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Prolog

 

Ich spüre wie sich der Schweiß auf meiner Stirn langsam aber sicher zu einem einzigen Tropfen zusammenschließt. Ich kneife die Augen zu, presse meine Brust gegen das kalte Metall des Müllcontainers und umschlinge meine Kniekehlen, ebenso wie ein Fötus es im Bauch seiner Mutter tut. Mit dem feinen Unterschied, dass der Fötus diese Haltung platzbedingt einnehmen muss und das ganze nur so lang, bis er von dort aus in den behüteten Kreis einer ihn liebenden Familie aufgenommen wird. Wenn ich mein fetales Selbst im Bauch meiner Mutter, auf der Zielgeraden in Richtung eines selbstbestimmten Körpergebrauchs gefragt hätte, ob ich mir vorstellen könnte in eben dieser Position durchnässt, in einer verlassenen Gosse zwischen einem Restmüllcontainer und einer Pfütze mir endlos erscheinende Stunden auszuharren, so hätte ich mit großer Wahrscheinlichkeit dankend abgelehnt. Und trotzdem hocke ich hier.

 

Die Kälte der Containerwand jagt mir mit jeder Berührung einen eiskalten Schauer meine Wirbelsäule hinunter und doch sucht mein Körper die Nähe zu ihm, wie ein Insekt das Licht. Diesen Rat hätte mir mein Fötus-Ich wohl auch gegeben. Suche Schutz in Gefahrensituationen. Wenn es an die eigene Existenz geht sowieso. Meine Augen verfolgen gerade ein Zigarettenstummelboot, wie es auf dem See aus Regen, Alkohol und Urin unmittelbar vor mir seine Kreise zieht, als ich aufschrecke.

 

-Schritt- -Schritt- -Schritt- PAUSE erneut ein Schritt, dann eine Stimme. Ich höre mein Herz, das den Schlägen und meinem Puls nach zu urteilen gerade mindestens einen zwölf Kilometer-Marathon hinter sich haben müsste. Es sind mittlerweile mehr als nur eine Stimme und doch kann ich mich nur auf die eine konzentrieren, von der ich mir gewünscht hätte sie in meinem Leben nicht noch einmal hören zu müssen. -

 

Schritt- -Schritt- -Schritt- Meine Organe ziehen sich zusammen und schnüren mir die Luft ab. Ich kneife die Augen noch ein Stück mehr zusammen in der Hoffnung mich durch Telepathie oder allein den Glauben daran an einen anderen Ort, weit weg von hier bringen zu können.

Kapitel 1

3 ½ Wochen zuvor 

„Na los Vic! Nun beeil dich endlich!“ drängelt mein älterer Bruder Matthew mich, während ich meine Krawatte zurechtzupfe und ein letztes Mal mein Spiegelbild auf irgendwelche Unstimmigkeiten überprüfe. Die Person, die mir im Spiegel gegenüber stand war nicht wirklich ich. Meine sonst so zotteligen Haare hatte mir Math mit einer halben Tube La Biosthetique aalglatt nach hinten gestriegelt. Hätte er nicht die andere Hälfte für die Instandsetzung seines Lockenkopfes benötigt, wäre er wohl kaum davor zurückgeschreckt mir auch noch den Rest des Gels auf dem Kopf zu verteilen. Glücklich darüber, versuchte ich mir ein Lächeln aufzuzwingen und es war, als würde mein Spiegelbild mich von seiner Echtheit zu überzeugen versuchen. Vergebens.

 

Mein Bruder und ich trugen beide unsere schwarzen Anzüge, die ursprünglich zum Anlass unserer Abschlussfeiern gekauft und getragen worden waren. Ich erinnere mich an meine Mutter, wie sie mir im Laden versicherte ich würde sicher noch viel von ihm haben und ihn zu einer Diversität an Anlässen tragen können. Dass dieser Anlass nicht einmal zwei Jahre später ihre Beerdigung und die meines Vaters gleichzeitig sein würde und einige Monate danach ein Termin im städtischen Gericht zur Bekanntgabe des Nachlasses und die Aufteilung der Erbanteile, hätte wohl weder sie noch ich oder sonst wer in Erwägung gezogen. „Victor Sandler, wenn du jetzt nicht sofort mitkommst, fahre ich allein zum Gericht und sehe zu wie das Erbe 50:50 zwischen Brandon und mir aufgeteilt wird.“ Mein Bruder lächelt mir flüchtig zu und doch kann ich den nervösen Unterton aus seiner Stimme heraushören, der mich veranlasst ihm zügig aus der Wohnung in sein Auto zu folgen.

 

Es war ein merkwürdiges Gefühl auf dem Beifahrersitz seines Vans zu sitzen und mit ihm durch die Straßen unserer Kleinstadt zu fahren. Früher hatten wir das oft getan. Die Musik bis zum Anschlag aufgedreht, die Fenster runter. Ich auf dem mittleren Sitz der Rückbank, mein Cousin Brandon mit seinen Beinen auf dem Armaturenbrett und einer Zigarre zwischen Mittel- und Zeigefinger und mein Bruder, den Ellbogen auf die Fensterkante gestützt am Steuer seiner geliebten Mercedes G-Klasse, aka „dem weltweit großartigsten“ Auto. Ich war mir zwar sicher, dass ich allein hier in Saint Louis Creek mindestens fünf Beispiele des exakt identischen Modells nur in hundert Mal besserer Ausstattung aufzählen konnte und trotzdem hatte ich nie irgendwas dagegen gesagt. Irgendwie war auch etwas Wahres dran. Trotz des leicht muffigen Geruches, der vermutlich auch von Brandons Zigarettenextasen herrührte, die Matthew zwar stets verteufelte, aber nie etwas daran änderte und der quietschenden Rückbank hatte jede Autofahrt auf ihre eigene Art und Weise etwas Besonderes an sich gehabt.

 

Etwas über drei Jahre war das nun bereits her. Ich war mittlerweile zwanzig, mein Bruder steuerte in großen Schritten auf die vierundzwanzig zu, ebenso wie unser Cousin Brandon, der bis zum Tod unserer Eltern vor fast einem Jahr wie ein Bruder bei uns gelebt hatte. Bei mir gelebt hatte. Matthew war schon im dritten Semester seiner Collegeausbildung und man würde wohl kaum meinen, dass er und Brandon zur selben Zeit die Schule beendet hatten. Ich sah ihn nur noch selten und es fühlte sich ungewohnt an, ihn wieder so häufig um mich zu haben. Seit dem Tod unserer Eltern und jetzt war er ständig zwischen dem College und Zuhause gependelt und ich hatte das Gefühl, dass er sich mir gegenüber verpflichtet fühlte, sich zu kümmern und mich nicht allein in unserem großen Haus zurücklassen wollte.

Schon gar nicht seit seinem Streit mit Brandon, über den er niemals sprach und mich stattdessen im Dunkeln tappen ließ. Ich hatte ihn oft danach gefragt, als er eines Nachmittags nicht mehr Teil unserer Autotourcrew war und alles was ich seit je her als Antwort bekam war „Das ist eine Sache zwischen uns“ und „Halt dich von ihm fern“, was sich in der darauffolgenden Zeit als äußerst schwierig gestaltete, da er das Zimmer im Flur gegenüber bewohnte. Mein Bruder verschwand damals direkt aufs College und weil ich mit den Abschlussprüfungen ohnehin viel um die Ohren hatte, ging ich Matthews Wunsch nach und mied ihn weites gehend. Ich vermute bis heute, dass es in dem Streit um irgendein Mädchen oder um Brandons offenkundige Haltung gegenüber sämtlichen Drogen ging.

 

Plötzlich riss mich ein Geräusch aus meinen Gedanken und ich merkte wie sich der Anschnallgurt eng um meinen Oberkörper zusammenzog. Im nächsten Moment ertönte das quietschende Geräusch der Bremsbeläge und mein gesamter Körper wurde mit einem Ruck wieder zurück in den Sitz geschleudert. Ich brauchte einen Moment, um mich wieder zu fangen und sah meinen Bruder, der mit zitternden Händen das Lenkrad umklammerte und starr nach vorn blickte fassungslos an. „Was zur Hölle sollte das?“ fuhr ich ihn an und blickte auf die vollkommen menschenleere Straße vor uns. Er hatte aus dem nichts eine glatte Vollbremsung hingelegt. „Du hättest mich warnen können, das ist nicht lustig Math!“ Er blickte mit einem verquälten Blick zu mir hinüber, gerade so als sei er sich nicht sicher, ob er mir das, was nun kommt wirklich zumuten möchte. Als wüsste er etwas, von dem ich keine Ahnung hatte. Sein Blick blieb noch einen Moment starr auf die Straße gerichtet. „Mir ist gerade eingefallen“, murmelte er, „ich habe die Vorladungspapiere auf dem Esstisch in der Küche liegen lassen.“

Die ganze Autofahrt zurück zum Haus und auf dem Weg zum Gerichtsgebäude verlief schweigend und ich versuchte gar nicht über die tiefere Bedeutung seines Aussetzers nachzugrübeln. Vermutlich existierte gar keine. Als wir eine Parklücke gefunden und ich mich aus dem Wagen gezwängt hatte, bemerkte ich erst wie sehr ich die ganze Autofahrt über geschwitzt hatte. Ich vergrub meine Hände tief in meinen Anzugtaschen und hielt gerade Ausschau, als sich von hinten zwei Arme um meinen Rücken schlangen.

 

„Hey, na. Ich warte schon eine ganze Weile, was war denn los?“ hauchte eine klare, zärtliche Stimme mir zu, bevor sich ein paar Lippen auf Meine legten und mich lange und einfühlsam küssten. Maddie. Es tat gut. Es tat so unfassbar gut sie hier bei mir zu haben. Ich legte meine Arme um sie und gab ihr erneut einen Kuss auf die Stirn. „Es tut mir leid, wir wurden aufgehalten und mussten noch einmal umkehren.“ „Schon gut“, sie nahm mich bei der Hand und sah mir tief in die Augen „Es ist okay, ich bin hier. Wir stehen das zusammen durch.“ Wenn sie sich auch nur annähernd vorstellen könnte, wie sehr mir ihre bloße Anwesenheit dabei hilft diesen Tag zu überstehen. Ich lächelte gerade und ließ meinen Blick ein wenig über den Vorplatz des Gerichts schweifen, als ich in einer kleinen Nische etwas entfernt vom Haupteingang meinen Bruder mit einer Person reden sah, die mir aber vorerst den Rücken kehrte, sodass mir der Blick auf das Gesicht verwehrt wurde. Ich hatte ihn gar nicht gehen sehen, geschweige denn gehen hören.

 

Ich blickte hinauf in den Himmel. Dicke Wolken hatten sich inzwischen vor die Sonne geschoben und somit die letzten Reste Sonnenstrahlen des gesamten Tages erstickt. Mit einem Blick hinunter auf meine Armbanduhr nickte ich Maddie zu und gedeutete ihr, dass ich mich nun auf den Weg ins Gebäude machen sollte. Sie lächelte und drückte meine Hand noch ein letztes Mal ganz fest, bevor sie sich auf den Weg zu Maths Auto machte, in dem sie auf uns wartete.

 

Kapitel 2

 

„Entschuldigen Sie die Verspätung Sir.“, mein Blick konnte nicht von Brandon ablassen und seiner wiederum nicht von den Augen des Nachlassbetreuers, der ihn von seinem Schreibtisch aus mit einer herabwürdigen Distanz musterte, mit der es nur Beamte eines Gerichts tun können. Dass mein Cousin sogar bei einem Termin solcher Wichtigkeit unpünktlich sein würde, hatte ich innerlich prophezeit und überraschte mich kein Stück. Seit ich mich erinnern kann, war er schon immer der unzuverlässigste von uns Dreien gewesen. Ein Problemfall, wie meine Mutter es gern ausgedrückt hatte.

Er ließ sich ein paar Stühle neben uns nieder und starrte von da an auf seine Handflächen, als stünde in ihnen eine Erklärung für seine Verspätung, die er dem Beamten nur hätte vorlegen müssen. Brandon war groß und im Vergleich zu mir und meinem Bruder eher kräftig gebaut. Ich hatte ihn seit einiger Zeit nicht gesehen und doch fielen mir seine locker sitzenden Klamotten gleich auf. Er war dünner geworden. Sein dunkles Haar war ähnlich wie Meines stets kraus und wirr. Er hatte sich sogar in einen Anzug gezwängt, der ihm zwar viel zu locker saß, ihm aber trotzdem einen gewissen Grad an Seriosität auferlegte. Seine blasse Haut strahlte im Kontrast zu dem Tiefdunkelblau seines Wracks und den dunklen Schatten unter seinen Augen noch ein wenig heller als normal. Er sah erschöpft aus und doch irgendwie bedrohlich.

Im Augenwinkel konnte ich seine Kieferknochen beobachten, die sich in rhythmischen Abständen hin und her bewegten. Seinen Kopf immer noch nach unten geneigt, linste er durch seine Haare zu mir und Matthew, welcher jedoch zu beschäftigt damit war jedes Wort des Beamten genaustens zu analysieren und aufzusaugen, als befände er sich im Finale der Brain Olympics. Ich nickte ihm unauffällig zu. Seine dunklen Augen blieben einen Augenblick auf uns gerichtet, dann wandte er sich wieder ab.

 

Ein Drittel für jeden von uns. So lautete der Beschluss, den unsere Eltern vor ihrem Tod für uns gefasst hatten. Obwohl Brandon nicht ihr leiblicher Sohn war, war er immerhin der Sohn von der Schwester meiner Mutter gewesen. Sie war schon vor einigen Jahren an den Folgen einer schweren Krebserkrankung und einer erfolglosen Chemotherapie gestorben. Brandons Vater, dem vor mehr als zwanzig Jahren das Sorgerecht wegen häuslicher Gewalt und Alkoholmissbrauch entzogen wurde, hatte sich auf den ausdrücklichen Wunsch seiner Frau an einem unbekannten Ort niedergelassen und seit je her nie wieder einen Versuch gestartet zu seinem nun erwachsenen Sohn Kontakt aufzunehmen. Er könnte auch tot sein. Für Brandon jedenfalls war er das schon seitdem er denken kann. Er hatte nie viel über seine Vergangenheit gesprochen und wenn doch, dann wohl eher mit Matthew.

Vermutlich bin ich in ihren Augen immer zu jung gewesen und sie wollten meine unschuldige, reine Kinderseele nicht mit unnötigem Ballast beladen. Und trotzdem hatte meine Seele, die mittlerweile nicht mehr ganz so unschuldig war wie vor zehn Jahren, das Gefühl nicht alles über die Geschehnisse zwischen den Beiden zu wissen.

Immerhin hatte mein Bruder ihn die ganze Bekanntgabe keines Blickes gewürdigt und auch als wir den Raum verließen meinen Arm gepackt und mich schnellstmöglich in Richtung unseres Parkplatzes gedrängelt. Und wer um alles in der Welt war der Mann, mit dem er vor dem Termin etwas abseits des Gebäudes gesprochen hatte. Wir hatten es auf einmal so eilig, dass ich keine Chance mehr hatte mich vor dem Gebäude nach ihm umzusehen. Hätte dieser Mann etwas mit unseren Eltern zu tun gehabt, hätte Math es mir gesagt, da bin ich sicher. Demnach kann er nur mit Brandon in Verbindung gestanden haben.

Es fuchste mich, ihn nicht gleich darauf ansprechen zu können und doch wollte ich die Stimmung während der Heimfahrt nicht kaputt machen. Matthew und Maddie waren beide bester Laune. Sei es aus Erleichterung, dass der Nachmittag geschafft war oder in Maddies Fall aus Freude darüber uns beide glücklich zu sehen. Um den Schein meiner vermeintlich guten Laune zu wahren, hatte ich vor Einstieg ins Auto für den heutigen Abend ins Jos, unserer Lieblingsbar, geladen.

 

„Hey Vic, bring gleich die Schlüssel mit rein und lass sie nicht wieder stecken. Du solltest dich geehrt fühlen, dass ich dir mein Baby noch überlasse, nachdem du sie neulich schutzlos mit eingestecktem Zündschlüssel hast stehenlassen. Du weißt was mit DIR passiert, wenn IHR etwas passiert. Wir sehen uns später.“ Grinsend deutet er auf seinen Wagen und lässt die Haustür ins Schloss fallen. „Was ist denn mit dem los?“ lachend wendet sich Maddie von mir ab, öffnet die Beifahrertür und setzt sich. Es liegen tatsächlich Welten zwischen dem Matthew, der heute Morgen sein Auto beinahe selbst zu Schrott gefahren hätte und dem, der vor Erleichterung und Tatendrang im Augenblick nur so strotzt.

Ich hatte Maddie nichts von dem morgigen Vorfall erzählt und hatte es auch nicht vor. Sie hatte sich genug um uns beide gesorgt und uns wahnsinnig durch die zurückliegende Zeit hindurch geholfen. „Vermutlich ist er einfach nur froh darüber jetzt endgültig mit allem abschließen zu können. Die ganze schwere Zeit endlich hinter uns lassen weißt du“ spekuliere ich, nachdem ich den Van halbwegs souverän aus unserer Hausauffahrt manövriert hatte. War es tatsächlich nur das oder möglicherweise auch das Wissen Brandon nicht mehr sehen zu müssen. Ihn aus seinem Leben verbannen zu können. Auszuradieren. Seitdem Brandon nach dem Tod unserer Eltern in eine eigene Wohnung gezogen war und die Familientreffen samt Beerdigung gelaufen waren, war der heutige Tag der einzige, von dem mein Bruder wusste, dass er ihm noch einmal begegnen muss.

„Du hast recht, das wird es sein…“ Maddie legt ihre Hand auf meinen Oberschenkel und verursacht in mir eine Welle des Wohlbefindens, die mich überkommt und mich fast den Blick auf die Straße vergessen ließ. „Und dir, wie geht es dir nun?“ „Gut“ lüge ich mich selbst dafür hassend und parke den Wagen in einer Parklücke gegenüber ihrer Wohnung. Sie beugt sich zu mir hinüber und gibt mir einen Abschiedskuss. „Dann ist ja gut. Wir sehen uns heute Abend, ja? Ich liebe dich.“

Ohne auf eine Antwort von mir zu warten, schlägt sie die Beifahrertür zu, macht kehrt und läuft in Richtung ihrer Eingangstür.

„Ich liebe dich auch Maddie.“

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 22.08.2019

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
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