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Sie hatten einen großen Coup gelandet und feierten nun ausgelassen mit Tequila und lauter Musik. Der Big Boss, der Franzose Bruno hatte ihnen sagen lassen, wie stolz er auf sie sei und dass er später dazu stoßen würde. 
Alles war nach Plan gelaufen, und der Geldtransporter war, wie versprochen, voll beladen gewesen. Zwei Flashbangs hatten die Wächter ausgeschaltet und sie hatten das ganze Geld ungestört umladen können. 
"Zehn Millionen Dollar, alter Falter. ZEHN MILLIONEN DOLLAR!!!" Keiner hatte so recht glauben wollen, dass der Plan sich so reibungslos umsetzen ließ. Chris saß etwas abseits und hielt eine Bierflasche in der Hand, an der er nun schon länger nippte. Unauffällig griff er in seine Hosentasche und wählte eine Kurzwahlnummer, ließ es zweimal klingeln und legte wieder auf. Ein Zeichen an seinen Vorgesetzten, noch nicht einzugreifen. So lange Bruno noch nicht hier war, sollten sie noch die Füße still halten. Der Franzose stand ganz oben auf der Most Wanted Liste des FBI und Chris wollte die Chance, diesen Schwerverbrecher dingfest zu machen, nicht verstreichen lassen. Er nippte noch einmal an seinem Bier und beobachtete die ausgelassene Feier.
Er war vor etwa zwei Monaten in die Organisation eingeschleust worden und hatte die vom FBI vorbereitete Aktion mit dem Geldtransporter dem Boss Jermain Johnson schmackhaft gemacht. Es hatte ihn jedoch einige Mühe gekostet, die Gang davon zu überzeugen, dass die Wachmänner nicht getötet werden durften. Erst das Argument, dass die Polizei bei einem Doppelmord mehr Kräfte mobilisieren würde, ließ die Gangster einlenken. 
Chris trank den Rest seiner Bierflasche aus und wollte gerade zur Toilette gehen, um seinem Vorgesetzten per SMS mit zu teilen, dass der Franzose auf dem Weg war, als Jermain Johnson zu ihm herüber kam. Johnson war Anführer der Gang und Brunos rechte Hand. 
"Du hast uns da wirklich einen sehr guten Tipp gegeben. Bruno wird sicher berücksichtigen, wie wertvoll du für uns bist. Und dein Anteil wird sicher nicht zu knapp ausfallen!"
"Danke, ich bin echt froh, dass alles so problemlos abgelaufen ist. Wenn du mich kurz entschuldigen würdest, ich muss das Bier dringend wegbringen." Er hörte das Summen des Vibrationsalarms seines Handys in seiner Tasche. Sein Chef hatte sicher um Erklärung gebeten. Chris versuchte sich an Jermain vorbei zu drücken, da er dringend antworten musste, Doch der Gangboss hielt ihn am Arm fest. 
"Warum bist du so nervös?" Chris lächelte verlegen: 
"Ich muss echt dringend pissen, Jermain!" Dieser blickte ihn durchdringend an, ließ ihn dann aber gewähren. Chris beeilte sich, auf die Toilette zu kommen. In der Kabine zog er schnell sein Handy heraus und tippte eilig eine SMS, dass der Franzose heute erwartet wurde und er sich melden würde, sobald der Zugriff erfolgen konnte. Dann ging er wieder zurück zu den anderen. Jermain stand mit seinem Bruder zusammen und flüsterte angestrengt mit ihm. Als er Chris entdeckte, ließ er sich etwas von seinem Bruder geben und kam zu ihm herüber. 
"Mein spezieller Freund. Ich habe vorhin mit Bruno telefoniert. Er wird es heute nicht mehr schaffen, aber ich habe hier etwas ganz besonderes für dich." und zauberte einen Joint aus seiner Tasche. Mit breitem Grinsen hielt er ihn Chris hin. 
"Oh, erm danke.... aber das ist nicht nötig." stammelte dieser. Sein Gegenüber sah ihn mit gespieltem Überraschen an. 
"Aber natürlich ist das nötig. Du hast dir etwas Besonderes verdient. Oder willst du mich etwa beleidigen?"
Chris spüre die Gefahr des Augenblicks. Diesen Moment fürchten alle Undercovercops - sie bekommen Drogen angeboten und es gibt keine sichere Möglichkeit, dies abzulehnen, ohne die Tarnung auffliegen zu lassen. Er erinnerte sich an die Worte seines Ausbilders, dass jeder mit seinem Gewissen vereinbaren muss, wie weit er geht. Und wenn dazu gehört, einen Joint zu Rauchen oder einen Schuss zu setzen, um die Tarnung zu wahren, müsse jeder das für sich selbst entscheiden. Also nahm Chris den Joint und entzündete ihn an der von Jermain dargebotenen Flamme. Da er ihn die ganze Zeit beobachtete, nahm Chris einen tiefen Zug, ließ das Kraut in der Lunge wirken und blies es in einem sanften Strahl wieder aus. Es war eine starke Mischung, er spürte es schnell im Kopf. Er hielt Jermain den Joint hin, doch der schüttelte nur den Kopf und forderte ihn mit einer Geste auf, weiter zu rauchen. Also nahm Chris einen weiteren tiefen Zug. Der Rauch kratzte ein wenig im Hals und in der Lunge, doch er beachtete es kaum. 
Da er gewöhnlich nicht rauchte, schob er es einfach darauf.
"Sag, woher hattest du doch gleich die Information, dass der Geldtransporter voll sein würde?" fragte Jermain wie beiläufig, doch Chris´ Alarmglocken schrillten sofort. Er nahm einen weiteren Zug während er in seinem Gedächtnis kramte, was er dazu als Information weiter geben sollte, doch der Stoff benebelte ihn schon sehr. 
"Ich hab dir eine Frage gestellt, wer hat dir von dem Geldtransport erzählt?" Jermain ließ nicht locker, dieses Mal war die Frage nicht mehr beiläufig gestellt. Auf seiner Zunge fühlte er ein seltsames Brennen und das Kratzen in seinem Hals wurde heftiger. Er begann zu husten. 
"Endschuldige, ich muss kurz raus." keuchte er und drückte sich durch die feiernden Richtung Ausgang. Mit jedem Schritt merkte er, wie seine Knie zittriger wurden, das Atmen viel ihm immer schwerer. 
Der Raum schien plötzlich unglaublich groß zu werden. Er griff in seine Hosentasche und fingerte ungeschickt sein Handy heraus. Er tippte eine SMS mit "457" - HLP und sandte sie an sein Team. Mit Mühe schaffte er es aus dem Haus in den Vorgarten. Dort knickte sein linkes Bein weg und er sank auf die Knie. Seine Brust schmerzte nun heftig und er bekam keine Luft. Hinter sich hörte er Jermain boshaft lachen. 
"Genieß es, Bullenschwein. Bald spürst du nichts mehr!" 
Chris hustete wieder heftig, als er sich mit dem Handrücken über die Lippen fuhr, zog sich dort eine dünne Blutspur. Dann tauchten plötzlich überall SWATs auf und stürmten das Gebäude. Chris wurde von einem weiteren Hustenanfall geschüttelt, und ein Schwall Blut füllte seinen Mund. Sein Herz begann zu rasen und Panik erfasste ihn. Jemand blieb neben ihm stehen, er fühlte, wie eine kräftige Hand ihn im Nacken packte und zu Boden drückte. Ein Rauschen dröhnte in seinen Ohren, als seine Hände auf seinen Rücken gerissen wurden und das kalte Plastik von Kabelbindern um seine Handgelenke gezogen wurde. 
"Lassen Sie den Mann, er gehört zu uns!" erklang die Stimme von Captain Walker wie durch einen Wasserfall. Wieder Husten, wieder Blut in seinem Mund. Dunkle Kreise erschienen vor seinen Augen und er versuchte die aufkommende Ohnmacht zu bekämpfen. Mit einem Ruck wurden die Kabelbinder an seinen Handgelenken durchschnitten und er wurde auf den Rücken gedreht. 
"Mein Gott, was ist passiert? Sanitäter! Wir brauchen hier Sanitäter!!"


Einige Stunden später kam der behandelnde Arzt zu den wartenden Polizisten. 
"Viel kann ich ihnen noch nicht sagen. Er hat eine Substanz eingeatmet, die seine Lungen zersetzt und sein Herz angreift. Wir haben ihn in ein künstliches Koma versetzt und an eine spezielle Beatmungsmaschine angeschlossen. Mehr können wir vorerst nicht tun. Er wurde mit höchster Priorität auf die Transplantationsliste gesetzt, jetzt können wir nur warten." 

 

 


Lisa schloss ihren Laden ab und machte sich auf den Weg zu ihrem Wagen. Es war später als beabsichtigt, da sie über ihren Büchern die Zeit vergessen hatte. Und ausgerechnet heute hatte sie ihr Auto weit weg in einer Seitenstraße parken müssen, da vor ihrem Laden die Straße aufgerissen wurde. Sie beeilte sich, durch die dunklen Straßen zu kommen. Als Sie die Gasse betrat, in der Sie ihr Auto abgestellt hatte, zögerte sie kurz. Die Gasse lag komplett im Dunkeln, keine Laternen erhellte sie. Lisa atmete tief durch und lief los, ihren Autoschlüssel bereits in der Hand. Ihr Wagen stand etwa in der Mitte der Gasse, direkt hinter einem großen Müllcontainer. Als sie um den Container herum war, hörte sie plötzlich Männerstimmen. Sie schienen auf sie zu zukommen und stritten laut. Schnell duckte sie sich zwischen Container und ihrem Auto in die dunkelste Ecke. Als die  vier Männer auf der Höhe ihres Autos angekommen waren, eskalierte der Streit. Sie schrien sich auf Spanisch an. Plötzlich zog einer der Männer ein Messer und stach wild auf einen der anderen ein. Lisa erschrak und hielt sich selbst den Mund zu, um nur ja keinen Laut von sich zu geben. Vor Angst zitterte sie am ganzen Körper. Ruhig bleiben, sagte sie sich selbst in Gedanken. Warte ab, bis sie weg sind. Doch genau in diesem Augenblick erklang aus ihrer Handtasche Miley Cruise "Wreckingball" - ihr Klingelton für ihre Mutter. Sie beeilte sich, das Handy aus zuschalten, doch natürlich hatten die Männer sie längst gehört. Sie versuchte sich hinter ihrem Auto zu verstecken, doch die Männer umrundeten den Wagen und fanden sie...

Der Krankenwagen raste mit Blaulicht durch die Straßen. Hinten arbeitete der Sanitäter mit Hochdruck und beatmete die Patientin, während das EKG ihre Herztätigkeit aufzeichnete. Plötzlich erklang ein langgezogener Pfeifton. 
"Andrew!" rief der Sanitäter nach vorn, sein Partner hielt sofort an den Rand und kam nach hinten um mit der Herzmassage zu beginnen. Einige Minuten später erreichten sie das Krankenhaus. "Unfallopfer, weiblich. Etwa dreißig Jahre alt. Schwere Schädelverletzungen, seit unserem Eintreffen nicht ansprechbar. Musste bereits zweimal reanimiert werden." informierte der Sanitäter die ER Mitarbeiterin bei der Übergabe der Patientin.
Ein Streifenpolizist übernahm die Handtasche der jungen Frau und suchte nach ihrem Ausweis. 
"Lisa Miller. Ich versuche mal ihre Angehörigen zu erreichen."  Eine junge Krankenschwester hörte auf, als der Name genannt wurde. 
"Lisa Miller? Ich kenne sie, ihr Verlobter arbeitet hier im Krankenhaus. Kyle Williams, er ist unser Physiotherapeut. Soll ich ihn herholen?" Der Polizist nickte bestätigend, und war innerlich erleichtert, dass er die grausame Botschaft nicht unmittelbar selbst überbringen musste. Es dauerte nicht lang, als der junge Mann in Pfleger-Outfit in die Notaufnahme gestürzt kam. 
"Lisa, wo ist sie?" rief er und wurde direkt von einem der Ärzte abgefangen. 
"Ruhig, Kyle, sie wird gerade operiert." 
"Was ist passiert? Wie geht es ihr?" 
"Das ist noch nicht klar. Sie scheint mit dem Auto frontal gegen eine Mauer gerast zu sein, allerdings in einer Seitenstraße." beantwortete der Polizist die Frage. 
Die Stunden verrannen zähflüssig, zwischendurch waren Lisas Eltern eingetroffen, doch auch sie erfuhren nicht mehr. Die Polizei konnte sich nicht erklären, wieso Lisa mit ihrem Wagen in die Mauer gerast war und auch die Ärzte konnten noch nicht sagen, ob sie diesen Crash überleben würde. Bange Stunden durchlebten sie bis endlich in den frühen Morgenstunden Dr. Morgan zu ihnen kam. Seinem ernsten Gesichtsausdruck nach spüren sie, dass er keine guten Nachrichten überbrachte. 
"Mrs und Mr Miller? Kyle, ich fürchte, ich habe sehr schlechte Neuigkeiten. Lisa hat irreparabel Hirnschäden erlitten. Sie wird nur noch von der Herz-Lungen-Maschine am Leben erhalten." Mrs Miller brach laut schluchzend zusammen und sank in die Arme ihres Ehemannes, auch Kyle fühlte sich, als hätte ihm jemand den Boden unter den Füßen weggezogen. Lisa war die Liebe seines Lebens, in ein paar Monaten wollten sie heiraten. Nun sollte sie für immer verloren sein?
"Ich weiß, dass es der denkbar schlechteste Zeitpunkt ist, aber wir haben nicht viel Zeit. Lisa ist Organspenderin und wir haben hier im Haus einen jungen Mann, der seit einer Woche dringend auf eine Spende wartet. Sein Zustand ist extrem kritisch und er wird nicht mehr lange durchhalten. Da ihre Tochter keine Patientenverfügung hinterlassen hat, brauchen wir Ihre Zustimmung, um die Maschine ab zu schalten und die notwendige OP vorzubereiten." Das Schluchzen von Mrs Miller wurde lauter. Ihr Mann funkelte den Arzt wütend an, nur Kyle blieb klar. 
"Wir werden darüber sprechen, Dr. Morgan. Ich gebe ihnen Bescheid. Dürfen wir zu ihr?" Schweigend führte der Arzt sie in das Zimmer, in dem Lisa lag. Weinend umschlang ihre Mutter ihren leblosen Körper. Auch ihrem Vater liefen nun die Tränen über das verhärmte Gesicht. Er stand hinter seiner Frau und streichelte liebevoll über die Stirn seiner Tochter. Kyle trat an die andere Seite des Bettes und nahm ihre leblose Hand in seine und führte sie zu seinen Lippen. Nun konnte auch er die Tränen nicht mehr zurückhalten. Sein Kopf sagte ihm, dass seine Liebste nicht mehr hier war, aber sein Herz klammerte sich an die Liebe und an die Erinnerungen. Es weigerte sich zu glauben, dass er sie gestern Morgen das letzte Mal geküsst hatte, als sie sich nach dem Frühstück verabschiedet hatte. 
Einige Stunden verbrachten sie so, schweigend und trauernd an ihrem Bett. Jeder hing seinen Gedanken und Erinnerungen nach. Zwischendurch sah Dr. Morgan im Zimmer vorbei, wollte die Familie aber in ihrer Trauer nicht stören. Kyle wusste, dass sie bald eine Entscheidung treffen mussten. Dr. Morgan hätte es nicht sofort angesprochen, wenn die Situation nicht lebensbedrohlich war. Und er kannte Lisas Wunsch in einem solchen Falle, genau wie ihre Eltern.

 

"Wir müssen ihr Lebewohl sagen." sagte er schlicht mit tränenerstickter Stimme. Ihre Mutter schluchzte laut auf und drückte ihr Kind fester an sich, als könne sie sie so halten. Doch auch ihr Ehemann nickte ihm zu. 
"Sie hätte es so gewollt", war seine knappe Antwort. Damit war alles gesagt und Kyle verließ den Raum, um dem Arzt Bescheid  zu geben. Als Dr. Morgan mit einer Krankenschwester herein kam, um alles vorzubereiten, griff Lisas Mutter nach seiner Hand. 
"Bitte Doktor. Was ist das für ein Mensch, der die Organe unserer Tochter bekommt? Es ist doch ein guter Mensch, dem sie das Leben rettet, oder?"
"Das darf ich Ihnen nicht sagen, Mrs Miller. Die Empfänger müssen aus gutem Grund anonym bleiben."  sagte der Arzt bedauernd, doch als der das verzweifelte Gesicht der Mutter sah, sprach er weiter: 
"Machen Sie sich keine Sorgen. Er ist wirklich ein guter Mensch." Dann wurde Lisa aus dem Zimmer gebracht und ihre Familie blieb allein mit ihrer Trauer zurück.

In einem anderen Zimmer wurde einer anderen Familie Hoffnung überbracht. 
"Wir haben einen Spender gefunden, der zu 99,9% passt. Wir bereiten Chris bereits für die Operation vor."
Jack Bennett, Chris’ älterer Bruder, umarmte glücklich seine Ehefrau. 
"Oh Gott sei Dank." stieß er hervor. 
Die Geschwister hatten in den letzten drei Wochen um den kleinen Bruder gebangt. Sie hatten abwechselnd an seinem Bett gewacht, ihm aus der Sportzeitung vorgelesen oder ihm einfach aus ihrem Alltag erzählt. Hin und wieder waren Kollegen vom SDPD vorbei gekommen, um nach ihm zu sehen. In seltenen Momenten hatte er die Augen geöffnet, und manches Mal schien es, dass er um sich herum wahrnahm, wenn jemand mit ihm sprach. 
Doch je länger die Suche nach einem geeigneten Spender dauerte, desto mehr schwand die Hoffnung. Die Besuche der Kollegen wurden seltener, da die Polizisten die Hilflosigkeit nicht ertragen konnten. Nur seine Geschwister klammerten sich an das letzte Fünkchen Hoffnung, die jetzt belohnt wurde. 
Gleich als Dr. Morgan raus war, um die Transplantation durch zu führen, hatte Jack bei Captain Walker angerufen und ihm die gute Nachricht überbracht. Während sie im Wartezimmer saßen, kamen dann auch einige der Kollegen und gesellten sich zu ihnen. Acht quälende Stunden wurde Chris operiert. Der Sekundenzeiger schien sich in den Stundenzeiger zu verwandeln. Der aufkeimenden Hoffnung mischte sich das ungute Gefühl, was noch alles schief gehen konnte. Rastlos wanderten sie in dem kleinen Raum auf und ab und versuchten, sich nicht gegenseitig im Weg zu stehen. Nach scheinbar unendlicher Zeit öffnete sich endlich die Tür und Dr. Morgan kam in OP Kleidung herein. Seinem Gesicht konnten sie bereits ablesen, dass es nichts zu fürchten gab. 
"Die OP ist gut verlaufen, sein Körper nimmt die Transplantate bisher gut an. Natürlich gibt es noch eine lange Zeit, in der es zu Abstoßung kommen kann und er wird sehr lange auf Medikamente angewiesen sein, aber ich bin positiv."

Fünf Tage nach der Operation wachte Chris das erste Mal aus dem Koma auf. Dr. Morgan war bei ihm und hörte gerade seine Brust ab. Als er sah, dass sein Patient die Augen geöffnet hatte, lächelte er mild und packte sein Stethoskop weg. 
"Ich bin Dr. Morgan. Sie sind hier im Mercy Krankenhaus. Versuchen Sie bitte nicht zu sprechen, sie haben noch einen Atemschlauch im Hals. Haben Sie mich verstanden?"
Chris schloss matt die Augen und nickte. Als er wieder die Augen öffnete, nickte der Arzt ihm zu. 
"Ich werde gleich die Schwester holen, dann entfernen wir den Schlauch." Dann war er allein. Er versuchte sich zu bewegen, doch er war zu schwach, er konnte lediglich den Kopf etwas drehen, doch auch nur ein kleines Stück. Ein stechender Schmerz in seiner Kehle beendete seinen Versuch, sich um zu sehen - der Schlauch in seinem Hals. Schon war der Arzt mit einer Krankenschwester wieder da. Mit geübten Handgriffen entfernte sie vorsichtig das Heftpflaster, mit dem der Atemschlauch fixiert wurde. 
"So, jetzt bitte kräftig ausatmen." sagte sie im Befehlston und begann an dem Schlauch zu ziehen. Chris atmete so lang wie möglich aus, doch auch das war zu anstrengend. Schließlich lag er müde keuchend und nassgeschwitzt im Bett. Dann war er wieder allein. Er schloss die Augen und lauschte auf das stetige Piepen des EKGs.
Nach einer Weile hatte er das Gefühl, nicht mehr allein zu sein. Als er die Augen öffnete, stand eine junge Frau am Fenster neben seinem Bett. Sie war zivil gekleidet und starrte ihn wortlos mit traurigem Blick an. 
"Wer sind Sie?" fragte Chris schwach, doch die Frau antwortete ihm nicht. Sie blickte ihn einfach nur stumm an, in ihren Augen standen Tränen. Im nächsten Moment klopfte es an seiner Tür und Chris wandte den Kopf in die entgegengesetzte Richtung, als sich die Tür öffnete und Captain Walker trat in das Zimmer. 
"Ich hoffe, ich störe nicht." sagte er, als er Chris’ verwirrten Gesichtsausdruck bemerkte. Ohne zu antworten blickte Chris wieder zum Fenster, doch die junge Frau war verschwunden. Suchend sah er sich um. 
"Wo ist sie hin?" fragte er mit brüchiger Stimme. 
"Wer denn?" erkundigte der Captain sich, als er ans Bett getreten war. 
"Die junge Frau, sie hat gerade noch dort vorn am Fenster gestanden!" Der Captain sah ihn besorgt an.
"Aber es ist niemand hier im Raum gewesen. Wie fühlst du dich?" Chris schloss kurz die Augen. 
"Müde. Ich bin vielleicht kurz eingenickt." 


In den nächsten Wochen erholte Chris sich immer mehr, bis Dr. Morgan ihn das erste Mal ermutigte, das Bett zu verlassen. Eine Krankenschwester schob ihn im Rollstuhl auf die Terrasse, bis er von oben auf den Park schauen konnte. 
"Ich komme in zehn Minuten wieder, Officer Bennett. Genießen Sie ein wenig die Sonne." 
Chris genoss die mildwarme Spätsommer – Luft und die Sonnenstrahlen, die seine Haut erwärmten. Er schloss eine Weile die Augen und döste vor sich hin, als er wieder dieses Gefühl bekam, nicht allein zu sein. Als er nun die Augen öffnete, sah er wieder die junge Frau vor sich. Sie stand ein paar Meter entfernt von ihm, wieder mit diesem traurigen Blick. Sie sah ihm direkt in die Augen und eine Träne ran ihre Wange entlang. 
„Bitte, warum sind Sie so traurig?“ fragte er sie, doch auch dieses Mal blieb sie stumm. Er bemühte sich, den Rollstuhl näher zu ihr zu fahren, doch obwohl sie sich nicht bewegte, schien sie immer gleich weit weg zu bleiben. 
„Officer Bennett?“ erklang die Stimme der Krankenschwester hinter ihm. Er wandte sich nur kurz ihr um, doch als er wieder seinen Blick nach vorn richtete, war die junge Frau erneut verschwunden. Verwirrt sah er sich suchend um.
„Wo ist sie denn hin? Haben Sie gesehen, wo hin sie gegangen ist?“
„Wen meinen Sie denn? Sie waren ganz allein hier draußen.“
„Aber… aber das kann nicht sein. Ich hab sie doch deutlich hier stehen sehen. Sie war etwa Mitte Zwanzig, hatte dunkelbraune, lockige Haare. Sie hat eben noch hier gestanden. Bitte, Sie müssen sie doch gesehen haben.“ Doch die Krankenschwester verneinte wieder mit einem sehr besorgten Gesichtsausdruck. Sorgsam fühlte sie seine Stirn und seinen Puls und entschied dann, ihn wieder in sein Zimmer zu bringen. Später besuchte auch Dr. Morgan ihn noch einmal. Auch er zeigte sich äußerst beunruhig. 
„Hatten Sie noch weitere Halluzinationen, Officer Bennett?“
„Ich hab sie vor ein paar Tagen in meinem Zimmer schon einmal gesehen. Sie war nur kurz da und ist dann plötzlich verschwunden. Verliere ich meinen Verstand?“ 
„Nein, das kommt öfter vor nach Transplantationen. In der Regel gibt sich das nach einer Weile. Psychologen sind der Meinung, dass es sich hierbei um versteckte Schuldgefühle handelt, daher sehen Sie die junge Frau weinen. Machen Sie sich keine Gedanken, wir werden Ihnen allerdings vorübergehend eine angepasste Medikation verabreichen, dann sollten diese Zustände sich legen.“

 

 

 

 

Ein paar Tage hatte Chris Ruhe. Er begann sich sichtlich zu erholen, so dass Dr. Morgan ihm leichte Physio- Therapie verordnete, damit er wieder auf die Beine kam. 
Am Vormittag brachte die Krankenschwester ihn hinunter in den Trainingsraum. 
„Guten Tag, Officer Bennett. Mein Name ist Kyle Williams, ich bin ihr Physiotherapeut.“ begrüßte ihn der Therapeut und übernahm den Rollstuhl von der Krankenschwester. Er schob Chris hinüber zu einer großen blauen Matte. 
„So, dann wollen wir zunächst mal Ihre Muskeln lockern“, verkündete er und half Chris aus dem Rollstahl und auf die Matte. Chris musste sich hinlegen und die Beine anwinkeln. Innerlich war er seinem Bruder verdammt dankbar, dass er ihm Sporthosen und Turnschuhe mitgebracht hatte. 
Kyle positionierte sich neben Chris´ Hüfte und legte seine Hände auf beide Seiten von seinem linken Oberschenkel.
„So Mr. Bennett, ziehen Sie jetzt bitte mal das linke Bein so hoch sie können.“ 
Chris grinste: „Wenn Sie ihre Hände schon da haben, können Sie auch Chris und Du sagen.“ Kyle erwiderte das Lächeln und unterstützte Chris beim Anziehen des Beines. Da er mehrere Monate lang fast ausschließlich gelegen hatte, waren seine Muskeln schwach geworden und diese einfache Bewegung kam ihm vor, wie ein Marathon. Als er das Bein wieder ablegen konnte, war er erschöpft. 
„Ok Chris, dann jetzt das andere Bein.“
„Alter, nicht dein Ernst, oder? Ich kann nicht mehr!“
„Doch, doch, das schaffst du schon. Ich helfe dir.“
Nach zehn Minuten lag Chris schweißgebadet und erschöpft auf der Matte und keuchte wie nach einem kompletten Basketball Spiel. 
„Das ging doch Prima. Und jetzt wollen wir mal ein paar Schritte gehen!“ Chris starrte ihn ungläubig an.
„Wir kennen uns doch erst seit gerade. Wieso hasst du mich so?“ Kyle lachte laut auf und reichte seinem Patienten die Hand, um ihm hoch zu helfen. Im Rollstuhl brachte er Chris zu den Gehbarren hinüber und parkte ihn direkt an der rechten Seite. 
„So, und jetzt hoch mit dir. Jetzt laufen wir mal ein paar Schritte.“ Knurren und jammern half nichts, Kyle stellte sich hinter ihn, schlang seine Arme um Chris´ Brust und half ihm beim Aufstehen. Chris spürte die Kraft, die in Kyles Körper steckte, die Wärme, die durch ihre Kleider drang. Plötzlich fühlte er ein seltsames Kribbeln in seinem Bauch. Der Duft, der von Kyle ausging, durchdrang ihn und machte ihn ganz schwindelig. Er fühlte sich mit einem Mal körperlich zu diesem Mann hingezogen, als wäre er eine Droge, nach der er süchtig war. Der Wunsch, seine Lippen auf die von Kyle zu drücken, seinen Hals zu liebkosen und… Verdammt, was ging nur in ihm vor? Wieso war er auf diesen ihm fremden Mann so fixiert? Es fühlte sich an, als würde er diesen Mann schon seit Jahren kennen und – lieben? Er wollte das Gefühl abschütteln und sich aus der „Umarmung“ des Therapeuten befreien, wobei er sich so heftig wand, dass er Kyle entglitt und fiel.
„Entschuldigung, Chris. Es tut mir leid!“ rief Kyle sofort und beugte sich über den am Boden liegenden Mann, um ihm auf zu helfen. Dabei kamen sich ihre Gesichter sehr nahe. Chris blickte verwirrt in Kyles braune Augen und sein Herz begann wie wahnsinnig zu klopfen. Kyle spürte, dass mit seinem Patienten etwas nicht stimmte und trat einen Schritt zurück. 
„Chris? Alles ok?“ fragte er besorgt, doch Chris nickte nur und zog sich am Gehbarren hoch. 
„Alles gut, aber ich würde gern erst mal Schluss machen und auf mein Zimmer zurück.“ Kyle half ihm zurück in den Rollstuhl und klingelte nach der Schwester. Während sie darauf warteten, dass Chris abgeholt wurde herrschte leicht betretenes Schweigen. Chris vermied es, den jungen Physiotherapeuten direkt an zu sehen. 
„Ich möchte mich noch mal ausdrücklich entschuldigen. Das ist mir bisher noch nie passiert, wirklich.“ murmelte Kyle, als der Fahrstuhl anzeigte, dass jemand nach unten fuhr. 
„Nein, ist schon gut, Kyle. Es war nicht deine Schuld. Ich hatte wohl so etwas wie einen Flashback, ich kann es nicht erklären. Auf jeden Fall war es nicht deine Schuld!“ So ganz schien Kyle nicht überzeugt zu sein, doch da in diesem Augenblick die Fahrstuhltür auf ging und die Krankenschwester heraustrat, um Chris in sein Zimmer zurück zu bringen, sparte er sich weitere Diskussionen. 
„Ruh dich aus, wir sehen uns morgen wieder.“ verabschiedete er sich als die Fahrstuhltür zwischen ihnen zu glitt.

Als sein Patient weg war, ließ Kyle sich erschöpft auf einen Stuhl fallen. Was war da gerade geschehen? Er hatte ganz plötzlich ein tiefes Gefühl von Vertrautheit und Liebe für seinen Patienten empfunden. Das hatte ihn so erschreckt, dass er den armen Chris fallen gelassen hatte. Was war nur los mit ihm? 
Zwei Monate hatte er sich frei genommen, nach Lisas Tod. Er musste den Kopf frei bekommen, war in die Berge gefahren und hatte beim Wandern und Angeln versucht, mit dem Verlust der Liebe seines Lebens klar zu kommen. In der Einsamkeit hatte es auch ganz gut funktioniert, doch hier in der Stadt, in der gemeinsamen Wohnung oder überhaupt in der Nähe anderer Menschen, spürte er das Fehlen von Lisa extrem. Doch vorhin, als er mit Chris allein war… da hatte er es nicht so empfunden. Ganz im Gegenteil, es war, als sei sie immer noch bei ihm. Er musste dringend mit Dr. Howthorn sprechen, vielleicht war er doch noch nicht so weit, oder er brauchte doch ein paar Pillen, in diesem Zustand konnte er nicht wirklich arbeiten.

Chris lag allein in seinem Zimmer. Die Krankenschwester hatte ihm beim Duschen und Umziehen geholfen und ihn danach ins Bett gebracht und die Überwachungsgeräte wieder angeschlossen. Nun war er allein und starrte an die Decke. Was hatte das zu bedeuten? Er hatte noch nie Gefühle für einen anderen Mann gehabt. Und diesen Kyle hatte er vor dem heutigen Tag noch nie gesehen. Warum war es ihm erschienen, als würde er diesen Mann schon Jahre kennen, als wären sie ein Paar gewesen? So lange er darüber nachdachte, er konnte einfach keine Antwort darauf finden. Inzwischen war er so müde geworden, dass er langsam wegdämmerte. 
Er konnte noch nicht lange geschlafen haben, als er erneut dieses Gefühl hatte, als sei er nicht allein. Und richtig, als er seine Augen öffnete, war die seltsame traurige junge Frau wieder da. Dieses Mal stand sie direkt an seinem Bett, keinen Meter von ihm entfernt und sah ihn direkt an. Erschrocken setzte er sich auf. 
„Wer sind sie?“ fragte er wieder. Auch dieses Mal sah sie ihn nur mit tränengefüllten Augen an. Doch da sie jetzt so nah war, konnte er erkennen, dass ihr Körper über und über voll dunkler Flecken und Schürfwunden bedeckt war. Er streckte die Hand nach ihr aus und wollte sie am Arm berühren, doch plötzlich war sie wieder verschwunden. Ungläubig starrte er auf die Stelle, an der sie so eben noch gestanden hatte. Dann plötzlich hatte er das eigenartige Gefühl, durch fremde Augen zu sehen. Es schien ihm, dass er plötzlich keine Gewalt mehr über seinen Körper hatte. Panik stieg in ihm auf. Versagte gerade das transplantierte Herz? Starb er gerade? Sein Atem ging stoßweise und Tränen stiegen in ihm auf. Neben seiner Angst spürte er unendliche Trauer und Verzweiflung. Sein Herz pochte bis zum Hals, er versuchte, seinen Arm zu bewegen, um nach der Schwester zu klingeln, doch sein Körper gehorchte ihm nicht. 
„Sie haben mich umgebracht!“ erklang eine Frauenstimme in seinem Kopf. „Ich konnte mich nicht von ihm verabschieden. Er war da, doch ich konnte ihm nicht mehr sagen, wie sehr ich ihn liebe!“ 
Mittlerweile erklang vom Überwachungsmonitor ein lautes Warnsignal, dass dem Personal eine Herzrhythmusstörung anzeigte und alarmierte die Krankenschwester. Er bekam noch mit, wie sie und ein weiterer Pfleger mit besorgtem Gesicht herein gestürzt kamen, dann verlor er das Bewusstsein. Im Wegdämmern hörte er nochmal die Stimme in seinem Kopf: „Ich liebe dich so sehr, Kyle…“

 

 

Es dauerte erneut zwei Wochen bevor Dr. Morgan es wieder zuließ, dass Chris einen weiteren Versuch bei der Physiotherapie startete. Als der Krankenpfleger ihn in die Therapieräume brachte, saß Kyle an seinem Schreibtisch und füllte Berichte aus. Der Pfleger schob Chris zum Tisch hinüber und ließ die beiden allein. Der junge Physiotherapeut war in seine Berichte vertieft und schien seinen Patienten noch gar nicht zu bemerken. 
Chris räusperte sich leicht und Kyle blickte überrascht auf. 
„Oh Chris, tut mir leid. Ich habe dich gar nicht bemerkt. Aber es freut mich, dass es dir wieder besser geht.“
„Kein Problem, irgendwie hat es mich umgehauen. Früher war ich nicht so empfindlich.“
„Ich mache das hier nur fix zu ende. Dauert nicht lang.“ 
Chris wartete geduldig und sah sich ein wenig um. Kyles Schreibtisch konnte man nicht gerade als ordentlich bezeichnen. Überall lagen Papiere, Akten und Bücher herum, eine kleine Schneekugel mit einem putzigen Eisbären wirkte irgendwie Fehl am Platze. Dann entdeckte er einen silbernen Bilderrahmen mit einem Foto von Kyle und einer jungen Frau im Arm. Gerade wollte Chris seinen Blick weiter wandern lassen, als er an dem Gesicht der jungen Frau hängen blieb. Sein Herz begann schon wieder zu rasen. Kyle schaute auf und sah seinen Patienten mit starrem Blick, bleich wie die Wand. Erschrocken sprang er auf.

„Um Gottes Willen, Chris, ist alles ok?“ fragte er und fasste Chris vorsichtig an die Schulter. Wie aus einem Traum erwachend blickte Chris ihn an. 
„Wer ist die Frau auf dem Bild?“ flüsterte er, am ganzen Körper zitternd. Kyle sah sich verwirrt um und blickte dann auf das Foto, auf das Chris wies.
„Das? Das ist  - oder war meine Verlobte, Lisa.“ antwortete Kyle verwundert. Trauer übermannte ihn langsam.
„Sie ist vor ein paar Monaten tödlich verunglückt.“ 
Jetzt wich auch jeder Rest Farbe aus Chris´ Gesicht.  Sein Mund wurde schlagartig trocken.
„Sie ist tot?“ 
„Ja, warum?“
„Ich habe sie gesehen. Hier. Im Krankenhaus. Schon mehrfach.“
„Willst du mich verarschen?“ Kyle sah Chris zweifelnd an. Seine Trauer wich langsam wachsender Wut.
„Nein, sie stand in meinem Zimmer, schweigend und weinend. Und an dem Tag, als ich das erste Mal bei dir war… als ich danach kollabiert bin. Da war sie auch bei mir. Ich habe nichts gesagt, da Dr. Morgan glaubt ich halluziniere und mir Happy Pills verschrieben hatte. Aber ich spinne nicht. Sie war wirklich da. Ich konnte ihre Verletzungen sehen. Bitte Kyle, ich lüge nicht. Ich habe sie wirklich gesehen!“
„Aber wie kann das sein? Wie kannst du sie hier sehen. Sie wurde eingeäschert, außerdem haben sie ihre Organe in einen anderen Patienten transplan…. Oh mein Gott!“
Nun war es Kyle der bleich wurde. Er starrte Chris ungläubig an. Hastig ging er wieder an seinen Tisch und suchte nach seiner Patientenakte. Wild blätterte er die Seiten durch, bis er fand was er suchte. 
„Dir wurden Herz und Lunge transplantiert.“ Kyles Blick wanderte von der Akte hinüber zu Chris, der ihn verständnislos anblickte.
„Ja, richtig. Und?“
„Diese Organe wurden Lisa entnommen. Dr. Morgan hatte uns gedrängt zu entscheiden, ob ihre Organe entnommen werden dürften, da er einen Patienten hatte, der im Sterben lag. Verstehst du? Das warst du! Du hast Lisas Herz bekommen!“


Kyle hatte Chris vom Pfleger wieder in sein Zimmer bringen lassen und sich bei der Personalabteilung abgemeldet. Er musste hier raus. Er musste nachdenken. Die gesamte Situation überforderte ihn gewaltig. Sein neuer Patient, ein Mann, den er sehr sympathisch fand, war nur deshalb am Leben, weil seine große Liebe gestorben war. Er vermisste Lisa so sehr, dass es richtig wehtat. Nachdem er eine Weile planlos umher gefahren war, steuerte er den Vacation Isle Park an, in dem er mit seiner Lisa viel Zeit verbracht hatte. Er wanderte durch den Park bis zu ihrer Lieblingsbank am Wasser, hier setzte er sich hin und ließ seinen Blick über die glitzernde Oberfläche der Bay gleiten. Es war wunderbar ruhig hier. Zu dieser Jahreszeit kamen nicht mehr so viele Besucher her. Erinnerungen kamen in ihm hoch. Lisa, wie sie sich lachend auf der Wiese drehte, den Sonnenschein in ihren offenen Haaren. Er konnte noch immer ihr Lachen hören, ihre süße Stimme, wie sie nach ihm rief und ihn aufforderte, mit zu machen.  Tränen stiegen in ihm auf und er musste sie hart herunter kämpfen. 
Plötzlich hörte er ein Knacken hinter sich und fuhr herum. Dort fand er Chris vor, der erschöpft in seinem Rollstuhl saß. Erstaunt stand er auf und ging ihm entgegen. 
„Was machst du denn hier?“
„Ich wollte mit dich sehen. Da hab ich mir ein Taxi gerufen.“
„Aber woher wusstest du, wo ich bin?“
„Ich wusste immer wo du bist.“ Kyle betrachtete ihn verwundert. Irgendwie hatte Chris sich verändert. Seine Art zu sprechen war ihm so vertraut und auch sein Blick. Alles an ihm verwirrte Kyle. Mit einem Mal fühlte er wieder dieses warme Gefühl in seiner Brust. Er trat unbewusst einen Schritt zurück und schüttelte ungläubig den Kopf. 
„Das kann nicht sein.“ murmelte er leise. Plötzlich stand Chris auf. Scheinbar mühelos kam er auf Kyle zu. Auch seine Bewegungen waren weich und fließend und erinnerten Kyle an Lisa.
„Bitte, bleib.“ wisperte Chris und sah ihn flehend an. Kyle erstarrte und blickte in die Augen seines Gegenübers, der langsam auf ihn zu kam und sanft seine Hand nahm. 
„Ich konnte mich von dir nicht mehr verabschieden. Ich hatte deine Nähe im Krankenhaus gespürt, ich weiß, dass du bei mir warst. Ich musste dich wieder sehen. Ich musste dir unbedingt sagen, dass du alles richtig gemacht hast und dass ich dich über alles liebe.“
„Lisa? Wie ist das möglich?“ Lisa hob Chris´ Hand und streichelte über Kyles Gesicht. 

„Ich kann es dir nicht erklären, aber ich konnte nicht weiter gehen bevor ich mich von dir verabschiedet habe.  Chris hat mir gestattet, dich zu treffen, nachdem er verstanden hatte, was ich wollte. Es tut mir leid, dass ich ihm Anfangs beinahe geschadet hätte. Ich wusste mir nicht anders zu helfen.“
Jetzt verstand Kyle langsam. Es war tatsächlich Lisa, seine Lisa, die da vor ihm stand. Im Körper des  Mannes, dessen Leben sie gerettet hatte. Seine Gefühle überwältigten ihn und er zog Chris in seine Arme. Unter Tränen begann er Chris zu küssen, seine Hände vergruben sich in dem kurzen blonden Haar, das sich so ganz anders anfühlte als Lisas lange braune Locken. Doch die Umarmung fühlte sich echt an, auch wenn der Körper härter, muskulöser und größer war. Ungehemmt schluchzte er auf.
„Oh mein Liebling, ich vermisse dich so. Bitte verlass mich nicht wieder.“
„Ich liebe dich, Kyle. Doch ich kann nicht bei dir bleiben. Ich müsste längst weiter gezogen sein. Außerdem ist es Chris gegenüber nicht fair. Es ist sein Leben und ich habe kein Anrecht darauf. Bitte sieh nach vorn. Ich könnte nicht glücklich werden, wenn ich wüsste, dass du weiter um mich trauerst. Wir können nicht mehr zurück, unser Leben spielt sich vorwärts ab. Ich warte auf dich, das versichere ich dir, aber du darfst dir das Glück in dieser Welt nicht verwehren. Bitte, versprich mit das.“ Kyle schluchzte stärker und vergrub sein Gesicht in Chris´ Halsbeuge. Eine Weile standen sie so da und hielten einander in fester Umarmung. 
Plötzlich sackte Chris in Kyles Umarmung zusammen. Kyle konnte ihn gerade noch halten. Vorsichtig hievte er Chris auf die Bank und sah besorgt zu ihm hinunter. Er wirkte erschöpft und verwirrt. 
„Was mach ich denn hier?“ fragte er zitternd.
„Erinnerst du dich nicht mehr?“
„Nein, nur noch, dass mir im Krankenhaus schlecht geworden ist. Und… Du wirst mir nicht glauben, aber ich habe sie wieder gesehen. Deine Lisa.“ Chris schaute etwas betreten zu ihm auf, doch er musste zu seiner Verwunderung feststellen, dass Kyle ihn keines Wegs wie einen Irren ansah. Da fasste er etwas Mut.

„Ich glaube, sie wollte dir durch mich etwas sagen. Ich glaube, sie wollte sich verabschieden, das habe ich ganz tief in meinem naja unserem Herzen gespürt.“
„Ich weiß, Chris. Sie war hier. Sie hat dich her gebracht. Es tut mir leid, dass sie dich quasi entführt hat. Aber jetzt ist alles gut.“ Chris´ Augen wurden groß.
„Sie hat… wow. Ok, ich hatte keine Ahnung.“
Kyle setzte sich neben Chris auf die Bank und beide blickten hinaus auf das Wasser, in dem sich die langsam untergehende Sonne spiegelte.
„Hier hab ich ihr den Heiratsantrag gemacht. Die Hochzeit sollte eigentlich heute sein. Schon eigenartig, dass sie sich gerade an diesem Tag von mir verabschieden konnte.“
Chris griff nach Kyles Hand. Im ersten Moment fühlte es sich für beide eigenartig an, die Hand eines anderen Mannes zu halten, doch schon nach wenigen Augenblicken wurde es zu einer Selbstverständlichkeit. Beide fühlten die Verbindung, die Lisa zwischen ihnen geschaffen hatte.

„Eigentlich stehe ich nicht auf Männer.“ murmelte Kyle und blickte Chris von der Seite an.
„Ich eigentlich auch nicht. Aber… mein Herz – Lisas Herz liebt dich. Das habe ich bei unserer ersten Begegnung schon gespürt. Ich habe es nur nicht verstanden, doch jetzt verstehe ich es.“

 

 

 

 

 

 

 

Es dauerte noch fast ein Jahr, bis Chris wieder ganz auf den Beinen war. Die Transplantate waren von seinem Körper ganz akzeptiert und angenommen worden, da er jedoch weiter auf Medikamente angewiesen war und dadurch weniger belastbar war, verlor er seinen Job als Polizist. Zwar hatte man ihm einen Schreibtisch Posten angeboten, doch da hatte er drauf verzichtet.
Er machte eine kleine Privatdetektei auf und begann so ein neues Leben an der Seite von Kyle.
Ihre Beziehung war durchaus ungewöhnlich, da sich beide nicht als schwul bezeichneten, was die Menschen in ihrem Umfeld zu tiefst verstörte. Sie hatten beide weiterhin lockere Beziehungen zu Frauen, doch gehörten sie beide tief verbunden zu einander. Ein Kuss morgens an der Tür  zum Abschied, oder abends im Restaurant zur Begrüßung, Hand in Hand durch die Stadt, den Park oder ein Geschäft zu schlendern, das Teilen des Bettes im Schlafzimmer in Kyles Haus, all das gehörte für sie zur Normalität, die sie sich geschaffen hatten. Die Lisa ihnen geschaffen hatte.

An Lisas Todestag standen die beiden Hand in Hand an ihrem Grab. Kyle hatte ihre Lieblingsblumen zu einem wunderschönen Gesteck verarbeiten lassen, welches sie vor dem weißen Marmorstein ablegten.
„Kyle, ich muss dir etwas sagen. Bitte versprich mir, dass du nicht wütend wirst.“ Kyle sah seinen Freund fragend an, nickte dann aber.
„Ich habe dir etwas verschwiegen, Lisa betreffend. Als sie meinen Körper übernommen hatte, konnte ich sehen, was ihr zugestoßen war. Sie hatte keinen Unfall. Sie wurde ermordet, weil sie Zeugin eines Mordes unter Gangmitgliedern wurde.“ Kyle sog scharf Luft ein, hielt sich aber zurück, da Chris offenbar noch nicht fertig war.
„Ich habe nichts gesagt, denn es gab keine Hinweise auf den Mord. Bei der Polizei würdest du auf taube Ohren stoßen. Niemand würde meiner Aussage glauben und die Berichte der Polizei und der Sachverständigen besagten alle, dass es ein Unfalltot war.  Ich habe aber die Täter gesehen. Durch ihre Augen. In ihrer Erinnerung. Ich habe die letzten Monate viel Zeit damit verbracht, in den Akten der Gang Task Force zu stöbern. Heimlich versteht sich. Und ich habe sie gefunden. Zwei von ihnen leben zumindest noch. Ich will Gerechtigkeit für Lisa, doch dafür brauche ich deine Hilfe. Hilfst du mir, dir und ihr zu helfen?“
Kyle starrte ihn eine ganze Weile wortlos an. An seinen Kiefern konnte Chris ablesen, wie sehr es in ihm arbeitete. Nach mehreren Minuten nickte Kyle.
„Natürlich.“ war seine schlichte Antwort.


San Diego Times – Montag, 14. Oktober 2014
Schießerei im Gangviertel
Gestern kam es zu einer Schießerei zwischen verfeindeten Straßengangs. Bei einem sogenannten Driveby wurden zwei Mitglieder der hiesigen „diablos rojos“ von mehreren Kugeln getroffen und verstarben noch am Unfallort.
Die Täter, vermutlich einer verfeindeten Gang angehörig, konnten unerkannt entkommen….

 

 

 

Impressum

Bildmaterialien: Brianna Keanny
Tag der Veröffentlichung: 30.09.2015

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