Harald Weiss
Das Minzblatt
Kartl und Neuner wieder unterwegs
All die in dem Buch geschilderten Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen wären zufällig oder nicht beabsichtigt.
Harald Weiss - Point of Books 2017
Alle Rechte vorbehalten
Fränkischer Krimi
Originalausgabe
Beginn
Nichts ist so wie es ist. Kein Ort, kein Wort. Weder Leben noch Tod.
Seine letzten Gedanken gehörten der Poesie, die er so liebte. Sie verdrängte den spürbaren Schmerz, die beklommene Traurigkeit in ihm.
So ist das also, wenn das Leben zu Ende geht. Der Tod streckt dir die Hand entgegen, und doch willst du sie nicht nehmen.
Schemenhaft sah er vor sich eine Gestalt. Dessen Grinsen konnte er nicht durch den Schleier vor seinen Augen erkennen. Was willst du wirklich von mir? Was ist der Sinn des Ganzen? Die Kunst der Worte?
Seinen bevorstehenden Tod konnte er sich nicht erklären. Ich bin nicht reich. Habe keine großen Vermögenswerte hier in der Wohnung. Warum also?
Nur, die Beantwortung dieser Frage erlaubte sein Zustand nicht mehr. Sein gesamtes Leben zog an ihm vorbei. Die unbeschwerte Kindheit, sein Beruf als Bibliothekar, der Tag seiner Hochzeit, die glücklichen und traurigen Momente, bis zum heutigen Tag hier und jetzt. Lebensstationen wie aufgereiht auf einer Perlenkette, im Zeitraffer abgespielt.
Die Sehnsucht nach dem Leben überspielt unsere Naivität, Dingen auf den Grund gehen zu wollen. Vielleicht mein allerletzter Fehler. Ein tödlicher. Ein Fehler, der mich nun alles kostet.
Die Kraft seines Körpers verließ ihn. Zum letzten Mal tauchte die Silhouette vor ihm auf.
Du gehst. Und ich? Öffne dein Herz und bereichere deine Seele. Was es doch für blödsinnige Sprüche gibt.
Ein letzter Atemzug und er sackte in seinem Stuhl zusammen. Der Kopf kippte leicht nach rechts, und kurz vor dem Exitus roch er diesen frischen Duft, den er vorher nicht wahrgenommen hatte. Woher er kam und wonach er roch, konnte er nicht mehr überlegen, dazu fehlte ihm schlichtweg die Zeit. Die Zeit seines Lebens war abgelaufen. Zurück blieb die Stille in seiner Wohnung.
***
1. Kapitel
Zwei Tage später befanden sich die beiden Kommissare Kartl und Neuner auf einer Messe in Nürnberg, der Enforce Tac. Neueste Trends in Polizeiausrüstung, Sicherheit und taktischen Lösungen.
Nachdem ja bekanntermaßen nach dem Mord gleich vor dem Mord war, widmeten sie ihre ganze Aufmerksamkeit deshalb diesem Event.
Kartl und Neuner, zwei erfolgreiche Polizisten der Mordkommission Forchheim, hatten sich im Zuge ihrer bisherigen Mordfälle in einem großem Einsatzgebiet bewegt. Nicht nur rund um Forchheim, nein selbst die Städte Erlangen und Nürnberg waren vor ihnen nicht sicher.
„Mensch Max“, staunte Kartl beim Rundgang durch die Halle, vorbei an den gut besuchten Messeständen. „Hast du schon mal so viele Kollegen auf einen Haufen gesehen?“
„Nein. Aber muss ich auch nicht. Bin voll und ganz bedient mit dir.“
„Na, na“, tadelte ihn Kartl scherzhaft. „Hier kannst du dich zum Oberpolizisten ausstatten lassen.“
„Das stimmt. Aber ich glaube, wir sind, wie wir sind und so soll es auch bleiben.“
„Ermittlungstechnisch bringt dich das nicht immer weiter. Manchmal zählen die Erfahrung und der richtige Riecher mindestens genauso viel.“
„Wie wahr“, gab ihm Max recht.
Gerade als sie sich zur Stärkung einem Stand mit allerlei Köstlichkeiten näherten, störte Kartls Diensthandy ihren geplanten Abstecher.
„Hast du immer noch diese alte Klassiknummer als Klingelton drauf?“, zog ihn Max auf.
Barsch winkte Kartl ab und sprach laut mit dem Gegenüber am Telefon. „Ja? Ich verstehe kein Wort. Moment.“
Er dirigierte Max hinaus aus der Halle. Hoffentlich ist es da ein wenig ruhiger. „Jetzt“, sprach Kartl weiter.
Eine Zeit lang lauschte er stumm. Nur das Verdrehen von Kartls Augen signalisierte Max, dass etwas im Busch war. Nach einer ganzen Weile verabschiedete sich Kartl. „Prantl, dafür bist jetzt du mir was schuldig. Nun drehe ich den Spieß herum.“
Ein Grinsen überflog das Gesicht von Max. „Sepp, du wirst doch nicht etwas was spendiert bekommen? Was ist los?“
„Der spinnt doch. Keine Ahnung. Ja, Nein, nicht ganz. Nachbarn machen sich Sorgen um einen Nachbarn. Er ist seit zwei Tagen nicht mehr gesehen worden.“
„Rührend. Und wo?“, fragte Max neugierig.
„In Nürnberg.“
„In Nürnberg? Und da sollen wir beide hin? Sind wir zwei Oberbullen jetzt Gast in der Show Vermisst! Bitte melde dich? Ich fasse es nicht.“ Max schüttelte ungläubig seinen Kopf mit den blonden, kurzen Haaren. „Warum machen die das nicht selbst?“
„Der Prantl meinte, die Nürnberger Polizei richtet die Messe mit aus und ist personell stark eingebunden hier. Und nachdem ja nicht klar ist, was passiert ist...“
„...haben Sie sich gedacht, schicken wir die beiden Deppen aus der Provinz dorthin“, fiel ihm Max ins Wort.
„Sie wollen ihre Kapazitäten nicht strapazieren.“
„Dann lieber unsere oder?“ Max musste fast lauthals lachen.
„Der Dieter hat indirekt darum gebeten.“
„Dann ist es was anderes. Der einzig Nette dort.“ Zumindest klang Max ein wenig besänftigter.
Der Prantl, Harald Prandlhuber, ein alter Spezi vom Kartl und der Dieter, seines Zeichens Dieter Wohlgemut, Kommissar aus Nürnberg, waren sich schon beim letzten Mordfall begegnet.
„Wo genau müssen wir hin, wenn es sich schon nicht vermeiden lässt?“
„Nach Sündersbühl, wenn ich mich nicht verhört habe.“
„Gibt es zumindest“, antwortete Max, der in Nürnberg geboren war.
„Prantl schickt gleich die komplette Adresse aufs Handy und bestellt einen Schlüsseldienst dorthin.“
„Nur gut, dass wir hier auf der Messe fast alles gesehen haben. Sonst wäre es echt bitter gewesen. Quickie in der Messe.“
„Früher hätte ich gesagt, du kennst dich aus damit. Aber du bist ja jetzt in festen Händen“, lachte Kartl.
„Das sagt gerade der Richtige. Immer fleißig am Flirten. Oder seid ihr schon enger zusammen.“
Max spielte auf die Liaison mit Inge an. „Wir lassen es langsam angehen“, entgegnete Kartl, wobei der Gedanke an sie sein Herz sehr erwärmte.
So zogen sie los über die Garderobe zum Auto auf dem Messegelände. Prantl übermittelte ihnen zwischenzeitlich die genaue Adresse. Nansenstraße.
Als sie im Auto Platz nahmen, gab Max die Straße ins Navi ein und Kartl steuerte den Wagen direkt zur besagten Anschrift. Mittlerweile herrschten ganz angenehme Temperaturen für den 1. März.
Die Mittagszeit war gerade vorüber. Es war 13:30 Uhr. Nach einer halben Stunde Fahrt näherten sie sich ihrem Zielgebiet. Noch fünf Minuten, signalisierte ihnen die Anzeige des Navis.
„Was wird uns da wohl erwarten?“, grübelte Kartl laut.
„Keine Ahnung“, entgegnete ihm Max mit einem Achselzucken. „Irgendjemand, der vielleicht gestorben ist, oder eine verwaiste Wohnung, weil der Mieter irgendwo in der Welt unterwegs ist. Glaubst du hier in der Großstadt interessiert sich jemand für den Anderen?“
„Zwei Tage vermisst, hat der Prantl gesagt. Das ist ja fast schon aufmerksam. Aber im Ernst. Erkundigst du dich jeden Tag bei deinen Eltern?“
„Nein. Und du. Bei deiner Mutter?“
„Ebenfalls nein.“ Kartl lenkte nachdenklich den Wagen in das Wohngebiet.
Was für eine Gesellschaft sind wir geworden? Sind wir alle Einzelkämpfer? Egoisten? Selbstgefällige Idioten, die nichts mehr um sich wahrnehmen?
„Schau dir das an“, forderte er Max auf und deutete mit seiner linken Hand aus dem Fenster hinaus. „Block für Block. Drei Stockwerke hier, vier Stockwerke dort. Wer wohnt hier? Wer kennt hier wen?“
„Ich weiß es nicht.“ Max kauerte während dieser bedrückenden Situation unruhig in seinem Sitz.
Ein paar Minuten später standen sie vor dem Anwesen. Ein Altbau, ein wenig in die Jahre gekommen. Der bestellte Schlüsseldienst ließ noch auf sich warten, und so verinnerlichten sie aufmerksam die Umgebung vor dem Gebäude.
Acht Parteien zählte Kartl beim Anblick auf das Klingelschild am Haus. Nirgendwo sehe ich ein Fenster, bei dem das Rollo heruntergelassen ist. Vielleicht doch nicht verreist?
Nach fünf Minuten lästigen Wartens traf der Mann des Schlüsseldienstes gemütlich schlendernd bei ihnen ein.
Um sich Zutritt zum Haus zu verschaffen, klingelte Kartl erst bei der vermissten Person. Schubert K.
Nachdem sich nichts rührte, versuchte er es an der Klingel daneben. Einen kurzen Augenblick später summte es, Kartl drückte kräftig die Eingangstür auf, und schon standen sie in einem kalten Treppenhaus. Mann oh Mann, einbruchssicher ist diese Tür auch nicht.
Eine ältere Frau reckte ihnen ein paar Stufen über ihnen den Kopf entgegen. Bevor sie etwas sagen konnte, klärte Kartl sie auf.
„Kriminalpolizei. Kartl. Hier mein Kollege Neuner. Wir kommen wegen Herrn Schubert. Kennen Sie ihn, oder haben Sie uns vielleicht verständigt?“
„Ja“, erklärte die alte Dame kühl.
„Was ja?“, fragte Kartl nach.
„Na ja, dass ich ihn kenne, und ja, ich habe sie angerufen. Ich habe den Schubert schon seit zwei Tagen nicht mehr gesehen.“
„Und das ist ungewöhnlich?“, argwöhnte Max.
„Ja, weil er jeden Tag mindestens einmal das Haus verlassen hat.“
„Warum haben Sie ihn dann nicht schon gestern als vermisst gemeldet?“
„Ich war gestern nicht da. Ausflug mit der Gemeinde. Heute habe ich von der Frau Huber über mir erfahren, dass sie ihn gestern nicht gesehen hat. Deshalb habe ich die Polizei angerufen. Er macht ja auch nicht auf.“
„Vielleicht ist er verreist.“
„Nein, der Schubert ist seit Jahren nirgendwo mehr hin verreist. Das wüsste ich.“
„Und wie bekommen Sie mit, wann er das Haus verlässt?“ Max blieb skeptisch.
„Wenn Sie hier wohnen, bekommen sie es mit.“
Kartl und Max schauten sich schweigend an. Große Lust verspüre ich nicht, dachte sich Kartl.
„So, dann wollen wir mal nachsehen“, wandte er sich an den wartenden Mann des Schlüsseldienstes, mit dem Auftrag, die Wohnungstür zu öffnen.
„Schwierig?“, wollte Max wissen.
„Sie machen Scherze. Das kann selbst unser Azubi.“ Zwei Sekunden später sprang die Tür fast lautlos auf. Ein kleiner Flur erschien im Blickfeld der Kommissare.
„Wollen wir?“, sagte Kartl auffordernd zu Max. Kurz blickte er zur Nachbarin hinter sich und meinte „Sie bleiben draußen.“
„Ist ja gut“, kam es mürrisch zurück.
Max entließ den Schlüsseldienst, und Kartl trat als Erster in die Wohnung ein.
Eine gemütliche Altbauwohnung offenbarte sich ihnen. Rechts der erste größere Raum war das Wohnzimmer. Erstaunlich, dachte sich Kartl, so aufgeräumt und sauber habe ich es gar nicht erwartet. Und es riecht auch nicht ungewöhnlich.
Im ersten Raum befand sich das WC, danach kam das Badezimmer. Zwei Türen befanden sich noch vor ihnen. Eine links und eine rechts, beide verschlossen. Komisch, alle anderen Türen sind offen.
„Max, aufpassen, wenn wir reingehen. Wir wissen nicht, was uns erwartet.“
Mit dem gezückten Daumen gab dieser ihm seine Zustimmung. Kartl deutete fragend nach links und rechts. Max entschied sich für rechts.
Vorsichtig öffneten sie die alte Holztür zur Küche, wie es sich auf den ersten Blick herausstellte. Links stand eine alte Küchenkommode, vor ihnen eine Tischgarnitur, umstellt von vier Stühlen. Auf dem linken vorderen Stuhl saß jemand mit dem Rücken zu ihnen.
Ganz langsam näherten sie sich von hinten. Ein Mann. Soviel erkannten sie sofort.
„Das scheint der Schubert zu sein“, stellte Kartl fest. „Da ist nichts mehr zu machen. Der ist tot.“
„Mann, du legst aber ein Tempo vor bei deinen Schlussfolgerungen. Todesursache?“
„Bin ich Jesus?“
„Nein, aber von der Polizei. Vergessen?“
„Mach dich nur lustig über mich. Ich kann nicht hellsehen. Schaut ganz normal verstorben aus. Fällt dir mit deinen Adleraugen auf die Schnelle etwas auf?“
„Soll ich mal den Günther spielen?“
Trotz des traurigen Fundes musste Kartl darüber herzhaft lachen. Günther war der Gerichtsmediziner der PI Forchheim.
„Also“, legte Max nach einem langen Blick durch die Küche los. „Todesursache noch unbekannt. Schaut friedlich verstorben aus. Keine Fremdeinwirkung. Zumindest nicht sichtbar.“
„Weiter“, stachelte ihn Kartl an.
„Eine Teetasse vor ihm auf dem Tisch. Fast leer. Keine zweite Tasse. Ebenso keine Einbruchsspuren an der Eingangstüre. Kein Durcheinander.“
Schnell zog sich Max Handschuhe an, nahm die Tasse Tee in die Hand und schnupperte daran. „So lecker riecht der nicht mehr.“
„Zeig mal her.“ Kartl schnupperte ebenso daran. „Mmmmhhh, schwer zu beurteilen. Riecht ein bisschen streng. Vielleicht zwei Tage zu lange gezogen.“
„Vielleicht. Was haben wir sonst noch? Ein paar Kräuterblätter, so wie es ausschaut? Gut, ist ja die Küche hier. Auf den zweiten Blick würde ich erst einmal die Todesursache als eine rein Natürliche ansehen. Was machen wir jetzt?“
„Letztendlich muss das nochmal untersucht werden. Entweder wir holen die Sanitäter oder wir ärgern Günther damit. Nach dem Motto, mitgehangen, mitgefangen.“
„Du bist mir einer“, freute sich Kartl. „Dann bestelle ihn doch mal her. Aber piano. Mache keine Pferde scheu.“
„Klar. Der bekommt eh einen Anfall, wenn er wieder nach Nürnberg muss.“
Max verließ die Küche, um Günther zu verständigen. Derweil begutachtete Kartl die Küche. Überall hingen Sprüche an den Wänden.
Das Leben ist ein besonderes Element im Fluss des Universums.
Ein wenig weiter rechts.
Wenn die Saat nach oben drängt,
dem Licht voller Streben nach entgegen,
durch den Boden sich zwängt,
auf der Suche nach offenen Wegen.
Ganz schön abstrakt. Damit kann ich ja überhaupt nichts anfangen. Gedichte. Kartl schüttelte sich kurz. Noch so ein Vers.
Nichts ist so wie es ist. Kein Ort, kein Wort. Weder Leben noch Tod.
Kurz darauf kam Max vom Telefonieren zurück. „Günther macht sich auf den Weg. Er hat gefragt, ob er gleich die Einweisung für die Klapse für uns beide mitbringen soll.“
„Der soll mal halblang machen. Sonst erweitern wir die Einweisung auf drei.“
Grinsend pfiff Kartl leise vor sich hin. „Sind dir die ganzen Sprüche an den Wänden schon aufgefallen?“
„Die gesammelte Poesie meinst du?“
„Poesie?“
„Weißt du überhaupt, wie man das schreibt?“
„Vorsichtig junger Spund“, lächelte Kartl nachsichtig.
„Anscheinend ist der Herr Schubert ein sehr belesener und kulturell gebildeter Mensch gewesen“, stellte Max nüchtern fest.
***
Nervös richtete sich der Blick auf die verschiedenen Ausgaben der Tageszeitungen, die am Boden ausgebreitet lagen. Inserat für Inserat durchforsteten die Augen, hinter denen ein heller Verstand aufblitzte. Wirklich helle? Nach dem gestrigen Tag? Dem Tag der erneuten Abrechnung. Ein dicker roter Marker in der Hand malte schnell einen Kreis um eine Anzeige in der Tageszeitung. Es kribbelte in den Fingern, und eine leichte Röte überzog das Gesicht. Doch bevor ein ungutes Gefühl in dem Körper hochkriechen konnte, griff die Hand zu einem wundervoll geschwungen Füller und verfasste einen Text voller Poesie auf gebleichtem Büttenpapier.
***
Seit einer Stunde untersuchten sie die Wohnung des Verstorbenen. Vorsichtig, unaufgeregt und ohne jeglichen offiziellen Auftrag.
„Der hat ja alles gesammelt, was im großen Zusammenhang mit Kunst steht. Oder?“ Kartl stellte die Frage an Max.
„Ja. Der Klassiker, Briefmarken, Ersttagsbriefe. Wusste gar nicht, dass es so was überhaupt noch gibt.“
„Jede Menge Münzen, Krügerrand, sehr wertvoll. Also sollte er keines natürlichen Todes gestorben sein, dann sicherlich nicht wegen eines Raubmordes. Oder er hat soviel gehabt, dass es nicht auffällt, wenn etwas weg ist.“
„Und hier. Schau mal“, forderte Max Kartl auf. „Lauter Briefe einer Frau. Zumindest wenn mich die Handschrift nicht täuscht.“
„Nein, so schreibt kein Mann. Noch dazu so ein Gesülze.“
„Chef, du bist aber nicht sehr romantisch. Inge würde sich ärgern, wenn Sie dich so reden hört.“
„Hör mir auf damit. Hast du das schon gelesen? Da rollen sich einem ja die Zehennägel senkrecht auf.“
Vorsichtig nahm sich Max ein Blatt und hielt es ins Licht, das vom Fenster im Wohnzimmer hereinfiel, indem sie sich gerade befanden.
Werter geschätzter Freund!
Die Reise in den letzten Tagen zu mir selbst fühlte sich wunderbar an. Die innere Ruhe eines Bergsees, diese Gelassenheit der Gezeiten, dieses Loslassen der Emotionen. Herrlich. Du hast mir gezeigt, welche Worte in meinem Leben wichtig sind. Deine Zeilen schenken mir so viel Vertrauen und Zuversicht. Die Kraft ist so deutlich in mir spürbar, dass ich eine große Dankbarkeit verspüre. Danke und auf Bald.
Unangenehm berührt drehte Kartl während der ganzen Zeit seine Finger ineinander. Als Max zu Ende gelesen hatte, stieß er einen tiefen Seufzer aus. „Was ist das. Ein Techtelmechtel, eine Liaison?“
„In dem Alter?“, schob Max ungläubig nach.
„Ja. Alter schützt doch nicht vor Torheit. Eine junge, hübsche Frau macht dir schöne Worte. Welchem alten Trottel gefällt das nicht, so umschmeichelt zu werden. Etwas später die Änderung des Testaments, und schon bist du tot.“
„Jetzt bist aber ganz schön hart. Außerdem wissen wir ja noch gar nicht, ob es überhaupt was zum Ermitteln gibt.“
„Schon gut. Es gibt nur einen Grund, warum du im Alter sexy bist, und der ist viel Geld. Glaubst du etwa so einen Mist, wie in diesem Brief?“
„Zumindest finde ich es schön, seine Gefühle in Sprache auszudrücken“, gab Max ganz ehrlich zu.
„Gibt es irgendwo einen Absender?“
„Nein. Keine Adresse, kein Umschlag. Nur die einzelnen Briefe.“
„Sonderbar.“
Ein schriller Klingelton ließ die beiden Kommissare erschrocken zusammenzucken.
„Um Himmelswillen, da bekommst du ja jedes Mal einen Herzinfarkt“, stellte Kartl fest.
„Warte mal ab, wenn du so alt bist. Schwerhörig, fast taub, dann installierst du dir auch so eine Klingel.“
„Ach was“, winkte sein Chef ab und ging stattdessen zur Eingangstür um zu schauen, ob es Günther oder die neugierige Nachbarin war. Zu seiner Beruhigung stand der Gerichtsmediziner schon oben vor der Tür.
„Die Nachbarin ist so nett gewesen. Sagt mal, habt ihr sie noch alle? Seit eurem letzten Fall sind sämtliche Schrauben in euren Gehirngängen locker oder wie sehe ich das?“
„Komm erst mal rein. Entspanne dich.“
„Ich soll mich entspannen, wenn ihr mich hierher zitiert? Ihr wisst ja noch nicht mal, was hier passiert ist. Und wer zahlt das, wenn alles Bullshit ist? Ihr aus eurer Pensionskasse oder der Steuerzahler?“
Ganz schön echauffiert, bemerkte Kartl.
„Nachdem wir auch hierher zitiert worden sind, haben wir uns gedacht, da kann unser lieber Günther doch mit ins Boot geholt werden.“
„Gebe euch gleich einen lieben Günther. Also wo ist eure Leiche? Ich will so schnell wie möglich wieder weg hier.“
„Hinten rechts in der Küche“, klärte Max ihn auf und ging in den Raum voraus.
Günther folgte ihm und stellte seine Tasche auf den Fliesenboden, um sich den toten Herrn Schubert näher zu betrachten.“
„Und ihr glaubt, dass es etwas anderes sein könnte, als eine natürliche Todesursache?“
„Wir wissen gar nichts. Wir sind doch nicht Günther. Niemals würden wir uns anmaßen, etwas anzunehmen.“ Dabei zwinkerte Kartl Max zu. Dieser reagierte darauf mit einem leichten Grinsen.
Vorsichtig nahm Günther seine Arbeit auf und begann mit den Untersuchungen. Die beiden Kommissare schauten ihm dabei interessiert zu.
„Habt ihr an dem Tee schon gerochen?“
„Ja“, gaben sie ehrlich zu.
„Was aufgefallen?“
„Nein, nur dass er ein wenig streng gerochen hat. Aber nach zwei Tagen kein Wunder.“
„Was seht ihr auf dem Tisch liegen?“
„Ein paar Kräuter“, gab Max eifrig von sich.
„Mmmhhhhh, ein paar Kräuter“, überlegte Günther mit einem Stirnrunzeln. „Von euch kennt sich keiner aus, oder?“
„Wie auskennen? Womit?“
„Gartenkräuter. Küche. Kochen überhaupt.“
Ziemlich ratlos schauten sich Kartl und Max an. Beiden hoben ihre Schultern, um ihrer Ahnungslosigkeit Ausdruck zu verleihen.
„Wie seid ihr nur bei der Polizei gelandet“, tadelte sie Günther. „Die Tasse Tee, die hier steht, riecht auf den ersten Blick wie ein Kräutertee.“
„Und auf den zweiten?“, unterbrach ihn Kartl.
„Wie ein Kräutertee.“
„Verarschen können wir uns durchaus selbst“, bemerkte ein verärgerter Max.
„Wartet halt mal ab. Geduld habt ihr in Forchheim nicht gelernt. Kräutertee stimmt schon, aber nicht alle Kräuter, die für die Zubereitung verwendet worden sind, gelten als harmlos, wie ihr es vielleicht vermutet.“
„Gifttee?“, hakte Kartl nach.
„Eventuell.“ Vorsichtig nahm Günther ein Kraut nach dem anderen in die Hände. „Das hier ist Rucola.“?
Wieder blickten sich Kartl und Max leicht irritiert an.
„Dazu müsstet ihr beiden natürlich erst einmal wissen, wie Rucola überhaupt riecht.“ Er sog leicht den Duft des Krautes in seine Nasenflügel. „Das schaut aus wie Rucola, aber es ist keiner.“
„Was ist es dann?“, wollte Max wissen.
„Jakobs-Kreuzkraut. Hochgiftig. Seine Blätter ähneln denen des Rucola und es hat schon viele gegeben, die das Jenseits nach dem Verzehr schneller erblickt haben, als gewollt.“
„Was ist mit dem anderen Kraut?“ Kartl spürte eine gewisse Unruhe in sich aufsteigen.
„Nach was riecht es?“, fragte er und hielt es Max unter die Nase.
„Also, ein bisschen nach Minze. Wenn mein Geruchssinn mich nicht total verlassen hat.“
„Bingo. Minze. Und doch nicht“, korrigierte ihn Günther.
„Keine echte Minze oder was soll das heißen?“. So langsam überforderte es Kartl.
„Dem Anschein nach ja, aber dieses Minzblatt hier in meiner Hand ist eines von der sogenannten Poleiminze. Ebenfalls hochgiftig beim Verzehr als Salat oder zubereitet als Tee.“
„Also Mord?“ Kartl klang ein wenig verwundert.
Für einen kurzen Augenblick wandte sich Günther von den beiden ab, schaute nachdenklich zum Fenster hinaus, um wenig später sein Statement abzugeben.
„Vielleicht. Aber dazu fehlt der Beweis. Ich brauche erst einmal eine Blutprobe, und dann sehen wir weiter. Und ihr müsst herausfinden, ob er sich den Tee selbst gemixt hat oder nicht.“
„Nicht dein Ernst. Wie soll denn das gehen?“
„Seid ihr nun bei der Polizei oder nicht?“, veralberte sie Günther.
„Nun mal langsam zum Mitschreiben“, brachte sich Max in das Gespräch mit ein. „Das heißt, es kann sein, dass er beim Kräutersammeln versehentlich die falschen erwischt hat. Oder es hat ihm jemand in Arglist diesen Tee untergejubelt.“
„Genau, wobei Kräutersammeln um diese Jahreszeit ausscheidet. Er könnte sie sich aus dem Internet besorgt haben. Habt ihr hier einen Computer gefunden?“, gab Günther zu Bedenken.
„Nein. Im Internet? Wo denn? Im Dark-Net? Sicher bist du dir schon mit den Kräutern, oder?“, hakte Max nach.
„Schaut einfach mal ins Internet.“
Er nannte den beiden eine für sie sehr skurrile Internetadresse.
www.guenther-die-maennliche-kraeuterhexe.de
Max und Kartl schauten sich ratlos an, während Günther hoch motiviert fortfuhr. „Todesursache ist auf jeden Fall eindeutig eine Vergiftung. Dazu gibt es zahlreiche Hinweise, wie vergrößerte Pupillen, Hautrötungen und so weiter.“
„Wären wir doch auf der Messe geblieben“, seufzte Max. „Jetzt sind wir in Nürnberg. Haben einen oder keinen Mord und jede Menge Scherereien am Hals. Und einen Gerichtsmediziner, der in Rätseln spricht.“
Dieser lächelte süffisant vor sich hin.
„Lass mal gut sein“, stoppte ihn Kartl. „Ich setze mich mit Dieter in Verbindung, der gibt uns Rückendeckung. Und den Leichnam lassen wir nach Forchheim transportieren. Einverstanden Günther?“
Günther nickte kurz mit dem Kopf.
„Somit ist alles geklärt.“ Auch wenn sich dies für Kartl natürlich nicht so darstellte. Vor seinem geistigen Auge sah er den Überweisungsschein in die geschlossene Anstalt. Für Günther, Max, und sich selbst. Völlige Unzurechnungsfähigkeit bei der Ausübung des Polizeidienstes.
Schnell verwarf er den Albtraum in seinem Kopf.
„Max, wir ziehen ab. Lass uns in unserem Büro die Sachlage diskutieren. Vielleicht finden wir ja Angehörige, die von Schuberts Tod profitieren.“
„Enkel oder so. Hat es ja schon öfters gegeben.“
„Als Lösung ist 1 + 1 = 2 zu einfach“, lehnte Kartl die Theorie von Max ab.“
Sie verabschiedeten sich von Günther, begaben sich hinaus auf den Flur, wo ihnen erneut die Nachbarin von nebenan im Weg stand.
„Ach, weil sie gerade da sind“, nahm Kartl das Gespräch auf. „Wie ist Ihr Name noch einmal?“
„Meier. Margarete Meier. Mit i.“
„Frau Meier mit i“, wiederholte Kartl, „hat Herr Schubert öfters Besuch gehabt? Von jungen Männern oder von einer Frau?“
„Was denken Sie, was wir hier sind?“
„Sagen Sie es mir?“
Frau Meier überhörte die Frage, verschränkte ihre Arme und schnaufte kräftig auf, bevor sie antwortete.
„Sein Enkel ist ab und zu gekommen. Nicht regelmäßig.“
„Haben Sie eine Adresse oder eine Ahnung, wo er wohnt?“
„Bin ich bei der Polizei oder Sie?“, konterte sie zurück. „Einmal in der Woche besuchte ihn diese Frau. Mitte Fünfzig vielleicht. Ich habe sie nie gut sehen können. Sie hat um den Kopf immer einen Schal getragen, der weit in das Gesicht hineinhing.“
„Hat Herr Schubert mal mit Ihnen über die Besucherin gesprochen?“
„Nicht viel. Er meinte nur, das wahre Glück ist nicht das Sichtbare.“
„Warum muss immer jeder in Rätseln reden?“ Kartl ging es gewaltig auf den Geist. „Danke Frau Meier“. Ruck zuck eilte er hinaus auf die Straße. Irritiert folgte ihm Max.
„Was ist los, Sepp?“
„Ach komm, hör mir auf. Durchgeknallter Alter. Liebesschwüre, seltsame Reime. Dazu eine neugierige Nachbarin, die nicht minder seltsam als der Schubert ist. Das kann ja heiter bei den Ermittlungen werden.“
„Ja, aber du weißt doch: Der Mord am Morgen, beschert uns Arbeit und Sorgen.“
„Jetzt fang du auch noch mit dem Reimen an. Falls es Mord gewesen ist.“
„Ran an die Arbeit“, entschied Max, und sie fuhren aus Nürnberg hinaus zu ihrer eigenen Dienststelle in Forchheim. Keiner verspürte heute noch Lust, in Nürnberg weiter zu ermitteln.
***
Kurz hielt sie inne am verwaisten Briefkasten und blickte ein letztes Mal auf den Brief in ihrer Hand. Mit leicht zitternder Hand öffnete sie die Klappe und warf energisch den frankierten Umschlag hinein. Adieu, geh auf die Reise, gib mir ein Feedback auf meine Weise.
***
2. Kapitel
Zurück in ihrem Büro überlegten Kartl und Max, in welcher Reihenfolge sie was anordnen mussten. Noch gab es keinerlei nähere Informationen der SpuSi oder von Günther.
„Sepp, schau mal her“, riss Max Kartl aus dessen Gedanken. „Der Günther hat uns nicht veräppelt“.
Neugierig ging Kartl zum Rechner seines Partners und blickte auf eine Internetseite.
Willkommen auf der Seite der männlichen Kräuterhexe Günther, las er. „Das glaube
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Tag der Veröffentlichung: 18.11.2017
ISBN: 978-3-7438-4201-4
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Mein besonderer Dank gilt meiner Lektorin Birgit Hofmann, für die geduldige Fehlersuche und Ralph Meidl für den Entwurf des Covers. Außerdem ein großes Dankeschön an all die zahlreichen Testleser.