“ Damit zog er ihn in seine Arme und küsste ihn.
Jamie erstarrte zunächst, doch als er die weichen Lippen auf seinen spürte, als eine Haarsträhne sanft seine Wange streichelte, da ließ er alle Gegenwehr fallen und erwiderte den Kuss. Sein Herz hatte gewonnen und seinen Verstand überstimmt.
Der Kuss schien eine Ewigkeit zu dauern und als sie sich dann von einander lösten, waren sie außer Atem.
„Willst du immer noch fort?“ fragte Thomas lächelnd und streckte Jamie seine Hand hin. Dieser überlegte kurz, dann ergriff er sie.
„Nein. Auch wenn mein Verstand mir dazu rät, doch mein Herz möchte bei dir sein!“
Gemeinsam spazierten sie über die Lichtung bis sie an einen kleinen Fluss kamen, der friedlich vor sich hin plätscherte. Hier setzten sie sich ans Ufer, Jamie lehnte sich mit dem Rücken an einen Baum, Thomas legte sich hin und bettete seinen Kopf in Jamies Schoß. Thomas wollte alles über Jamie wissen, also erzählte er ihm, was auch die Leute aus dem Dorf wussten. Seine Familie lebte schon seit vielen Generationen hier im Dorf und verdingte sich als Heilkundige. Vor vier Jahren waren seine Eltern dann nach Deutschland gegangen und Jamie hatte das Dorf nicht ohne Heiler verlassen wollen. Darum war er noch immer hier...
„Darf ich dich auch etwas fragen?“ wechselte Jamie nun das Thema. „Natürlich, alles!“
„Die Gräfin.. sie ist nicht deine Mutter, oder?“ Jamie wusste, dass dies ein heikles Thema sein konnte. Wenn Thomas ein Bastard war, auch wenn sein Vater ihn wohl offiziell anerkannte, so gab es in Adelskreisen immer Grund für Böses Blut. Doch Thomas lächelte mild.
„Nein, das ist sie nicht. Sie ist die zweite Frau meines Vaters. Meine Mutter verstarb als ich noch sehr klein war. Sie wurde sehr krank und niemand konnte ihr helfen. Aus diesem Grund hatte mein Vater auch einen Arzt an seinen Hof geholt und verpflichtet und darum wollte er dich letzte Nacht nicht fort lassen. Er sagt immer, ich sähe meiner Mutter so ähnlich. Leider kann ich mich kaum noch an sie erinnern.“ Jamie drückte tröstend seine Hand.
„Und deine Stiefmutter? Sie war nicht an deinem Bett, als es dir schlecht ging...“
Thomas lachte höhnisch auf. „Nein, das würde sie auch niemals. Sie hasst mich, denn ihre eigenen Kinder wurden in der Erbfolge immer nach mir kommen! Und das weiß sie sehr genau. Mein Vater hat sie wegen eines Bündnisses mit ihrem Onkel geheiratet. Den Platz meiner Mutter wird sie aber nie einnehmen.“ Plötzlich erhob Thomas sich und griff nach Jamies Hand.
„Komm hoch, lass uns schwimmen gehen. Mir ist heiß und ich möchte die trüben Gedanken vertreiben!“
Das ließ Jamie sich nicht zweimal sagen und schon bald tobten sie durch die nassen Fluten.
Viele Stunden verbrachten sie gemeinsam am Fluss. Sie schwammen, sie ruhten sich aus. Sprachen lange über dies und jenes und genossen die Gesellschaft des anderen.
Später lagen sie gemeinsam im Gras in der Sonne.
„Sag mal, wie kam es eigentlich dazu, dass du dich verletzt hattest? Dein Vater sagte, du wärst vom Pferd gefallen?“ Thomas blick wurde nachdenklich.
„Ja, das war schon seltsam. Mein Brauner ist sonst immer ein ruhiges Tier, man könnte sagen Lammfromm. Doch an dem Tag war er sehr nervös. Ich hatte gedacht, dass er einfach zu lange im Stall gestanden hatte, doch als wir durch den Wald geritten waren, hatte er sich vor einem Vogel, der plötzlich aus dem Dickicht aufgeflogen war, erschreckt. Ich war zu überrascht und bin gestürzt. Zum Glück waren meine Begleiter da, wer weiß was sonst aus mir geworden wäre...“ Plötzlich setzte er sich auf. „Wenn ich so darüber nachdenke... ist das alles schon seltsam. Auch war meine Stiefmutter sehr darauf bedacht, die Situation herunter zu spielen. Sie sagte meinem Vater bei meiner Rückkehr, er solle sich keine Gedanken machen. Junge Männer könnten viel weg stecken und ich hatte da noch keine großen Schmerzen. Auch fand sie es übertrieben, nach einem Heiler zu schicken. Sie meinte unser Leibarzt würde ja in ein paar Tagen wieder da sein und man könne ihn ja bitten früher zurück zu kommen. Und heute morgen hat sie mir dann selbst die Suppe gebracht und sich sehr bemüht gezeigt, mein Wohlergehen zu fördern.“
Jamie zog die Augen zusammen. Ein ungutes Gefühl schlich sich in seine Gedanken. Doch als Thomas sich über ihn beugte und ihm einen innigen leidenschaftlichen Kuss gab, vergaß er alles andere.
„Weißt du, das ist mit Abstand der beste Tag in meinem Leben!“ sagte er lachend. „Ich bin echt froh, vom Pferd gefallen zu sein, sonst hätte ich dich vielleicht nie kennen gelernt!“ Jamie strahlte vor Glück, als er diese Worte hörte, fühlte er doch genau so. Und mit einem Mal wusste er, dass er mit diesem Mann nicht nur sein Leben sondern auch sein Geheimnis teilen wollte. Also fasste er sich ein Herz und setzte sich auf.
„Thomas, ich muss dir etwas sagen. Aber du musst mir schwören, dass du dieses Geheimnis für dich behalten und mit in dein Grab nehmen wirst, komme was da wolle!“ Zunächst lachte Thomas über die Ernsthaftigkeit der Worte, doch als er bemerkte, dass Jamie nicht spaßte wurde auch er ernst.
„Ich schwöre es dir!“
„ Ich bin kein einfacher Heilkundiger. Heute Nacht standest du am Rande des Todes, ein Arzt hätte dir niemals helfen können.“ Jamie nahm seine Hand fest in die seine und sah ihm in die Augen.
„Ich habe dich mit Hilfe von Magie gerettet. Ich bin ein Magi!“
Thomas Augen wurde groß. „Du nimmst mich doch auf den Arm!“ Doch Jamie schüttelte den Kopf. Dann stand er auf und zog seinen Zauberstab aus dem Beutel. Er hielt den für Thomas unsichtbaren Zauberstab auf beiden Händen liegend vor sich und flüsterte: „Videtur!“ die Zauberformel, die den Unsichtbarkeitszauber auf dem Stab aufheben sollte. Thomas Augen wurden noch größer. „Wie hast du das gemacht?“ stammelte er vor Staunen. Jamie lächelte. Dann hob er einen Stein vom Boden auf, legte ihn sich auf die Hand und murmelte: „Autem!“ was den Stein hochschweben ließ. „Ich sagte doch, ich bin ein Magi. Das ist wirkliche Zauberei. Doch das darf niemand erfahren. Sonst wird man mich vernichten, wie man schon viele meiner Vorfahren vernichtet hat!“
Thomas stand auf und presste ihn einen Kuss auf die Lippen, ein stummes Versprechen, sein Geheimnis für immer zu bewahren. Jetzt war Jamie wahrhaft der glücklichste Mann auf der Welt.
Doch plötzlich wich Thomas zurück. Sein Gesicht war aschfahl und er begann zu zittern.
„Thomas, was ist?“ begann Jamie, doch weiter kam er nicht. Denn Thomas brach vor ihm zusammen und krümmte sich vor Schmerzen. Aus seiner Kehle drang ein erstickter Laut und zwischen seinen Lippen quoll ein rötlicher Schaum hervor. Erschrocken kniete Jamie neben ihm nieder, bettete seinen Kopf vorsichtig auf der Seite und versuchte, den Schaum aus dem Mund zu entfernen. Doch es quoll immer mehr nach. Jamies Gedanken rasten, im Geiste ging er durch, was seine Eltern ihm beigebracht hatten. Alle Anzeichen sprachen für eine Vergiftung!
„Thomas, du musst versuchen, dich zu übergeben! Ich glaube du wurdest vergiftet. Bitte... rief er in seiner Verzweiflung, doch Thomas konnte ihn nicht hören. Er kämpfte um sein Leben.
Als er den ersten Schock überwunden hatte, fiel sein Blick auf seinen Zauberstab, der ins Gras gefallen war. Schnell griff er danach und überlegte, was er tun konnte. „Vomitus!“ rief er den Zauberspruch, der zum Erbrechen führen sollte. Doch der Zauber verflog wirkungslos. Verwirrt starrte er auf den Geliebten, der sich in furchtbaren Zuckungen vor ihm wand.
Er sammelte alle Energie in sich. Sein Vater, der Blutmagi war, hatte ihm die Begabung vererbt. Stets mit der Warnung, sehr vorsichtig damit um zu gehen. Blut ist eine seltene Essenz. Für einen Starken Zauber brauchst du sehr viel Kraft und wenn die Potenz in deinem Blut zu schwach ist, brauchst du sehr viel. Zu leicht kannst du dich verausgaben, also wende es nur mit Bedacht an!
Doch jetzt hatte er keine Wahl. Er würde nicht zulassen, wie Thomas hier starb! Zwischen den Kleidern seines Geliebten lag dessen Jagdmesser. Dieses ergriff Jamie und kniete sich über den sich windenden Thomas. „Una est in sanguiem! Vereint im Blute!“ dann schnitt er eine tiefe Wunde in seine linke Hand und presste diese zusammen, damit das Blut stärker hervorquoll. Ein rotes Bächlein ergoss sich über dem Vergifteten. „Sanctificamini huic! Reinige diesen Mann!” Ein weiterer Schnitt in die Handfläche, das beide ein “X” ergaben – die Rune Gebo. “Sana auxilium! Hilf zu heilen!” Immer wieder rief er die Worte und presste das Blut aus den Wunden. Seine ganze Kraft floß in die Zauberformel und in den tiefen Wunsch den Geliebten zu retten. Allmählich ließ das Zucken nach und die Farbe kehrte in Thomas Gesicht zurück. Doch als dieser die Augen aufschlug und sich aufsetzte, sank Jamie kraftlos neben ihm zu Boden.
“Liebster, nein!” brachte er hervor und zog Jamies Körper an sich. Nur noch spärlich rann das Blut aus den tiefen Schnitten in seiner Hand. Er bemerkte nicht, dass sein ganzer Körper voll mit Jamies Blut bedeckt war. “Nein, nein nein!” flüsterte er mit Tränen erstickter Stimme. Matt öffnete Jamie seine Augen und formte ein leichtes Lächeln.
“Weine nicht, Geliebter Ich bin dankbar für diesen wunderbaren Tag. Auch für mich war es der Beste Tag meines Lebens. Nun wo ich weiß, dass ich dein Leben gerettet habe, kann ich meines in Frieden beenden!”
Dann schloß er für immer die Augen...
Lucy ließ einen leisen Schluchzer ertönen. „Oh, das ist ja schrecklich traurig.“ flüsterte sie und kuschelte sich fester in Sams Arme. Diese drückte sie tröstend an sich.
„Der junge Graf begrub seinen geliebten Jamie hier am Fluss, wo sie beide so glücklich gewesen waren und kehrte zu seinem Vater zurück. Dort berichtete er von dem feigen Anschlag auf sein Leben. Er erzählte, dass Jamie ihn erneut gerettet hatte, aber dabei selbst sein Leben verlor. Schnell war klar, dass die Stiefmutter den jungen Grafen vergiftet hatte und sein Vater verurteilte sie zum Tode. Der junge Graf kehrte immer wieder zum Grab des Geliebten zurück und ließ eine Statue von ihm aufstellen. Der Zauberstab in seiner Hand ist übrigens sein echter. Der Steinmetz hatte die Aufgabe bekommen, die Hand so zu formen, dass Thomas ihn dort heimlich platzieren konnte. Als die Statue aufgestellt wurde, erließ der junge Graf ein Verbot, diese Lichtung jemals zu betreten. Denn hier wollte er allein mit seinem Liebsten sein. Man erzählt sich, dass man ihre Geister heute noch sehen kann, wie sie gemeinsam am Fluss sitzen....“
Tag der Veröffentlichung: 20.10.2020
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