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Gute Vorsätze

Stefan war unheimlich müde, als er morgens um halb neun nach einer langen Nachtschicht die vier Etagen zu seiner Wohnung hinauf stieg. Die Feiertage über hatte er Dienst geschoben, zwölf Stunden plus Zusatzstunden. Ständig hieß es: „Stefan, kannst du nicht… ich hab doch kleine Kinder… Meine Mutter ist krank… wir haben doch schon gebucht…“ Und natürlich hatte Stefan ja gesagt. Warum auch nicht? Die Feiertagszulage konnte er gut gebrauchen für die neue Wohnung und sein Freund war eh über die Feiertage unterwegs gewesen.

Als er seine Wohnung betrat, saß Peter schon am Küchentisch bei einer Tasse Kaffee.
„Hast du Brötchen mitgebracht?“ brummte er und zündete sich eine Zigarette an. Stefan seufzte müde. „Tut mir leid. Das habe ich vergessen. Ich geh nochmal los, lass mich nur schnell eine Tasse Kaffee trinken.“
Peter nahm seine Tasse und trank sie mit schnellen Zügen leer. „Keiner mehr da! Kannst gleich neuen mitbringen. Aber nicht wieder diese billige Affenscheiße vom Aldi! Bring richtigen Kaffee mit!“
Stefan wollte ihm sagen, dass er selbst seinen Hintern aus der Tür schwingen und einkaufen gehen solle. Immerhin saß er den ganzen Tag zu Haus, faulenzte oder ging auf Partys oder in Clubs, während Stefan Doppelschichten im Krankenhaus schob. Doch wie immer nickte er nur und ging nochmal los…

Beladen mit Brötchen, teurem Kaffee und einigen anderen Dingen für den Alltag schleppte Stefan sich heute zum zweiten Mal nach Hause. Jetzt wollte er nur noch auf die Couch und ausruhen. Umständlich fingerte er den Schlüssel ins Schloss und öffnete die Verriegelung. Dabei wäre ihm fast die Tüte mit den Brötchen aus der Hand gefallen. Umständlich schob er die Tür von innen mit dem Fuß zu. Mit einem Knall flog sie ins Schloss. Stefan verlor dabei beinahe das Gleichgewicht.
„Verflixt!“ zischte er und suchte an der Garderobe halt. Diesmal konnte er die Brötchentüte nicht mehr halten und so kullerte das noch warme Gebäck über den Boden.
Peter steckte den Kopf aus der Wohnzimmertür und schnaubte.
„Geht das auch leiser? Ich hab wichtigen Besuch! DU kannst gleich mal frischen Kaffee aufsetzen und dann ein paar Brötchen schmieren!“ Schon flog die Tür zu und Stefan stand wie ein begossener Pudel im Flur. Er war durchaus gewohnt, dass Peter ihn anpflaumte, doch dass er ihn dermaßen mies behandelte, noch dazu vor seinem ominösen Gast, das war neu. Wut stieg in ihm auf, während er die Brötchen aufsammelte. Doch es war nicht Wut auf Peter, es war die Wut auf sein eigenes Versagen. Er wusste, dass er nichts zu seinem Freund sagen würde. Es hatte ja auch keinen Zweck. Peter hatte sich noch nie entschuldigt und das würde sich jetzt auch sicher nicht ändern. Es würde nur wieder einen Streit geben und dann würde Peter ihn wieder tagelang ignorieren. Und in zwei Tagen war Silvester…
Seufzend ging er in die Küche und kochte Kaffee. Während das Wasser durch die Maschine lief, schnitt er Brötchen auf und begann zu schmieren. Die Müdigkeit, die ihn noch vor wenigen Minuten schwer in den Gliedern steckte, wurde quälend. Ein Gähnen unterdrückend belud er ein Tablett mit dem vorbereiteten Frühstück und trug es rüber zum Wohnzimmer. Ohne anzuklopfen stieß er die Tür mit dem Ellbogen auf und trat in das Wohnzimmer. Auf dem Sofa saß Peter mit einem jungen Koreaner. Sie starrten auf den Laptop, der vor ihnen stand. Aus den Boxen dröhnte anstrengende Mangaklänge: Peters liebster Zeitvertreib – Hentai. Stefan räusperte sich und trat an den Tisch heran. „Kannst du bitte etwas Platz machen?“ Peter grunzte genervt und zog den Laptop auf seinen Schoß, sein Gast blickte Stefan an und lächelte peinlich berührt.
„Stellst du das Geschirr nachher in die Küche, wenn ihr fertig seid? Ich gehe schlafen.“ Ohne eine Antwort abzuwarten ging Stefan raus und zog sich ins Bad zurück. Während er seine Zähne putzte, starrte er sich im Spiegel an und sein Spiegelbild blickte vorwurfsvoll zurück…

Als Stefan am Abend zum Dienst kam, wartete Thorsten von der Pflegedienstleitung bereits auf ihn im Dienstzimmer.
„Stefan, schön dass du da bist. Hast du einen Moment Zeit?“
„Klar, was gibt es denn?“
„Könntest du in der Silvesternacht bitte in der Notaufnahme Dienst tun? Es wird sicher viel los sein.“
Stefan nickte nur und begann sich um zuziehen. Sein Vorgesetzter sah ihn immer noch abwarteten an.
„Oh, ja natürlich. Ich mach’s.“ sagte er schnell ohne auf zu blicken.
„Danke. Du hast was gut!“ – wie oft hatte Stefan diese Worte schon gehört? Er konnte es nicht zählen und bislang waren es immer leere Worte gewesen. Als Becker den Raum verlassen hatte, seufzte er und setzte sich auf einen Stuhl. Warum konnte er nur nicht nein sagen? Egal, wer ihn um einen Gefallen bat, er sagte immer ja. Auch gegen seine eigenen Interessen. Dienst in der Notaufnahme… Zumindest würde er hier nochmals einen Aufschlag bekommen.
Die Übergabe auf der Station war schnell erledigt. Die Zimmer waren nicht voll belegt und es waren keine komplizierten Fälle da.
„…und in Zimmer 251 liegt Frau Hansen. Sie hatte gestern Nacht Probleme beim Einschlafen. Vielleicht schaust du nachher mal bei ihr rein, ob sie wieder eine Tablette möchte. Sie fragt nicht von selbst. Und Frau Klawitter hat heute die Drainage entnommen bekommen. Kontrollier am besten ab und zu die Temperatur. Bis jetzt sieht aber alles gut aus. Du solltest nicht viel zu tun haben.“ Schwester Mareike schob sich ein gelbes Weingummi in den Mund und lächelte ihn an. Sie war die einzige Kollegin, die Stefan mit Respekt behandelte und die ihm nicht immer noch alle möglichen Arbeiten vom Tage liegen ließ. Er würde sie sehr vermissen, wenn sie Ende des nächsten Jahres in Rente ging.
„Danke dir, Mareike. Ach, Silvester wirst du wohl doch allein die Nachtschicht machen.“
Sie hob überrascht den Blick und lachte. „Hast du dir doch endlich frei genommen um diesem Nichtsnutz von Peter zu zeigen, dass du auch feiern kannst?“
„Hm nein. Thorsten hat mich gebeten in der Notaufnahme auszuhelfen.“
„Und du hast natürlich ja gesagt. Schätzchen, du solltest endlich lernen NEIN zu sagen!“
Stefan lächelte sie entschuldigend an und nahm sie in den Arm.
„Ich weiß, Mama, ich weiß.“
Sie drückte ihn mütterlich und tätschelte seinen Rücken.
„Oh ich weiß, es ist doch Silvester! Das wird dein Vorsatz für das neue Jahr – Nein sagen! Und wenn du es bis Ostern schaffst, keine Zusatzschichten mehr zu übernehmen, dann lade ich dich zum Osterbrunch ins Kutschereck ein! Und wenn du es nicht schaffst, tja dann geht der Brunch auf deine Rechnung. Was sagst du?“ Stefan trat an den Tisch heran und nahm die Patientenkurve in die Hand.
„Ach, weißt du…. Ich denke, dass ich dich einfach so zum Brunch ausführe. Du weißt, dass ich das niemals durchhalten kann.“
Gerade in diesem Augenblick schrillte der Ruf aus einem der Zimmer und rettete Stefan vor weiterer Diskussion.
„Ich wünsch dir eine gute Nacht. Wir sehen uns morgen!“

Später in der Nacht saß er im Dienstzimmer und vervollständigte die Eintragungen in den Patientenkurven, als das Telefon schrillte.
„Ja?“
„Stefan, hier ist Kai aus der Notaufnahme. Wir haben hier eine junge Frau mit ungeklärten Bauchschmerzen. Machst du ein Zimmer fertig? Wir bringen sie dir gleich rauf.“
„Na klar, 262 ist frei. Ich mach alles bereit.“
Die nächste halbe Stunde bezog er das Bett im Zimmer frisch und holte aus dem Stauraum einen neuen Nachttisch. Er stellte gerade ein frisches Glas und eine Flasche Wasser bereit, als der Fahrstuhl sich öffnete und die neue Patientin hoch gebracht wurde. Ein junger Pflegeschüler, der in der Notaufnahme Dienst tat, schob einen Rollstuhl mit einer jungen blonden Polizistin herein. Ihr Gesicht war schmerzverzerrt und sie krümmte sich. Neben ihr ging ein weiterer Polizist. Er trug ihre Jacke und Mütze und schien beruhigend auf sie einzusprechen. Er fiel Stefan gleich auf. Groß, gut gebaut, unheimlich gutaussehend und das gewisse Etwas.
„Hier.“ Zeigte Stefan dem Kollegen den Weg zum Zimmer und hielt die Tür offen. Der junge Kollege reichte ihm die Patientenakte aus der Notaufnahme und parkte die Patientin neben dem Bett. Dann stand er einfach nur da. Die junge Frau versuchte mühsam aufzustehen, doch der Rollstuhl fuhr ein Stück zurück und sie plumpste wieder in den Sitz.
„Was zum Kuckuck!“ rief der Polizist aus und griff nach dem Rollstuhl. Auch Stefan war herbei gesprungen.
„Herr Gott, pass doch auf, Junge! Du musst die Bremsen feststellen und der Patientin helfen! Mensch, was bringen die euch denn heute bei? Lass mich mal!“
Er schob den jungen Mann zur Seite und trat die Bremsen des Stuhls fest. Dann ging er herum und bot der Patientin seine Hand.
„Kommen Sie, ich helfe Ihnen auf.“
Sie nickte dankbar und ließ sich aufs Bett helfen.
„Die müssen Sie aber ablegen.“ Sagte Stefan und deutete auf den Pistolenholster an der Seite der Frau.
„Ich werde sie gleich mitnehmen!“ versprach der Polizist und half seiner Kollegin, die Waffe abzulegen.
„Warten Sie bitte kurz draußen, dann können Sie sich verabschieden!“ bat Stefan ihn, und bedeutete auch seinem Kollegen, sich zurückzuziehen. Als sie allein waren, wand er sich der Frau zu.
„Frau Gerber, ich habe hier ein Nachthemd für Sie. Soll ich Ihnen helfen?“
Sie nickte dankbar und so half er ihr mit geübten Handgriffen beim Umziehen. Als sie im Bett lag zog er den Infusionsständer heran und hängte ihr eine Infusion an.
„Das ist jetzt erst mal nur eine Lösung um sie mit Flüssigkeit zu versorgen. Ich spreche gleich kurz mit dem Arzt aus der Notaufnahme. Er hat nicht eingetragen, was ich Ihnen an Schmerzmitteln geben darf. Geht es ihnen jetzt etwas besser? Brauchen Sie noch etwas?“
„Danke, es geht im Augenblick. Ich brauche nichts.“
„Soll ich ihren Kollegen nochmal herein schicken?“
„Nein, sagen Sie ihm, er soll meiner Mutter Bescheid geben, dass sie mir morgen meine Sachen bringen soll. Ich will versuchen zu schlafen.“
„Ok. Sobald ich mit dem Arzt gesprochen habe, komme ich noch einmal rein und gebe ihnen was. Und wenn was ist, klingeln sie einfach.“

Als Stefan das Zimmer verließ, stand der Polizist direkt neben der Tür.
„Wie geht es ihr?“ fragte er besorgt. Jetzt hatte Stefan die Gelegenheit, den Mann genauer zu betrachten. Er war etwa im gleichen Alter wie er selbst, also um die achtundzwanzig. Sein dunkles Haar trug er kurz und etwas zerzaust. Stefan musste etwas zu ihm hoch sehen, denn er war fast einen Kopf größer, obwohl Stefan mit einem Meter sechsundsiebzig nicht gerade klein war. In seinem männlich geschnittenen Gesicht strahlten zwei blaue Augen. Ein Traum von einem Mann. Und in der Uniform wirkte er so eindrucksvoll und stark, dass Stefan schwach werden konnte.


„Ich denke fürs erste geht es ihr gut. Sie bekommt gleich noch etwas gegen die Schmerzen, dann kann sie schlafen. Sie hat darum gebeten, dass Sie ihre Mutter informieren sollen.“
Er nickte zur Antwort und trat von einem Bein aufs andere. Er schien hin und her gerissen.
„Gehen Sie ruhig, sie bat darum jetzt etwas schlafen zu können. Sie braucht Ruhe!“
„Ja… ja ok. Ich werde mich um alles kümmern!“
Stefan blickte dem Polizisten versonnen nach, als er die Station verließ.
„Der wäre ein guter Vorsatz!“ murmelte Stefan vor sich hin…

Am Silvestermorgen schleppte Stefan sich müde in die Wohnung. Er hatte sechs Stunden, bis er sich wieder fertig machen musste, um die letzte Schicht es Jahres an zutreten. Es war still. Peter war offenbar noch nicht aufgestanden. Peter. Wenn er an seinen Freund dachte, fühlte er sich seltsam. Es gab eine Zeit, da hatte sein Herz kleine Hüpfer gemacht, wenn nur sein Name gefallen war. Doch nun schien eine große Faust sich um sein Herz zu ballen. So müde er auch war, nichts zog in ins Schlafzimmer… in das Bett, in dem der Mann lag, den er einst über alles geliebt hatte.
„Das wäre ein guter Vorsatz…“ murmelte Stefan wieder vor sich hin und entschied sich für das Gästezimmer.

Als sein Wecker um vierzehn Uhr klingelte, schreckte er hoch. Er hatte schlecht geschlafen, Alpträume hatten ihn durch die kurzen Stunden gejagt. Mit steifen Gliedern zog er sich an und legte das Bettzeug zusammen. Müde schlurfte er dann in die Küche, um sich Kaffee zu machen, als er leise Geräusche aus dem Schlafzimmer hörte. Vorsichtig trat er heran und lauschte. Peters heiseres Stöhnen. Jetzt fühlte er sich schlecht, weil er im Gästezimmer geschlafen hatte. Es war schon lange her, dass sie zuletzt mit einander geschlafen hatten. Ständiges Streiten und seine Arbeitszeiten hatten ihm jede Lust genommen, nicht das Peter es nicht mehrfach versucht hatte… Sein schlechtes Gewissen trieb ihn dazu, leise die Türklinge herunter zu drücken und ins Schlafzimmer zu treten. Er hatte Peter bei seinem „Alleingang“ nicht stören wollen, doch mit dem Anblick, der sich ihm jetzt bot, hatte er nicht gerechnet…
Peter war nicht allein! Der Koreaner kniete nackt vor seinem Freund, dessen Schwanz tief in seinem Mund. Die beiden waren so vertieft, dass sie Stefan nicht bemerkten.
Der Anblick fühlte sich an, wie ein Eimer kaltes Wasser über den Kopf. Er zitterte vor innerer Wut und Enttäuschung. Wie lange er da stand, ohne sich zu rühren, ohne zu atmen, wusste er nicht. Es hätten Stunden sein können oder Sekunden. Doch das spielte keine Rolle. Dieses Bild brannte sich fest in sein Herz und schien es zu zerreißen. Hastig riss er sich los und stürmte aus dem Zimmer. In Wut knallte er die Tür hinter sich zu. Aus dem Schlafzimmer hörte er Peters Stimme: „Scheiße! Stefan!“ doch er ignorierte das und riss seine Jacke vom Haken. Gerade als Peter die Schlafzimmertür aufriss und erneut seinen Namen rief, schlug er die Wohnungstür zu und rannte die Treppe hinunter. In seinem Kopf rauschte das Blut, sein Herz schlug so heftig, dass es fast weh tat und verzweifelt versuchte er die Tränen zu bekämpfen, die in ihm aufstiegen. „Nein, wegen diesem Arsch fängst du jetzt nicht an zu heulen!“ schrie er sich im Kopf selbst an.
Als er die letzte Treppe vor der Eingangshalle erreichte, verlangsamte er seine Schritte. Er hörte Stimmen – Frau Bauer und eine weitere Frau standen um die Ecke und unterhielten sich. In seinem jetzigen Zustand wollte er ihr auf keinen Fall in die Arme laufen und Peter würde ihm schon nicht nachlaufen – so nackt wie er war. Also lehnte er sich kurz an die Wand und atmete tief durch, um zumindest im Vorbeigehen einen „normalen“ Eindruck zu machen.
„… ach darüber mach ich mir keine Gedanken. Den Flur putz ich heut und wegen dem Fegen spreche ich noch den Schwuli-Stefan an! Das mach ich jedes Mal so. Auch letztes Karneval. Ich erzähl ihm, dass mein Hexenschuss wieder so schlimm ist, dann macht der den Dreck weg. Der sagt sowie so niemals nein!“
Die Stimme von Frau Bauer hallte durch den Flur in sein Ohr und plötzlich war er erfüllt von Wut. Wut auf Peter, der ihn so lange verarscht hatte, Wut auf diese widerliche alte Schnepfe, die sein Mitgefühl und seine Freundlichkeit so schamlos ausgenutzt hatte und Wut auf sich selbst, dass er sich immer wieder erniedrigt hatte. Mit geballter Faust stieß er sich von der Wand ab und schritt die letzten Stufen in die Halle mit festem Schritt herunter. Als er um die Ecke bog, blickten die beiden Frauen ihn überrascht an, dann beugte Frau Bauer sich schnell vor und stützte sich auf den Schrubber.
„Oh Stefan, gut, dass ich sie treffe. Mein Hexenschuss hat mich wieder überfallen, ob Sie vielleicht so lieb sind morgen den Hof zu fegen?“ krächzte sie in schönster Leidmanie und blickte ihn flehend an.
Stefan straffte seinen Rücken und blickte sie direkt an.
„Tut mir leid, Schwuli-Stefan hat Dienst und wird danach sicher nicht für Sie die Böllerscheiße wegräumen!“ zischte er und riss dann die Tür auf.
„Einen guten Rutsch, die Damen!“

Draußen atmete er noch einmal tief durch. Das hatte wirklich gut getan. Das Erlebnis mit Peter drückte er jetzt ganz nach hinten in seinem Bewusstsein. Damit wollte er sich jetzt nicht befassen! Jetzt machte er sich erst mal auf zum Krankenhaus. Zwar hatte er noch ein paar Stunden Zeit, bis sein Dienst begann, aber hier konnte er nicht bleiben und in der Kantine konnte er zumindest was essen und der Kaffee war auch genießbar.

Eine halbe Stunde später saß er in der Cafeteria über einer dampfenden Tasse Kaffee und einem liebevoll belegten Mohnbrötchen. Während er den Kaffee in der Hand hielt und das Brötchen anstarrte, rasten seine Gedanken wild durcheinander.
Wie hatte er es soweit kommen lassen? Wieso hatte er sich selbst so unwichtig gemacht, dass er für jeden der Hanswurst sein konnte? Und wie konnte er Peter nur zwei Jahre lang gestatten, ihn wie den letzten Dreck zu behandeln?
Plötzlich spürte er eine Hand auf seiner Schulter, die ihn aus seinen Gedanken riss.
„Hey Liebes. Was machst du denn schon hier?“ Mareike hauchte ihm einen mütterlichen Kuss auf die Wange und setzte sich neben ihn auf den Stuhl. In der gleichen Bewegung griff sie nach dem Mohnbrötchen, dass immer noch vernachlässigt auf seinem Teller lag. „Ich sterbe vor Hunger, darf ich mal probieren? “
„Nimm ruhig, ich habe ohnehin keinen Hunger.“ Sagte er fast tonlos. Das ließ Mareike innehalten. Mit ernsten Blick schaute sie ihn an: „Was ist los?“ Sie kannte ihn so gut. Er nahm noch einen großen Schluck aus dem mittlerweile nicht mehr wirklich heißen Kaffee.
„Peter hat mich mit dem Koreaner betrogen!“
„Was?? Nicht dein Ernst! Bist du sicher??“ sie war fassungslos.
„Ich hab sie vorhin erwischt, wie des kleine Arschloch ihm einen geblasen hat. Ich glaube da besteht kein weiterer Zweifel. Es sei denn du erzählst mir, dass in unserem Schlafzimmer eine Schlange den Schwanz meines Freundes gebissen hat und der Koreaner sich nur nackt ausgezogen hat, um eventuelle Blutspritzer zu vermeiden, während er das Gift aussaugt?“ er lachte bitter.
„Oh Mann. Da ist harter Tobak. Und was hast du jetzt vor?“
In diesem Augenblick betrat der Polizist die Cafeteria, der seine Kollegin in der Nacht in die Notaufnahme gebracht hatte. Stefan beobachtete, wie er sich abseits an einen freien Tisch setzte und die Karte studierte. In seinem Bauch begann ein Haufen Raupen sich in ihren Kokons zu winden. Mit einem Lächeln blickte er Mareike wieder an und stand auf: „Ich setzte gute Vorsätze in die Tat um!“
Dann ging er zu dem Polizisten hinüber.
„Entschuldigung, darf ich?“ fragte er und deutete auf den freien Platz neben dem Mann. Dieser erkannte Stefan direkt wieder und er nickte freundlich lächelnd. „Bitte.“
Stefan nahm Platz und sammelte seinen Mut zusammen.
„Ich weiß, wir kennen uns nicht. Ich weiß absolut nichts über Sie und vielleicht liege ich ja auch falsch. Aber mein Bauch sagt mir, dass ich mich nicht täusche und bevor ich noch Unsinn daher rede, möchte ich Sie fragen, ob Sie vielleicht mal mit mir ein Bier trinken gehen wollen?“

Der Polizist war ebenso überrascht wie Stefan selbst von diesem Überfall, doch er fing sich recht schnell wieder. Mit einem leicht verlegenen Lächeln erwiderte er Stefans Blick.
„Nun, ich wusste nicht, dass man mir anmerkt, dass ich schwul bin. Aber um auf deine Frage zu antworten: Bier trinke ich nicht wirklich gern. Wie wäre es denn mit einem Frühstück nach dieser Silvesternacht? Ich vermute wir müssen beide Dienst schieben und können dann morgen ein gutes Frühstück vertragen?“
Stefans Herz machte einen Hüpfer. Er war sprachlos, dass seine bodenlos stümperhafte Anmache Erfolg hatte.
„Ok, gern.“ Brachte er schnell heraus und versuchte nicht zu dämlich zu grinsen.
„Ich heiße übrigens Kai!“
„Stefan, freut mich. Wo und wann wollen wir uns treffen?“
„Ich habe um sechs Dienstschluss. Ich könnte dich hier abholen?“ Sein Lächeln war so umwerfend, dass Stefan sich daran nicht satte sehen könnte.
„Perfekt. Ich werde in der Notaufnahme sein, da können wir uns dann treffen.“
Damit war alles gesagt und Stefan zwang sich aufzustehen und wieder zu Mareike hinüberzugehen. Ihren fragenden Blick beantwortete er nur mit einem grinsenden Augenzwinkern.
„Ich fange an gute Vorsätze umzusetzen!“
Dann trank er seine Tasse aus, während Mareike noch die Überreste des Mohnbrötchens verzehrte. Gerade als sie aufstehen wollten, um auf Station zu gehen, erschien jemand im Eingang der Cafeteria, den Stefan sicher nicht sehen wollte – Peter! Suchend blickte dieser sich um, bis er Stefan entdeckte. Hastig eilte er auf Stefan zu.
„Stefan, bitte warte! Du verstehst das total falsch! Ich würde nie“ fing er an zu erklären und hob beschwichtigend seine Hände. Die Cafeteria war zwar nicht voll, doch die Aufmerksamkeit aller hing nun auf den beiden.
Stefan stand auf und trat einen Schritt von ihm weg.
„Peter, halt den Mund! Nichts was du sagst, kann das was du gemacht hast ändern. Du musst mich schon für sehr dämlich halten. Geh einfach. Ich arbeite hier und habe keine Lust, mir hier deinen Scheiß anzuhören!“
Peter folgte ihm nach und fasste ihn beim Handgelenk.
„Jetzt stell dich nicht so an. Wir können doch darüber reden!“ fing er wieder an und als Stefan seine Hand abschütteln wollte, drehte Peter ihm den Arm auf den Rücken. Aufruhr entstand bei den Gästen und dem Personal der Cafeteria.
„Hey!“ erklang plötzlich eine männliche Stimme voller Autorität hinter Peter und als dieser sich umdrehte, stand ein Polizist mit strenger Miene vor ihm – Kai.
„Ich würde sagen, sie lassen den Mann jetzt augenblicklich los und verschwinden aus dem Krankenhaus. Andernfalls können wir auch gern die Unterhaltung auf dem Revier fortsetzen!“
Kai war einen ganzen Kopf größer als Peter und strahlte so viel Männlichkeit wie ein griechischer Gott aus. Und mindestens genau so viel Autorität. Peter beeindruckte allein die Uniform. Hastig ließ er Stefan los und trat einen Schritt zurück.
„Sorry, das ist etwas Privates!“ stammelte er, doch Kais Miene blieb unerbittlich.
„Ich glaube, er hat Sie aufgefordert zu gehen. Das war unmissverständlich!“
Peter fügte sich und warf im Gehen noch einen Blick auf Stefan. Dieser hielt die Luft an, bis Peter durch die Tür raus war, dann erst wagte er wieder zu Atmen. Vorsichtig rieb er sich das schmerzende Handgelenk. Man konnte immer noch die Fingerabdrücke sehen. Plötzlich wurde ihm klar, dass Kai ja die Szene beobachtet haben musste… Dass er nun wusste, dass Stefan einen Freund…Ex-Freund hatte. Doch als er zu ihm aufblickte, war da wieder dieses unwiderstehliche Lächeln.
„Geht’s wieder?“ fragte er besorgt und legte Stefan die Hand auf den Arm. Dankbar nickte dieser zurück.
„Gut. Ich mach mich jetzt auf den Weg. Dienstbeginn. Bleibt es bei morgen nach sechs?“
„Ja, sehr gern.“


Die Silvesternacht verflog wahnsinnig schnell. Nicht zuletzt, weil wie zu erwarten viele Patienten eintrafen… Verbrennungen, Schnittverletzungen, Alkoholüberdosen… Und dann immer wieder die Vorfreude auf Kai…
Als es sechs wurde, verband Stefan gerade einen Busfahrer, der mit einem Betrunkenen zusammen gestoßen war. Punkt halb sieben war er fertig und übergab den Patienten an einen Kollegen, der ihn auf die Station bringen sollte. Dann ging er sich umziehen. Als er gerade seine Schuhe zuband, steckte eine Kollegin den Kopf durch die Tür.
„Stefan, da wartet jemand für dich!“
Da waren sie wieder, die Schmetterlinge. Aufgeregt flatterten sie durch seinen Bauch. Er beeilte sich, seine Sachen zusammen zu packen und lief dann nach vorn, wo er Kai erwartete. Doch als er das Wartezimmer der Notaufnahme erreichte, blieb er wie angewurzelt stehen. Nicht Kai stand dort und wartete… Es war Peter.
„Was machst du denn hier?“ fragte er. Peter drehte sich zu ihm um und lächelte. In dieses Lächeln hatte Stefan sich mal verliebt, jetzt merkte er, wie falsch es war.
„Stefan, ich wollte mich entschuldigen. Das gestern war ein dummer Fehler. Ich hätte das nicht tun sollen. Ich bin schwach geworden. Bitte, kannst du mir noch einmal verzeihen?“
Er blickte Stefan mit diesem Hundeblick an, mit dem er ihn in den zwei Jahren immer wieder weich gekocht hatte. Doch heute war ein neues Jahr angebrochen. Und Stefan hatte nicht vor, seine guten Vorsätze wieder zu brechen!
„Nein, Peter, nein! Das war einmal zu viel! Ich will nicht mehr. Du kannst deine Sachen packen und verschwinden. Wenn ich nach Hause komme, will ich dich nicht wieder sehen!“
Peter setzte gerade an, um noch etwas zu erwidern, doch Stefan ließ ihn stehen, denn hinter Peter war Kai erschienen. Glücklich lächelnd trat er auf den jungen Polizisten zu und reichte ihm die Hand
„Guten Morgen und frohes neues Jahr!“ Kai ergriff die Hand ebenfalls lächelnd:
„Ebenfalls frohes neues Jahr. Gibt es Probleme?“ bei der Frage nickte er in Richtung Peter, der die beiden eifersüchtig beäugte. Stefan blickte sich kurz um, dann strahlte er Kai an.
„Nein, alles in Ordnung. Wollen wir jetzt frühstücken gehen?“
Als sie gemeinsam hinaus gingen, griff Kai nach Stefans Hand und hielt sie fest. Draußen führte er ihn zu einem schwarzen Golf, der am Straßenrand geparkt war.
„Wo hin fahren wir?“ fragte Stefan, als er auf dem Beifahrersitz Platz nahm. Kai schnallte sich an und schaute dann mit einem verlegenen Lächeln zu ihm herüber.
„Ich dachte, vielleicht gehen wir zu mir? Ich koche uns was gutes und wir machen es uns gemütlich.“

Kais Wohnung war klein und gemütlich eingerichtet. Im Wohnzimmer stand eine riesige schwarze Couch, ein Vitrinen Schrank voll mit Fantasy-Figuren, ein Couchtisch und ein riesiger Fernseher. Stefan saß auf der Couch und schaute sich die Figuren an, während Kai in der Küche das Frühstück bereitete.
„Du bist ein Fantasy-Fan?“ rief er herüber und trat an die Vitrine heran.
„Früher mal. Ich habe lange Pen & Paper gespielt. Jetzt fehlt mir die Zeit dazu. Und wie sieht es mit dir aus?“ Stefan hielt gerade einen elfischen Bogenschützen in der Hand.
„Oh, ich habe leider nie viel Gelegenheit dazu gehabt. Aber ich habe alles verschlungen, was an Fantasy- Büchern zu kriegen war.“
Plötzlich stand Kai mit zwei dampfenden Tassen in der Tür. Er strahlte über das ganze Gesicht.
„Da haben wir ja schon mal eine Gemeinsamkeit. Hier, bitte. Der beste Schoko-Cappuccino den du je getrunken hast.“ Versprach er und stellte die Tassen auf den Tisch. Stefan setzte sich wieder und nahm einen Schluck. Es stimmte, der Kaffee schmeckte wirklich unglaublich lecker.
„Wow, was ist dein Geheimnis?“
Kai lächelte und setzte sich neben Stefan.
„Nun, ein Löffel Cappuccino Pulver mehr als empfohlen und etwas Zimt und Kardamom und das hier…“ und er beugte sich rüber zu Stefan und küsste ihn.
Stefan fühlte sich plötzlich ganz leicht. Wohlige Wärme breitete sich in ihm aus und der Schmetterling Schwarm, der seinen Bauch bisher bewohnte, breitete sich in seinem ganzen Körper aus. Kais Lippen waren unglaublich weich und er schmeckte nach Schokolade, Zimt und Liebe.
„Oh, bitte, lass diesen Augenblick für immer anhalten!“ dachte Stefan und war so glücklich wie noch nie in seinem Leben zuvor. Als Kai seinen Arm um ihn legte, lehnte er sich gegen seine Schulter. Mit vor Leidenschaft zitternden Fingern fuhr er durch Kais dunkle Haare und genoss die Liebkosungen von Kais Fingern an seinem Hals. Er spürte, wie sein Pullover hochschoben wurde und eine warme Hand streichelte zärtlich seinen Bauch hinauf.
Ein leises Stöhnen entfuhr ihm, doch plötzlich hörte Kai auf. Stefan öffnete seine Augen und sah ihn fragend an.
„Ich hab dich überfallen damit. Ist es dir überhaupt recht?“ fragte er verlegen. An Stelle einer Antwort nahm Stefan Kais Hand und schob sie dorthin, wo sie so sehnsüchtig erwartet wurde.

Später lagen sie Arm in Arm in eine Wolldecke gekuschelt auf der Couch. Kai zeichnete mit seinem Finger Stefans Nasenlinie nach.
„Glaubst du eigentlich an Liebe auf den ersten Blick?“ fragte er verträumt. Stefan schmiegte sich eng an seine Brust. „Seit heute ja!“


Impressum

Tag der Veröffentlichung: 21.01.2020

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Einen lieben Dank an Stefanie Bühler, die für mich Korrektur gelesen hat, und in einer Mitternachtssitzung durch viele Anmerkungen den "Fluff" etwas fluffiger gemacht hat ;)

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