Kian zog seine Kapuze tiefer ins Gesicht. Heute war Markttag, es war sonnig, perfekt für flinke Finger. Geschmeidig glitt er durch die Menschen, die sich dicht an dicht um die Marktstände drängten und bediente sich an den allzu locker sitzenden Geldkatzen der unwissenden Bürger.
Gerade, als er seine Finger in den Rocktaschen einer alternden Bäuerin stecken hatte, erscholl eine Fanfare und kündigte die Anwesenheit von Lord Cullen und seines Gefolges an.
Vorschriftsmäßig gingen die Menschen auf die Knie und senkten ihre Häupter, was Kian zu einem schnellen Rückzug zwang, gerade als er die Geldkatze der Bäuerin ertasten konnte.
Er hasste diese Unterwürfigkeit, doch um nicht aufzufallen schloss er sich dem Volk an und senkte sein Haupt, während der stolze Lord mit seinen Männern vorbei ritt.
Kaum dass sie vorüber gezogen waren, beeilte Kian sich, aus der Menge heraus zu kommen, denn nach solchen Auftritten neigte das Volk zu schwatzen, und in ein Gespräch verwickelt zu werden, war das letzte, was der Dieb gebrauchen konnte. Gerade verschwand er in einer Seitengasse, als die ersten Rufe losgingen. Ein Dieb war unterwegs und alles machte sich auf, einen Verdächtigen zu finden. Mit einem kräftigen Satz war er auf einen Stapel Kisten gesprungen und auf das überhängende Dach des Gebäudes neben ihm geklettert. Flink floh er über die Dächer zum Rand der kleinen Stadt und verbarg sich in den Klüften der Stadtmauer. Hier war er weit genug weg vom Markt, als dass man ihn hierher verfolgen würde.
Als er sich sicher sein konnte, dass ihn niemand beobachtete, holte er seine Beute hervor. Sechs Geldkatzen aus Stoff oder Leder prall gefüllt mit Münzen. Es hatte sich richtig gelohnt.
Plötzlich viel ein Schatten auf ihn. Kian blickte hoch und sah drei Männer der Wache vor sich.
„Dann komm mal mit, du Strolch.“ forderte ihn der Hauptmann mit schiefem Grinsen auf.
Sie brachten ihn direkt vor den Lord. Aufgebrachte Bürger hatten sich versammelt und schrien lautstark nach Vergeltung. Lord Cullen saß auf seinem Thron und blickte mit erhaben-gelangweiltem Blick auf die Menge hinunter.
„Sire, dieser Strolch hat heute auf dem Markt sein Unwesen getrieben und diese braven Bürger bestohlen. Wir haben ihn entdeckt, als er gerade seine Beute zählen wollte!“ berichtete der Hauptmann stolz, und drückte Kian auf die Knie und riss ihm den Umhang mit Kapuze herunter.
„Ist das so? Hast du deine Finger dahin gesteckt, wo sie nichts zu suchen hatten?“ fragte Lord Cullen wenig interessiert. Gelächter brandete auf, wurde aber von einemstrengen Blick des Zeremonienmeisters erstickt.
„Sprich, du Lump!“ schnarrte der Hauptmann Kian an. Der riss sich mit einem Schwung los und stellte sich aufrecht vor den Lord hin.
„Nein, Mylord. Ich bin kein Dieb. Im Gegenteil, ich habe den Strolch beobachtet, der diese armen Menschen um ihr hart verdientes Geld erleichtert hat und bin ihm gefolgt. Ich habe versucht, ihn auf zu halten, doch er ist mir entwichen, aber diese Geldbörsen sind zu Boden gefallen. Als ihre tapferen Männer mich fanden, wollte ich nachsehen, ob ich die Besitzer herausfinden könne!“
Unruhe entstand in der Menge, auch die Wachen ereiferten sich ihren Unmut lautstark kund zu tun. Doch auf einen Wink von Lord Cullen war es sofort still.
„Du bist also eigentlich der Held in dieser Geschichte? Sicher?“
Kian lächelte ihn unschuldig an:
„Aber natürlich, Mylord. Ich würde nie etwas Unehrenhaftes tun!“ Cullen sah ihn eindringlich an. Seine dunklen Augen schienen den Dieb scheinbar zu durchlöchern. Dann stand er auf und wandte sich an die Menge:
„Wer von euch hat den Dieb denn genau beobachtet? Wer kann ihn beschreiben?“
Doch niemand hatte etwas gesehen, keiner konnte ihn beschreiben. – Natürlich nicht. Kian bemühte sich, das zufriedene Grinsen zu unterdrücken, doch so ganz gelang es ihm nicht. Siegesgewiss hielt er seine mit Lederstricken gefesselten Hände dem Hauptmann hin, auf dass er ihn befreien möge. Doch als dieser gerade die Stricke lösen würde, erklang Cullens Stimme erneut:
„Nicht so voreilig! Ich will mir den Vorfall genauer ansehen! Außer dem Angeklagten verlassen alle den Saal!“
Unter missmutigem Gebrumme folgten die Bürger der Anweisung ihres Lords und verließen den Thronsaal. Auch die Wachen gingen, nur der Zeremonienmeister verblieb im Raum.
„Ihr auch Alestair. Ich will mit ihm allein sprechen!“
„Aber Sire, es ziemt sich nicht...“
„Papperlapapp! Hinaus!“ befahl er unmissverständlich, und der bärtige Zeremonienmeister folgte resignierend seiner Anweisung.
Als sie allein waren, stand Cullen auf und kam von seinem Thron herunter. Langsam umrundete er den Dieb und blieb hinter ihm stehen. Kian fühlte seine Blicke in seinem Nacken. Er wand leicht den Kopf und versuchte, ihn aus den Augenwinkeln zu beobachten.
Mit einem Mal spürte er Cullens heißen Atem an seinem Hals.
„Ich glaube, du bist mein nächster Fehltritt!“ hauchte er ihm ins Ohr und knabberte leicht an Kians Ohrläppchen. Kian schloss die Augen und genoss die leichten Schauer, die ihm über den Körper liefen. Als Cullens Hände über das glatte Leder seiner Hose wanderten, entfuhr Kian ein heiserer Seufzer. Augenblicklich wurde es eng in der Hose.
„Heute Abend? Ich führ dich schick aus und vielleicht Kino?“
Kian drehte sich um und sah Lord Cullen direkt in die Augen. „Aber Mylord, ihr vergesst Euch. Bleibt in der Rolle!“
„Wozu? Niemand ist hier, und ich bin ganz froh, dass es so ist. Du machst mich echt wahnsinnig. Warum musst du dir ausgerechnet die Rolle eines lumpigen Diebes aussuchen?“
Kian trat einen Schritt von ihm zurück. Jetzt war er sauer.
„Was erlaubst du dir eigentlich? Ich habe viel Mühe in diesen Charakter gesteckt. Jedes Detail ist durchdacht, die Hintergrundgeschichte ist gut recherchiert und ich habe mich in allem an das Regelwerk gehalten. Wie kannst du es wagen ihn einen lumpigen Dieb zu nennen? Kian Schatten ist ein Meister seines Fachs!“ Wütend ließ er seinen Gegenüber stehen und stapfte aus dem Thronsaal.
Auf dem Flur begegnete er dem Hauptmann der Wache.
„Mach mir die blöden Dinger endlich ab, Steve. Ich muss hier weg!“ Überrumpelt fiel auch der sonst so eifrige Steve aus seiner Rolle und löste schnell die Fesseln.
„Alles in Ordnung, Kian?“ frage er, doch statt einer Antwort bekam er nur ein böses Funkeln und konnte dem Meisterdieb nur noch beim davonstapfen beobachten.
Zu Hause feuerte er seine LARP-Ausrüstung in die Ecke und holte sich ein Bier aus dem Kühlschrank. Noch mit der Kühlschranktür in der Hand leerte er die Flasche zur Hälfte.
„Wow, Nicky, habt ihr heut in der Wüste gespielt?“ erklang eine Frauenstimme hinter ihm und ließ ihn zusammen fahren. Nicky war Kians richtiger Real-Life-Name und die Frau war seine beste Freundin und Mitbewohnerin Shana. Die hochgewachsene Farbige kam zu ihm und legte den schlanken Arm um seine Taille und nahm ihm mit der anderen Hand die Flasche ab.
„Komm schon, Herzchen. Erzähl der Mama deine Sorgen.“
Sie zog ihn ins Wohnzimmer und platzierte ihn auf dem Sofa. Dann pflanzte sie sich daneben und sah ihn erwartungsvoll an. Er hatte eigentlich überhaupt keine Lust, ihr irgendetwas zu erzählen, doch er kannte sie lange genug. Sie würde nicht locker lassen. Also ersparte er sich stundenlanges Genörgel und fügte sich in sein Schicksal.
„Er ist so ein Arschloch. Arrogant und anmaßend!“ Shana sah ihn verwirrt an.
„Wen meinst du?“
„Lord Cullen.“
„Ist es nicht Teil seiner Rolle, arrogant zu sein?“
„Das mein ich nicht. Wir waren allein, er hat mit mir OOC gesprochen.“
„OOC?“
„Out of Character. Er ist aus der Rolle gefallen und hat normal mit mir gesprochen. Er hat mich einen lumpigen Dieb genannt!“ Sie verdrehte theatralisch die Augen und warf die Hände in die Luft.
„Himmel, Nicky. Es ist ein erfundener Charakter. Er hat doch nicht dich gemeint! Du stellst dich aber echt empfindlich an!“
Nick sah sie böse an. Sie verstand einfach nicht, wie viel Arbeit und wie viel Liebe in der Erschaffung dieses Charakters steckte, in seinem zweiten Leben. Wenn er seine Ausrüstung angelegt hatte WAR er Kian Schatten. Und die Bemerkungen, die Cullen fallen gelassen hatte, waren sehr verletzend.
Aber was wusste Shana schon. Sie war eine tolle Frau, arbeitete als Stewardess und sah die Welt.
Er war nur ein kleiner Bibliothekar. Das Spannendste in seinem Leben war, der Glückskeks beim Chinamann um die Ecke. Zumindest bis er die „Second Life“ Gruppe für sich entdeckt hatte.
Auf einem alten Industriegelänge hatte die Gruppe eine kleine mittelalterliche Stadt errichtet und lebten dort ihre jeweiligen Phantasien aus. Am Anfang hatte er als einfacher Bürger angefangen, doch schon nach wenigen Tagen hatte er sich richtig eingelebt und sich zu Kian Schatten entwickelt.
„Du magst ihn doch, oder? Immerhin schwärmst du mir jetzt seit einem halben Jahr von ihm vor. Warum verabredest du dich nicht einfach mit ihm.“ Jetzt sah er sie total entgeistert an. Sie war echt ahnungslos.
„Shana, im Second Life gibt es feste Regeln. Es gibt keine Real Life Beziehungen zwischen den Charakteren. Außerdem hat er mich seinen „nächsten Fehltritt“ genannt. Meinst du, ich will nur eine Episode sein?“ zum Schluss hatte er an Fahrt verloren und es klang selbst in seinen Ohren kläglich.
Shana legte ihm den Arm um die Schulter und zog ihn an ihren weichen Busen.
„Na kommt schon, Nicky. Lass den Kopf nicht hängen. Er ist nicht der einzige Hecht im Teich. Schnapp dir einen anderen. Wir gehen heut Abend aus, was hältst du davon?“
Er hatte zwar eigentlich nicht wirklich Lust, aber seiner Erfahrung nach wusste Shana genau, was richtig war. Also stand er auf und ging ins Bad. Der Vormittag in Second Life hatte seine Spuren hinterlassen und er wollte auf gar keinen Fall nach Schweiß und Pferdescheiße stinken.
Am Abend trafen sie sich mit einigen von Shanas Freundinnen in einem der vielen Clubs, die die Stadt zu bieten hatte. Nick wusste nicht einmal wie der Club hieß, Shana führte ihn zielsicher durch die Menge der tanzenden Menschen – überwiegend Männer, also hatte sie definitiv einen Gay-Club gewählt. Sie wollte ihn also unbedingt an den Mann bringen. Er grinste innerlich, denn Shana würde nicht Ruhe geben, bis sie ihn für heute Nacht ins Bett eines willigen Fremden verfrachtet hatte. Und ehrlich gesagt war es ihm gar nicht mal so unrecht. Er war eine Niete beim Flirten, unbeholfen und schüchtern. Auf sich allein gestellt würde er heute Abend mit Garantie allein ins Bett gehen. Warum also nicht. Es konnte nur besser werden als jeder Alleingang. Doch noch stand er an der Bar und klammerte sich an das Glas Rum-Cola, als wäre es ein Rettungsring. Shana kam von der ersten Runde auf der Tanzfläche und lachte ihn extatisch an.
„Komm schon, Nicky. Du kannst nicht den ganzen Abend hier herum stehen. Du musst dich ins Getümmel stürzen, sonst wird das nichts“, lachte sie und griff seine Hand. Doch Nick ließ sich nicht abschleppen. Er blieb wo er war, stocksteif vor plötzlicher Panik.
„Nein, warte. Ich kann nicht, Shana“, rief er und versuchte sich, aus ihren Händen zu winden. Mit hochgezogenen Augenbrauen sah sie ihn an. Dann griff sie in ihren BH und zog ein kleines Tütchen heraus. Nick starrte die kleinen Pillen darin an, dann schüttelte er den Kopf.
„Nein. Ich will nicht, Shana!“ Doch sie ignorierte ihn einfach und fischte eine der Pillen heraus.
„DU nimmst jetzt dieses kleine Goldstück und schluckst es artig runter. Und dann hast du die Nacht deines Lebens und lässt dir die Seele aus dem knackigen Körper vögeln!“
Widerspruch zwecklos, sie schob ihm die Pille in den Mund und setzte ihm das Glas an die Lippen.
Mit der Zeit wurden die Lichter greller, die Farben bunter und die Klänge intensiver. Er konnte die Musik schmecken und der Rhythmus riss ihn mit. Bald fand er sich auf der Tanzfläche, umringt von den schönsten Männern, die er je gesehen hatte. Jeder von ihnen wollte ihm nahe sein, er spürte ihre Hände, ihre Leiber. Es war pure Ektase und plötzlich drehte sich die Welt um ihn. Er fühlte sich fantastisch, sexy. Sein Herz hämmerte im Takt der Musik und schien ihn fort zu tragen. Es schien als könnte er fliegen. Über ihm zog alles vorbei, Menschen, die Plattformen der Go-Go Tänzer, die Bar…
Erst als er über sich den Sternenhimmel wahrnahm, verstand er, dass er getragen wurde. Über ihm erschien das Gesicht einer blonden Sanitäterin, sie schien mit ihm zu sprechen, doch er konnte ihre Worte nicht verstehen. In seinem Schädel hämmerte immer noch die Musik und schien ihn bersten zu lassen. Ein gequältes Stöhnen kam aus seinem Mund und er versuchte sich auf zu setzen. Neben der Blonden erschien nun ein anderes Gesicht – ein ihm sehr bekanntes.
„Cullen?“ stöhnte er überrascht.
„Greg.“ berichtigte dieser ihn und prüfte Blutdruck und Puls. „90 zu 60, Puls 166“, sagte er an seine Partnerin gerichtet.
„Was um alles in der Welt hast du genommen?“ Er wirkte ärgerlich, gar nicht mehr der arrogante Herrscher von heute Vormittag.
„Ich weiß nicht genau. Eine Freundin hat mir die Pille gegeben.“
Lord Cullen – Greg schüttelte den Kopf und blickte ihn richtig wütend an.
„Für so dumm hatte ich dich echt nicht gehalten“, schimpfte er und zog eine Spritze auf. Nick fühlte sich schlecht. Sein Kopf dröhnte, sein Magen rebellierte und dann kam da noch dieses nagende Gefühl, diese Angst, was Greg von ihm dachte.
„Bitte, sei nicht sauer…“ flüsterte Nick, doch dann wurde ihm furchtbar übel. Er schaffte es gerade sich zur Seite zu drehen, als ihm der Mageninhalt hochkam. Sofort war Greg bei ihm und hielt ihn.
„Ruhig atmen, Nick. Ganz ruhig atmen“, sprach er ihm beruhigend zu, während er mit der anderen Hand über seinen Kopf streichelte.
„Geht es wieder?“ Gregs Augen ruhten besorgt auf Nick, als dieser sich wieder zurücklegte. Er reichte ihm eine Flasche Wasser, damit er sich den Mund ausspülen konnte.
„Ja, ich denke schon. Ich möchte einfach nur noch nach Hause.“ wisperte Nick und schämte sich furchtbar. Greg führte einen intensiven Blickwechsel mit seiner Partnerin, die schlussendlich mit den Augen rollte und nickte. Sie verstanden sich offenbar wortlos.
„Komm hoch, ich bringe dich nach Hause. Mein Dienst endet so wieso jetzt. Della bringt den Krankenwagen allein ins Depot zurück.“ Er zog Nick auf die Füße und führte ihn zu einem der wartenden Taxis.
„Siebte, Ecke Stevenson Drive!“ forderte Greg den Fahrer auf und schob sich neben Nick auf die Rückbank.
„Du weißt, wo ich wohne?“
„Klar. Ich weiß so einiges über dich.“
„Warum?“
„Weil ich dich kennen lernen wollte. Ich hab dir doch schon gesagt, dass du mich total wahnsinnig machst. Seit Monaten denke ich nur an dich.“
Nick starrte ihn fassungslos an.
„Du hast das ernst gemeint?“
„Ja, allerdings hatte ich nach deiner Reaktion heute Mittag gedacht, dass ich mich in dir getäuscht hatte. Dass du doch nicht schwul bist. Aber jetzt…“
Nick wartete nicht ab, was er noch sagen wollte. Ohne groß nach zu denken beugte er sich vor und verschloss Gregs Mund mit seinen Lippen. Kein weiteres Wort war von Nöten. Er hatte gefunden, was er immer gesucht hatte….
Bildmaterialien: Screenshot aus ESO - The Elderscrolls Online
Tag der Veröffentlichung: 08.11.2015
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