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Indian Summer

Es ist eine schöne Zeit, der goldene Oktober. Die Blätter verfärben sich und im Sonnenschein erinnert das Land an eine Märchenwelt. Der Indian Summer hat so seine Reize, wenn man nicht gerade vom Pech verfolgt wird, so wie ich… 


Am Anfang des Monats war noch alles in Ordnung. Ich hatte einen guten Job bei einer renommierten Zeitung, eine glückliche Beziehung, eine Wohnung in zentraler Lage mit Mietpreisbindung und dank meines Freundes einen gewaltigen Freundeskreis, so dass wir kaum einen Abend in der eigenen Wohnung verbrachten. Man könnte sagen, ich wäre vom Glück begünstigt.
Dann bekam ich den Auftrag für eine Reportage Fotos im Central Park zu schießen. Ich schnappte mir meine Ausrüstung und machte mich an die Arbeit. Das Wetter war herrlich aus der Sicht des Fotografen – die Sonne nicht zu grell, der Himmel satt blau und die Bäume leuchteten im Sonnenschein. Spaziergänger, Jogger, spielende Kinder boten wundervolle Motive. Das Wasser am Turtle Pond war glatt wie ein Spiegel und so verweilte ich hier fast eine Stunde, um die verschiedensten Spieglungen einzufangen. Als ich gerade zusammen packen wollte, sprach mich eine junge Frau in einem cremefarbenen Kleid an.
„Sind Sie ein professioneller Fotograf, oder Hobbyknipser?“ Über ihre forsche Art musste ich schmunzeln.
„Ich arbeite für die New York Post als Fotograf, also ja ich bin Profi!“ antwortete ich mit einem Zwinkern. Ihre Mine leuchtete auf und sie wirkte plötzlich ganz aufgeregt.
„Oh das ist ja super. Sie müssen uns helfen. Meine kleine Schwester heiratet gerade drüben am Belvedere Castle und unser Fotograf ist nicht aufgetaucht. Bitte, Sie müssen uns helfen und die Hochzeitsfotos schießen.“ Sie blickte mich plötzlich so flehend an, dass ich einfach nicht nein sagen konnte. Ich ließ mich von ihr zur Hochzeitsgesellschaft führen und knipste zwei Stunden lang die glücklichen Brautleute und ihre Gäste. Beim Empfang, der vor dem Belvedere Castle am Ufer des Turtle Ponds wurde ich von allen wie ein Familienmitglied behandelt und fühlte mich schnell wohl.
Mit einem Glas Champagner stand ich am Rande und genoss den frühen Abend, als die Schwester der Braut – Madeleine – neben mir erschien.
„Ich möchte mich nochmal bei Ihnen bedanken, Jake. Sie haben die Hochzeit meiner Schwester gerettet. Wie kann ich Ihnen dafür danken?“ Mit ihren blauen Augen blitzte sie mich kokett an. Als ich verstand, was sie meinte, wurde ich ein wenig verlegen, versuchte dies aber schnell zu überspielen. „Ach, alles ok, Miss Watkins. Es hat mir Freude gemacht. Ich gebe Ihnen nachher den Speicherchip und Ihre Schwester und Ihr Schwager können sich dann die Fotos kopieren, die ihnen gefallen. Ich hätte nur eine Bitte. Ich würde gern ein paar Bilder für unsere Reportage über den Indian Summer im Central Park verwenden. Dafür würde ich Ihnen dann die Bilder komplett kostenlos überlassen.“
„Oh wie wunderbar!“ erklang hinter uns die Stimme der Braut, die – leicht beschwipst, aber überglücklich, mit Tränen in den Augen auf uns zu kam.
„Sie sind ein Schatz, Jake, wirklich. Meine Enkel werden diesen Tag sehen können, nur dank Ihnen! Und dann noch dieses tolle Geschenk… Natürlich dürfen Sie die Fotos in die Zeitung bringen. Natürlich…“ sie brach schluchzend ab und trippelte auf ihren frisch angetrauten Ehemann zu, der nach ihr suchte.
„Vielleicht kommen Sie morgen besser mit ihr in die Redaktion. Ich fürchte, in diesem Zustand kann ich ihr Einverständnis nicht rechtskräftig einholen.“ lachte ich Madeleine an und prostete ihr zu. Dabei verstand sie mich wohl gehörig falsch, denn sie stellte sich plötzlich auf die Zehenspitzen und küsste mich stürmisch. Im ersten Moment war ich so überrascht, dass ich einfach still hielt. Dann fasste ich mich wieder und befreite mich sanft von ihr. Sie strahlte mich an und ich fühlte mich ziemlich mies. Verlegen trat ich einen Schritt zurück und sah auf den Boden:
„Maddy, ich fürchte hier liegt ein Missverständnis vor. Ich wollte nicht den Eindruck erwecken… ich mein, sie sind eine schöne Frau…“
„Aber Sie haben kein Interesse an mir!“ Enttäuschung lag wie ein grauer Schleier auf ihrem Gesicht und versetzte mir einen Stich.
„Aber das liegt nicht an Ihnen speziell. Ich… ich bin nur nicht an Frauen interessiert..“ Ich merkte schnell, dass meine Worte sie nur minimal beruhigten und da die Hochzeitsgesellschaft sich sowieso gerade auflöste, packte ich meine Sachen zusammen und ging. Da klingelte mein Handy. Auf dem Display stand Gary Bosman – doch alle kannten sie ehr unter dem Namen „Miss July LaFleur“. Sie rief seltsamer weise immer an, wenn ich mich schlecht fühlte. Mit einem erleichterten Lächeln nahm ich das Gespräch an.
„Miss July, wie immer rufst du genau im rechten Moment an!“ begrüßte ich sie.
„Schätzchen, die kosmischen Diven haben mir gesagt, dass du dringend einen Drink brauchst. Wie lang brauchst du zum „Lips“?“
„Du hast Glück, ich bin grad im Central Park am Belvedere Castle. Gib mir eine halbe Stunde.“
Das „Lips“ war einer der besten Travestie-Clubs, die ich je besucht hatte und Miss July war hier eine Legende. Wenn sie einen guten Tag hatte trat sie immer noch auf, obwohl der gute Gary seine siebzig längst überschritten hatte. Doch Miss July blieb ewig jung.
Ich beschleunigte meinen Schritt, damit ich die knapp 2 Meilen zum Club auch wirklich in der halben Stunde schaffen konnte, denn Miss July wartete nicht gern. Die Vorfreude auf eine gute Unterhaltung und die Wahnsinns „Frozen Cosmos“ lösten den Klos auf, den ich seit dem Kuss von Madeleine im Hals hatte.
Genau hier traf mich das Pech in Form eines hart geschossenen Fußballs. Ich sah das schwarzweiße Geschoss auf mich zukommen, doch bevor ich reagieren konnte knockte er mich aus…

Ende des Zaubers

 

Zehn Tage später kam ich im Krankenhaus wieder zu mir. Miss July saß an meinem Bett und hielt ein Nickerchen. Das Zimmer quoll über von Blumen, Ballons und allerlei kitschigen Genesungsgrüßen. Den pochenden Schmerz in meinem Kopf ignorierend versuchte ich mich aufzusetzen und stieß dabei gegen das Klapptischchen vom Nachtschrank. Die Flasche darauf kippte klirrend um und Miss July schrak auf.
„Oh Herzchen, liegen bleiben!“ säuselte sie besorgt, mit der typischen Schwere in der Zunge des gerade erwachten. Als sie ansetzte mich wieder in die Kissen zu drücken, hob ich abwehrend die Hand.
„Lass gut sein, July.“ krächzte ich und tastete nach dem Schalter, um mein Kopfteil hoch zu fahren.
„Kind, ich hab mir solche Sorgen gemacht. Naja zuerst war ich ganz schön böse auf dich, weil du mich versetzt hast. Doch als ich dann hörte, dass im Central Park jemand schwer verletzt wurde, da wusste ich genau, das du das warst!“ Sie sprudelte förmlich über in ihrer Sorge.
„Die Berichte über mein Ableben sind schwer übertrieben…“ nuschelte ich und griff nach dem Glas Wasser, dass sie mir eingegossen hatte.
„Du hast ganz schön bös was gegen den Kopf bekommen.“
„War Allen schon hier?“ bei meiner Frage blickte July betreten zur Seite. Zögerlich reichte er mir einen Umschlag mit einer Genesungskarte – Allens Handschrift.
„Lieber Jake,
ich hoffe, dass du bald wieder auf die Beine kommst. Als Gary mir sagte, dass du vielleicht schwere Hirnverletzungen hast, kam ich mir schon schlecht vor, aber ich muss sehen, dass ich mich auf meine Karriere konzentriere. Und da kann ich keine Ablenkung gebrauchen. Sorry.
Deine Sachen kannst du so lange bei mir stehen lassen, bis du wieder soweit ok bist und eine neue Wohnung gefunden hast.
Ich hoffe, wir können Freunde bleiben
Allen Rigsby

Fassungslos starrte ich auf die Buchstaben auf der Karte an und konnte nicht glauben, was ich las. Nach fünf Jahren Beziehung servierte er mich mit einer Karte ab, weil ich im Krankenhaus gelandet war?
„Arschloch!“ knurrte Miss July wenig damenhaft und ich konnte ihm nur zustimmen. Vor allem stand ich jetzt ohne Wohnung da. Wir hatten die Wohnung zwar gemeinsam bezogen, aber der Mietvertrag lief allein auf Allen, da er laut eigener Aussage, bessere Steuervorteile genießen würde. Ich war bloß sein „Untermieter“.
„Du kannst gern bei mir einziehen.“ bot Miss July an und beäugte mich hoffnungsvoll. Sie besaß ein riesiges Penthouse auf der Upper East Side mit Platz für mindestens drei Untermieter. Dankbar sah ich sie an.
„Zumindest für die erste Zeit, bis ich was eigenes gefunden hab. Danke dir.“
Ich schaute aus dem Fenster raus, der goldene Oktober hatte sich verwandelt, graue Wolken jagten über den Himmel und Regen prasselte nieder. Aus und vorbei der Zauber und die Magie....

 

Nur das Morgen zählt!

 

Ich musste noch ein paar Tage im Krankenhaus bleiben, dann zog ich zu Miss July ins Penthouse. Meine Freundesliste hatte sich mit der Trennung von Allen stark verkürzt. Eigentlich gab es nur noch Miss  July und John Myers, mit dem ich seit der Highschool befreundet war. Er hatte mir geholfen, meine Sachen aus Allens Appartement zu holen, nachdem er mir hoch und heilig versprechen musste, meinem Ex kein Haar zu krümmen.
John Myers… als wir Teenager waren,  war ich unheimlich in ihn verliebt gewesen. Leider teilte er meine Gefühle für Männer nicht, doch auch wenn er es gewusst hatte, war er mein Freund geblieben. Er hatte mich schon damals immer verteidigt und den starken Mann gespielt und auch heute wäre es ihm zu zutrauen, dass er Allen eine Neugestaltung des so heißgeliebten Gesichts verpasst hätte. Doch das hätte Johns Karriere als Cop beendet und das war Allen nicht wert.
Es war schon fast zweiundzwanzig Uhr, als wir die letzte Kiste aus Johns Auto in mein Zimmer gebracht hatten. Allens neuer Lover, ein zwanzigjähriges Unterwäschemodel mit dem IQ einer Zimmerpflanze hatte mir auf die Finger geschaut, dass ich auch ja nichts wertvolles mitnehmen würde. Als John ihm seine Marke gezeigt hatte und ihn fragte, warum er die Nase ständig hochziehen würde, war er allerdings schnell ins Schlafzimmer verschwunden. Seltsamer weise empfand ich echtes Mitleid mit dem Bengel. Er ahnte ja nicht mal, wie schnell er ersetzt würde, falls es ihm dreckig ginge…
Jetzt saßen John und ich auf meinem Bett und nuckelten jeder an einer Flasche Bier.
„Wenn du möchtest, gebe ich den Kollegen von der Drogenfahndung mal einen Tipp.“ sagte John zwischen zwei Schlucken und blickte mich fragend von der Seite an. Mein Grinsen kam von Herzen, dennoch lehnte ich ab.
„Ich bin durch damit, aber danke. So viel Aufwand ist er einfach nicht wert.“

„Aber es wäre lustig. Und unheimlich befriedigend!“ John erhob sich und zog seine Jacke an.
„Ich muss in einer Stunde zum Dienst.“ Sein warmes Lächeln war wie Balsam.
„Was hältst du vom Ausgehen. Ich hab ab morgen ein paar freie Tage. Wir gehen los und lassen ordentlich die Sau raus. Du reißt dir was für die Nacht auf und vergisst, was hinter dir liegt. Du weißt doch, nur das Morgen zählt!“
Ich schmunzelte. „Nur das Morgen zählt“ war der Leitspruch, den uns unser Englischlehrer damals mitgegeben hatte und wir zitierten ihn gern, wenn es darum ging, eine gescheiterte Beziehung wegzuspülen.
„Ok, du hast recht. Nur das Morgen zählt! Lass uns ausgehen.“

Als John mich am nächsten Abend abholte, sah er umwerfend aus. Jeans, die seinen Knackarsch im allerbesten Licht präsentierten, ein weißes Tanktop und eine schwarze Lederjacke. Dagegen kam ich mir in dunkler Stoffhose und weißem Hemd fremdartig vor.
„Willst du so gehen? Ich dachte, wir suchen dir was zum Aufreißen. Komm schon, das kannst du besser!“ forderte er mich heraus und schob mich ins Schlafzimmer zurück. Als ich umgezogen zurück kam, saß er mit Miss July auf dem Sofa, einen von ihren speziellen Drinks in der Hand und mich begutachtend. Ich trug schwarze Lederhosen, ein rotes Hemd dass nur knapp über dem Gürtel zugeknöpft war und genug von meinem Oberkörper und dem sich darauf windenden Drachen Tattoo preisgaben, um mit Sicherheit die Neugierde des ein oder anderen zu wecken. Wie eine Debütantin drehte ich mich und ließ die beiden ihr Urteil fällen. Die Jury war zufrieden und ich bekam die Erlaubnis, aus zugehen. Und so zogen wir los. John war ein toller Begleiter. Er hatte keine Berührungsängste in Gay Clubs und konnte ebenso ausgelassen mit „unsereins“ feiern, wie mit seinen Cop Kollegen. Ein bisschen Sorgen machte mir nur sein gutes Aussehen. Er zog die Aufmerksamkeit wie ein Magnet auf und ich würde wahrscheinlich in seinem Schatten verblassen. Doch in der Vergangenheit hat er schon einen verlässlichen Wingman abgegeben, warum also sollte ich mich sorgen? Heute hieß es Feiern, ohne Sorgen!
Stundenlang tanzten und tranken wir. Tatsächlich wurde ich nicht gerade von wenigen Typen angequatscht und mit dem ein oder anderen hätte ich sicher eine heiße Nacht verbringen können. Doch am Ende kniff ich doch immer wieder. Ich redete mir ein, dass ich nur nicht wieder verletzt werden wollte, doch das war gelogen. Nicht die Angst vor neuer Zurückweisung hielt m ich davon ab, auf die Angebote einzugehen. Es war ehr die Angst, dass niemand so war wie John, und so gab ich keinem eine Chance.
Als ich dies erkannte, kippte meine Stimmung und ich fühlte mich deprimiert. John tanzte gerade mit Zwillingen und also schlich ich mich hinaus. John würde es schon verstehen.

Herbstdepressionen

Draußen atmete ich kurz tief durch. Die Luft war kühl und feucht. Ein leichter Niesel lag in der Luft. Ich ging ein Stück die Straße hinunter, wo ein Taxistand war. Im ersten Taxi saß kein Fahrer, also öffnete ich beim zweiten Fahrzeug die Tür.
„Können Sie mich zur Park Ecke Neunundsechzigste bringen?“ fragte ich im Einsteigen und ließ mich in die Sitze fallen. Der Fahrer startete den Motor und fuhr los. Während der Fahrt starrte ich einfach aus dem Fenster. Die Stadt sauste an mir vorbei. Durch die Lichter war es taghell, hier merkte man nichts von der Jahreszeit. Es war egal, ob es Frühling, Sommer oder Herbst war. Und den Winter bemerkte man auch nur, wenn es schneite. Diese Erkenntnis deprimierte mich noch mehr. Keine Ahnung, ob es am grauen Herbstwetter lag oder nur die Nachwehen der letzten Tage aber mit einem Mal fühlte ich mich eingeengt und kalt. Ich hatte das Gefühl, nicht mehr atmen zu können. Ich keuchte und kurbelte das Fenster herunter um frische Luft zu bekommen.
„Alles in Ordnung?“ fragte der Fahrer besorgt nach hinten und beobachtete mich im Rückspiegel. Ich konnte ihm nicht Antworten, meine Kehle war wie zugeschnürt. Der Wagen stoppte und plötzlich ging die Tür auf. Der Fahrer war ausgestiegen. stand nun neben dem Wagen und beugte sich zu mir hinunter.
„Hey, alles okay mit Ihnen?“ fragte er und tätschelte meine Wange. Ich wollte ihm antworten, ihm sagen, dass alles okay wäre, doch ich brachte nur ein jämmerliches Schluchzen hervor. Der Fahrer ging neben mir in die Knie und legte mir tröstend die Arme um die Schulter. Und plötzlich brachen alle Dämme und meine unterdrückten Gefühle übermannten mich. Hemmungslos weinte ich an der Schulter dieses fremden Mannes.
„Schon gut“ sprach der Fahrer beruhigend auf mich ein und streichelte sanft meinen Rücken. „lass es raus. Dann geht es dir besser.“
Das Streicheln, seine warme Stimme, diese unschuldige Nähe, all das löste den Knoten in meiner Brust langsam auf. Allmählich wurde ich ruhiger, bis die Tränen endlich versiegten. Schließlich löste ich mich von ihm und lehnte mich zurück und blickte in das unglaublichste Paar Augen, dass ich je gesehen hatte. Mein Fahrer war etwa Mitte Dreißig, wie ich, und war mit einem sympathischen Äußeren gesegnet. Sein Gesicht war maskulin geschnitten, die Nase eine kleine Spur schief. Die Wangen zierte ein sauberer Drei-Tage-Bart. Mild lächelte er mich an. Es kam mir so vor, als betrachtete ich von der Sonne angestrahltes Herbstlaub. Die warmen Farben hatten ein inneres Leuchten und erhellten den grauen Herbst. Und so schien auch er ein inneres Leuchten zu haben.
„Wieder gut?“ fragte er sanft. Dankbar nickte ich und schämte mich ein wenig, weil ich vor einem Fremden so die Fassung verloren hatte.
„Ja, danke. Ich fürchte, in letzter Zeit hab ich etwas zu viel Pech gehabt. Und dann noch dieser verdammte Herbst…“ Er stand auf und lachte leise.
„Ich liebe den Herbst. Ja er hat seine trüben Seiten, aber wenn man es richtig betrachtet, ist er wunderschön!“ Ich blickte ihn skeptisch an, während er wie der Sonnenschein strahlte.
„Ok, Sie glauben mir nicht. Haben Sie morgen schon was vor?“ Seine Frage überrumpelte mich, und so schüttelte ich nur verwirrt den Kopf. Sein Lächeln wurde breiter.
„Gut, dann entführe ich Sie jetzt in den Herbst!“ Er schloss meine Tür und stieg auf der Fahrerseite wieder ein.  
„Äh, ich fürchte, ich habe nur begrenzt Geld dabei…“ Doch er winkte nur ab und schaltete die Taxiuhr aus.
„Alles ok, die Fahrt geht auf mich. Machen Sie es sich dahinten bequem. Wir fahren eine Weile. Ich heiße übrigens Marcus Thomson.“
Einen Augenblick dachte ich darüber nach, ob es schlau war, mit einem absolut Fremden ins Ungewisse zu fahren. Aber irgendetwas in mir wollte dieses Abenteuer. Also ließ ich mich darauf ein.
„Jackson Henry, freut mich. Darf ich erfahren, wohin es geht?“
„Dorthin, wo der Indian Summer sich von seiner besten Seite zeigt. Vertrauen Sie mir, danach sehen Sie diese Jahreszeit mit anderen Augen!“
Ich ließ mich in die Polster sinken und entspannte mich. Als wir schon fast aus der Stadt raus waren, fiel mir ein, dass John mich auf jeden Fall suchen würde. Und seine Cop Natur würde bei meinem Verschwinden direkt vom Schlimmsten ausgehen. Also zog ich mein Handy raus.
„Bin auf einem Roadtrip in den Herbst. Taxi Nr 958, Fahrer: Thomson, Marcus. GPS vom Handy aktiv, wenn ich mich morgen Mittag nicht melde. Gruß Jacks.“ Tippte ich ihm über Whatsapp und aktivierte die GPS Funktion meines Handys.
Thomson hatte die Heizung eingeschaltet, dass es wohlig warm wurde und das Radio dudelte sanften Blues. Und so dämmerte ich langsam ein…

Den Herbst neu entdecken

 

Als ich aufwachte, war es draußen schon wieder hell. Wir standen auf dem Parkplatz eines Rasthofes und mein Fahrer hatte sich wohl ein Nickerchen gegönnt. Leise öffnete ich die Tür und stieg aus. Meine Gelenke waren steif  und ich bewegte mich ein wenig. Ein kurzer Blick durch die Windschutzscheibe verriet mir, dass Thomson immer noch schlief. Ich beobachtete ihn eine Weile. Sein Gesicht sah so friedlich aus. Jetzt konnte ich sehen, dass er lange Wimpern hatte, sanfte Lippen und eine kleine Narbe über dem linken Auge. Ich musste mir eingestehen, dass ich ihn mehr als nur attraktiv fand. Ich fühlte eine starke Anziehungskraft und dabei wusste ich so wenig über ihn. Nicht mal ob er überhaupt schwul war, wobei ich es schon vermutete. Ein kühler Wind rief mich in die Realität zurück. Ich zog meine Jacke zu und wandte mich vom Wagen ab, um im Rasthof Kaffee zu holen. Als ich mit zwei großen Bechern Kaffee und einer Schachtel frischen Bagels zurrück kam, stand Marcus Thomson neben dem Wagen und sah mir entgegen.
„Guten Morgen!“ rief er mir entgegen. Ich lächelte und reichte ihm einen der Kaffeebecher.
„Ich wusste nicht, wie Du deinen Kaffee trinkst, darum hab ich Milch und Zucker in der Jackentasche dabei.“
Wir saßen zusammen auf der Motorhaube und frühstückten in Ruhe.
„Ich muss mich wohl entschuldigen, dass ich dich gestern Nacht so entführt habe! Es war nicht ohne Hintergedanken, wie ich zugeben muss.“ Ich sah ihn abwartend an. Seine Wangen verfärbten sich leicht rot.
„Ich habe letzte Woche deine Fotos in der New York Post gesehen. Fotos vom Central Park im Herbst. Diese Fotos waren so leidenschaftlich und wunderschön. Als du in mein Taxi gestiegen bist, habe ich dich gleich erkannt. Und als du zusammen gebrochen bist und so negativ über den Herbst gesprochen hast, wollte ich dir dieses Gefühl unbedingt zurück geben.“
Ich musste schlucken. In meiner Brust breitete sich eine Wärme aus und wieder hatte ich das Gefühl, dass ihn ein Leuchten umgab. Ich war gerade dabei mich neu zu verlieben.
„Das ist echt das Netteste, was je ein Mensch für mich getan hat.“ Er lächelte verlegen, dann stand er auf.
„Na los. Wir haben noch ein Stück Weg vor uns.“
„Wohin geht es denn eigentlich?“  Aber statt einer Antwort zwinkerte er nur. In diesem Augenblick bemerkte ich den Vibrationsalarm meines Handys in meiner Jackentasche. Als ich auf das Display blickte, gab es zwanzig Anrufe in Abwesenheit und einen aktuellen von John. Während ich einstieg nahm ich das Gespräch an.
„John, guten Morgen.“
„Oh Gott sei Dank, Jackson. Ich hab mir nach deiner Nachricht Sorgen gemacht!“
„Das ist lieb, mein Freund. Mir geht es gut.“
„Was machst du in Vermont?“
„Den Herbst neu entdecken…“

Impressum

Bildmaterialien: Foto von Vickson Santos von Pexels bearbeitet durch Brianna Keanny
Cover: Brianna Keanny
Tag der Veröffentlichung: 13.10.2019

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