Erwin
Erwin Schreiber war ein attraktiver Fünfziger. Vor sechs Wochen erst hatte er im Gemeindehaus seines Dorfes mit all seinen Freunden aus dem Kirchenkreis, der Feuerwehr und dem Fußballverein Münztal seinen Geburtstag gefeiert. Der erste Vorsitzende vom FC hatte ihm mit feierlicher Laudatio einen speziell in Auftrag gegebenen Trainingsanzug überreicht. Einen, der mit Erwins Namen und seinem neuen Titel bedruckt war. Erwin war ja vor kurzem zum Jugendtrainer der F-Junioren, auch Pampers-Mannschaft genannt. Auf diese Aufgabe freute er sich besonders. Er konnte gut mit Kindern umgehen; das zumindest hatte seine Frau ihm früher immer wieder bestätigt, wenn er sich liebevoll und in zärtlicher Aufmerksamkeit um seine beiden Kinder kümmerte. Das allerdings war inzwischen schon zwanzig Jahre her. Doch er dachte sehr gern an diese Zeit. In dieser hatte er nur ganz selten schlaflose Nächte. Alpträume und Blackouts schienen für immer ein Thema der Vergangenheit zu bleiben. Es war eine absolut gute Zeit, wahrscheinlich sogar die beste seines Lebens.
Seine Frau hatte Erwin bei einem Kreiskirchentag kennengelernt. Sie war als Referentin angereist und hielt, als blutjunge Studentin, eine so brillante Rede, dass sie dafür tosenden Beifall erntete. Zu allem Überfluss war sie auch noch bildhübsch. Die braunen Locken umschmeichelten den schlanken Hals und betonten volle geschwungene Lippen. Ihre Kurven schienen wie nach den Maßen von Marilyn Monroe gezeichnet. Er, Erwin hatte sich die ganze Zeit gefragt ob sich überhaupt ein Mann auf ihre Rede konzentrieren konnte.
Keinen Moment hatte er sie aus den Augen gelassen, keine Gelegenheit wollte er verpassen um sich ihr zu nähern.
Frech und gewitzt wie er sich gern zeigte, war er am Ende ihrer Rede blitzschnell auf die Bühne gesprungen, hatte das Micro ergriffen und sie gebeten, für den Rest des Tages sein Gast zu sein.
Damals agierte sein Vater als Küster der Gemeinde und er Erwin, hatte von klein an bei den Gottesdiensten und vielen anderen Aufgaben mitgeholfen. So wunderte sich niemand besonders über seine öffentliche Einladung. Man war schon einige unkonventionelle Verhaltensweisen von ihm, Erwin, gewohnt.
Es hatte sofort zwischen ihm und ihr gefunkt.
Komischerweise verlor er bei Karin die Scheu vor einer engen Beziehung.
Obwohl er im Dorf von den Mädels sehr umschwärmt wurde, war Karin seine erste intime Freundin. Es war ein Traum mit ihr, den er niemals zu Ende träumen wollte.
Erwin trug sie auf Händen. Brachte ihr Blumen. Und wenn er beruflich eine Reise unternahm ging er in Dessous-Läden und kaufte ihr neckische Hemdchen und Babydolls. Nach einigen Monaten aber wagte er sich auch, ihr andere zarte und aufreizende Dessous mitzubringen. Er kannte ihre Größe, beim Kauf hatte er stets ihren Körper und ihr strahlendes Gesicht vor Augen. Karin war dankbar und glücklich über Erwins Aufmerksamkeit.
Im folgenden Jahr heirateten sie und wiederum ein Jahr später wurden seine Töchter geboren.
Diese kleinen, zarten Wesen, wagte er die ersten Wochen erst gar nicht anzufassen. Aber Karin ermutigte ihn sehr. So begann er, Windeln zu wechseln, Brei zu kochen und die beiden, je eins links und rechts auch Nachts herumzutragen.
Ein bisschen neidete er den Babys ihre Zartheit und Feingliedrigkeit. Sie waren als Mädchen geboren und durften ohne sich zu blamieren, diese auch zur Schau stellen. Er aber musste immer den Coolen mimen. Den Alleskönner, den Alleswisser. Den, der sich auch mal mit einem Fußballschuhstollen gegen das Schienbein treten ließ und der sich nicht vor brennenden Häusern fürchtete. So witzig und cool fand er seine Aufgabe in den Vereinen nun auch wieder nicht. (Aber in einem Dorf hatte nun mal jeder seinen Teil zur Gemeinschaft beizutragen. Wie sonst konnte ein lebendiges Miteinander zustande kommen? Was wäre wenn kein Dorfbewohner Bereitschaft zeigt eine ehrenamtliche Tätigkeit zu auszuüben?
Erwin war nicht von der Sorte der Drückeberger. Er machte sich klar, dass die Mädchen seine Schutzbefohlenen waren und er für sie zu sorgen hatte. Punkt und basta. Was nutze es, sich mit Neidgefühlen zu beschäftigen. Und überhaupt…
Karin hatte die Kinder geboren. Sie hatte Melanie und Marissa nahezu neun Monate lang unter dem Herzen getragen. Ihr Bauch war zu einer unförmigen Kugel heran gewachsen. Karin hatte während dessen über zwanzig Kilo zugenommen. Trotzdem kam kein einziges übles Wort aus ihrem Mund. Er hätte ihr so gern von der Last abgenommen, hätte wenn möglich auch Mal für eine längere Zeit den Bauch getragen. Ja und sogar Ihre riesigen Brüste hätte er gern genommen.
Damals geschah es, das er sich das erste Mal beim Büstenhalter für Karin verkauft hatte. Karin war im siebten Monat schwanger und er wollte ihr zeigen, dass sie nach wie vor begehrenswert war. Er kaufte ihr einen rosafarbenen, seidenen Büstenhalter, der zwei Nummer zu klein war. Erwin sollte ihn umtauschen. Aber er kaufte lediglich ein größeres Modell in gleicher Ausführung und legte sich das kleinere Modell ganz hinten in den Wäscheschrank. Es konnte ja sein, dass er Karin später wieder passen würde.
Karin wurde zwar wieder schlanker, aber nie mehr so schlank wie sie zuvor. So schlummerte der rosefarbene immer noch, jetzt zwanzig Jahre später, in der hintersten Ecke seines Schrankes.
Erwin kaufte seiner Karin nun wieder entsprechend passende Oberteile. Im Laufe der Jahre entwickelte er eine immer größere Begeisterung für zarte Frauenwäsche. Im engsten Freundeskreis blieb dies nicht verborgen, da Erwin bei üppigen Dekolletes Stielaugen bekam. Mit seinem losen Mundwerk hatte er dazu immer ein paar lockere Sprüche auf Lager. Ab und an spöttelten seine Freunde mit lautem Gegröle, er solle sich doch Silikontitten machen lassen, dann könne er sie immer ungeniert anfassen. Schließlich gäbe es auch Frauenfußball.
Erwin saß sicher mehr als eine Stunde auf der Toilette. Im Nachhängen seiner Gedanken an frühere Zeiten hatte er alles andere um sich herum vergessen.
Was wussten die denn schon wie ihm zu Mute war, welche Wünsche und Heimlichkeiten er hegte, was ihn quälte.
Er riss eine Fahne Klopapier ab und versuchte, während er sich säuberte auf andere Gedanken zu kommen.
Karin hatte ihn gebeten den Abfluss vom Spülbecken zu reinigen, bevor sie in die Stadt fuhr. Seine Töchter blieben Wochentags im Studentenwohnheim. Wenn Karin ihre Freundin traf, kam sie selten vorm späten Abend zurück. So konnte er den ganzen Nachmittag, ohne wenn und aber, für sich genießen.
Mit einem tiefen Atemzug verließ er das Bad und begab sich in der Küche ans Werk. Aber es klappte nichts. Er war fahrig, unkonzentriert. Hatten ihn die Gedanken an früher so von der Rolle gebracht? Er ging in die Garage, um passendes Werkzeug holen. Auch ein paar Putzlappen brauchte er noch. Er wühlte in der Altkleiderkiste und entdeckte darin Karins Umstandkleidung. Endlich hatte sie ausrangiert.
Sein Herz begann zu flattern. Seltsames Geschick; eben erst hatte er von der Zeit geträumt und nun…. Mit zittrigen Händen nahm er das rote Kleid mit dem etwas zu tiefen Ausschnitt und Rüschen auf. Erwin presste seine Nase tief hinein. Es hatte noch immer einen Hauch des betörenden Duftes von damals. Ihm wurde schwindelig und gleichzeitig fühlte er, wie eine innere Leichtigkeit und ein großes Selbstverständnis in ihm wuchs, so als habe er Cannabis geraucht. Er wühlte weiter, und fand all die Dinge die er so liebte, um die er Karin beneidete, wie konnte sie diese nur wegwerfen.
Erwin vergaß seinen ursprünglichen Anlass der ihn in die Garage trieb, nahm den Arm voller Kleidung und trug sie hinauf ins Schlafzimmer. Er suchte den kleinen rosefarbenen BH, riss sich sein T-Shirt vom Körper, hielt sich das winzige Etwas vor seine haarige Brust. Nein, der passte nicht. Kurz entschlossen machte sich Erwin an Karins Wäscheschrank zu schaffen. Erwin wühlte alles auf einmal aus der Schublade, fand aber keine passende BH-Größe. Er hatte doch in letzter Zeit schon Mal zu große Bustiere und Höschen gekauft. Wo waren die nur? Ach ja, er hatte sie im Koffer versteckt anstatt einen Umtausch zu organisieren. Zitternd kramte er im Koffer und entschied sich für ein dunkelrotes Satinhemdchen.
Es hatte ausgepolsterte Büstenteile. Ein passendes Höschen war angeheftet.
Zögernd glitten seine Hände über die glatte kühle Faser. Er spürte Erregung pur. Schnell entglitt er seiner Boxershorts und zwängte seine aufmüpfige Männlichkeit in den knappen Tangaslip. Es war nicht gerade geschickt von "klein Erwin" dass er sich partout ans Tageslicht drängeln wollte. „Groß Erwin“ hatte in der Tat seine liebe Not mit diesem vorwitzigen Kerl. Die Brust war zu flach, irgendwo im Bad gab es Watte.
Im Spiegel sah er seinen dunklen Stoppelbart. Weg damit, mit einer gründlichen Nassrasur, und Peelinggel rubbelte er sein Gesicht. Die Rötungen versuchte er mit Karins Makeup zu überdecken. Seine ungeübten Hände waren nicht besonders geschickt dabei. So nahm er lieber etwas mehr von der dunklen Creme. Sein schwarzes Haar trug er seit seiner Jugend zu einem kurzen Pferdeschwanz zusammengebunden. Er wagte es ihn zu öffnen und klemmte sich links und rechts übers Ohr je eine zierliche Haarklammer hinein.
Plötzlich tauchte ein Bild vor im auf, ein Bild aus Kindertagen, an denen seine Mutter ihm auch Haarklammern ins Haar gesteckt hatte, ihn liebkoste und manchmal flüsterte, wie schön es wäre, wenn er ihr kleines Mädchen wäre. Sie hatte sich schon immer ein Mädchen gewünscht. Aber dann wurde Erwin geboren. Mutter durfte keine Kinder mehr bekommen. So blieb er ihr Ein- aber nicht Alleskind. Was hätte er dafür gegeben, wenn er statt Erwin eine Elke oder Edelgard geworden wäre! Ihr kleines Mädchen eben!
Ach was, er verdrängte diese Gedanken mit einem unbewussten Kopfschütteln. Nun hatte er endlich den Mut, seine heimliche Sehnsucht einmal in die Tat umzusetzen, ohne dass er Karin in Angst und Schrecken bringen würde. Bisher wollte Erwin auf gar keinen Fall riskieren, dass sie vielleicht auch noch die Achtung vor ihm verlor. Nach all den Jahren war sie für ihn immer noch die schönste und liebenswerteste Frau die er nach seiner Mutter jemals kennengelernt hatte. Und jetzt würde er völlig mit ihr verschmelzen, Barfuss mit den Schritten eines Hünen, wohlgemerkt in außergewöhnlicher Kampfkleidung, eilte er ins Schlafzimmer zurück.
Dann streifte er sich behutsam, beinahe zärtlich das rote Kleid aus Singlejersy über. Wie wunderschön es war, obwohl, soviel Bauch hatte Egon nie besessen. Er begab sich wieder an Karins Schrank und lieh sich einen weichen schwarzen Ledergürtel aus, den er so eng schnallte, dass man ein bisschen Taille erahnen konnte.
Im Grunde fehlten nur noch die passenden Schuhe. Das allerdings stellte bei Schuhgröße fünfundvierzig ein Problem dar. Karins Schuhe hatten die Größe neununddreißig. Seine Töchter auch. Als er an sich herunterschaute, musste er schmunzeln. Er war eine Lady mit Elbkahnschuhgröße.
Fieberhaft überlegte Erwin wie er an entsprechende Schuhe herankommen konnte. Plötzlich fuhr es im durch den Kopf das seine Mutter früher in einem Schuhgeschäft gearbeitet hatte und das sie manchmal Ausstellungsstücke mit kleinen Mängel geschenkt bekam. Eines Tages brachte Mutter ein Paar riesengroße graue Pumps mit, die für Werbezwecke ausgedient hatten. Wenn es diese Schuhe noch gab, dann war die einzige Möglichkeit sie auf dem Dachboden Er griff in die Ecke wo der Stab stand mit dem er die Falltüre des Spitzbodens öffnete. In gewohnter Manier stieg er gleich auf die zweite Stufe der Treppenleiter und ratsch… riss er sich die linke Saumnaht seines Schwangerschaftskleides auf. Er würde sich noch gewaltig umstellen müssen, um mit den Bedingungen eines Frauendaseins klar zu kommen. Ärgerlich kletterte er nun vorsichtig Stufe für Stufe hoch. Auf dem Spitzboden konnte er nur sehr gebeugt gehen, weil dieser mit ein Meter achtzig Höhe zu niedrig für seine stattliche Größe war. Es dauerte eine Ewigkeit bis Erwin sich zum Giebel des Hinterhauses vorgearbeitet hatte und die Stapel Kartons, vollgepackt mit unnützen Dingen vergangener Tage, durchsucht hatte. Er fand sie einfach nicht. Hatte er sich getäuscht. Waren die Pumps, von ihm unbemerkt, entsorgt worden? Solche Anwandlungen traute er Karin durchaus zu.
Missmutig… drehte er sich zur Falltüre hin, wäre zu schön gewesen um wahr zu werden. Genau in dem Moment als der auf die obersten Stiege der Leiter seinen Weg nach unten antrat, hörte er Stimmen vor seinem Haus. Sein Körper erstarrte.
Erwin wollte eilig wieder die Stufen hinaufsteigen, doch das Lähmungsgefühl hielt an. Sein Atem stockte, im Erdgeschoß wurden Schlüsselgeräusche deutlich. Ihm wurde heiß und kalt während er jeden einzelnen Pulsschlag vernahm. Aus der Diele rief eine sehr vertraute Stimme: Erwin, hallo Erwin ich bin wieder da! Erwin rührte sich nicht, sein Kopf dröhnte und schien jeden Moment zu platzen. Herzstiche, Engegefühl in seiner Brust. Erwin, warum antwortest du denn nicht, hallo. Dicke Schweißperlen bildeten sich auf Erwins Stirn. Das Dröhnen wurde zunehmend stärker.
Erwin: „Wo bist du denn? Ich habe uns Kuchen mitgebracht.“
Erwin wollte sich wieder mit großem Kraftaufwand nach oben bewegen. Doch vor seinen Augen bildeten sich Blitze. Gleichzeitig empfand er wahnsinnige Schmerzen, die bis in den linken Arm ausstrahlten.
Karin lief in jeden Raum des Untergeschosses. Erwin hatte nichts davon gesagt, das er außer Haus gehen wollte. Auf dem Küchenboden lag der auseinander gebaute Siphon des Spülbeckens. Verwundert stieg Karin langsam die Stufen zur oberen Etage hoch. Von dem Linksknick der Treppe aus konnte sie Erwins nackte Füße erkennen.
Erwins Atem ging schwer, vor seinen Augen wurde es Nacht. Karin setzte leicht erbost zum wiederholten Rufen an als Erwin die Leiter regelrecht herabrutsche sich überschlug und ihr unaufhaltsam entgegen flog. Sie wollte ihn aufhalten, er aber riss sie mit nach ganz unten.
Es war inzwischen Samstagmorgen. Melanie und Marissa hatten wie jeden Samstag Brötchen eingekauft. Beide staunten über den vollen Briefkasten. Das war doch gar nicht Papas und erst recht nicht Mamas Art. Marissa steckte den Schlüssel ins Schloss und öffnete die Haustüre. Nach wenigen Zentimetern aber blockierte etwas ihren Eintritt. Während Melanie zum Kellereingang eilte kramte sie den Kellerschlüssel aus ihrem Schlüsselbund hervor, lies die Türe einfach weit offen stehen und rannte förmlich die Stufen zur Diele hinauf. So etwas hatte es noch nie gegeben, die Eltern waren immer zu Hause. Marissa hörte von draußen Melanies schrillen Schrei. Angsterfüllt rannte sie durch den Keller ins Haus. Im Flur lag Mama unterm Papa begraben und Melanie hatte sich laut schluchzend über die beiden geworfen. Ihr begannen die Knie zu zittern. Sie zog Melanie zur Seite Schulter und befahl ihr mit heißerer Stimme den Arzt anzurufen während sie erstmal ihrem Vater die Hand auf Stirn legte und dann die Schlagader ertastete. Es gab kein pulsieren mehr. Unschwer konnte sie erkennen dass die Leichenstare bereit eingetreten war.
Auch Karin war blass und kalt... ihr Puls war schwach, sehr schwach.
Marissa schrie auf: Melanie solle ihr zu Hilfe kommen. Gemeinsam zehrten die Schreiber-Töchter den Vater von Mutters Körper doch der Tod schwebte ein zweites Mal durch den Raum.
Weitaufgerissenen Augen stellten wortlose Fragen
© Heike Keuper-g / Mai 2010
Tag der Veröffentlichung: 27.09.2010
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