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Phase 1

 

Ud 56234/145

(terrestrisches Datum 14. April 2318)

 

Das Shuttle dockte ohne die geringste Erschütterung an der Raumstation an. Die Schleuse hinter den Türen gab ein lautes Zischen von sich, während sie mit atembarer Luft gefüllt wurde. Charles sah kurz durch die Heckscheibe zurück. Das Schiff war von dieser Position aus nicht mehr zu sehen, es verschwand hinter den Schwerkraftkompensatoren der Station. Als Botschafter Jopson einen energischen Schritt nach vorn machte, blieben die Schleusentüren noch verschlossen.

„Einen Moment bitte“, sagte der wachhabende Offizier des Transportdienstes über die Sprechanlage. „Wir stellen Ihnen einen Guide zur Seite, sobald einer verfügbar ist.“

„Als ob diese Station so anders wäre, dass man einen Fremdenführer braucht“, brummte der Botschafter. Charles sagte nichts dazu. Zum einen waren die Raumstationen der Vereinten Planeten grundsätzlich sehr ähnlich aufgebaut und man fand sich durch die Beschilderung schnell zurecht. Andererseits mussten sie sich bereits beeilen, um die Sitzung pünktlich zu erreichen. Den Konferenzsaal selbst zu suchen, würde Zeit kosten und eine unnötige Gefahr für den Botschafter bedeuten. Soweit Charles informiert war, hatte die Erde in Quadrant 54 zwar keine Feinde, aber sein Job bestand darin, den Botschafter vor jeder Gefahr zu beschützen. So unwahrscheinlich sie auch erschien. Wenige Minuten später begrüßte sie ein Grophioner förmlich auf der Station und bat den Botschafter, ihm zu folgen. Charles und sein Team wichen für den gesamten Weg keinen Schritt von seiner Seite. Botschafter Jopson war als Vermittler in eine Sitzung des Sicherheitsrates berufen worden. Da sie nicht im Hauptquartier der Vereinten Planeten sondern hier in einem eher unwichtigen Außenposten stattfand, war die Relevanz schwierig einzuschätzen. Worum genau es gehen sollte, wussten bis jetzt nur er und seine engste Mitarbeiterin. Celeste las immer noch unablässig auf ihrem Tablet. Wie sie es fertig brachte, dabei niemals zu stolpern, war Charles schleierhaft.

„Bitte treten Sie ein“, sagte der Empfangsoffizier und wies auf große automatische Türen am Ende des Ganges, die zu beiden Seiten von Wachleuten flankiert wurden. Die Grophioner fühlten sich in ihren Uniformen offenbar nicht ganz wohl. Einer von ihnen zupfte unruhig am Kragen seiner Jacke. Charles überholte den Botschafter, um einen halben Schritt vor ihm den Konferenzsaal zu betreten. Sämtliche Gesichter wandten sich zu ihnen um. Auf die Schnelle zählte er sieben grophionische Wachen und mindestens ein Dutzend bewaffneter Leibwächter der Sitzungsteilnehmer. Außer der großen Tür hinter ihnen gab es nur einen weiteren Ausgang aus dem Saal. Im vorderen Teil des Raums stand ein langer gewundener Tisch mit drei Sitzen, dem gegenüber mehrere Reihen Stühle für Zuhörer.

„Ich heiße Sie im Namen der Vereinten Planeten Willkommen, Botschafter Jopson von der Erde. Bitte setzen Sie sich.“ Der R’luker, der die Sitzung moderierte, wies auf den freien Platz zu seiner Linken am großen Tisch. Seine Spezies gehörte zu den Gründern der Union und war in jedem Rat vertreten. Genauso wie die Sertiotiden, deren Vertreterin rechts vom Moderator saß. Der dritte Platz wurde in der Regel möglichst neutral aufgefüllt. Dieses Mal war die Erde an der Reihe. Als Zuhörer befanden sich Grophioner im Saal, um deren Planeten sie kreisten, Taurunen und eine weitere Spezies, die Charles noch nicht bekannt war. Ihre Haut ähnelte dem Chitinpanzer von terrestrischen Insekten. Er und sein Team stellten sich zu den taurunischen Leibwächtern an die Wand, während Celeste mit ihrem Tablet einen Sitzplatz an der Seite des Botschafters zugewiesen bekam. Die zweite Tür zum Saal öffnete sich und die Huzip-Delegation trat ein. Charles hatte erfahren, dass sie dringend um diese Sitzung gebeten hatten. Es hieß, ihr Planet wäre evakuiert worden. Offizielle Informationen gab es jedoch noch nicht.

„Willkommen, Botschafter von Huzip 2“, sagte der Moderator. „Mit Ihnen sind wir vollzählig. Die Sitzung kann beginnen.“

Der huzipianische Botschafter bedeutete seinen Begleitern, sich auf den freien Stühlen in der ersten Zuhörerreihe niederzulassen. Er selbst blieb stehen. Auf Charles wirkte er erschöpft aber rastlos.

„Zur Information der Gäste und unserer Gastgeber möchte ich die neuesten Ereignisse zusammenfassen“, begann der Moderator. „Die Sonne des Huzip-Systems ist auf unerklärliche Weise erloschen. Die Folgen für das Planetensystem sind katastrophal, wie sie sich vorstellen können. Der Abfall von Temperatur und Gravitation erlaubt kein Überleben mehr. Die Huziper sind bereits offiziell zu einer bedrohten Spezies erklärt worden.“

Auf seinen Bericht folgte drückende Stille. Die Blicke der Anwesenden hefteten sich auf die Huzip-Delegation. Charles bemerkte nebenbei, dass zwei der Chitin-Aliens ihre Kopfantennen miteinander verschränkten.

„Darf ich mich nach dem Befinden Ihrer Bevölkerung erkundigen?“, fragte die Sertiotidin.

„Den Umständen entsprechend“, gab der huzipianische Botschafter müde zurück. „Jeder Einzelne von uns hat seine Heimat und viele Angehörige verloren.“

„Wir alle bedauern Ihren Verlust zutiefst“, erwiderte die Sertiotidin. „Ich hoffe, die Hilfslieferungen sind bereits eingetroffen?“

„Ja, danke.“ Der Botschafter streifte seine Kapuze ab. Seine graue Haut war mit metallisch glänzenden Schuppen durchsetzt, sichtbare Ohrmuscheln besaß seine Spezies nicht. „Genug der Höflichkeiten, wenn es recht ist. Ich habe um diese Sitzung gebeten, weil es eine akute Bedrohung gibt. Das plötzliche Erlöschen unserer Sonne war kein Zufall.“

„Ist es ein physikalisches Phänomen, das auch andere Sterne treffen könnte?“, fragte Botschafter Jopson. Einer der Huziper erhob sich von seinem Stuhl, um das Wort zu ergreifen. „Nein, es gab in den letzten vierzig Zyklen keine Unregelmäßigkeiten in den Aktivitäten unserer Sonne. Kernfusionsrate und Wärmeabgabe waren im Rahmen der normalen Sternentwicklung konstant.“

„Was soll es sonst gewesen sein?“, fragte die Sertiotidin verunsichert.

„Jemand, den wir ärgerlicherweise nicht identifizieren können. Sie haben unserer Sonne die Energie entzogen und sind verschwunden.“

Wieder trat eine kurze Pause ein. Charles verstand nicht sehr viel von Energiegewinnung, aber die Theorie der Huziper klang unvorstellbar. Die anderen Zuhörer schienen es nicht glauben zu wollen. Botschafter Jopson räusperte sich leise. „Mein Heimatplanet wird zu über 80 Prozent mit Solarenergie versorgt und bestimmt nutzen auch einige der Anwesenden diese Form der Energieversorgung.“

Ein zustimmendes Raunen ging durch den Raum.

„Aber wir nutzen nur die Strahlung. Erlauben Sie mir die Bemerkung, dass noch niemand einen Weg gefunden hat, einen Stern an sich anzuzapfen. Ihr Physiker kann Ihnen besser als ich erklären, warum die Kettenreaktionen im Innern eines Sterns nicht kontrolliert nutzbar sind. Wie sollte dann jemand die gesamte Energie einer Sonne auf einen Schlag extrahieren können?“

Der huzipianische Botschafter gab ein knurrendes Geräusch von sich, das Charles seiner Muttersprache zuordnete. Der Huziper an seiner Seite erwiderte etwas, das ähnlich klang. Sie starrten sich einen Augenblick an. Dann fuhr der Botschafter in Unilangue fort. „Wir können es nicht erklären, aber es ist die einzige Möglichkeit. Glauben Sie mir, dass meine Wissenschaftler zuvor jede natürliche Ursache ausgeschlossen haben!“

Die Taurunen begannen, miteinander zu flüstern. Ihr Planetensystem lag der erloschenen Sonne von Huzip am nächsten. Auch das Grophion-System trennten nur wenige Lichtjahre vom Ort des Geschehens. Ihr Vertreter erhob sich von seinem Zuhörerplatz. „Haben Sie irgendein Indiz, das diese Theorie unterstützt?“

„Noch nicht. Sobald die wenigen Überlebenden meiner Spezies an einem sicheren Ort sind, werden wir alles daran setzen, den Schuldigen zu finden.“

Das Gemurmel im Saal wurde lauter. Die Chitin-Aliens hatten sich mittlerweile alle über ihre Antennen verbunden, gaben jedoch keinen Laut von sich. Der Moderator bat um Ruhe im Saal.

„Ihr Antrag auf einen Kolonieplaneten wird mit Hochdruck bearbeitet“, versicherte er den Huzipern. „Ein für Ihre Spezies hervorragender Planet in diesem Quadranten wird bereits überprüft. Aber ich bitte Sie dringend, von aggressiven Handlungen abzusehen, solange wir nicht wissen, womit wir es zu tun haben.“

„Das ist die Politik von R’luk, nicht wahr? Abwarten statt handeln“, gab der huzipianische Botschafter wütend zurück. „Was, wenn diese Aliens Ihre Sonne vernichten? Beobachten Sie sie dann auch noch?“

„Er hat recht. Wir dürfen nicht zu lange warten.“

Die Unterstützung kam aus der Grophion-Delegation. Charles straffte die Schultern. Die Diskussion nahm Fahrt auf.

„Überhastete Handlungen sind meinem Volk fremd, das ist wahr“, gestand der Moderator ein. „Ich wollte damit sagen, dass Huzip trotz der dramatischen Umstände an die Konventionen der Vereinten Planeten gebunden ist. Sollte es sich um eine parasitäre Alienrasse handeln, die für dieses Unglück verantwortlich ist, sind Sie verpflichtet, ein Gerichtsverfahren vor dem Obersten Rat anzustreben, statt Selbstjustiz zu üben.“

„Parasiten?“, fragte der Botschafter ungläubig. „Wären es Parasiten, hätten wir wohl schon von ihnen gehört!“

„Vermuten Sie etwa einen gezielten Angriff?“, fragte der Moderator fassungslos. Charles verstand seine Verwirrung. Die R’lukeen waren das friedlichste Volk im ganzen Universum. Sie hatten in ihrer immens langen Geschichte nachweislich nie Waffen besessen. Dass man Werkzeuge wie Hämmer und Messer auch zum kämpfen benutzen konnte, kam ihnen überhaupt nicht in den Sinn. Auch Kriminalität hatten sie erst durch den Kontakt mit anderen Spezies kennengelernt.

„Ja, das befürchte ich. Sonst hätte ich wohl kaum den Sicherheitsrat einberufen.“ Der huzipianische Botschafter war mit seiner Geduld langsam am Ende. „Wer ist bereit, uns zu unterstützen?“

„Es gibt keinen Beweis für Ihre Theorie“, hielt der Moderator dagegen. „Ich bitte Sie dringend, Ruhe zu bewahren. Niemand hat Ihnen den Krieg erklärt.“

„DIE HABEN UNSERE WELT VERNICHTET!“

Der Botschafter atmete angestrengt durch. „Und das soll keine Kriegserklärung sein?“

Der Moderator schien ratlos zu sein.

„Was sonst?“, bohrten die Huziper auf den Zuhörerstühlen nach.

„Dürfte ich einen Vorschlag zur Güte machen?“, mischte sich Botschafter Jopson ein. Alle sichtbaren Augen richteten sich auf ihn. Charles bemerkte trotzdem, dass die grophionischen Wachleute ihre Waffen entsicherten, um die aufgebrachten Huziper in Schach halten zu können.

„Noch sind Ihre Überlebenden schwer angeschlagen und brauchen Zeit, um sich zu erholen. Was halten Sie davon, wenn ab sofort ein unabhängiges Ermittlerteam die Sache übernimmt?“

„Bestehend aus wem?“, fragte der huzipianische Botschafter misstrauisch.

„Aus erfahrenen Physikern und Beobachtern von Krisensektoren. Im besten Fall sogar mit militärischer Erfahrung, um festzustellen, ob es wirklich ein Angriff war. So kommen wir hoffentlich schnell zu einem Ergebnis.“

„Würden Sie meinen leitenden Solartechniker in diesem Team zulassen?“, wollte der Huziper wissen und wies mit einer dreigliedrigen Hand auf seinen Begleiter, der sich über die Aktivitäten ihrer Sonne geäußert hatte.

„Bei allem Verständnis. Ihr Techniker wäre sicher ein wertvolles Team-Mitglied, aber angesichts der Situation kann er nicht neutral urteilen“, sagte Jopson geduldig.

„Ich muss den Übrigen meiner Spezies so schnell wie möglich eine Erklärung liefern“, hielt der Botschafter dagegen. „Wenn ich jemanden mit Ihrem Team schicken kann, spart das viel Zeit und Ressourcen, über die Huzip im Moment nicht verfügt.“

„Ich verstehe“, mischte sich der Moderator ein. „Ihrer Bitte wird entsprochen.“

Jopson hob eine Braue. Normalerweise war dies ein Zeichen für einen skeptischen Einwand, doch er schwieg. Immerhin war es ihm gelungen, die Situation ein wenig zu beruhigen. Charles beobachtete, dass sich einige Teilnehmer auf ihren Stühlen zurückgelehnt hatten oder wieder regelmäßiger atmeten. Es erstaunte ihn manchmal, wie ähnlich sich die diversen Spezies des Universums sein konnten, wenn man sie nur genau genug im Auge behielt. Eines der Chitin-Aliens löste seine Antennen vom Kopf seines Sitznachbars und erhob sich. Es hob einen Kommunikator hoch.

„Disven möchte sich an der Ermittlung beteiligen“, sagte die elektronische Stimme aus dem Gerät. „Unsere Wissenschaftler beschäftigen sich seit Jahrzehnten mit Sternenhüllen.“

„Das ist sehr hilfreich. Ich danke Ihrem Vertreter“, sagte der Moderator und vollführte eine ausladende Geste, die das Chitin-Alien im auffälligsten Gewand wiederholte.

„Stellt Ihre Welt auch jemanden, Herr Botschafter?“, fragte der Huziper interessiert. Jopson nickte nachdenklich. „Ich möchte meinen Sicherheitschef und meine Begleiterin vorschlagen.“

Celeste sah überrascht von ihrem Tablet auf. Der huzipianische Botschafter musterte erst sie und dann Charles.

„Und was qualifiziert Ihre Leute für diese Aufgabe?“, fragte er skeptisch. Jopson ließ sich wie immer nicht aus der Ruhe bringen. Er legte Celeste eine Hand auf die Schulter. „Unterschätzen Sie sie bitte nicht, weil sie jung ist. Celeste wird über jedes noch so kleine Detail genauestens berichten. Mein Sicherheitschef war sieben Jahre lang Offizier in der Flotte der Vereinten Planeten und im Einsatz, als Sobianga 7 gegen die Tredds verteidigt werden musste. Im Gegensatz zu mir hat er Schlachtfelder mit eigenen Augen gesehen und kann prekäre Situationen bestens einschätzen.“

Charles erwiderte den Blick des huzipianischen Botschafters erneut so neutral wie möglich. Er hielt nicht viel von ihm und Celeste, so viel stand fest. Statt seine Bedenken zu äußern, verabschiedete sich der Botschafter und führte seine Delegation hinaus.

„Wir informieren Sie über die weiteren Schritte, sobald das Ermittler-Team vollständig ist“, versprach der Moderator den übrigen Gästen. „Damit ist die Sitzung bereits beendet. Ich danke Ihnen für Ihr Erscheinen und wünsche Ihnen eine sichere Heimreise.“

 

„Was denkst du?“, fragte Celeste leise, als sie gemeinsam auf die Verabschiedung von Botschafter Jopson warteten. Er stand am anderen Ende des Gangs und unterhielt sich noch mit der Vertreterin von Sertio 4, die der Sitzung beigewohnt hatte. Charles‘ Team umringte die beiden in der üblichen Aufstellung. Der Sicherheitschef und Celeste hatten ihr Gepäck geholt und warteten an der Shuttle-Rampe auf ihren Flug. Sie würden im nächsten Sektor auf ein Forschungsschiff der Vereinten Planeten gehen.

„Die Huziper sind verzweifelt und ich möchte nicht wissen, wozu sie das treiben könnte. Hoffentlich finden die Wissenschaftler eine natürliche Erklärung für das Erlöschen ihrer Sonne.“

„Da stimme ich dir zu“, murmelte Celeste und klammerte die Finger fester in den Gurt ihrer Tasche. Seit Jopson sie als Berichterstatterin vorgeschlagen hatte, war sie ein wenig blass um die Nase. Charles verstand ihre Unsicherheit durchaus. Sie arbeitete erst seit 18 Monaten im Botschaftsdienst und war noch nie in einen Krisensektor gereist. Außerdem hatten sie erst in der vergangenen Woche ihren 24. Geburtstag gefeiert.

„Hast du Jopson gesagt, dass du Angst hast? Er lässt dich bestimmt zur Erde zurückkehren, wenn du dich dieser Aufgabe nicht gewachsen fühlst.“ Charles versuchte, es nicht nach einem Befehl klingen zu lassen. In Gefahrensituationen sollte Celeste ihm blind vertrauen, aber an dieser Stelle musste sie natürlich selbst entscheiden.

„Nein, habe ich nicht.“ Sie lächelte gezwungen. „Die Huziper sollen sehen, dass wir ihre Sorgen ernst nehmen. Also bleibt es dabei, was unser Botschafter gesagt hat.“

„Bist du sicher?“

Celeste nickte. „Ich schaffe das.“

„Gut.“

Botschafter Jopson verabschiedete sich per Handkuss von der Sertiotidin, die interessiert nach der Geste fragte.

„Es ist etwas aus der Mode gekommen, aber so verhält man sich auf der Erde gegenüber Damen“, erklärte der Botschafter freimütig. Charles erinnerte sich nicht, einen Handkuss jemals außerhalb der Geschäfte seiner Schutzperson gesehen zu haben, aber es schien der Sertiotidin zu gefallen. Sie schenkte ihm ein bezauberndes Lächeln, bevor sie ging. Anschließend kam Jopson zu ihnen.

„Sie sind abmarschbereit, wie ich sehe.“ Sein zuversichtliches Lächeln wandelte sich in besorgte Stirnfalten um. „R’luk wird niemanden schicken, aber Sertio 4. Ich hoffe, es gelingt Ihnen, mit ihrer Unterstützung für Ruhe zu sorgen. Dieser Huziper im Team bereitet mir Zahnschmerzen.“

„Ich werde ihn im Auge behalten“, versprach Charles.

„Darauf baue ich. Ich habe meine Bedenken nach der Sitzung geäußert, aber der werte Vertreter von R‘luk hat mich nur gebeten, mehr Vertrauen in andere Spezies zu haben. Die Huziper gelten schließlich allgemein als friedliebend.“

Dazu sagte der Sicherheitschef lieber nichts. „Wie häufig wird der Rat Berichte anfordern?“

„Täglich. Wenn Sie tatsächlich Hinweise auf einen kriegerischen Akt finden, stündlich.“ Der Botschafter überreichte Celeste ein Tablet. „Sie und nur Sie werden dem Rat berichten. Keine andere Information wird Ihr Schiff verlassen. Sie verstehen?“

„Ja.“ Sie nahm das Gerät entgegen. „Ich werde so sachlich wie möglich bleiben.“

„Ich weiß, dass ich mich darauf verlassen kann.“ Er wandte sich zu Charles um. „Ihnen vertraue ich seit Jahren mein Leben an und jetzt das von Celeste. Lassen Sie sie nicht aus den Augen.“

„Verstanden.“ Er hatte schon geahnt, dass diese Aufgabe Vorrang haben würde. Seine neue Schutzperson atmete merklich auf und löste sogar ein wenig ihre verkrampften Finger aus dem Gurt ihrer Tasche.

„Wir sehen uns nach Ihrer Mission auf Raumstation Q78/4. In diesem Quadranten gibt es ganze vier unbewohnte Planeten mit atembarer Atmosphäre, die man sich aufteilen könnte, aber natürlich streiten die Kiusi mit den Pa’ilern um die besten Kolonieplätze. Nach meinen Aufgaben dort warte ich auf Sie beide, so lange es dauert.“

„Danke, Botschafter.“ Charles reichte ihm die Hand. „Sie kennen meine Bedenken, wenn Sie sich ohne mich auf den Weg machen.“

„Und Sie wissen, dass ich Ihnen diese Aufgabe nur übertrage, weil ich keinen anderen Weg sehe und diese Sache in sicheren Händen wissen will“, gab Jopson unbeeindruckt zurück. Bei einer anderen Gelegenheit hatten sie eine geschlagene Stunde darüber diskutiert, ob Charles ihn auf einer sehr weit abgelegenen Raumstation zurücklassen durfte, um einen r’lukeischen Gesandten sicher nach Hause zu begleiten. Der Weg hatte durch ein Gebiet geführt, in dem Raumschiffe immer wieder überfallen und Reisende verletzt oder sogar getötet wurden. Der Sicherheitschef war dagegen gewesen, aber Jopson hatte ihn damals auf diese Mission geschickt, um vom Obersten Rat der R’lukeen einen Gefallen erbitten zu können. Politik war Charles manchmal zu kompliziert und erschwerte seine Aufgaben immens. Aber er hatte daraus gelernt, dass er Entscheidungen dieser Art nicht in Frage stellen durfte, wenn Jopson sie einmal gefällt hatte.

„Ja, Sir“, sagte er schlicht und nickte seiner Stellvertreterin zu, die nur ein paar Schritte hinter dem Botschafter stand.

„Gute Reise“, entgegnete Jopson zufrieden. Dann machte er sich auf den Weg zur nächsten Shuttle-Rampe, um zu seinem Schiff gebracht zu werden. Ein Transportoffizier teilte ihnen über die Sprechanlage mit, dass das Shuttle bereit war, sie aber noch auf ein weiteres Mitglied des Ermittler-Teams warten würden. Charles schulterte seine Tasche und ging voran. Sie nahmen auf den Sitzen platz und warteten. Nach wenigen Minuten erschien ein Chitin-Alien von Disven. Seine Schritte verursachten ein lautes Klacken auf dem Boden des Shuttles, während seine Antennen beinahe die Decke streiften. Es trug ein schwarzes Gewand und an der linken Hand eine kleine Tasche. Etwas ungelenk setzte es sich auf die Sitze gegenüber, wobei seine Knie knackten.

„Ist Ihr Kommunikator aktiv?“, fragte Celeste mit einem höflichen Lächeln. Der Disvener zog ein kleines Gerät hervor.

„Bestätige“, antwortete eine Computerstimme, nachdem er eine Taste gedrückt hatte.

„Sie erlauben, dass ich meinen Begleiter kurz über Ihre Art zu kommunizieren aufkläre?“

„Bitte, fahren Sie fort.“ Die künstlich generierten Worte besaßen keine Betonung, was es unmöglich machte, die Stimmung des Aliens einzuschätzen. Charles war sich nicht einmal sicher, ob sie einem männlichen oder weiblichen Vertreter von Disven gegenüber saßen. Vielleicht gab es diese Unterteilung bei den Disvenern auch nicht. Celeste erklärte ihm, dass diese Spezies weder hören noch sprechen konnte. Stattdessen verbanden sie ihre Gedanken direkt über ihre Antennen.

„Sogar Erinnerungen und Gefühle können sie auf diesem Weg austauschen. Jede der vier Kopfantennen kann sich mit einem anderen Disvener verbinden. Mit uns können sie ausschließlich über technische Hilfen sprechen. Der Kommunikator setzt akustische Signale in Schrift um und umgekehrt.“

„Besitzt Ihre Spezies auch Geräte, die Gedanken direkt in Geräusche umsetzen können?“, fragte Charles das Alien. Es hatte die Erklärung auf seinem Tablet verfolgt und tippte blitzschnell etwas ein. Seine Hände endeten jeweils in zwölf feinen Gliedern. Damit war es auf einer Unilangue-Tastatur wohl schneller als jede andere Spezies. Nicht einmal Celeste würde ihm Konkurrenz machen können und Charles hatte niemanden sonst je so schnell in den 32 Buchstaben der universellen Sprache der Vereinten Planeten tippen sehen wie sie.

„Wir haben es versucht, aber ein Anschluss im Kopf ist sehr unangenehm und fehleranfällig. Vorerst bleiben wir bei dieser Kommunikation.“

„Verständlich.“ Celeste erkundigte sich anschließend nach einem jährlichen Fest, das offenbar zu den wichtigsten Traditionen auf Disven gehörte. Charles beteiligte sich nicht weiter am Gespräch, aber der jungen Botschaftsangestellten schien die Ablenkung sehr gut zu tun. Bis sie das Forschungsschiff namens Ordesa erreichten, entspannte Celeste sich ein wenig. Es handelte sich um ein sertiotidisches Schiff, das den Interessen der Vereinten Planeten zur Verfügung gestellt worden war. Außer den Ermittlern befanden sich Piloten, Techniker und medizinisches Personal an Bord. Sie waren aus einigen Spezies zusammengewürfelt wie auf jedem Unionsschiff. Die R’lukeen waren der festen Überzeugung, dass auf diesem Weg die Freundschaften zwischen den Welten der Union gestärkt wurden. Wie so oft trafen sie damit nicht überall auf Zustimmung, denn nicht jeder Mitgliedsplanet war bereit, Material und Arbeitskraft herzugeben. Charles war während seiner Zeit beim Militär auf einigen Unionsschiffen gewesen und konnte den R’lukeen nur zustimmen. Er hatte damals viele treue Kameraden kennengelernt. Im Stillen fragte er sich allerdings, ob es klug war ein Forschungsschiff ohne jegliche Bewaffnung auf diese Mission zu schicken.

 

Nach den Maßstäben der Erde war es Abend, als sich das Ermittler-Team zum ersten Mal versammelte. Das Schiff war mit maximaler Geschwindigkeit zum Huzip-System geflogen. Der Pilot manövrierte sie mit reichlich Sicherheitsabstand um die erloschene Sonne. Charles betrachtete den erkalteten, dunklen Körper durch ein Sichtfenster im Konferenzsaal. Der huzipianische Solartechniker starrte hingegen auf die Tischfläche, um nicht hinauszusehen. Es konnte ihn wohl jeder verstehen. Der Anblick war gespenstisch.

„Willkommen“, begann der Sertiotid, der von seiner Botschafterin hergeschickt worden war. Seine Spezies sah den Menschen relativ ähnlich, wenn man von der grünlich schimmernden Haut einmal absah. „Ich vermute, nicht jeder hatte Zeit, sein Memo zu lesen. Daher werde ich Sie kurz einander vorstellen.“

Die leisen Gespräche verstummten. Celeste legte ihr Tablet bei Seite.

„Ich bin Joul von Sertio 4. Zu meiner Linken sitzen die Wissenschaftler: Saren, ebenfalls aus meiner Heimatwelt, D4/978 vom Planeten der Boluven und…“ Er schaute kurz auf sein Tablet. „Ich hoffe, Sie verzeihen mir die Aussprache Ihres Namens. Gith’san Turrkol von Disven.“

„Es genügt, wenn Sie mich mit Gith ansprechen“, gab der Disvener über seinen Kommunikator durch. Joul nickte ihm dankbar zu. „Außerdem natürlich der leitende Solartechniker von Huzip 2. Wie dürfen wir Sie nennen?“

„Hendari“, sagte er leise. Der Huziper wirkte auf Charles sehr erschöpft, aber auch angespannt. Joul fuhr fort. „Zu meiner rechten die Beobachter: Charles Hastings und Celeste Renard von der Erde sowie Lirkan und Derton vom Planeten Ysert.“

„Sie sind die Einzige, die unsere Daten an den Sicherheitsrat übermittelt?“, fragte Hendari an Celeste gewandt. Sie bejahte.

„Danke für den Hinweis. Aus diesem Grund bitte ich Sie alle, Ihre Ergebnisse detailliert an Miss Renard weiterzugeben. Selbst wenn sie auf den ersten Blick unbedeutend erscheinen. Jede Kleinigkeit könnte sich in der ausführlichen Analyse als wichtig erweisen“, fuhr Joul fort.

„Verstanden“, bestätigte Gith. „Wo fangen wir an?“

„Gehen wir als erstes die Ergebnisse der Huziper durch. Hendari, bitte erläutern Sie kurz, was ihre Leute bisher herausgefunden haben.“

Der Solartechniker stand auf und aktivierte den großen Bildschirm an der Kopfseite des Tisches. „Dies ist eine Aufzeichnung aus unserem Zentralkraftwerk. Wir haben routinemäßig die Leistung unserer Kollektoren überprüft, als der Angriff geschah. Hier sehen Sie…“

„Entschuldigen Sie die Unterbrechung“, sagte Joul. „Noch wissen wir nicht, ob es ein Angriff war. Ich spüre Ihren Schmerz und Ihren Zorn, aber ich bitte Sie dringend, auch für andere Ergebnisse offen zu sein.“

„Natürlich“, gab der Huziper gezwungen zurück. Charles brauchte kein Empath wie die beiden Sertiotiden zu sein, um Hendari seine Frustration anzumerken. Die Aufzeichnung aus dem Kontrollzentrum des Kraftwerks zeigte, wie die Leistung der Sonnenkollektoren in etwa 20 Sekunden von 100 auf 0 Prozent gesunken war. Die Solartechniker hatten während dieser wenigen Sekunden fieberhaft nach einem technischen Defekt ihrer Anlagen gesucht.

„Das erschien uns naheliegender als die wahre Ursache“, kommentierte Hendari. „Wir konnten nicht sehen, dass das Sonnenlicht an sich verschwunden war. Das Kontrollzentrum besitzt keine Fenster.“

„Verständlich.“ Saren schaute wie gebannt auf den Bildschirm. „Gab es noch andere Alarmmeldungen als die aus dem Kraftwerk?“

„Ja.“ Der Huziper beendete die Wiedergabe. „Erdbeben erschütterten den gesamten Planeten, als unsere Sonne den Großteil ihrer Gravitation verlor. Unsere Energievorräte haben gerade noch den Start unserer letzten Schiffe erlaubt.“

„Aber Sie haben kein Schiff gesichtet? Oder ein sehr großes Lebewesen?“, wollte Lirkan wissen.

„Nein, nichts.“

„Ist ein messbarer Energiestrahl in irgendeine Richtung entwichen?“, fragte Saren.

„Unsere Sensoren haben nichts erfasst“, gab Hendari gereizt zurück. „Glauben Sie wirklich, wir hätten nicht danach gesucht?“

Die Sertiotidin stützte die Ellbogen auf die Tischkante. „Niemand zweifelt an Ihren Fähigkeiten. Aber nach dem Energieerhaltungssatz muss die Energie Ihrer Sonne irgendwo geblieben sein.“

„Angenommen, jemand hat sie gezielt extrahiert“, setzte D4/978 an. „Vielleicht kann es Energie dann auch in eine transportable Form umwandeln.“

„Worin wollen Sie die Energie einer Sonne speichern und unbemerkt mitnehmen?“, fragte Lirkan ungläubig.

„Das weiß ich noch nicht.“ D4/978 setzte die Kapuze ihrer Uniform ab, sodass ihre Hörner zum Vorschein kamen. „Wir haben es hier mit einem unbekannten Phänomen zu tun, also müssen wir es in Betracht ziehen.“

„Dem stimme ich zu“, knurrte Hendari.

„Auch eine so leistungsfähige Technologie müsste Spuren hinterlassen“, merkte Saren an. „Ich schlage vor, wir scannen die gesamte Oberfläche des Sterns.“

„Und die direkte Umgebung“, ergänzte D4/978.

„Wie lange wird das dauern?“, erkundigte sich Charles. Die Sertiotidin gab etwas in ihr Tablet ein. „Basierend auf den vorliegenden Daten, 12 Zyklen.“

„Geht das nicht schneller?“, fragte Hendari drängend. „Wenn wir erst jedes Staubkorn auf der Sonnenoberfläche umdrehen müssen, trifft es vielleicht schon den nächsten Stern, bevor wir ein Ergebnis haben!“

„Ich fürchte, nein. Ohne die Ursache zu kennen, kommen wir nicht weiter.“ Saren lehnte sich zurück. „D4/978 und ich werden die Scanner noch heute programmieren. Lassen Sie uns danach gemeinsam essen. Ich denke, Gesellschaft und Gespräche können Ihre Stimmung ein wenig bessern.“

„Nehmen Sie einfach die Programmierung vor. Ich bin nicht hier, um mich mit Ihnen anzufreunden.“ Hendari stand auf und marschierte aus dem Konferenzsaal. Es folgte betretenes Schweigen.

„Es war keine gute Idee, einen Huziper im Team aufzunehmen“, murmelte Lirkan. Derton tippte ihm mit zwei Fingern auf die linke Schulter und wies dann zur Decke. Die Yserter besaßen ähnlich wie die R’lukeen eine ausgeprägte Zeichensprache. Allerdings waren ihre Gesten weit weniger ausladend und schwieriger zu deuten. Charles konnte nur vermuten, dass Derton Lirkans Aussage missbilligte.

„Nehmen Sie ihm sein Verhalten nicht übel“, sagte Saren. „Sein Schmerz und seine Wut sind so groß, dass sie sein Wesen verändern. Ich spüre es.“

Celeste hob zögerlich die Hand. „Essen wir trotzdem zusammen?“

„Aber natürlich.“ Die Sertiotidin strahlte sie an. „Sie sind auch dabei, Mister Hastings?“

Charles bejahte.

„Dann treffen wir uns in 0,0625 Zyklen im Gemeinschaftsraum. Jeder ist willkommen.“

 

Das entsprach einer halben Stunde. Charles las solange die Memos über die Mitglieder des Teams. Die beiden Yserter würden nach Abschluss der Mission den längsten Heimweg haben. Ihr Planet lag im Quadrant 214. Sie besaßen Erfahrung mit Krisensituationen, seit ihre Kolonie mehrfach von abtrünnigen Jetrainern geplündert worden war. Außerdem hatten sie regelmäßig mit Asteroideneinschlägen zu tun. Lirkan und Derton brachte vermutlich nichts so schnell aus der Ruhe. D4/978 gehörte dem Wissenschaftsrat der Boluven an und hatte an der Entwicklung einer neuen Solaranlage für ihren Planeten mitgewirkt. Saren und Joul waren Ingenieure und betreuten ein Projekt zum direkten Energietransfer von ihrem Heimatplaneten zur Kolonie auf Sertio 6. Gith besaß mehrere wissenschaftliche Titel und Auszeichnungen und forschte im Moment offenbar an einer Methode, wie man die Wärme von Zwergsternen nutzen konnte. Über Hendari stand in dem Memo nichts weiter als seine Stellung als leitender Solartechniker. Wie erwartet erschien der Huziper nicht zum gemeinsamen Abendessen. Alle anderen waren mit Speisen und Getränken ihrer jeweiligen Planeten zur Stelle. Charles und Celeste saßen neben den beiden Sertiotiden. Sie hatten sich Sushi vom Schiffcomputer replizieren lassen, was Saren neugierig machte.

„Woraus genau besteht das?“

„Reis, Algenblätter und Fisch“, antwortete Celeste. „Es gibt aber noch zig andere Varianten. Möchten Sie probieren?“

„Gern!“ Die Sertiotidin kaute eine Weile auf den gewickelten Algen herum. „Ungewohnt aber gut.“

„Sollten Sie je die Erde besuchen, essen Sie echtes japanisches Sushi. Das ist noch wesentlich besser als das, was der Computer replizieren kann.“

„Das werde ich.“ Saren schob ihr eins der aalförmigen Gebilde hin, die sie und Joul verzehrten. Charles wusste, dass es eine herzhafte Teigspezialität namens Golm war, die auch Menschen schmeckte. Äußerlich ähnelte es allerdings einem riesigen Wurm mit zwei Flossen in schleimiger Soße. Celeste hatte offenbar keine Ahnung und trennte sich zuerst nur ein kleines Stück ab.

„Golme schmecken am besten im Ganzen“, merkte die Sertiotidin belustigt an.

„Es war also mal ein Tier?“, fragte die Berichterstatterin und lächelte etwas verkrampft.

„Lebend sondern sie vorzüglichen Schleim ab. Darin kochen wir sie.“

Celeste wollte sie natürlich nicht beleidigen und nahm tapfer ihr winziges Stück Golm in den Mund. Charles verkniff sich mit aller Macht ein Grinsen, wobei er bemerkte, dass Saren ihre Mimik noch besser im Griff hatte als er. Das war bemerkenswert für eine Sertiotidin. Ihre Spezies war durch ihre telepathischen Fähigkeiten daran gewöhnt, dass sie keine Geheimnisse voreinander hatten. Gefühle zu verbergen, gehörte beim besten Willen nicht zu ihren Stärken. Saren verzog jedoch keine Miene, bis Celeste geschluckt hatte. Langsam dämmerte ihr, dass die Sertiotidin sie aufs Korn genommen hatte.

„Einen Planeten, auf dem die Tiere aus Teig sind, muss ich unbedingt besuchen.“

Saren und Joul prusteten los. Auch D4/978 kicherte leise. Bei ihr klang es wie das Rasseln von Metallspänen.

„Entschuldigen Sie, bei Ihrem Ekel konnte ich nicht widerstehen“, brachte die Sertiotidin schließlich heraus. „Golm ist dem Gebäck auf der Erde in Zutaten und Zubereitung sehr ähnlich.“

Celeste nahm sich noch ein Stück. „Und es ist sehr lecker.“

D4/978 und Gith fragten, ob sie auch probieren durften. Saren holte kurzer Hand noch eine Portion aus dem Replikator und verteilte sie an alle. Nur Derton blieb lieber bei dem Gericht seiner Heimat. Es sah nach geräuchertem Fleisch aus. Nach und nach entwickelte sich ein reges Gespräch über typisches Essen, Gewohnheiten und schließlich über die Arbeit, der sie nachgingen.

„Ich hätte noch einen Vorschlag“, sagte Saren, als sich der Abend dem Ende neigte. „Wenn es allen recht ist, verzichten wir auf die förmliche Anrede in Unilangue. Wir sind ein Team, also können wir uns duzen.“

Damit waren alle einverstanden. In der Regel erleichterte es den Umgang und die Teamarbeit. Charles vermutete im Stillen, dass Hendari sich nicht darauf einlassen würde. Gith tippte etwas in seinen Kommunikator und sah dann ihn und Celeste an. „Welchen eurer Namen muss ich dann benutzen?“

„Den ersten.“ Celeste gähnte hinter vorgehaltener Hand.

„Für mich nur D4“, ergänzte die Boluvin.

„In unserer Sprache gibt es diese alberne Unterscheidung erst gar nicht“, merkte Saren an. „Aber die R’lukeen sind nicht davon abzubringen.“

„In manchen Erdensprachen gibt es auch eine Sie- und eine Du-Form.“

„Ihr habt keine einheitliche Sprache?“, fragte D4.

„Nicht auf dem ganzen Planeten.“ Charles stand auf. „Aber wenn wir versuchen, euch die alten Nationen der Erde zu erklären, schlafen wir heute überhaupt nicht mehr.“

„Das sollten wir aber. Gute Nacht“, sagte Saren. „Wir sehen uns morgen auf der Brücke oder direkt im Labor.“

 

In den ersten zwei Tagen, die die Scanner arbeiteten, geschah nicht viel. Celeste schrieb an ihren Berichten, die Wissenschaftler saßen vor ihren Bildschirmen und erstellten Analysen. Am Morgen des dritten Tages beschloss Charles, ins Labor zu gehen. Der Raum war klinisch weiß und enthielt einige Gerätschaften, die er nie zuvor gesehen hatte. Unter anderem einen großen Kubus, in dem Gith Versuche durchführte. Es blitzte hinter der Scheibe, als der Sicherheitschef mitten im Raum stehen blieb.

„Habt ihr schon irgendetwas Auffälliges entdeckt?“, fragte er. Saren machte eine ausschweifende Geste. „Um die gesamte Sonne herum schwirren Partikel, die ich noch nicht einordnen kann. Das Massenspektrometer hat eine extrem seltene Legierung ermittelt. Der Hauptbestandteil ist Biartium. Es kommt nur auf 3 Prozent der bekannten Planeten vor. Sie sind in Bewegung, daher kann der Scanner sie nur unregelmäßig erfassen.“

„Wo könnten diese Partikel hergekommen sein?“

„Nicht aus diesem System“, merkte Gith an. „Hier gibt es kein Biartium.“

„Hat sie ein Schiff auf der Durchreise verloren?“, fragte Charles.

„Unwahrscheinlich. Die Legierung ist sehr stabil. Es müssten massive Kräfte darauf eingewirkt haben, damit eine so große Menge an Partikeln abgestoßen wird.“ Saren fuhr sich mit den Fingerspitzen durch ihre dunklen Haare. „Eine Analyse auf molekularer Ebene lässt vielleicht Rückschlüsse auf ihre Herkunft zu. Aber dazu muss ich einige Partikel aufs Schiff holen.“

Der Sicherheitschef nickte. Dieser Sache gingen sie lieber sofort nach.

„Wie hoch schätzt ihr die Gefährdung durch unbekannte Strahlung ein?“, wollte er wissen.

„Unter 8 Prozent“, sagte Gith. „Die Container im Labor besitzen die höchste bekannte Versiegelungsstufe.“

„Gut. Können die Transporter die Partikel erfassen?“

Saren tippte etwas in ihr Display ein. „Negativ. Wir werden sie manuell einsammeln müssen.“

„Das werde ich übernehmen.“ Charles ging zu einem der Container für Funktionskleidung hinüber.

„Ich würde dich gern begleiten“, sagte Gith und erhob sich von seinem Sitz. Der Sicherheitschef betrachtete die Raumanzüge, die größtenteils auf Sertiotiden ausgelegt waren. „Nichts für ungut, aber wir haben wohl keinen Anzug, in den du mit deinen Antennen reinpasst. Und das hier sind standardisierte Stiefel.“

Der Disvener warf einen Blick auf seine 24 Fußglieder und dann in den Container. Obwohl er nichts sagte, wirkte die Neigung seiner Antennen, als wäre er enttäuscht. Charles nahm sich einen Anzug, der groß genug aussah und machte sich auf den Weg zur Schleuse im vorderen Teil des Decks. Saren folgte ihm mit einem handlichen Behälter aus dem Labor. Im Schleusenabschnitt blieben sie stehen.

„Die Handhabung ist sehr einfach. Mit diesem Feld öffnest du ihn und nach 5 Sekunden schließt er sich automatisch. Die Versiegelung hält an, bis ich ihn im Labor andocke.“

Er zog seine Jacke und Schuhe aus. „Alles klar.“

Die Sertiotidin half ihm in den Raumanzug und schloss das Versorgungskabel am Helm an. Nachdem sie die Sicherungsleine an seinem Brustgurt befestigt hatte, verließ sie die Schleuse. Während Saren die Startsequenz für die Abriegelung eingab, atmete Charles tief durch. Hinter ihm schloss sich das Schott zum Schiff. Anschließend wurde die Luft aus der Kammer gesogen und die Luke in der Außenhülle öffnete sich. Er stieß sich vom Rand ab in die Schwerelosigkeit. Dann zündete er die Schubdüsen seiner Stiefel, um das Partikelfeld zu erreichen. Es war bei Weitem nicht sein erster Ausflug ins All. Dennoch war Charles froh, kein Raum-Geologe oder Schiffsmonteur zu sein. Diese Art von Dunkelheit und Stille war auf die Dauer erdrückend.

„In euren Anzügen ist es ziemlich kühl“, sagte er über den Kommunikator.

„Deine Werte sind noch stabil, aber beeilen wir uns lieber“, erwiderte Saren. „Du bist jetzt im Partikelfeld. Öffne den Behälter.“

Charles berührte das Tastfeld. Während er die 5 Sekunden bis zur Versiegelung abwartete, betrachtete er die erloschene Sonne von Huzip erneut. Auf der Oberfläche hatten sich deutliche Risse aufgetan. Das Planetensystem war jetzt schon instabil. Was würde geschehen, wenn der Stern zerbrach? Charles würde D4 danach fragen, solange Saren und Gith mit den Partikeln beschäftigt waren. Der Behälter in seinen Händen leuchtete kurz auf, um seine Versiegelung anzuzeigen.

„Geschafft. Ich ziehe dich an der Sicherungsleine zurück.“

„Verstanden.“

Der Rückweg ohne Schubdüsen dauerte etwa eine Minute. Charles stieg durch die Luke ein und aktivierte die Magnetfunktion seiner Stiefel, um fest auf dem Boden zu stehen. Erst dann begann die Schleusenprozedur. Saren stand bereits am Schott, als es sich öffnete. Sie nahm den Behälter entgegen und hob ihn auf ihre Augenhöhe. „Ich bin wirklich gespannt, was das ist.“

Charles setzte seinen Helm ab. „Geh ruhig schon ins Labor. Ich schaffe es allein aus dem Anzug.“

Die Sertiotidin schenkte ihm ein strahlendes Lächeln und machte sich auf den Weg.

„Woher weißt du, dass ich es kaum erwarten kann? Stammt einer deiner Vorfahren von meinem Planeten?“, fragte sie mit einem Blick über die Schulter.

„Nein, aber die Mutter meiner Partnerin.“

„Du musst mir später von ihr erzählen.“

Und schon hatte sie den Transporterraum verlassen. Der Sicherheitschef nahm es ihr nicht übel. Je schneller sie die Partikel analysierte, desto besser. Nach und nach fand er die Verschlüsse des Anzugs auf seinem Rücken. Erleichtert zog er seine Schuhe und Uniformjacke wieder an und begab sich auf die Brücke. D4 saß wie erhofft an der Scanner-Konsole. Charles nahm neben ihr Platz. „Was ergeben die Daten über die Struktur der Sonne?“

„Das wenige, das übrig ist, besteht aus Kohlenstoff, Eisen und ein paar anderen schweren Elementen. Die Gashülle wurde teils abgestoßen, als die Kernfusion unterbrochen wurde, und verflüchtigt sich sukzessive. Sie verliert ihre Masse.“

„Wird der Stern zerbrechen?“

„Ich fürchte ja. Die Oberfläche ist durch die schnelle Abkühlung extrem instabil.“

„Wie viel Zeit haben wir noch?“, wollte Charles wissen. D4 ließ ihre krallenartigen Fingernägel auf dem Rand ihrer Konsole klacken. Erst bei genauerem Hinsehen fiel auf, dass jedes einzelne ihrer vier Hörner mit filigranen Gravuren verziert waren.

„Bei der jetzigen Rate wird es noch 42 Zyklen dauern, bis die kritische Masse unterschritten ist. Bis dahin müssen wir das System verlassen haben.“

„So lange wird unsere Untersuchung hoffentlich nicht dauern.“

Schließlich entsprachen 42 Zyklen ganzen 14 Tagen auf der Erde. D4 verneinte. „Der Scan läuft planmäßig.“

„Was passiert mit den Planeten?“

„Sie entfernen sich bereits von ihrer Sonne. Ich denke, sie driften durch den Raum, bis sie von neuen Gravitationsfeldern erfasst werden. Oder sie werden von anderen Körpern getroffen und bersten. Das ist in diesem Quadranten leider nicht unwahrscheinlich. Celeste weiß für ihren Bericht schon Bescheid. Die Union muss das beobachten. Immerhin sind es sieben Planeten.“ Sie schaute besorgt auf das Display. „Es wird zwar Jahre dauern, aber für das Grophion-System könnte es bedrohlich werden. Genauso für die Taurunen.“

„Verstehe. Bitte ruf mich sofort, falls sich der Prozess beschleunigt.“

Sie klopfte einmal mit den Fingerknöcheln gegen ihre Hörner, was auf ihrem Planeten wohl Bestätigung bedeutete. Charles wollte gerade aufstehen, als Saren schon auf die Brücke kam. Ihrer Miene war anzusehen, dass sie höchst zufrieden war.

„Das ging schnell“, merkte der Sicherheitschef an, als sie sich schwungvoll auf ihren Sitz fallen ließ.

„Die Partikel weisen auf molekularer Ebene den exakt gleichen Aufbau auf, folglich stammen sie aus derselben Quelle. Woher genau, kann ich noch nicht sagen, aber Gith programmiert gerade einen molekular-spezifischen Energiestrahl, der die Teilchen gezielt anregt und damit sichtbar machen wird. Gleich sehen wir das ganze Feld auf dieser Seite der Sonne, ohne dass Partikel vom Bildschirm verschwinden.“

Charles stellte sich zu ihr an die vordere Scanner-Konsole, um einen besseren Blick auf den Hauptbildschirm zu haben. Der Pilot neben ihr korrigierte wieder einmal den Kurs. Anschließend sah auch er interessiert auf.

„Programmierung abgeschlossen“, meldete Gith aus dem Labor.

„Sehr gut.“ Saren aktivierte den Strahl. Für kaum eine Sekunde trat ein diffuses Leuchten um die erloschene Sonne auf. Charles hob skeptisch die Brauen. „Konntest du etwas erkennen?“

„Nein, aber der Computer hat eine Aufzeichnung erstellt.“ Sie gab einen Befehl auf ihrem Display ein. „Und hier ist das Bild. Wir können uns wie in einem dreidimensionalen Modell bewegen.“

„Es sieht aus, als würde der Hauptteil der Partikel einen Ring um die Sonne bilden“, merkte D4 an.

„Das denke ich auch.“ Saren führte die Ansicht an der gerade verlaufenden Linie entlang.

„Kann so eine Anordnung zufällig entstehen?“, wollte Charles wissen. Es erinnerte ihn an die Ringe des Saturns.

„Ich fürchte, nein. Vor dem Erlöschen der Sonne gab es weder diesen Ring noch Biartium in diesem System.“ Ihre Zufriedenheit über ihre Entdeckung war schlagartig verflogen. Der Sicherheitschef verschränkte die Arme vor der Brust. Eine natürliche Ursache für das Erlöschen der Sonne mussten sie nun wohl ausschließen. Die gleichmäßige Ringform wurde nur an einer Stelle unterbrochen. Dort verstreuten sich die Partikel scheinbar wahllos in jede Richtung.

„Was ist das für ein Feld?“, fragte D4.

„Gute Frage. Kann der Computer anhand der Bewegungsrichtung der Partikel zurückrechnen, wie sie angeordnet waren, als die Sonne gerade erst erloschen ist?“, fragte Charles.

„Ja, einen Moment.“ Saren gab den Befehl ein. Die Berechnung dauerte ein paar Sekunden, dann ergab sich ein deutliches Bild. Die Boluvin knurrte etwas in ihrer Sprache, das nach Entrüstung klang. Charles atmete nur tief durch. Die Partikel bildeten den Umriss eines Schiffs ab.

„Wir sollten die anderen rufen“, sagte Saren, als sie sich wieder gefangen hatte.

 

In wenigen Minuten hatte sich das gesamte Ermittler-Team auf der Brücke versammelt. Celeste fing sofort mit ihrem nächsten Bericht an. Obwohl sie nichts gesagt hatte, tätschelte Saren ihr aufmunternd die Schulter.

„Ich wusste es“, knurrte Hendari grimmig. „Und nun?“

„Wir haben lediglich den Beweis, dass ein Schiff hier war. Das heißt noch nicht, dass es dem Täter gehört. Wir geben die Information an den Sicherheitsrat und warten auf neue Anweisungen.“ Joul ließ sich auf seinem Sitz nieder. Der Huziper fuhr zu ihm herum. „Wir haben hier schon viel zu viel Zeit verschwendet! Wir müssen dieses Schiff verfolgen!“

„Können wir das überhaupt?“, wollte Lirkan wissen. Saren wiegte den Kopf hin und her. „Da sind noch weitere Partikel.“

Sie aktivierte den Strahl ein zweites Mal, legte das Bild aber nicht auf den Hauptbildschirm. Charles stand immer noch neben ihr und konnte auf ihrem Display sehen, dass die Partikel in eine Richtung wiesen.

„Ja, wir könnten es versuchen“, sagte sie und sah verunsichert über die Schulter zu ihrem Forschungskollegen.

„Unabhängig davon stimme ich Joul zu“, warf Charles ein. „Dieses Schiff besitzt keine Bewaffnung und nur Standardschilde. Sollten uns die Partikel nicht nur zu einem Zeugen, sondern zum Täter führen, können wir ihm nichts entgegensetzen.“

„Ich rede keinesfalls von einem Angriff“, hielt Lirkan dagegen. „Aber wenn wir der Spur folgen, sammeln wir vielleicht mehr Informationen.“

„Einen Versuch ist es wert“, stimmte Derton zu.

„Wenn ich etwas einwenden darf“, meldete sich der Pilot zu Wort. „Die Crew der Ordesa ist nicht auf eine Verfolgungsjagd vorbereitet. Uns wurde nur mitgeteilt, dass Sie den Stern vor uns untersuchen. Alles, was darüber hinausgeht, kann ich nicht befürworten.“

„Ich nehme Ihre Äußerung in meinen Bericht auf“, erwiderte Celeste. „Dann muss der Sicherheitsrat darauf eingehen und der Crew freistellen, ob sie auf dem Schiff bleiben will.“

„Ich danke Ihnen.“

Wie sich der Pilot gegebenenfalls entscheiden würde, war jetzt schon offensichtlich. Charles bat ihn, mit Hilfe von Sarens Aufnahme einen Kurs zu berechnen. Auch diese Daten flossen in Celestes Bericht ein. Nachdem sie ihn über das Verschlüsselungssystem des Rats verschickt hatte, auf das nur sie zugreifen konnte, hieß es warten. Gith verschwand wieder ins Labor. Die beiden Yserter fragten Joul, ob er ihnen das Antriebssystem des Schiffs zeigen würde.

„Aber natürlich“, gab der Sertiotid zurück und ging voran von der Brücke. Er war offenbar froh, etwas zu tun zu haben. Hendari schloss sich erstaunlicherweise an. Charles entschied, ihn lieber im Auge zu behalten, bis die Antwort des Sicherheitsrats übersandt wurde. Warum hatte der Huziper nicht beharrlicher darauf gepocht, das fremde Schiff zu verfolgen? Falls der Rat ihnen befahl, den Scan wie geplant abzuschließen und dann zur nächsten Raumstation zu fliegen, gab Hendari sich garantiert nicht damit zufrieden. Wie würde der Huziper reagieren? Sie erreichten das Maschinendeck. Joul zeigte ihnen den direkten Weg zum Antriebskern, der hinter abgedunkelten Scheiben lag.

„Dies ist die Antriebskammer“, begann er zu erklären und schaltete die Abschirmung transparent. Zum Vorschein kam ein bläulich-grüner schillernder Quader von etwa einem Kubikdezimeter, dessen Oberfläche von beweglichen Roboterarmen abgetragen wurde.

„Die Energiequelle besteht aus Varn-Kristall. Meine Vorfahren entwickelten Methoden, sie mit Säure aufzuspalten, um die chemische Energie zu nutzen. Die Formel dafür füllt mehrere Tablet-Bildschirme bei Standardeinstellung, daher möchte ich das nicht näher ausführen. Normalerweise sind die Aufspaltungsprodukte nicht mehr für die Energiegewinnung nutzbar und müssen entsorgt werden, aber auf unseren Schiffen haben wir dafür eine simple Lösung gefunden. Die Produkte werden direkt nach der Aufspaltung in Containern der Kälte des Raums ausgesetzt. Unter Zugabe einer weiteren Chemikalie rekristallisieren sie immerhin teilweise und können der Antriebskammer wieder zugeführt werden.“

„Warum betreibt ihr dieses Verfahren nicht auf eurem Heimatplaneten? Dann wäre euer Energievorrat quasi unendlich.“

„Auf Sertio 4 ist es zu warm. Es würde mehr Energie kosten, die Aufspaltungsprodukte ausreichend abzukühlen, als hinterher wieder gewonnen werden kann. Natürlich arbeitet eine Forschungsgruppe an dieser Sache. Unsere Kolonie auf Sertio 6 wird ein außerplanetoides Lagerungssystem aufbauen und dort könnten wir geeignete Container integrieren. Aber zurück zu unserem Antrieb. Theoretisch kann die Ordesa 150 Ud-Jahre von diesem Quader betrieben werden, bevor der Kristall ein kritisches Niveau erreicht.“

Das entsprach über 600 Jahren auf der Erde. Vorher würden die meisten anderen Teile des Schiffs erneuert werden, ganz zu schweigen von der Crew. Charles war die extreme Effizienz der Varn-Kristalle schon lange bekannt. Die beiden Yserter hingegen schauten Joul ungläubig an.

„In der nächsten Kammer findet der Aufspaltungsprozess statt?“, fragte Hendari.

„Korrekt.“

Diese besaß allerdings eine undurchsichtige Verkleidung.

„Die Bauweise Ihrer Antriebseinheit wirkt sehr… unzugänglich. Wie wird sie gewartet?“

„Das ist nur möglich, wenn der Prozess unterbrochen wird und der Antrieb für einen vollen Zyklus abkühlt. Das wäre im Moment denkbar ungünstig.“ An Jouls Tonfall hörte Charles, dass er sich unwohl fühlte. Der Huziper verabschiedete sich schon von der Führung und verließ das Deck.

„Was spürst du?“, fragte der Sicherheitschef so leise, dass nur Joul es hören konnte.

„Es ist schwierig, etwas außer seinem permanenten Zorn zu finden. Aber als er nach der Antriebswartung gefragt hat, steckte mehr als Neugier dahinter.“

„Will er uns sabotieren?“

„Das ergibt doch keinen Sinn. Wenn das Schiff lahmgelegt ist, können wir der Partikelspur nicht folgen“, wandte der Sertiotid ein.

„Richtig, aber dann besteht die Chance, dass der Sicherheitsrat ein anderes schickt. Und nach Celestes neuestem Bericht wird es im Gegensatz zur Ordesa bewaffnet sein.“

Joul erschauderte. „In der Nähe eines kollabierenden Planetensystems wären wir ohne Antrieb in Lebensgefahr. Was schlägst du vor?“

„Worüber flüstert ihr da?“, fragte Lirkan gereizt. „Auf Ysert sagt man; wo geflüstert wird, passiert nur Unglück.“

„Ähnliche Sprichwörter haben wir auch auf der Erde“, gestand Charles, um ihn zu beschwichtigen. Gegenüber den beiden Ysertern hatte keiner der Sertiotiden Bedenken und er selbst hielt sie ebenfalls für vertrauenswürdig. Er bedeutete ihnen, näher zu kommen. „Aber im Moment ist es notwendig. Joul ahnt, das Hendari irgendetwas vorhat. Könnt ihr beide ab jetzt das Maschinendeck überwachen?“

„Machen wir“, versprach Derton, während Lirkan ein undefinierbares Zeichen mit den Fingern formte.

„Der wird hier nichts anrühren.“

„Ich zeige euch ein paar Durchgänge zwischen den Räumen, die ihr kennen solltet“, sagte der Sertiotid. „Und falls ihr ihn wirklich bei irgendetwas erwischt, verletzt ihn nicht, wenn es sich vermeiden lässt.“

Darauf erwiderten die Yserter nichts, aber Joul atmete angestrengt durch. Was Lirkan und Derton gerade empfanden, gefiel ihm offenbar nicht. Charles verließ den Maschinenraum und ließ sich auf dem nächsten Display den Aufenthaltsort von Hendari anzeigen. Der Bordcomputer lokalisierte ihn in seinem Quartier.

„Möchten Sie Individuum Hendari kontaktieren?“, fragte der Computer.

„Nein. Anzeige beenden.“ Der Sicherheitschef ging zurück zur Brücke. Was auch immer der Huziper vorhatte, an den Ysertern würde er nicht unbemerkt vorbeikommen. Jetzt musste er nach seiner eigentlichen Schutzperson sehen. Celeste saß noch an ihrem Platz auf der Brücke, als er eintraf. Sie hatte die Hände unter die Oberschenkel geschoben und schaute gedankenverloren auf ihren Bildschirm. Charles setzte sich auf den Sitz neben ihr. „Geht es dir gut?“

„Hm?“ Sie wandte ihm überrascht das Gesicht zu. „Ja, es geht.“

„Du hast Angst.“

Celeste biss sich auf die Unterlippe. „Was denkst du? Wen finden wir, wenn wir dieses fremde Schiff tatsächlich aufspüren? Einen Zeugen oder einen Täter?“

„Ich weiß es nicht. Wenn der Rat die Crew freistellt, wie du gesagt hast, solltest du dich entscheiden, ob du auch gehen willst. Abgesehen von Hendari wird es dir niemand übel nehmen.“

Sie schüttelte den Kopf. „Ich bleibe. Diese Mission ist wichtig.“

„Das werden noch sehr viele deiner Aufgaben sein. Du musst mir nicht beweisen, dass du tapfer genug bist, um dieses Schiff zu verfolgen.“

„Aber ich will mich nicht vor der Verantwortung drücken“, hielt sie dagegen. „Darum geht es doch bei den Vereinten Planeten. Wirtschaftliche Interessen und diplomatisches Gerede hin oder her. Wenn andere dringend unsere Hilfe brauchen, sind wir zur Stelle. Und hier stehen ganze Sonnensysteme auf dem Spiel.“

Charles hob verblüfft die Brauen. Bisher hatte Celeste nur bewiesen, dass sie hervorragend Berichte schreiben, recherchieren und Jopsons Kommentare richtig interpretieren konnte. Ihre idealistische Überzeugung hatte sie noch nie geäußert. Er selbst hatte auch einmal daran geglaubt, aber seine Meinung war während seiner Zeit beim Militär stark ernüchtert worden. Vielleicht kam diese Erfahrung auch irgendwann auf Celeste zu, vielleicht aber auch nicht. Charles wollte sie in dieser Sache nicht beeinflussen.

„Wie du meinst“, sagte er schlicht.

„Willst du das Schiff verlassen?“

„Du bist meine Schutzperson. Daher brauche ich gar nicht darüber nachzudenken.“

Mit dieser Antwort war Celeste ihrer Miene nach nicht ganz zufrieden. „Sind alle deine Entscheidungen so einfach?“

Der Sicherheitschef hob beschwichtigend die Arme. Bevor er etwas erwiderte, lenkte sie ein Blinken auf ihrem Bildschirm ab. Sie öffnete die Nachricht und zog konzentriert die Brauen zusammen. „Der Sicherheitsrat hat geantwortet.“

Charles lehnte sich ein wenig vor, um die neuen Anweisungen mit zu lesen. Das Ermittler-Team hatte ab jetzt den Befehl, der Partikelspur zu folgen und dabei regelmäßig die Koordinaten der Ordesa mitzuteilen. Der Rat würde so schnell wie möglich ein weiteres Schiff zur Unterstützung schicken. Ohne Verstärkung sollten sie noch keinen Kontakt zu dem potenziellen Zeugen aufnehmen. Celestes Annahme über die Crew erwies sich als richtig. Sie aktivierte einen Kanal im Kommunikationssystem, sodass sie alle hören konnten. „Wir haben neue Befehle vom Sicherheitsrat. Ich bitte die gesamte Crew, sich im Konferenzraum einzufinden.“

 

Wie vermutet entschieden sich einige Crew-Mitglieder, die Ordesa zu verlassen, nachdem sie über die neue Situation aufgeklärt worden waren. Sie bestiegen das angekoppelte Shuttle und setzten Kurs auf die nächste Raumstation. Das Ermittler-Team musste demzufolge ab jetzt auch allgemeine Aufgaben wahrnehmen. Joul unterstützte die Techniker auf dem Maschinendeck, Gith besetzte die Scannerüberwachung auf der Brücke und Saren die Ingenieur-Einheit. Für Celeste wurde die gesamte Kommunikation auf ihren Arbeitsplatz umgeleitet. Lirkan und Derton blieben bei der Aufgabe, die ihnen im Vertrauen zugeteilt worden war, auch wenn sich ein weiteres Schiff auf dem Weg befand. Hendari verhielt sich extrem passiv, seit er den Antrieb der Ordesa besichtigt hatte und das machte ihn nicht weniger verdächtig. Charles übernahm kurzer Hand den Posten des Piloten. Mit Hilfe der molekular-spezifischen Strahlung, die der Disvener programmiert hatte, folgten sie den Partikeln aus dem Planetensystem. Dabei kamen sie jedoch nur langsam voran, da sie für die Anwendung des Strahls unter Lichtgeschwindigkeit bleiben mussten. Nach menschlichen Maßstäben war es etwa ein Uhr nachts, als Charles das Schiff ein weiteres Mal stoppte.

„Direkt vor uns haben wir eine diffuse Partikelwolke“, sagte Gith und legte das Bild auf den Hauptschirm. „Im Umkreis von 200000 Kilometern sind keine weiteren Partikel zu finden.“

„Sieht aus, als hätte das Schiff beschleunigt.“ D4 stützte den Kopf auf. Charles unterdrückte ein Gähnen. Ein Blick zu Celeste bestätigte ihm, dass ihr bereits die Augen zu fielen.

„Wir könnten den Kurs beibehalten und sehen, worauf wir stoßen. Oder wir suchen die nächstgelegenen Sonnensysteme ab“, schlug er vor.

„Vermutlich unsere beste Option. Aber lasst uns erst schlafen und morgen weitermachen“, sagte Saren. „Für jeden von uns ist der Tag schon lange beendet.“

„Ist das Schiff sicher, wenn wir alle die Brücke verlassen?“, fragte Celeste.

„Geht ruhig“, sagte Giths Kommunikator. „Meine Spezies braucht weniger Schlaf. Ich halte die Stellung.“

„Danke, Gith.“ Die Sertiotidin stand sofort auf. Celeste und D4 folgten ihr von der Brücke. Charles ging zu dem Disvener hinüber und wartete, bis sich die automatischen Türen hinter den anderen geschlossen hatten.

„Ruf mich bitte sofort, wenn etwas passiert.“

„Bestätige. Und ich werde mit der Analyse der Partikel fortfahren.“

„Das kannst du von hier aus?“, fragte Charles verblüfft. Der chitinbewährte Schädel des Disveners neigte sich nach vorn, als wollte er ein Nicken imitieren. Es knarzte laut und schien ihn anzustrengen. Dann tippte er wieder Text in seinen Kommunikator.

„Auf Zeichensprachen und Gesten ist meine Spezies physisch nicht ausgelegt. Wie kommt ihr damit bloß zurecht, ohne dass Fehler passieren?“

„Wir lernen von klein auf, die Gesten der anderen zu deuten. Dabei kommt es durchaus hin und wieder zu Missverständnissen. Bei der Übertragung über eure Antennen vermutlich nicht.“

„Verglichen damit ist unsere Sprache einfach und klar.“ Seine Antennen zuckten von links nach rechts und wieder zurück. „Jedenfalls habe ich die bisherigen Daten aus dem Labor in diese Konsole transferiert. Ich kann keine praktischen Versuche wie im Mikro-Teilchenbeschleuniger durchführen, aber ich werde hoffentlich mehr über die Beschaffenheit des Metalls herausfinden.“

Der Sicherheitschef verabschiedete sich und ging in sein Quartier. An den Betten merkte er jedes Mal, dass Sertiotiden-Schiffe auch ihre Nachteile hatten. Die Matratze fühlte sich an wie ein Nagelbrett. Nach kaum fünf Stunden wachte er wieder auf und kehrte auf die Brücke zurück. Giths 24 Fingerglieder flogen geschäftig über seine Konsole. Die anderen Crew-Mitglieder ließen noch auf sich warten.

„Guten Morgen.“ Charles rieb sich das Kinn. „Wie sieht es aus?“

„Einen Moment.“ Der Disvener starrte konzentriert auf seinen Bildschirm. Während er auf eine Antwort wartete, kontrollierte der Sicherheitschef die Position des Schiffs. Der Autopilot der Ordesa war bestens kalibriert. Sie waren nicht im Geringsten von ihrer letzten Position abgewichen. In dieser Hinsicht schlug niemand sertiotidische Schiffe.

„Sieh bitte auf den Hauptbildschirm“, sagte Giths Kommunikator. Charles hob den Blick. Es handelte sich um eine stark vergrößerte Aufnahme der Partikel. Ihre Oberfläche sah aus wie zerfetzt. Der Disvener gab einen Befehl ein, auf den sich einige der Partikel kreisförmig zusammenfügten.

„Gefunden haben wir abgesprengte Moleküle. Ich habe anhand der Bruchkanten eine theoretische Zusammensetzung zu einem Gesamten erstellt. Die Legierung ergibt keine homogene Masse“, erklärte er. „Innen befindet sich das extrem seltene Biartium, von dem Saren schon gesprochen hat. Es ist nur durch ein wenig Kor29 verunreinigt.“

Charles erinnerte sich dunkel, dass Kor29 die Bezeichnung für Kupfer in Unilangue war. Biartium kam nicht auf der Erde vor.

„Darum liegen nicht leitende Elemente wie eine Isolierschicht.“

„Also sehen wir hier den Querschnitt von einer Art Kabel?“

„Möglich“, bestätigte Gith. „Biartium ist extrem leitfähig, aber bisher ist es noch niemandem gelungen, es effektiv zu bearbeiten. Zumindest gibt es keine Aufzeichnungen in der Datenbank der Vereinten Planeten.“

„Wie ist es dann in diese Form gebracht worden?“

„Das ist eine gute Frage.“ Seine Antennen knickten im rechten Winkel ab. „Wenn ich einen Generator aus Biartium herstellen könnte, hätte ich die Lösung für mein Zwergstern-Projekt. Er würde die Hitzeumwandlung überstehen, ohne Schaden zu nehmen.“

Saren und D4 betraten die Brücke. Nachdem Gith sie über seine Theorie aufgeklärt hatte, musterten sie interessiert seinen Entwurf auf dem Hauptbildschirm.

„Einen Generator aus Biartium halte ich für möglich“, lautete Sarens Kommentar. „Aber wie willst du die Energie einer normal aktiven Sonne von dort aus weiterleiten?“

„Das weiß ich noch nicht“, gestand Gith.

„Spielt das überhaupt eine Rolle für die Verfolgung des Schiffs?“, fragte D4. „Oder bleiben wir bei Charles‘ Vorschlag von gestern?“

„Dazu kann ich nichts weiter sagen.“

Der Sicherheitschef hatte sich in der Zwischenzeit an seine Pilotenkonsole gesetzt. Er überprüfte, was vor ihnen im Raum lag, wenn sie ihren Kurs vom Vortag nicht änderten. „In 17 Lichtjahren treffen wir auf das nächste Sonnensystem.“

„Dann lasst uns dort anfangen.“ Saren streckte sich, bis ihre Gelenke knackten. Anschließend setzte sie sich an die Ingenieur-Einheit. „Es ist einen Versuch wert. Vermerken wir unsere jetzige Position und unser Ziel für Celestes nächsten Bericht.“

Celeste kam nur wenige Minuten später auf die Brücke, gefolgt von Joul und Hendari. Sie dokumentierte Giths neue Erkenntnisse und schickte ihren Bericht ab, als sie Sonnensystem 140 in Quadrant 67 erreichten. Die drei kargen Planeten umkreisten samt ihren Monden ihre Sonne. Es gab weder Anzeichen für Leben noch für Biartium, was den Großteil des Teams offensichtlich sehr erleichterte. Ganz anders sah es in Q67S141 aus. Charles überkam ein ungutes Gefühl, als die Scanner einige der Partikel bei den äußeren Planeten des Systems erfassten. Als Gith den modifizierten Energiestrahl ein zweites Mal aktivierte, um das direkte Umfeld der Sonne zu scannen, leitete er das Ergebnis sofort auf den Hauptschirm.

„Liegt da der erste Teil eines Partikelrings um die Sonne?“, fragte Saren entsetzt.

„Bestätige. Aber die Sonnenaktivität ist auf normalem Niveau.“

„Aber wo ist das fremde ...“ Weiter kam D4 nicht. Ein Schiff enttarnte sich zwischen ihnen und der Sonne. Es war kleiner als erwartet und besaß filigrane Tragflächen für den Flug durch Atmosphären. Die dunkle Oberfläche schimmerte metallisch im Sonnenlicht von Q67S141. Seine Form erinnerte Charles an eine Schwalbe. Genau diese Situation hatten sie meiden sollen, bevor das zweite Unionsschiff zu ihnen aufschloss. Weder Gith noch sonst jemand hatte wohl damit gerechnet, dass sie das verdächtige Schiff so schnell einholen würden.

„Und jetzt?“, fragte Saren atemlos.

„Fliegen wir weiter, als wäre nichts geschehen“, schlug D4 vor. „Dann können wir auf unsere Verstärkung warten.“

„Das kommt nicht in Frage!“, fuhr Hendari sie an. „Die haben unser System vernichtet und die werden auch diese Sonne vernichten!“

„Die Scanner registrieren Lebensformen auf dem vierten Planeten, falls das von Bedeutung ist“, merkte Gith über seinen emotionslosen Kommunikator an.

„Kennt jemand die Bauweise des Schiffs?“ Charles schlug bewusst einen ruhigen Ton an, um die Anspannung auf der Brücke nicht noch zu verschlimmern. Soweit er die Mitglieder seines Teams einschätzen konnte, lagen die Nerven blank.

„Nein. Die Schrift an der Seite ist ebenfalls unbekannt“, antwortete Joul.

„Keine Bewaffnung erkennbar, aber sie könnte sich zu sehr von den Parametern der Scanner unterscheiden“, ergänzte Gith. „Vermutlich verfügen sie über Sensoren und haben unsere Aktivitäten bemerkt.“

Celeste warf Charles einen nervösen Blick zu. „Was jetzt?“

Der Sicherheitschef biss sich auf die Unterlippe. Wenn sie den Vorschlag der Boluvin umsetzten, gelang es ihnen vielleicht noch, einen Konflikt zu vermeiden. Andererseits hatten sie jetzt noch die Chance, die Sonne und damit das Leben in diesem System zu schützen. Ihre bloße Anwesenheit hatte die Besatzung des fremden Schiffs zu einer Reaktion getrieben und immerhin war die Ordesa eindeutig als Unionsschiff gekennzeichnet. War das eindrucksvoll genug? Die Chance war gering, aber Charles wollte sie nicht ungenutzt lassen.

„Sende die Grußbotschaft der Vereinten Planeten. Ich versuche, mit ihnen zu reden. Wären wir diesen Leuten egal, hätten sie sich nicht enttarnt.“

Sie gab die entsprechenden Befehle in den Bordcomputer ein. Die gesamte Besatzung schien den Atem anzuhalten, während sich der Sicherheitschef vor den Bildschirm setzte.

„Hier spricht Charles Hastings vom Forschungsschiff Ordesa der Vereinten Planeten. Identifizieren Sie sich.“

Ein paar Sekunden geschah nichts. Dann erschien ein humanoides Gesicht auf dem Bildschirm. Seine aschfahle Haut sah der von Menschen relativ ähnlich. Seine Augen besaßen keine Unterteilung in Iris und Pupille, sie waren einheitlich schwarz. In seiner linken Wange trug es ein Implantat, das in regelmäßigen Impulsen aufleuchtete. Charles hatte weder eine Ahnung, welcher Spezies es angehören mochte, noch ob es ihn verstanden hatte. Vermutlich war es männlich. Seine schwarzen Augen starrten ihn ausdruckslos an, ohne zu blinzeln.

„Was kann ich für Sie tun, Charles Hastings?“, fragte er schließlich mit einer überraschend angenehmen, tiefen Stimme in perfekter Unilangue.

„Wir sind auf einer Aufklärungsmission bezüglich der Sonne des Huzip-Systems. Besitzen Sie Informationen darüber, wie sie plötzlich erlöschen konnte?“

Er neigte leicht den Kopf zur Seite. „Was hat Sie in dieser Sache ausgerechnet zu mir geführt?“

„Biartium-Partikel. Ihr Schiff war vor kurzem dort.“ Ob es in diesem Fall klug war, mit offenen Karten zu spielen? Charles suchte fieberhaft nach irgendeiner Regung im Gesicht des Fremden. Wenn sie tatsächlich das Alien gefunden hatten, das die Energie der Huzip-Sonne extrahiert und damit ein komplettes Planetensystem verwüstet hatte, war es sicher nicht zum Plaudern aufgelegt. Er starrte ihn jedoch nur unverändert an.

„Antworten Sie!“, sagte Hendari, der von seinem Sitz auf der Brücke aufgestanden war. Er umklammerte die Lehne seines Stuhls so fest, dass seine Fingerknöchel hervortraten. Charles bedeutete ihm mit einer Geste, sich zurückzuhalten. Er wollte auf keinen Fall einen Kampf gegen dieses Alien provozieren.

„Ich bitte Sie dringend, umzukehren“, sagte der Fremde leise aber bestimmt. Darin lag eindeutig eine Warnung. Trotzdem schaltete sich Celeste in das Gespräch ein, indem sie neben Charles platz nahm. „Unsere Task Force würde einen kriegerischen Akt gern ausschließen und Sie sind unser einziger Zeuge. Jede Information ist nützlich.“

Neutral und beharrlich. Botschafter Jopsons Art zu verhandeln hatte längst auf sie abgefärbt. Das Alien legte die Stirn in tiefe Falten. Die Impulse in seinem Wangenimplantat stiegen an.

„Es war kein kriegerischer Akt!“, gab er wütend zurück. Charles konnte sehen, dass Celeste jeden Muskel anspannte. Mit dieser Äußerung hatte das Alien indirekt zugegeben, für das Erlöschen der Huzip-Sonne verantwortlich zu sein.

„Auch dann muss ich Sie bitten, vor dem Sicherheitsrat der Vereinten Planeten zu erscheinen. Sie werden als akute Bedrohung empfunden.“ Ihre Stimme bebte. Das Alien senkte überraschenderweise den Kopf, als würde es resignieren. „Ich bedrohe weder Sie noch sonst irgendwen. Kehren Sie um.“

Der Nachdruck in seiner Stimme ließ einem die Haare zu Berge stehen. Der Huziper knurrte etwas Zorniges in seiner Sprache.

„Natürlich versteht ihr es nicht.“ Das Alien brach die Verbindung ab.

„Was?“ Der Sicherheitschef wandte sich ganz zu dem Huziper um. Hendari trat von seinem Stuhl zurück und rieb die Handrücken aneinander. „Er versteht uns auch noch.“

Das war erstaunlich aber nebensächlich.

„Was haben Sie gesagt?“

Er verzog das Gesicht, sodass seine Schuppen deutlicher hervortraten. Charles stand auf und ging ein paar Schritte auf ihn zu. „Dieses Schiff hat keine Bewaffnung. Wenn Sie gerade einen Kampf provoziert haben, sind wir alle geliefert!“

Hendari knurrte erneut etwas in seiner Sprache. Es schien ihn nicht sonderlich zu kümmern, was mit dem Team geschah.

„Huzip-Schiff nähert sich mit mehrfacher Lichtgeschwindigkeit“, sagte Gith.

Saren zückte ein transparentes Tablet und scannte den huzipianischen Techniker. „Er hat sie hergeführt. Er trägt ein Senderimplantat.“

„Großartig“, grollte Charles. So viel zum Thema Vertrauen in andere Spezies. Er hastete zurück zu seinem Platz an der Pilotenkonsole.

„Sie sind da. Schiff stoppt neben uns.“

Hendari verschwand augenblicklich in Beamsignalen.

„Sie haben jetzt ihre Schilde oben und laden ihre Waffen“, ergänzte Gith. Charles rieb sich die Stirn. Nur einen Versuch würde er noch machen.

„Celeste, stell eine Verbindung mit den Huzipern her.“

„Versuche ich schon längst, aber sie antworten nicht.“

„Huzip-Schiff eröffnet das Feuer.“ Gith stellte den Hauptbildschirm so ein, dass sie die Einschläge der Torpedos sehen konnten. Sie explodierten am Schild, dem Schwalbenschiff selbst geschah rein gar nichts. Charles setzte Kurs auf die nächste Raumstation.

„Was tust du da?“, fragte Joul fassungslos. „Wir müssen eingreifen!“

„Dafür ist es zu spät. Also bringe ich uns aus der Gefahrenzone. Gith, weitere Überwachung auf Hauptbildschirm.“

„Verstanden.“

„Aber…“, setzte Joul an. Der Sicherheitschef schüttelte kaum merklich den Kopf. Dank seiner empathischen Fähigkeiten verstand der Sertiotid trotzdem, dass sie diese Diskussion nicht weiter führen würden. Er verschränkte die Arme vor der Brust und schwieg.

„Was macht er denn jetzt?“, fragte Celeste entsetzt, weshalb Charles sofort wieder auf den Bildschirm sah. Gith vergrößerte die Ansicht des Schwalbenschiffs. Das Alien hatte eine Luke geöffnet und war auf die Tragfläche gestiegen. Ohne Raumanzug. Ohne Helm.

„Wie überlebt er das?“, murmelte Saren entsetzt. Charles aktivierte den Antrieb des Schiffs. Im gleichen Moment ging von dem Alien ein gleißend heller Impuls aus. Er breitete sich im Bruchteil einer Sekunde fächerförmig aus, bis er das Huzip-Schiff erreichte. Trotz seiner Schilde wurde es glatt gespalten.

„Es trifft uns!“, schrie Joul. Der letzte Ausläufer des Fächers durchschlug das Heck der Ordesa. Die Erschütterung war so heftig, dass Charles von seinem Stuhl geschleudert wurde und mit dem Kopf gegen eine Konsole prallte. D4 half ihm sofort auf. Trotzdem musste er sich an seinem Pilotendisplay festhalten. Sobald der Schwindel etwas nachließ, machte sich Schmerz in seinem Kopf breit.

„Schadensmeldung!“, forderte der Sicherheitschef immer noch benommen. Keine Antwort.

„Maschinenraum, melden Sie sich!“

Erst nach ein paar elend langen Sekunden wurde der Kommunikator aktiviert. „Antrieb und Energieversorgung wurden schwer getroffen. Die Varn-Kammer wird zunehmend instabil.“

Charles sah sich hilfesuchend nach Joul und Saren um. Sie hatten sich beim Aufschlag der fremden Waffe ebenfalls leicht verletzt, hatten jedoch zugehört.

„Wenn die Kristalle nicht mehr von der Kammer eingedämmt werden, gerät die Kettenreaktion der Aufspaltung außer Kontrolle und sie entladen sich immer schneller. Im schlimmsten Fall kommt es zu einer Explosion“, hauchte Saren verängstigt. Sie trieben hilflos im All und das feindliche Alien war auch immer noch in ihrer unmittelbaren Nähe.

„Hastings an alle, Schiff sofort evakuieren!“ Eine andere Möglichkeit, die Crew zu retten, sah Charles nicht mehr. Er verließ seinen Posten und eilte zu Celeste hinüber. Sie hockte zitternd auf ihrem Platz und sah mit geweiteten Augen zu ihm auf.

„Was habe ich falsch gemacht?“

Darüber würden sie später nachdenken. „Komm jetzt! Wir müssen es zu den Rettungskapseln schaffen, bevor die künstliche Schwerkraft versagt.“

Celeste stand sofort auf und folgte ihm und den beiden Sertiotiden von der Brücke. Joul und Saren kannten den schnellsten Weg und liefen voran. Gith blieb ihnen dicht auf den Fersen. Auf dem Korridor trafen sie auf Lirkan, der verzweifelt nach Derton suchte. Charles beschloss, ihn nach zu holen, wenn er noch die Gelegenheit dazu hatte. Seine Schutzperson besaß jetzt Priorität. Die Rettungskapseln befanden sich auf der mittleren Ebene des Schiffs. Im Lift hinunter atmeten sie alle kurz durch.

„Bilde ich mir das ein, oder wird die Beleuchtung immer heller?“, fragte Celeste. „Wir haben doch nur noch Notenergie.“

„Es liegt an den Kristallen. Sie überladen die Leitungen.“ Saren zupfte nervös am Kragen ihrer Jacke. Als sie die mittlere Ebene endlich erreichten, stießen sie auf einen Körper, der leblos vor den Lifttüren lag. Joul beugte sich über den Techniker, um nach seinem Puls zu fühlen. Saren zerrte ihn mit aller Kraft weiter. Wie sie einander anstarrten, ließ Charles vermuten, dass sie telepathisch diskutierten. Er schob Celeste weiter über den Gang. Ab hier war der Weg zu den Rettungskapseln eindeutig markiert. Sie bogen um die nächste Ecke. Einige Meter vor ihnen stiegen die Mediziner und die übrigen Techniker bereits in eine der Kapseln. Über die Rufe und Alarmtöne hinweg ertönte ein viel dumpferes, durchdringendes Geräusch, das Charles nicht einordnen konnte. Er warf einen Blick zurück. Gleißend helle, grünliche Lichtblitze zuckten durch das Innere des Schiffs. Die nächste Entladung traf ihn und Celeste.

 

Er kam hustend wieder zu sich. Charles tastete verwirrt um sich, bis er die Wand des Korridors fand. Sie fühlte sich viel zu warm an und war nicht mehr so glatt, wie sie sein sollte. Seine Kopfschmerzen kehrten so heftig zurück, er versuchte erst gar nicht, aufzustehen. Er kroch Zentimeter um Zentimeter in die Richtung, in der hoffentlich Celeste lag. Die Explosion hatte ihn so sehr geblendet, dass er kaum mehr als Umrisse erkannte. Trotzdem musste Charles weiter. Das Klingeln in seinen Ohren war so laut, dass es alles andere dämpfte. Nicht aufgeben. Ein dunkler Schatten vor ihm nahm langsam Gestalt an.

„Celeste!“ Er zerrte an ihrer Schulter, bis sie auf dem Rücken lag. Sie starrte ihn angsterfüllt an. Sie bewegte die Lippen, aber Charles konnte sie nicht hören. Ihre linke Hand griff nach seiner, erschlaffte jedoch. Celeste rührte sich nicht mehr. Er tastete nach ihrem Puls. Nichts. Ihre Augen waren offen aber leer. Zu spät. Er hatte versagt. Behutsam schloss Charles ihre Lider. Dann nahm er die Halskette an sich, die ihre Eltern zu ihrem Geburtstag geschickt hatten. Er dachte nicht darüber nach. Es war eher ein Reflex aus seiner Zeit als Soldat. Er sah sich um. Schwelende Kabel hingen aus der Decken- und Wandverkleidung. Kein Display in seiner Umgebung schien noch zu funktionieren.

„Warnung“, sagte die Stimme des Bordcomputers langsamer und tiefer als sonst. „Versagen der Sauerstoffversorgung in 120 Sekunden.“

Zwei Minuten. Ob außer ihm noch irgendwer am Leben war? Charles setzte sich mühsam auf. Stechende Schmerzen zuckten durch seine linke Schulter. Er musste sie sich beim Sturz geprellt haben. Als er den Kopf wandte, wurde es noch schlimmer. Am anderen Ende des Korridors lag Gith. Seine Antennen zuckten nicht mehr, was kein gutes Zeichen war. Bevor es Charles auch nur ansatzweise gelungen war, sich auf die Füße zu kämpfen, erschien nur wenige Schritte von ihm entfernt ein Leuchten. Das Phänomen wurde größer und heller, bis das Alien vom Schwalbenschiff darin erschien. Er richtete sich auf und sah Charles direkt an. Verwirrung und Angst wechselten sich in seinem Kopf so schnell mit seinem Zorn ab, dass er nur fassungslos zurück starrte. Das Alien näherte sich. „Eure Varn-Kristalle haben sich entladen und das Schiff zerstört. Du bist der einzige, der noch lebt. Kannst du gehen?“

„Was willst du?“

War er nur hergekommen, um ihm den Rest zu geben? Er griff unter Charles‘ Achseln durch und begann, ihn über den Korridor zu ziehen. Auf diese Weise erreichten sie das Quartiersdeck. Charles stöhnte unwillkürlich auf vor Schmerz, als er das entsetzliche Zerren in seiner Schulter nicht mehr aushielt.

„Es tut mir leid.“ Das Alien lehnte ihn mit dem Rücken gegen die Wand und setzte ihn ab. „Aber dieser Teil des Schiffs ist am wenigsten beschädigt.“

„Warnung“, wiederholte der Bordcomputer. „Versagen der Sauerstoffversorgung in 60 Sekunden.“

Er zog ein kleines Gerät hervor. „Das hier wird dich in Stase versetzen. So überlebst du vielleicht, bis ein Rettungsschiff eintrifft. Ich habe einen Notruf versendet.“

„Warum?“, würgte Charles hervor.

„Ich wollte euer Schiff nicht treffen. Ich bedaure den Verlust deiner Crew zutiefst.“ Er befestigte das medizinische Gerät an Charles‘ Hals. „Trotzdem muss ich dich um etwas bitten.“

„Was?“ Das alles wollte einfach keinen Sinn in seinem Kopf ergeben.

„Ihr habt Aufzeichnungen über mein Schiff an eure Planetenunion geschickt, nicht wahr?“ Seinem Ton nach war es eine rhetorische Frage. „Du wirst deinen Leuten sagen, dass sie nicht nach mir suchen sollen. Dann vergisst du, dass du mir jemals begegnet bist.“

Charles lachte, obwohl ihm jeder Knochen wehtat und er sich in der Gewalt eines Aliens befand, das mit seinen bloßen Händen Schiffe vernichten konnte. Es klang völlig absurd.

„Es ist mir ernst“, beharrte sein Gegenüber eindringlich. „Sucht nicht nach mir, dann muss ich nie wiederholen, was heute geschehen ist.“

Er aktivierte das Gerät. Charles schwanden die Sinne, bevor er noch etwas erwidern konnte. Die Dunkelheit, die sich allumfassend über ihn legte, tröstete ihn auch ein wenig. Sie erlöste ihn aus dieser Situation. Er brauchte nicht mehr zu denken.

 

„Seine Vitalzeichen stabilisieren sich.“

„Sind Sie sicher?“

„Einen Vertreter seiner Spezies musste ich auch noch nie behandeln. Aber seine Werte entsprechen fast dem, was als normal gilt.“

Die beiden Stimmen klangen verunsichert und besorgt. Charles öffnete die Augen einen Spalt breit, kniff sie jedoch sofort wieder gegen das viel zu helle Licht zu.

„Er kommt zu sich.“

„Computer, Licht um 30 Prozent dimmen“, sagte die andere fremde Stimme. „Versuchen, Sie es jetzt noch einmal, Mr. Hastings.“

Charles sah die beiden Gesichter im ersten Moment etwas verschwommen. Ein Grophioner beugte sich über ihn und tippte auf einem Monitor oberhalb seines Kopfes herum. Rechts von ihm stand eine Sertiotidin, die ihn aufmunternd anlächelte.

„Willkommen zurück. Wir sind sehr erleichtert, dass wir Sie aufwecken konnten.“

„Wo bin ich?“, fragte der Sicherheitschef. In seinem Kopf wirbelten die Erinnerungen an eine Explosion und ein Gesicht mit einem leuchtenden Implantat durcheinander.

„Auf dem grophionischen Schiff, das als erstes die Ordesa erreicht hat. Sie sind der einzige, den wir lebend retten konnten.“

Celeste war getötet worden. Alle anderen Erinnerungen ordneten sich endlich in ihre Reihenfolge. Die Ärztin legte ihm eine Hand auf den Arm. „Niemand macht Ihnen Vorwürfe. Weder das Schiff noch die Besatzung waren für einen Kampf gerüstet.“

Sie spürte seine Schuldgefühle. Manchmal wünschte sich Charles, er könnte seine Emotionen vor Telepathen verbergen, aber dazu war die menschliche Psyche nicht in der Lage.

„Verzeihung, ich wollte Ihnen nicht zu nahe treten.“ Sie zog ihre Hand zurück.

„Existiert Q67S141 noch?“

„Ja, die Sonne hat keinerlei Schaden genommen.“

„Wirken die Schmerzmittel?“, erkundigte sich der Grophioner. „Ihr Schulterblatt war gebrochen und Sie haben einige schwere Verbrennungen erlitten.“

„Im Moment habe ich überhaupt keine Schmerzen.“ Dafür fühlte er sich wie betäubt.

„Und wenn Sie sich bewegen?“

Charles versuchte, sich auf die Kante seiner Krankenliege zu setzen. Sofort wurde ihm so schwindlig, dass er zur Seite kippte. Der grophionische Arzt fing ihn auf. „Das ist nach einer Stase nichts Ungewöhnliches. Ihr Körper muss sich noch an seine normalen Funktionen gewöhnen.“

„Wie lange war ich weggetreten?“, fragte er mit zusammengebissenen Zähnen. Der Schwindel ließ nur sehr langsam nach.

„Etwas mehr als neun Zyklen.“

Das entsprach drei Tagen auf der Erde. Charles tastete nach seiner Schulter. Ein flaches Gerät haftete an seiner Haut.

„Das ist ein Gewebegenerator.“ Der Grophioner schob seine Hand weg. „Ich konnte ihn auf Ihren Zellaufbau umprogrammieren. Lassen Sie das Gerät arbeiten. Bald sind der Knochen und die Gelenkpfanne wieder wie neu.“

„Verstanden, Doktor.“ Der Sicherheitschef legte sich wieder hin und schloss die Augen. Obwohl er gerade erst aufgewacht war, war er entsetzlich müde.

„Ruhen Sie sich aus. Wir wecken Sie spätestens, wenn wir die Raumstation bei R’luk erreicht haben.“

Zum Hauptquartier der Planetenunion ging es also. Charles wollte noch gar nicht wissen, warum man ihn dort hinbrachte. Bevor er in den Tiefschlaf sank, ließ ihn eine blasse Erinnerung noch einmal aufschrecken. Statt seiner Uniform trug er weiße Krankenkleider. Als er sich an die Sertiotidin wenden wollte, stand sie schon neben ihm und sah ihn aufmerksam an. Der Grophioner hatte den Raum verlassen.

„Haben Sie meine Jacke noch?“

„Nein, Ihre Sachen sind in der Wiederaufbereitung. Aber den Inhalt der Jackentasche habe ich aufbewahrt.“ Sie holte einen durchsichtigen Beutel von einer nahen Anrichte. Darin befand sich Celestes Halskette.

„Danke.“ Charles nahm den Beutel entgegen und betrachtete den verbogenen Anhänger. „Konnten die Leichen geborgen werden?“

„Ja, aber sie sind noch nicht für die Überführung auf ihre Heimatplaneten freigegeben.“

Damit nahm die Ärztin seine nächste Frage schon vorweg. Er versuchte ein Lächeln. „Nochmals danke, dass Sie daran gedacht haben. Diese Kette ist wichtig für mich.“

Sie neigte den Kopf ein wenig zur Seite. „Ich spüre, dass Ihre Dankbarkeit echt ist, aber Ihre Trauer ist viel größer. Warum unterdrücken Sie Ihren geistigen Schmerz so verbissen?“

„Das ist unnatürlich für Ihre Spezies, ich weiß.“ Charles legte den Beutel neben sein Kopfkissen. „Ich kann es nicht erklären. Vielleicht brauche ich einfach mehr Zeit als Sie, bis ich damit umgehen kann.“

Das war eine dürftige Erklärung, aber die Wahrheit. Daher gab sich die Sertiotidin zufrieden und dimmte das Licht so weit, dass er problemlos einschlafen konnte.

 

Er erwachte gute acht Erdenstunden später. Nachdem Charles eine erste Mahlzeit zu sich genommen hatte, entschied er, einen ausführlichen Bericht über die Ereignisse auf der Ordesa zu schreiben. Während seiner Zeit beim Militär hatte er dies öfter getan, daher war er darin geübt, neutral zu bleiben. Selbst als Charles Hendaris Handeln wiedergab, verzichtete er auf eine Wertung. Wesentlich schwerer fiel ihm seine Begegnung mit dem Alien, das aufs Schiff gekommen war, um ihn zu sprechen und anschließend zu retten. Seine Warnung zitierte Charles wörtlich. Doch sollte er sich dazu äußern? Der Sicherheitschef war schon sehr vielen Spezies begegnet und hatte es auch Außerirdischen manchmal angemerkt, wenn sie nicht ehrlich gewesen waren. Dieses Alien hielt er jedoch nicht für einen Lügner. Sein Bedauern über die Zerstörung der Ordesa hatte aufrichtig gewirkt. Wenn man ihn nicht angriff, wie die Huziper es getan hatten, tat er es vermutlich auch nicht. Charles rieb sich die Stirn. Er wollte jeden warnen, der zufällig auf dieses Alien treffen könnte. Allerdings war er kein Mitglied im Sicherheitsrat und er urteilte aus einer traumatischen Erfahrung heraus. Seine Meinung hatte in diesem Fall kein Gewicht. Dennoch beschloss er, seinen Bericht mit der Empfehlung zu beenden, jedweden Konflikt mit dem Schwalbenschiff zu meiden. Nur wenige Augenblicke nachdem Charles die Datei gesendet hatte, betrat der zweite Offizier des Schiffs die Krankenstation.

„Sie werden auf Raumstation Q01/1 mit einem Militärcommander der Vereinten Planeten sprechen. Alles Weitere erfahren Sie erst danach“, sagte sie und verabschiedete sich direkt wieder.

„Danke, Commander.“

Das waren sehr dürftige Informationen, aber Charles blieb offensichtlich keine Wahl, als den Befehl zu befolgen. Wenig später wagte er unter Aufsicht seines grophionischen Arztes erste Schritte innerhalb der Station. Seine Prellungen schmerzten mittlerweile, aber die volle Dosis Schmerzmittel lehnte er dankend ab. Er hatte den Eindruck, dass sie auch seine Gedanken lähmten, und Charles wollte für das bevorstehende Gespräch einen klaren Kopf bewahren. Die Schmerzen konnte er weitgehend vermeiden, wenn er sich nicht zu hektisch bewegte. Das medizinische Personal versorgte ihn mit einer Standarduniform und Schuhen. Sobald sie RSQ01/1 erreichten, wurde er hinübergebeamt. Es handelte sich um die älteste und größte Station der gesamten Union. Unzählige Vertreter aller Mitgliedsplaneten gingen hier ein und aus sowie Antragssteller und freie Handelspartner. Im Moment wurde ein Sitzungsdeck für das Unionsparlament konstruiert, das nach Fertigstellung an die Station angedockt werden würde. Selbstverständlich besaß es einen eigenen Versorgungskomplex für die Gäste und Gravitationskompensatoren. Es war ein gutes Beispiel für die extrem hoch entwickelte Technologie der R’lukeen. Niemand innerhalb der Union konnte mit dieser Spezies mithalten. Eine freundliche Computerstimme sagte Charles, wohin er gehen musste. Für den gesamten Weg von Transporterraum 102/a bis zu dem Korridor, auf dem er erwartet wurde, brauchte er kaum zwei Minuten und dabei hatten ihn über 30 Decks von seinem Ziel getrennt. Sein Kommunikator zeigte ihm an, dass er gebeten wurde, noch einen Moment zu warten. Charles lehnte sich an die Wand, statt sich auf einen der r’lukeischen Stühle zu setzen. Die R’lukeen besaßen einen humanoiden Körperbau, hielten jedoch Kugeln, auf denen man permanent balancieren musste, für bequeme Sitzmöbel. In seinem jetzigen Zustand wollte er lieber keinen Unfall riskieren. Nach wenigen Minuten hörte er Absätze über den glatten Boden marschieren. Eine Frau mit streng frisierten grauen Haaren und Uniform betrat den Gang.

„Charles Hastings?“, fragte sie im Befehlston. Er löste sich wortlos von der Wand und folgte ihr in das Büro des Commanders. Es war mit einigen Bildschirmen und einem Konferenztisch für mindestens acht Personen ausgestattet. Dieser war allerdings leer.

„Ich bin Commander Ilyakov“, stellte sich der Offizier am separaten Schreibtisch vor. Neben ihr saßen zwei Mitarbeiter in den unscheinbaren Uniformen des Sicherheitsrats der Vereinten Planeten.

„Nehmen Sie Platz, Mister Hastings“, sagte Ilyakov und wies auf den freien Stuhl vor ihrem Schreibtisch. „Wie geht es Ihnen?“

„Schon besser. Danke, Commander.“ Seine Schulter machte sich deutlich bemerkbar, als er seinen Arm auf die Lehne des Stuhls aufstützte. Der Unionscommander schaltete den Bildschirm zu ihrer Rechten ein. Darauf erschien eine Aufnahme des Aliens mit dem Implantat in der Wange. Celeste musste sie unmittelbar vor dem Kampf übermittelt haben. Charles musterte noch einmal seine tiefen schwarzen Augen. Es war bei weitem nicht damit vergleichbar, diesem Mann gegenüber zu sitzen, während die Lebenserhaltungssysteme des Schiffs versagten. Dennoch rief die Aufnahme seine Erinnerung wacher als zuvor. Im Hintergrund waren Bildschirme und einige Gegenstände zu erkennen, die Charles während seines ersten Kontakts mit diesem Alien nicht aktiv aufgefallen waren. Einer erinnerte ihn an die verkleinerte Version einer Hypermagnetspule.

„Das ist die einzige Aufnahme, die wir haben“, begann Commander Ilyakov das Gespräch. „Den Dialog mit Alien U24 sowie alles, was danach geschehen ist, kann ich nur Ihrem Bericht entnehmen.“

„Sie haben ihm eine Nummer gegeben?“, merkte Charles an. Von U01 bis U23 hatte er noch nie gehört. Darauf ging sie jedoch nicht ein. Nach einem Blick auf ihr Tablet wirkte sie alles andere als begeistert. „Es hat Sie gerettet, um eine Botschaft zu übermitteln. Wir sollen es nicht verfolgen, dann muss es nie wiederholen, was geschehen ist.“

„Das waren seine Worte“, gab der Sicherheitschef zurück. „Ich vermute, sowas haben Sie noch nie gehört.“

„Allerdings nicht.“ Der Commander legte das Tablet ab. „Und schon gar keine Empfehlung von einem Botschaftsangestellten, alle Schiffe in den umliegenden Quadranten aufzufordern, diesem Alien auszuweichen.“

„Ich gehöre zum Sicherheitspersonal, nicht zu…“

„Ich weiß“, schnitt sie ihm das Wort ab. „Sie waren beim Militär und sind Personenschützer. Gerade deshalb sollte Ihnen klar sein, dass diese Angelegenheit aufgeklärt werden muss.“

„Das ist mir durchaus bewusst, aber wollen Sie denn keine Warnung herausgeben?“

„Das liegt nicht in Ihrem Ermessen“, gab Ilyakov abfällig zurück.

„Wie viele Zwischenfälle mit Alien U24 will der Sicherheitsrat noch riskieren?“, fragte Charles bissig, obwohl er mit einer ähnlich abweisenden Antwort rechnete.

„Die Massenpanik, die Sie vorschlagen, ist keine Lösung“, antwortete der Commander unbeeindruckt. Dazu fiel ihm nichts Vernünftiges mehr ein. Er setzte sein höflichstes Lächeln auf. „Warum genau haben Sie mich herbestellt?“

„Ursprünglich wollte ich Sie über den Vorfall befragen, aber das hat sich durch Ihren Bericht erledigt. Sie bleiben bei dieser Version der Ereignisse?“

„Selbstverständlich ja.“ Charles hob verständnislos die Brauen.

„Sie schreiben, dass Sie sich den Kopf angeschlagen haben. Sind Sie sicher, dass Sie nichts vergessen oder verwechselt haben?“

„Ja, Commander, das bin ich.“ Langsam verlor Charles die Geduld. Nebenbei bemerkte er, dass ihn einer der uniformierten Mitarbeiter des Sicherheitsrats konzentriert im Auge behielt. Er sah aus wie ein Mensch, besaß aber auch sertiotidische Züge. Hybriden aus beiden Spezies besaßen ebenfalls empathische Fähigkeiten. Seine Aufgabe bestand folglich darin, Charles‘ emotionalen Zustand während der Befragung zu überwachen. Vielleicht war er sogar in der Lage, Lügen zu erkennen.

„Dann kommen wir zu Punkt zwei.“ Ilyakov legte ihr Tablet ab und reichte Charles ein transparentes Display. Sobald er es berührte, aktivierte sich die Oberfläche. Der Absender war laut der Kopfzeile des Textes die Botschaft der Erde.

„Dies ist Ihre Entlassungsurkunde“, sagte der Commander kühl. „Die Erde dankt Ihnen für Ihre Dienste, aber Sie werden nicht in den Personenschutz der Botschaft zurückkehren.“

„Was?“, fragte er ungläubig. „Weil ich eine Schutzperson verloren habe oder weil ich eine Empfehlung abgegeben habe, die Ihnen nicht passt?“

„Mäßigen Sie Ihren Tonfall“, mischte sich einer der Zuhörer ein.

„Da ich jetzt Zivilist bin, muss ich das nicht!“

Ilyakov verzog missbilligend die Mundwinkel. „Damit kommen wir zum dritten und wichtigsten Punkt. Sie werden hierüber mit niemandem sprechen. Die gesamte Mission von der Konferenz im Grophion-System bis zu diesem Gespräch unterliegt der absoluten Geheimhaltung. Haben Sie das verstanden?“

„Deshalb werde ich entlassen. Ich darf mit niemandem reden.“ Er konnte kaum glauben, was er da hörte.

„Die Kommission des Sicherheitsrates hat entschieden. Selbstverständlich wird jede Sicherheitsmaßnahme wegen U24 ergriffen. Aber das soll nicht mehr Ihre Sorge sein“, sagte Ilyakov nachdrücklich. „Man hält Sie nicht für geeignet, in Ihrer Position zu verbleiben.“

„Verstanden, Commander“, presste Charles mit steinerner Miene hervor. Er verließ das Büro, ohne noch ein Wort zu sagen. Nach ein paar Schritten schlug er vor Wut gegen die Wand. Was hatte er denn bloß falsch gemacht? Er hatte damit gerechnet, dass seine Empfehlung ignoriert werden würde, nicht dass sie ihn den Job kostete. Einen Augenblick überlegte er, ob er seinen Bericht einfach online stellen sollte, sodass ihn jeder lesen konnte. Allerdings würde Ilyakov ihn dann vermutlich wegen Geheimnisverrat verhaften lassen. Außerdem bezweifelte Charles, dass ihm überhaupt jemand glauben würde. Ein Alien, das ohne Waffen Schiffe vernichten konnte, war absurd, wenn man es nicht selbst gesehen hatte. Er blieb kurz stehen, um durchzuatmen. Seine Schulter schmerzte heftig und er hatte sich immer noch nicht vollständig von den Auswirkungen seiner unfreiwilligen Stase erholt. Zahllose Gedanken gingen ihm durch den Kopf. Ganze Planetensysteme wurden von Alien U24 vernichtet. Er war knapp dem Tod entgangen, aber jeder andere auf der Ordesa war gestorben. Weder die Botschaft der Erde noch die militärische Flotte der Vereinten Planeten würden ihn je wieder anstellen. So viel Chaos und Zerstörung und ihm war verboten worden, jemals darüber zu sprechen. Celestes vor Angst aufgerissene Augen würden ihn von all dem wohl am längsten verfolgen. Charles wanderte ziellos umher, bis er dem Empfangsdeck für freie Handelspartner landete. Er sah dem geschäftigen Treiben zu, um sich abzulenken, bis sein Kommunikator aufblinkte. Er sollte sich in 30 Minuten auf dem Transportdeck melden. Ein Shuttle würde ihn zu einem Schiff bringen, welches Bauelemente für Sonnenkollektoren zur Erde transportierte. Immerhin schickte man ihn nach Hause. Es blieb ihm gerade die Zeit, Ersatzkleidung, Verpflegung und eine Tasche zu erstehen, bevor er in das Shuttle stieg.

 

Obwohl das Transportschiff den Hyperkorridor 1b genutzt hatte, um die Quadranten 02 bis 49 zu überspringen, dauerte die Reise mehrere Tage. Charles spürte ein deutliches Pochen in der verletzten Schulter, als er seine Umhängetasche anhob. Die Mikroinjects des grophionischen Arztes hatte er auch nach dem frustrierenden Gespräch mit Commander Ilyakov nicht mehr benutzt. Er nahm die Tasche auf die andere Schulter und verließ das Schiff. Nur selten hatte der ehemalige Sicherheitschef die Erde über das Einreisezentrum in New York betreten. Der riesige Gebäudekomplex umfasste sieben Landeplätze für Schiffe, vierundzwanzig Shuttle-Andockstationen und fünfzehn Beamanlagen. Die entsprechenden Einlasskontrollen waren von außen nicht durch die glänzenden Dächer zu sehen. Allerdings führte kein Weg an ihnen vorbei, sobald man sein Schiff verließ. Ein Mann mit dunklem Vollbart und freundlichem Lächeln nahm seine Tasche für den Scanner entgegen.

„Bitte auf die Markierung, Sir. Sie werden einmal kurz durchleuchtet. Keine Sorge, wir verwenden keine bedenkliche Strahlung.“

Das wusste Charles selbstverständlich, sagte jedoch nichts. Während der Körperscanner summte, betrachtete er geistesabwesend die Uniform des Sicherheitsbeamten. Neben der linken Brusttasche befanden sich ein silbernes Abzeichen seiner Einheit und ein Namensschild. Rodrigo Cohan war darauf zu lesen.

„Alles in Ordnung?“, fragte der Beamte und wies auf die langsam verheilenden Verbrennungen in Charles‘ Gesicht.

„Ja, danke.“

„Sind Sie sicher? Ich kann ein Mediziner-Team rufen.“

„Es geht schon. Ich wurde ausreichend versorgt.“

Charles würde am nächsten Tag zu einem Arzt gehen, aber jetzt wollte er nur noch nach Hause. Mr. Cohan musterte ihn skeptisch, dann nahm er ein Tablet zur Hand. „Ich muss Ihnen noch ein paar Standardfragen stellen, Mr. Hastings.“

„Lassen Sie hören.“

„Ihr letzter Aufenthaltsort?“

„R’luk.“

„Grassieren dort im Moment unbekannte Krankheiten, mit denen Sie sich infiziert haben könnten?“

„Nein.“ Charles schüttelte nachdrücklich den Kopf.

„Haben Sie Gegenstände bei sich, die Sie zur Sicherheit auf Kontaminierungen überprüfen lassen möchten?“

„Nein.“

Mr. Cohan wechselte zum nächsten Bildschirm. Seinen Stirnfalten nach gefiel ihm nicht, was er sah. „Ihre Blutergüsse überlagern Teilbereiche Ihres Scans. Halten Sie es für möglich, dass Sie unter Parasitenbefall leiden?“

„Ausgeschlossen. Das hätte der grophionische Arzt, der meine Verletzungen behandelt hat, bemerkt.“

„Gut. Der Scan Ihres Gepäcks zeigt keine Auffälligkeiten. Gibt es etwas, über das Sie uns informieren möchten? Besonderheiten während der Reise?“

„Nein, die Reise ist reibungslos verlaufen.“

„Dann willkommen zurück auf der Erde, Mr. Hastings.“ Mr. Cohan reichte ihm seine Tasche. Charles nahm sie entgegen und brachte ein Lächeln zu Stande. Unter Menschen zu sein, die nichts von diesem seltsamen Alien wussten, half ihm wider Erwarten ein wenig. Seine Stimmung kippte jedoch sofort wieder, als Charles entdeckte, dass er am Ausgang des Zentrums erwartet wurde. Die Frau um die sechzig sah ihm direkt in die Augen, obwohl sie sich noch nie persönlich begegnet waren. Dem Abzeichen auf ihrem akkurat sitzenden Kostüm nach war sie mindestens leitende Angestellte bei einem der großen Konzerne, die die Weltbevölkerung mit Lebensmitteln versorgten. Ihre Augen waren gerötet, als hätte sie die ganze Nacht geweint, das graue Haar hing in wirren Strähnen herab. Sie musste Celestes Mutter sein. Die familiäre Ähnlichkeit war unverkennbar. Er blieb vor ihr stehen. Sie brachte kein Wort heraus.

„Guten Tag, Ma’am“, sagte Charles, um die unangenehme Stille zu durchbrechen.

„Die Botschaft hat mir gesagt, dass Celeste bei einem Zwischenfall getötet wurde“, erwiderte Mrs. Renard heiser. „Und ich weiß, dass Sie der Sicherheitschef von Botschafter Jopson sind. Wo waren Sie? Beim Botschafter, der gerade irgendwelche Außerirdischen davon abhält, sich die Köpfe einzuschlagen, oder waren Sie bei Celeste?“

Die Antwort war angesichts seiner Blessuren offensichtlich.

„Ja, ich war dort.“ Charles senkte den Blick. Wenn er keine ernsten Schwierigkeiten mit Commander Ilyakov bekommen wollte, durfte er nicht weiter mit ihr sprechen. Aber er wollte Mrs. Renard auch nicht vor den Kopf stoßen. Was sollte er bloß tun?

„Können Sie mir erklären, was für ein Zwischenfall das gewesen ist?“ Die vage Aussage der Botschaft machte sie verständlicherweise sehr wütend.

„Darüber darf ich nicht sprechen, Ma’am.“

Mrs. Renard biss hörbar die Zähne aufeinander. „Warum ist mein kleines Mädchen gestorben, Mr. Hastings?“

„Es war ein unglücklicher Zufall.“ Das traf es tatsächlich. Der immense Energiestoß hatte das Forschungsschiff erst nach den Huzipern getroffen. Celestes Mutter stiegen Tränen in die Augen. Charles brachte es nicht mehr fertig, sie anzusehen. Er wünschte sich, er hätte auf den Sicherheitsbeamten Cohan gehört und sich in ein Krankenhaus bringen lassen, statt diesen Ausgang zu nehmen. Aber vermutlich hätte Mrs. Renard ihn früher oder später auch dort ausfindig gemacht. Sie würden dieses Gespräch jetzt hinter sich bringen.

„Es tut mir so leid.“ Er zog die Halskette aus seiner Jackentasche und hielt sie ihr hin. Sie presste sich die Hand auf den Mund.

„Es wird noch einige Tage dauern, bis der Leichnam überführt werden darf. Bitte nehmen Sie sie.“

Mrs. Renard nahm das leicht verbogene Schmuckstück mit zitternden Händen an sich. Charles hatte wenigstens den Ruß entfernt, um keine Rückschlüsse auf das Feuer zuzulassen. Einerseits war er erleichtert darüber, Celestes Andenken nicht mehr bei sich zu tragen. Andererseits fühlte er sich jetzt noch elender, als in dem Moment, in dem er der Toten die Kette abgenommen hatte.

„Musste sie lange leiden?“, fragte Mrs. Renard mit bebender Stimme.

„Nein, das zum Glück nicht.“

Sie wischte sich die Tränen von den Wangen. „Danke, Mr. Hastings. Es war sicher nicht leicht, mit mir zu sprechen.“

„Bitte erzählen Sie es niemandem.“

Mrs. Renard nickte, dann wandte sie sich endlich von ihm ab und ging. Wie sehr Celeste sich in ihren letzten Augenblicken gefürchtet hatte, würde er für sich behalten. Es gab weder Aufzeichnungen noch weitere Zeugen, nur seine Erinnerung und dabei sollte es bleiben.

 

Er stieg in einen öffentlichen Langstreckentransporter, der ihn innerhalb weniger Stunden nach Boston befördern würde. Diese Linie führte wie fast alle am New Yorker Standort der Unionsverwaltung vorbei. Das gigantische Gebäude ragte etwa 100 Meter in die Höhe, die zahllosen Scheiben aus getöntem Sicherheitsglas schimmerten im Sonnenlicht. Jede freie Fläche war mit immergrünen Pflanzen geschmückt. Als die Erde vor 80 Jahren Mitglied der Vereinten Planeten geworden war, hatte die Union ihre gesamte Verwaltung her verlagert und damit Millionen Arbeitsplätze rund um den Globus geschaffen. Manchmal wurde gemunkelt, dass die Erde nur Unionsmitglied geworden war, weil die Weltregierung die Übernahme der Verwaltung angeboten hatte, aber das fand im Mitgliedsvertrag natürlich keine Erwähnung. Der Transporter bog ab und beschleunigte, als er die Stadtgrenze passierte. Es war eine der ältesten Magnetschwebe-Strecken des Kontinents. Im Vergleich zu den moderneren Anlagen in New York war es laut und das Fahrzeug ruckelte sogar von Zeit zu Zeit. Die anderen Fahrgäste sahen jedes Mal verunsichert auf, als könnte der Transporter stecken bleiben. Charles schaute hingegen entspannt aus dem Fenster. Während seiner Ausbildung an der Militärakademie von New York hatte er diese Strecke häufig genommen. Damals war er vom Zentralbahnhof zu seinem winzigen Apartment mitten in der Stadt gefahren und hatte sich meistens noch mit Freunden verabredet. An einem der vielen Abende in ihrer Lieblingsbar war er Alice begegnet. Jede Woche hatten sie sich wieder gesehen. Auf stundenlange Gespräche und einige Drinks war ihr erstes richtiges Date gefolgt. Wann sie sich ineinander verliebt hatten, war ihnen nicht bewusst gewesen. Manche Dinge geschahen einfach. Als Charles seinen Kommunikator aktivierte, hatte er bereits vier Textnachrichten von ihr.

14:42 > nicht, dass ich mich nicht freue, aber seit wann kommst du früher als geplant von Einsätzen? <

14:47 > müssen wir über irgendwas reden? <

15:25 > keine Antwort deute ich als Ja <

16:03 > werde es nicht zum Abendessen schaffen. Tut mir leid <

Charles tippte ein, dass er auf sie warten würde. Er war sowieso noch nicht hungrig. Alice arbeitete als Personalchefin bei Earth Con, dem Energieversorger der Erde. Pünktlich zum Abendessen schaffte sie es selten, aber daran störte Charles sich nicht. Die wenigen Tage im Monat, die er auf dem Planeten verbrachte, wollte er nicht mit ihr über Uhrzeiten streiten. Der Transporter setzte ihn ein wenig außerhalb von Boston vor ihrem Grundstück ab. Statt direkt ins Haus zu gehen, spazierte Charles wie immer ums Haus in Alices Garten. Es war Mitte August. Ihre Blumen leuchteten in allen erdenklichen Farbtönen. Sogar die rosenähnlichen Gewächse, die sie von einem sertiotidischen Geschäftspartner geschenkt bekommen hatte, blühten mit den terrestrischen Rosen um die Wette. Charles sog den sommerlichen Geruch des Gartens tief ein. Kein Klimasystem auf einem Raumschiff konnte da mithalten. Als er durch die Hintertür ins Haus ging, hörte er ein Klirren aus der Küche. Der Ex-Sicherheitschef seufzte leise und stellte seine Tasche ab. Während er sich dem Durchgang zur Küche näherte, klirrte es ein zweites Mal. Und zwar so laut, als würde Glas zerspringen.

„Hör auf, Gläser runterzuwerfen, Francis!“, sagte er mit lauter Stimme, als er den Türpfosten erreichte. Ein Pelzknäuel auf vier Pfoten verschwand fauchend unter der Bank am Fenster. Vor der Arbeitsplatte lagen Scherben in einer rötlichen Pfütze auf dem Boden. Alice hatte am Vorabend offenbar ein Glas Wein getrunken. Charles kehrte sie auf und wischte den roten Fleck weg, statt den Hausandroid zu aktivieren. Die Schmerzen in seiner Schulter nahmen dabei massiv zu. Er konnte sich ein leises Stöhnen nicht verkneifen, als er sich so weit bückte, dass er unter die Bank sehen konnte. Zwei gelbe Augen starrten ihn aus dem Schatten an.

„Hi, Francis“, sagte Charles. „Komm raus, ich bin dir nicht böse.“

Die Antwort war ein erneutes Fauchen. Der Kater hatte ihn noch nie gemocht und ließ sich nur von ihm streicheln, wenn er ihn mit Thunfisch bestach. Manches änderte sich nie. Francis blieb stur in seinem Versteck. Die Routine seines Zuhauses beruhigte Charles ungemein. Nachdem er geduscht und normale Kleidung angezogen hatte, ging er ins Wohnzimmer. Francis huschte an ihm vorbei, als er sich auf die Couch setzte und einen Moment die Augen schloss.

 

„Charles“, sagte eine leise Stimme. „Was ist passiert?“

Er war eingenickt. Charles rieb sich kurz die Augen. Alice beugte sich über ihn und schaute ihn besorgt an.

„Du siehst fürchterlich aus.“

„Ich freue mich auch, dich zu sehen.“ Er lächelte sie an, was seine Frau nicht erwiderte. Sie hatte nicht einmal die Schuhe ausgezogen oder ihre Tasche abgestellt. Ihre Miene wurde strenger, was die grünen Flecken auf ihrer Stirn besser zur Geltung brachte. Sie waren das einzige äußerliche Anzeichen für ihre sertiotidischen Gene. Ihre empathischen Fähigkeiten waren für eine Hybride ungewöhnlich stark ausgeprägt, was ihre Beziehung aber nicht schwieriger machte. Im Gegenteil. Es gab nur sehr selten Missverständnisse zwischen ihnen. Da sie ihre Konflikte sofort austrugen, dauerten sie nie lange. Alice wiederzusehen ließ Charles zum ersten Mal hoffen, dass er mit den Ereignissen der vergangenen Woche irgendwann fertig werden würde.

„Es gab einen Zwischenfall bei meinem letzten Einsatz. Ich habe Prellungen und Knochenfrakturen“, erklärte er. „Willst du dich nicht wenigstens setzen?“

Alice ließ sich neben ihm nieder. Er nahm ihr die Tasche ab und lehnte sich vor, um sie zu küssen. Darauf ließ sie sich ein. Ihre Nähe fühlte sich wunderbar an. Ihr brauchte er nicht zu erklären, wie wütend und verwirrt er war.

„Wie viel darfst du mir dieses Mal sagen?“, fragte sie. Selbstverständlich wusste Alice, dass Charles über manche Dinge schweigen musste.

„Gar nichts.“ Er biss sich auf die Unterlippe. „Ich habe versagt, Alice.“

Seine Frau erwiderte nichts. Sie schaute ihn nur voller Mitgefühl an.

„Und ich wurde aus der Personenschutz-Einheit der Botschaft entlassen.“

Alice hob die Brauen. „Das überrascht mich allerdings. War dieser Zwischenfall etwa deine Schuld?“

„Nein, das ist nicht der Grund.“

„Und darüber darfst du auch nicht reden“, riet sie. Charles nickte schwach und ließ sich tiefer in die Sofakissen sinken. Alice berührte seinen Arm. „Komm bloß nicht auf die Idee, dir einen neuen Job zu suchen, bevor du dich erholt hast.“

„Ja Ma’am.“

Zum ersten Mal lachte sie. „Und nenn mich gefälligst nicht Ma’am. Das tun nur meine neuen Mitarbeiter, bis sie endlich kapieren, dass ich das nicht leiden kann.“

„Was würdest du davon halten, wenn ich mir dieses Mal Arbeit auf dem Planeten suche und nicht ständig weg bin wie die letzten 15 Jahre?“

Sie neigte ihren hübschen Kopf zur Seite. „Deine getragenen Socken werden irgendwo liegen, wo der Hausandroid sie nicht findet. Das Wohnzimmer wird aussehen, als wäre etwas explodiert. Und Francis wird übergewichtig, weil du ihm zu viel Thunfisch gibst. Wer will das nicht?“

Charles lachte, was unheimlich schmerzte. Er griff sich an die Schulter.

„Entschuldige.“ Alice küsste ihn. „Das musste sein.“

„Ich gelobe Besserung, was meine Unordnung angeht. Und wie wäre es mit gemeinsamem Frühstück?“ Normale Dinge zu tun, würde ihm helfen, seine Gedanken zu ordnen.

„Das klingt wundervoll.“

Impressum

Texte: Al Rey c/o Papyrus Autoren-Club, R.O.M. Logicware GmbH Pettenkoferstr. 16-18 10247 Berlin
Cover: Al Rey/ Coverdesign: Magicalcover.de / Giusy Ame /Bildquelle: Pixabay/ Depositphoto
Tag der Veröffentlichung: 18.11.2018

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