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Timothy hatte ihn direkt bei Dienstschluss zum Zug gebracht. Er trug noch immer seine Sanitäter-uniform, doch zum Umziehen hatte die Zeit nicht mehr gereicht. Dann hätte er unmöglich den Zug nach Lexington bekommen. Ryan sah seine Eltern viel zu selten, und jetzt hatte er sich eine ganze Woche über Weihnachten frei genommen, um nach Harlan zu fahren und mit ihnen und seinen Geschwistern zusammen Weihnachten zu feiern. Weihnachten n East-Kentucky. 
Der Zug rumpelte schon eine Weile vor sich hin und draußen färbte sich der Himmel bereits orange, als Ryan Hunger verspürte. Er stand auf, streckte sich und  verließ dann sein Abteil, um im Bordrestaurant einen Happen zu essen. Dumm, dass er sein Abteil fast ganz vorn hatte und der Restaurant-Wagen fast vier Abschnitte weiter hinten lag, so war er ein Weilchen unterwegs.
Während der Zug Meile um Meile fraß, drängte Ryan sich durch die engen Reihen in den nächsten Wagen. Hier war es deutlich lauter als in seinem eigenen Wagen, offenbar war hier eine Gruppe Jugendlicher auf dem Heimweg von einem Skiausflug. Und wie junge Menschen im Teenager Alter so sind, nutzten sie ihre Energie für lautstarke Unterhaltungen, Herumgetobe und laute Musik. Ryan ließ sich von ihrer Fröhlichkeit anstecken und als zwei junge Mädchen ihn antanzten, erlaubte er sich einen Moment zu verweilen und sich dem Rhythmus der ihm unbekannten Band hin zu geben. 
„Sind Sie wirklich ein Sanitäter?“ fragte ihn eins der Mädchen und himmelte ihn mit ihren großen blauen Augen an. Ryan lächelte gutmütig, sie war sicher nicht älter als vierzehn Jahre und könnte locker seine eigene Tochter sein. 
„Ja, bin ich. Und wo kommt ihr gerade her?“
„Wir waren zum Skifahren. Jetzt geht es heim, nach Harlan!“ 
„Ihr kommt aus Harlan? Wahnsinn, da bin ich geboren worden. Ich fahre dort meine Familie besuchen.“ Jetzt hatte er die Aufmerksamkeit der gesamten Truppe.
„Cool, zu welchem Clan gehören Sie denn?“
„McAllisters. John McAllister ist mein Dad.“
Und schon war er in ein Gespräch mit den Jugendlichen und ihrem Lehrer vertieft, über Harlan und die Leute dort. Fast eine halbe Stunde schwelgte er in Erinnerung über seine Zeit auf der Highschool, bis ihn sein Magenknurren daran erinnerte, dass er eigentlich etwas essen gehen wollte.  Er verabschiedete sich von den Jugendlichen und setzte seinen Weg zum Restaurant Wagon fort. Im nächsten Wagon saßen nur wenige Fahrgäste, die meisten lasen oder dösten vor sich hin. Eine ältere Frau und ihr Enkel saßen an einem Tisch und spielten ein Kartenspiel. Als Ryan an ihr vorbei ging, lächelte sie ihm freundlich zu. Er nickte ihr lächelnd zu und setzte dann seinen Weg fort. Als er gerade am Übergang zum nächsten Wagon war, hörte er hektische Rufe und eine Frau die offenbar vor Schmerzen schrie. Er beschleunigte seine Schritte und fand sich im Schlafwagen wieder. 
„Wir brauchen einen Arzt!“ schrie ein panischer Mann den Schaffner an, der hilflos vor einem der Schlafabteile stand und die Hände rang. Ryan beeilte sich und drängte sich an dem Schaffner vorbei. 
„Kann ich helfen?“ fragte er und schon im nächsten Moment schrie eine unübersehbar Schwangere vor Schmerz. 
„Gott sei Dank, bitte. Meine Frau.. die Wehen…. Helfen Sie bitte!“

Sofort schob Ryan den panischen werdenden Vater aus dem Weg und kniete sich neben die Mutter. Beruhigend nahm er ihre Hand und strich ihr über die Haare. 
„Alles wird gut, hören Sie? Wir beide schaffen das zusammen. Ich helfe ihnen dabei. Sie müssen jetzt aber erst einmal Atmen und auf gar keinen Fall pressen, hören Sie?“
Die verschwitzte Frau nickte und klammerte sich an seine Hand. Nun winkte er den Vater heran und übergab ihm die Hand seiner Frau.
„Halten Sie sie fest, beruhigen Sie sie und unterstützen Sie sie beim Atmen. Sie haben doch sicher zusammen den Lamas Kurs gemacht?“ Stummes Nicken als Antwort. 
„Gut, dann sind Sie ja im Bilde. Und Sie“ sagte er an den Schaffner gewandt: „Sie gehen bitte in den ersten Wagon. Dort habe ich einen reservierten Platz auf Ryan McAllister. Bei meinem Gepäck steht eine rote Tasche, die benötige ich ganz dringend. Bringen Sie sie hier her und beeilen sie sich.“
Der Schaffner eilte davon und Ryan wand sich wieder seiner Patientin zu. Nach kurzer Untersuchung nahm er wieder ihre Hand.
„Ihr Muttermund hat sich bereits vollständig geöffnet. Wir werden den kleinen Wurm gleich auf die Welt holen. Versuchen Sie sich so gut es geht zu entspannen. Wenn die nächste Wehe gleich kommt, dann müssen Sie pressen, ok?“

Es dauerte fast eine Stunde, dann erklangen die lautstarken Schreie eines gesunden kleinen Mädchens. Die Mutter lag völlig erschöpft und frisch versorgt auf der Matratze, der Vater hielt den winzigen blutigen Wurm mit Tränen in den Augen in seinen Armen, sprachlos vor Glück. Ryan prüfte noch die Vitalwerte der Mutter und gab ihr ein Schmerzmittel zur Entspannung. Zufrieden ließ er die junge Familie allein und wandte sich wieder an den Schaffner, der verzückt vor der Tür stand und das beobachtete zu verarbeiten versuchte. 
„Wann fahren wir den nächsten Bahnhof an?“
„In einer halben Stunde erreichen wir den nächsten Ort.“
„Sorgen Sie bitte dafür, dass ein Krankenwagen bereit steht und  Mutter und Kind ins Krankenhaus gebracht werden!“
Der Schaffner nickte und stürmte davon, um die Anweisung sofort um zusetzen. 
Ryan verabschiedete sich mit dem Versprechen, vor dem Halt nochmal vorbei zu schauen und machte sich auf den Weg, zum Restaurant Wagen. Mittlerweile knurrte sein Magen wie ein hungriger Wolf. Gott sei Dank war der Speisewagen direkt hinter dem Schlafwagen, so dass der köstliche Duft von Kaffee ihn gleich hinter der nächsten Tür empfing. 
Ryan bestellte sich einen großen Becher Kaffee und ein Rührei-Sandwich und setzte sich bequem ans Fenster. Mittlerweile war es stockdunkel geworden und nur Schemenhaft huschte die Landschaft an ihm vorbei. Während er auf das Sandwich wartete, griff er zu seinem Handy und wählte die Nummer seiner Eltern. Nach zwei Mal Läuten war seine Mom am Telefon:
„Hallo mein Kind, schön, dass du dich meldest. Bist du schon unterwegs?“
„Hi Mom, ja ich sitze im Zug. Ich werde wohl gegen vier Uhr in Lexington ankommen.“
Im Hintergrund hörte er die tiefe Stimme seines Vaters:
„Der Junge soll anrufen, dann hole ich ihn am Bahnhof ab. Er soll bloß nicht auf die Idee kommen, sich ein Taxi zu nehmen!“
Ryan lachte: „Sag Dad, dass ich verstanden hab. Ich werde frühzeitig anrufen.“
„Alles klar, mein Liebling. Wir freuen uns alle auf dich. Ich liebe dich.“
„Ich liebe dich auch, Mom!“ 
Er beendete das Gespräch, als sein Sandwich gebracht wurde. Mit Genuss verputzte er endlich die lang ersehnte Mahlzeit, dann machte er sich auf den Rückweg. Er wollte unbedingt nochmal nach der frischen Mutter sehen und war sehr zufrieden, mit dem Bild, das sich im Abteil ihm bot. Mutter und Kind lagen schlummernd in den Kissen, während ihr Kopf auf des Vaters Schoß gebettet war. 
„Wir sind ihnen so dankbar. Wenn Sie nicht gewesen wären…“ Ryan winkte ab. 
„Nichts zu danken. Im Notfall hätten Sie das auch hin bekommen. Bei Ihrer Frau ging ja fast alles von allein, ich hab ja gar nicht viel machen müssen.“
Er fühlte gerade nach dem Puls der Mutter, als der Zug anhielt und die örtlichen Sanitäter herein kamen. Ryan informierte die Kollegen, was er gemacht hatte und verabschiedete sich dann von der jungen Familie.  Dann ging er zurück zu seinem Wagon, der inzwischen völlig leer war. Die Ruhe genießend, machte er es sich in seinem Sitz  bequem und schloss die Augen. Wenige Augenblicke später  war er eingeschlafen. 
Stunde um Stunde rumpelte der Zug durch die Nacht, vorbei an Käffern und Städtchen und durch die raue Schönheit der Landschaft von Kentucky. 
Bei Tag wäre die Fahrt durch die Black Mountains sicher ein wahrer Augenschmaus, alles mit einer weißen Zuckerdecke belegt und glitzernd in der Sonne. Und dann hätte der Zugführer mit Sicherheit auch die Verschüttung gesehen, die Felsbrocken, die die Gleise blockierten.
Wegen der Nacht konnte er sie jedoch erst sehen, als der Zug sie fast erreicht hatte. Seine Instinktive Reaktion, zu bremsen kam zu spät und so krachte das tonnenschwere Metallmonster mit lautem Getöse in die Gesteinsbrocken hinein.
Die Kraft, mit der die Wagen in die bremsende Zugmaschine geschoben wurden war gewaltig. Metall faltete und verbog sich als wäre es Knetmasse für Kinder. Menschen schrien und wurden umhergeworfen.
Und dann war es plötzlich totenstill. Rauch breitete sich über der Szenerie aus, Funken stoben aus der abgerissenen Oberland-Leitung und ließen ein gespenstiges elektrisches Knistern erklingen. Nach und nach erwachten leises Stöhnen und Jammern der Verletzten aus den Trümmern.
Ryan lag im Schnee und starrte in die Nacht. Durch den Rauch schienen die Sterne auf ihn herab. Verwundert hob er den Kopf. Warum lag er im Schnee? Er war doch gerade noch im Zug gewesen. Vorsichtig setzte er sich auf und sah sich um. Es dauerte einen Moment, bis er realisierte, dass der Zug verunglückt war. Seine Augen hafteten an den stählernen Ruinen, in denen immer noch Menschen waren. Menschen, die Hilfe brauchten.
Er sammelte seine Kraft und stand auf. Obwohl sein Schädel dröhnte und er Schmerzen an der linken Seite fühlte, taumelte er auf das Wrack des zweiten Wagons, der ihm am nächsten lag zu. Einige der Jugendlichen kamen ihm aus dem Zug entgegen, verstört, blutend und panisch. Schnell warf er einen Blick auf jedes Kind, das an ihm vorbei strauchelte, doch die meisten schienen nur leichte Platz- und Schürfwunden davon getragen zu haben. Als der Strom abnahm, kletterte er selbst hinein und sah sich in dem Abteil um.
„Ist hier noch wer?“ rief er ins Dunkel hinein und lauschte. Ganz leise hörte er ein Stöhnen, ganz hinten auf der anderen Seite. Vorsichtig kletterte er über die Trümmer der Sitzreihen und fand den Lehrer der Jugendlichen, begraben unter einer ramponierten Bank.
„Ich bin gleich bei ihnen!“ rief er ihm zu und versuchte, die Bank anzuheben. Doch kaum hatte er das schwere Teil angehoben, als ihn ein furchtbarer Schmerz in der Seite durchfuhr. Sofort ließ er die Bank wieder los.
„Es tut mir leid, ich scheine mir die Rippen gebrochen zu haben. Halten Sie durch, ich suche einen Hebel. Ich helfe ihnen da raus.“ Redete er auf den Lehrer ein, während er sich nach etwas umsah, dass er als Hebel verwenden konnte. Der Eingeklemmte stöhnte und wimmerte weiter, was ihn zur Eile antrieb. Endlich wurde er fündig, in einer Ecke lagen ein paar Aluminiumkrücken, die schnappte er sich und brachte sie herüber. Nachdem er eine der Krücken unter die Bank geschoben hatte und einen kleinen Koffer als Achse untergestellt hatte, konnte er die Bank anheben und von dem Lehrer herunterstemmen.
„So, dann schauen wir mal, was tut ihnen weh?“ fragte er seinen Patienten, während er ihn abtastete.
„Es geht wieder. Danke, für ihre Hilfe. Ich habe nur einen leichten Schmerz in der Brust.“
Mit Ryans Hilfe erhob sich der Lehrer und ließ sich, auf seinen Retter gestützt, aus dem Wrack bringen. Draußen kamen ihnen bereits einige der Jugendlichen entgegen und übernahmen den Lehrer und führten ihn ein Stück weg. Ryan selbst lief weiter zum nächsten Wagon. Seine Seite schmerzte heftig und das Atmen fiel ihm schwer. Als er beim nächsten Einstieg ankam, hörte er die heiseren Schreie einer Frau. So schnell es ging stieg er ein und sah sich um. Schnell fand er die Quelle der Schreie – es war die ältere Frau, die mit ihrem Enkel zusammen gesessen hatte. Sie lag zwischen zwei Bänken verkeilt und presste sich flach auf den Boden. Knapp über ihr baumelte ein Kabel von der Wagondecke, das immer wenn es mit der Wand in Berührung kam, heftig Funken sprühte.
„Bleiben Sie still liegen, Ma´am. Ich bin gleich bei ihnen!“ rief er ihr zu und griff sich eine Jacke, die zwischen den Trümmern auf dem Boden lag. Die schlang er sich um die Hand und schnappte nach dem Kabel. Zum Glück war nur das kleine Stück am Ende ohne Isolation, so dass er es leicht zur Seite biegen und hinter der Gepäckablage verkanten konnte. Nun half er der älteren Dame hoch.
„Wo ist ihr Enkel?“ fragte er, während er sich überzeugte, dass sie in Ordnung war.
„Ich weiß es nicht, er war zur Toilette gegangen, kurz bevor es gekracht hatte.“ Wimmerte sie. Er legte den Arm um sie und führte sie zum Ausstieg.
„Beruhigen Sie sich, ich suche den Jungen. Da draußen sind Menschen, die ihnen helfen.“
Als sie sicher draußen angekommen war, beeilte er sich, nach dem Jungen zu sehen. Die Toiletten befanden sich an den Enden der Wagons. Als er dort angekommen war, stand die Tür offen, und das Kind lag bewusstlos, mit einer stark blutenden Kopfwunde auf dem Boden. Schnell prüfte er, ob der Junge einen Puls hatte, dann hob er den kleinen Körper hoch und trug ihn, den stärker werdenden Schmerz in seiner Seite ignorierend zum nächsten Ausgang. Hier waren einige Männer, die ihm den Jungen abnahmen. Einen Moment hielt er inne und holte Luft. Dann sah er sich in dem Wagon erneut um, ob noch jemand hier war. Mit einem Mal entdeckte er eine Gestalt im hinteren Teil des Wagons. Als er vorhin der alten Frau geholfen hatte, hatte er dort niemanden bemerkt. Nun stand aber jemand dort und sah zu ihm herüber.
„Sind sie in Ordnung?“ rief er der Person entgegen, doch er bekam keine Antwort. Vorsichtig ging er näher. Es war eine Frau, weiße lange Haare umrahmten ein Gesicht, was ihm nur zu bekannt war.
„Granny?“ fragte er verwirrt und erntete ein gutmütiges lächeln.
„Aber, wie kommst du hier her?“ völlig durcheinander stolperte er auf sie zu. Sie streckte ihm die Hand entgegen und fing ihn auf. Neben ihr saß ein Hund, ein deutscher Schäferhund, der freudig mit dem Schwanz wedelte, als Ryan näher kam.
„Jack? Aber… Gran, wie kann das sein? Ihr seid doch…“
„Es ist gut, Junge. Du hast jetzt genug getan. Du hast allen geholfen, denen du helfen konntest. Nun musst du ruhen!“ Sie zog ihn in ihre Arme und zwang ihn sanft zu Boden. Den Kopf auf ihren Schoß gebettet, lag er nun auf dem Boden des zerstörten Wagons. Jack hatte seine Schnauze auf Ryans Bauch gelegt und seine Granny streichelte sanft über sein Haar. Leise begann sie ein Lied zu summen, das sie früher zum Einschlafen für ihn gesungen hatte.
Erst jetzt fühlte er die Erschöpfung, die seinen Körper erfasste und gab ihr nach. Er schloss die Augen und schlief ein.


Die Rettungskräfte erreichten den Unglücksort eine dreiviertel Stunde nach dem Unfall und begannen die Verletzten zu versorgen. Immer wieder erzählten die Menschen von dem jungen Sanitäter, der ihnen geholfen hatte, doch unter den Menschen auf dem Sammelplatz fanden die Helfer niemanden.
Ein Trupp der Feuerwehr betrat die Trümmer, um nach weiteren Opfern zu suchen. Gott sei Dank hatten fast alle Passagiere mit mehr oder weniger leichten Verletzungen den Zug verlassen können, da die Strecke bergan verlief und die Geschwindigkeit nicht all zu hoch war. Als die Feuerwehrmänner den dritten Wagon durchsuchten, fanden sie noch eine leblose Person. Vorsichtig trugen sie den jungen Mann hinaus und übergaben ihn den Sanitätern, die sofort begannen, ihn zu untersuchen. Doch schon bald schüttelte der Notarzt den Kopf. Der Patient lebte nicht mehr.

„Das ist der Sanitäter, der meinen Enkel gerettet hat!“ rief die alte Frau und begann zu weinen…


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Tag der Veröffentlichung: 13.11.2015

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