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Der Puppenmacher

Traurig saßen Maik und Stefanie Hold am Bett ihrer kleinen Tochter Eva und hielten einander die Hände. Eva lag tief in ihren Kissen, ihr kleiner Brustkorb hob und senkte sich schwer. Das Atmen fiel ihr von Tag zu Tag weniger leicht. Es war erst ein paar Stunden her, als Doktor Bauer ihnen mitgeteilt hatte, dass Eva ihren nächsten Geburtstag wohl nicht mehr erleben würde.

Ein angeborener Herzfehler hatte ihren kleinen Körper in den drei Jahren, die sie auf der Welt weilen durfte ausgezehrt. Unzählige Operationen hatte sie über sich ergehen lassen müssen und hatte sich immer brav und tapfer in ihr Schicksal ergeben.
Die beiden hatten geweint, während Eva mit der Krankenschwester beim EKG beschäftigt war, und hatten sie angelächelt, bis sie eingeschlafen war. Sie sollte nicht merken, dass sich etwas geändert hatte, dass ihre Hoffnung verloren war. Ihre letzten Wochen wollten sie für Eva wunderschön gestalten.

Während sie da saßen und ihr schlafendes Kind betrachteten, öffnete sich leise die Tür des Krankenzimmers. Ein älterer Mann mit freundlichem Gesicht trat leise herein.

„Verzeihen Sie mein Eindringen. Ich habe hier ein Geschenk für ihre kleine Eva.“ sprach er mit sanfter Stimme. Maik und Stefanie sahen sich verwundert an, da sie den Herrn noch nie gesehen hatten. In seinen Händen hielt er einen großen weißen Karton mit einer rosa Schleife drum herum.
„Wer sind sie?“ fragte Stefanie verwirrt.

„Verzeihen Sie mir, dass ich mich nicht vorgestellt habe. Mein Name ist Anton Berg. Ich habe eine kleine Puppenwerkstatt hier neben dem Krankenhaus und habe ihre kleine Tochter in den letzten Monaten immer wieder gesehen. Sie hat mich zu dieser Puppe inspiriert und ich möchte, dass sie sie bekommt.“ Mit aufmunterndem Lächeln hielt er ihnen den Karton entgegen. Zögernd nahm Maik die Schachtel entgegen und starrte sie immer noch verwirrt an. Der Alte lächelte noch einmal freundlich, dann verabschiedete er sich mit einem Nicken und verließ das Zimmer.

Zurück blieben die ratlosen Eltern mit dem Geschenk eines Unbekannten. Neugierig betrachtete Stefanie die Schachtel und bedeutete ihrem Mann mit einem Kopfnicken, die Schachtel zu öffnen.

Mit ungeschickten Fingern öffnete Maik die Schleife und hob den Deckel ab. Darin lag, in feinem Seidenpapier eingeschlagen, eine wunderschöne Porzellanpuppe, deren feine Gesichtszüge unglaubliche Ähnlichkeit mit ihrer kleinen Eva hatte. Überrascht blickten sich die beiden an. Sie wussten nicht so recht, wie sie mit der Situation umgehen sollten, dass ein wild Fremder ihrer Tochter eine so teure Puppe schenkte, die genau so aussah wie sie.

„Ist die aber schön!“ erscholl plötzlich ein kleines Piepsestimmchen aus Richtung Bett. Eva war aufgewacht und betrachtete mit vor Freude geröteten Wangen die Puppe in Papas Hand.

Augenblicklich löste sich die Verwirrung der Eltern und alle Sorgen und Zweifel waren wie weggeblasen. Ihr Mädchen war wach und wirkte so frisch, dass sie nichts anderes als Liebe fühlen konnten. Maik setzte sich auf die Bettkante und reichte Eva die neue Puppe, die sie sogleich in ihre Ärmchen schloss und liebevoll streichelte.
„Ist die für mich?“ fragte sie hoffnungsvoll und blickte ihre Mama mit großen Augen an.
„Natürlich mein Liebling. Schau, sie sieht genauso aus wie du!“

 

In den nächsten Tagen ging es Eva immer besser und die Ärzte erlaubten ihr, die Rückkehr nach Hause. Es war, als sei alle Schwäche von ihr abgefallen. Sie lachte und spielte und tobte sogar in der Sonne im Garten, und immer mit dabei ihre kleine Annelie – die Puppe, die der mysteriöse Herr Berg für sie gefertigt hatte. Es schien, als wäre sie nie krank gewesen. All ihre Symptome waren wie weg geblasen. Diese Wunderheilung konnten sich selbst die Ärzte nicht erklären, doch Maik und Stefanie wollten auch keine Erklärung. Sie waren dankbar, dass ihr kleines Mädchen gesund war.

 

 

Die Zeit verstrich und Eva wuchs zu einem gesunden jungen Mädchen heran. Mittlerweile war sie sechs Jahre alt und sollte in die Schule gehen. Doch schon am ersten Tag gab es, obwohl sie sich so auf die Schule gefreut hatte, ein großes Drama.

Nach der großen Begrüßungszeremonie sollte Eva mit ihren neuen Klassenkameraden in das Klassenzimmer gehen, jedoch ohne ihre Annelie.
„Deine Puppe darf aber nicht mit in den Unterricht, meine Kleine!“ sprach ihre Lehrerin freundlich aber bestimmt. „Sie muss bei deiner Mami bleiben!“
Kein Weinen und bitten konnte die Lehrerin erweichen, Annelie musste bei Mama bleiben und Eva musste allein in die Klasse.
Dieser erste Schultag verlief furchtbar für die kleine Eva. Sie fühlte sich matt und konnte dem Unterricht überhaupt nicht folgen, auch wenn die Lehrerin alles spielerisch erklärte.
Als ihre Eltern sie mittags wieder abholten, war Eva unheimlich müde und musste von ihrem Papa zum Auto getragen werden. Hier wartete ihre Anneli auf dem Rücksitz und kaum hatte sie die Puppe in ihre Arme geschlossen, fühlte sie sich gleich besser und sie konnte wieder lächeln.

Am nächsten Tag folgte das gleiche Drama. Die Lehrerin verweigerte die Mitnahme der Puppe in den Unterricht und Evas Kraft schwand zusehends. Immer wieder nickte sie ein, wollte nicht mitspielen oder fing einfach nur leise an zu weinen. Ihre rosige Gesichtsfarbe wich einem blassen Weiß und ihre Augen verloren jeden Glanz. Diese erneute Veränderung verunsicherte die junge Lehrerin zu tiefst und sie rief sogleich Evas Eltern an. Als diese kurze Zeit später eintragen, fanden sie ihre Tochter in einem furchtbaren Zustand vor. Ihr Anblick erinnerte sie auf schreckliche Weise an die Zeit, als ihr kleines Mädchen im ihr Leben gekämpft hatte. Entsetzt brachten Maik und Stefanie die kleine Eva zum Auto und fuhren mit ihr in die Klinik. Doch als sie dort ankamen, fanden sie ihre Tochter gut erholt mit ihrer Annelie im Arm und über beide Wangen strahlend.

Vorsichtshalber ließen sie sie von den Ärzten durchchecken, doch man konnte ihr nur beste Gesundheit bescheinigen.

„Wir vermuten, dass es sich hier um ein psychosomatisches Problem handelt. Unsere Empfehlung ist, erst mal dafür zu sorgen, dass Eva ihre Puppe mit in die Schule nehmen darf und dann nach und nach eine Entwöhnung ein zu leiten. Aber lassen Sie ihr die Zeit, die sie braucht.“

Und so wurde mit der Schule vereinbart, dass Annelie mit in den Unterricht durfte, auch wenn Eva sie nicht aus der Tasche holen durfte, außer in den Pausen. Fortan blieb Eva bei bester Gesundheit, solange ihre Puppe in ihrer Nähe war.

 

Die Jahre vergingen sorglos und Eva, mittlerweile fünfundzwanzig Jahre alt, war Studentin an einer kleinen Universität in Norddeutschland. Auch hier verließ Annelie nie die Seite von Eva. Zwar begleitete sie sie nie in die Vorlesungen, dafür war Eva zu erwachsen, doch verbrachte sie fast jede freie Minute in ihrem Zimmer im Studentenwohnheim, wo Annelie auf ihrem stets gemachten Bett saß und auf sie wartete.
Schon als Kind hatte Eva nie viele Freunde. Sie suchte immer die Abgeschiedenheit und vertraute ihre Gedanken einzig ihrer geliebten Annelie mit. Dies hatte sich auch mit dem Alter nicht geändert. Obwohl sie eine lockere Freundschaft zu Jutta und Bernd aus ihrem Botanik-Kurs geschlossen hatte, so verneinte sie die meisten Verabredungen mit Ausreden wie Hausaufgaben, frühen Vorlesungen oder Kopfschmerzen. Nach dem zweiten Semester hatten die beiden es aufgegeben, Eva einzuladen, statt dessen standen sie einen Freitag abends vor ihrer Zimmertür, eine Megapizza und einigen Flaschen Rotwein im Gepäck.
„Hey Süße, wenn der Berg nicht zum Propheten kommt, kommt der Prophet eben zum Berg!“ zitierte Jutta das altbekannte Sprichwort und schob sich augenzwinkernd in das kleine Zimmer.
„Äh... ja, kommt doch rein, ihr zwei.“ stammelte Eva etwas überrascht und trat bei Seite. Jutta stellte die Pizzaschachtel auf Evas Schreibtisch und Bernd reihte die 4 Flaschen neben dem Bett auf. Dann ließ er sich mit einem „HEPP“ auf die Decke fallen. Die Federung gab nach und Annelie machte einen Satz. Im Bogen flog sie von ihrem angestammten Platz auf dem Kissen Richtung Fußboden. Entsetzt beobachtete Eva das Geschehen und schaffte es gerade noch rechtzeitig, ihre geliebte Annelie aufzufangen.

„Pass doch auf, Bernd! Fast wäre sie kaputt gegangen!“ zischte sie ihm zu und setzte Annelie beinahe zärtlich auf einen alten Sessel, der in der Ecke stand. Verwundert blickten Jutta und Bernd sich an. Eva bemerkte ihr Unbehagen und dass sie sich offensichtlich unsozial verhalten hatte. Schamesröte stieg ihr in die Wangen.

„Es... es tut mir leid. Aber Annelie bedeutet mir alles. Ich habe sie als kleines Mädchen geschenkt bekommen, als mein Leben fast zu Ende war...“

Und so erzählte sie ihren beiden Freunden bei Pizza und Rotwein ihre Lebensgeschichte.

„Und du verlässt die Puppe wirklich nie längere Zeit?“ fragte Bernd abschließend und fischte nach dem letzten Stück Pizza.

„Nein, ich kann sie einfach nicht lange allein lassen. Ich.... ich vermisse sie körperlich.“

„Hast du mal versucht, den Puppenmacher zu finden?“

Eva blickte Jutta überrascht an.
„Warum hätte ich das tun sollen?“

„Na hör mal. Wer schenkt einem fremden sterbenden Mädchen eine Puppe, die unzweifelhaft dafür sorgt, dass sie instand gesund wird. Und deine offensichtliche Abhängigkeit von der Puppe ist doch Grund genug, sich den Herrn mal an zusehen. Haben Deine Eltern dir seinen Namen verraten?“

Eva nickte nachdenklich.

„Anton Berg. Er hatte seine Werkstatt in der Nähe des Krankenhauses. Aber er war vor 22 Jahren schon ein alter Mann. Wer weiß, ob er noch lebt...“

Bernd grinste breit und schnappte sich den Laptop. Ein paar Klicks und Suchbegriffe später präsentierte er die Website von „Berg & Sohn – Puppenmanufaktur“ aus Winsen.

„Was haltet ihr morgen von einem Ausflug?“

 

Am nächsten Tag machten sich die drei mit Annelie auf den Weg und fuhren gemeinsam nach Winsen. Die Puppenwerkstatt war schnell gefunden und so betraten sie bereits mittags das kleine Ladengeschäft. Ein kleines Glöckchen über der Tür kündigte ihre Ankunft an. Gebrochenes Licht viel durch das Schaufenster und strahlte durch den engen Verkaufsraum. Staub tanzte in den Strahlen. Unzählige Puppen saßen auf Ständern und Regalen, so arrangiert, dass sie den Besucher direkt ansahen.

„Gruselig.“ murmelte Jutta und griff nach Bernds Hand. Dieser drückte sie und nickte stumm. Nur Eva fand es alles andere als gruselig. Ihre Annelie im Arm fühlte sie sich hier wie zu Hause.

Ein Mann Mitte Vierzig, mit Schürze und leicht verrutschter Brille trat aus dem hinteren Bereich an die Theke und betrachtete sie neugierig.
„Guten Tag, die Herrschaften. Was kann ich für Sie tun?“ Seine Stimme war freundlich und warm.

„Guten Tag, sind Sie Herr Berg?“ fragte Bernd, immer noch Juttas zitternde Hand haltend.

„Ja, Anton Berg Junior.“ kam die Antwort. Eva trat nun mit Annelie an die Theke und setzte ihre Puppe dort ab. Sofort leuchteten die Augen des Puppenmachers auf.
„Aber das ist ja eine von den Puppen, die mein Vater gemacht hat. Ich erkenne seine Arbeit sofort!“

lachte er auf.
„Darf ich?“ Eva gestattete ihm, die Puppe in die Hände zu nehmen und näher zu betrachten.

„Unglaublich. Sie ist wunderschön. Und so gut erhalten. Sie haben sich sehr gut um die kleine gekümmert. Wie lange ist sie schon in ihrem Besitz?“

„Seit meinem dritten Lebensjahr, also zweiundzwanzig Jahre.“ antwortete Eva und sah verwundert, wie die Gesichtszüge des Mannes sich in Staunen verzogen.

„Dann muss dies eine der letzten Puppen sein, die mein Vater gemacht hat. Er starb vor zweiundzwanzig Jahren ganz plötzlich!“

„Er starb? Woran?“

„Das wissen wir nicht genau. Er ist ganz plötzlich schwach und krank geworden und innerhalb weniger Tage verstorben. Es hat uns völlig überrascht, da er nie zuvor krank gewesen war. Aber er war ein sehr gläubiger Mensch und er sagte auf seinem Sterbebett, dass sein Leben enden müsse, um ein anderes zu retten.“

 

 

Impressum

Bildmaterialien: Nolin Mikaelson
Tag der Veröffentlichung: 14.05.2016

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