Cover

Nasen

„Nobody else but you, I wanna be loved by you,“ sang ich Marilyns Lied aus „manche mögen´s heiß“, jedoch nicht so hauchend und sexy wie sie es getan hätte. Dies sollte ja ein seriöser professioneller Auftritt sein.

Die letzten Akkorde des Klaviers neben mir ertönten, und dann hörte ich Applaus. Dezent, gelangweilt und es ging recht schnell unter dem Geräusch von leisen Gesprächen, bewegten Geschirr und Gelächter unter, wie man es von ein paar reichen Menschen gewohnt war. Ich verbeugte mich und stieg den Podest hinunter.

„Kira, ich bin so froh, dass du deine Meinung doch noch geändert hast!“, hörte ich eine Stimme neben mir sagen. Die Pianistin Georgia.

Ich hatte diesen Job angenommen, weil ich einer Freundin helfen wollte und singen das einzige war, in dem ich auch nur irgendwie zu gebrauchen war. Außerdem war die Bezahlung auch nicht ganz ohne. Aber ich entschied mich dafür meine Gedanken nicht laut auszusprechen.

„Ach, ist doch kein Ding“, antwortete ich lächelnd.

Ihre Sängerin war krank und ich war der Ersatz für einen Monat. Für gewöhnlich war ich die eine Kellnerin an Samstagen in einem Dinner, welches zu dieser Restaurantkette gehörte, jedoch deutlich weniger an Prestige hatte. Aber mein Musiklehrer, der zufällig ein enger Freund des Besitzers war, hatte vielleicht ganz nebenbei meinen Namen, verknüpft mit meiner unglaublichen Singstimme, fallen lassen.

Wo ich doch gerade an meinen Boss dachte:

„Georgia, wo ist Enrico?“

„Ich denke, dass ich ihn gerade in sein Büro, hab gehen sehen“

Nachdem ich mich aus diesem hautengem Glitzerkleid gepellt hatte suchte ich Enrico auf. Er war der Besitzer. Dieses kleine aber feine Restaurant war der ganze Stolz seines Vaters gewesen. Enrico allein hatte mit dem Geld, welches er geerbt hatte eine eigene Restaurant Kette und ein Hotel an Land gezogen.

Ich klopfte an seine Tür.

„Herein“

Sein Büro war wie er selbst, altmodisch. Aber es hatte etwas. An den braun tapezierten Wänden hingen Gemälde von Schiffen auf unruhigen Gewässern und direkt hinter Enrico hing eine majestätische Pendeluhr aus glänzend-lackiertem, dunklem Holz.  Der Schreibtisch war aus Mahagoni Holz- mir ist bewusst, dass ich keine Expertin bin, jedoch war ich mir sicher, dass jener wohl ein Vermögen wert sein musste- mit einem dazu passenden echten Lederstuhl. Zusammenfassend könnte man damit die Monatsmiete eines New Yorker Penthouses für ein Jahr finanzieren.

In dem Lederstuhl sitzend und in Dokumenten versunken saß Enrico, stirnrunzelnd. Um ihn herum stapelten sich Berge an Papieren und Ordnern. Er war ein großer, stattlicher Mann in seinen Fünfzigern und besaß weiterhin eine lockige Haarpracht und ein überaus jugendliches Auftreten. Doch heute, wie er so da saß mit einer Lesebrille auf der Nase, erkannte man jede Gesichtsfalte und jedes graue Härchen in seinem Stoppelbart. Selbst seine sonst so strahlenden blauen Augen, verloren ihren Glanz und die Übermüdung gewann an Dominanz.

„Enrico? Ich wollte nicht stören und ich werde auch gleich wieder gehen. Nur könnte ich mein Geld bekommen?“

Er antwortete nicht auf mein Gestotter. Stattdessen deutete er ohne aufzublicken auf den Holzstuhl vor ihm. Ich setzte mich und machte Ansatz ihn nach seinem Wohlergehen zu erkundigen als er mich unterbrach

„Wissen Sie was das ist?“, er hielt mir ein Blatt Papier ins Gesicht.

„Nein?“, sagte ich zögerlich.

„Es sind Scheidungspapiere!“, er wirkte den Tränen nah. So hatte ich ihn noch nie erlebt, obwohl ich wohl erwähnen sollte, dass ich auch noch nie zuvor ein privates Gespräch mit ihm geführt hatte.

„Angeblich verbringe ich mehr Zeit mit meinem Büro als mit ihr“, setzte er nun fort. Solche Begründungen kamen mir schon immer etwas suspekt vor. Immerhin wollte er nur seinen Traum erfüllen, das Restaurant gut leiten und Geld verdienen. Oder dachte seine Frau, dass er sie betrog? Wie dem auch sei, mir war die Situation unangenehm und ich fühlte mich ihr nicht gewachsen. Es war auch wirklich verrückt von Enrico ausgerechnet mich als Beziehungsberaterin zu wählen. Mich, die romantische Beziehungen, wahre Liebe und die Institution der Ehe als patriarchalischen Humbug abstempelte. Meine längste Beziehung war einen Tag lang und das nur, weil ich in einem fremden Land war und er sich bereit erklärt hatte mir eine Stadttour zugeben. Dies konnte ich ihm aber schwer ins Gesicht sagen.

„Haben Sie denn schon mit Ihrer Frau gesprochen?“, sagte ich. Er sah mich an als wenn ich in Morsezeichen spräche.

„Also nein? Naja, wenn sie mich fragen, gibt ihr genau solches Verhalten, den Grund für ihre Entscheidung“, ich sprach sehr langsam und wog jedes Wort ab. Es lief doch relativ gut, ich musste nur weiter wie Doktor Sommer reden.

„Sie lieben Ihre Frau doch? Nicht wahr?“, er nickte. „Genau! Also müssen Sie um Ihre Liebe kämpfen. Weniger Arbeitsstunden planen und gemeinsame Aktivitäten organisieren“, er nickte erneut.

„Jetzt. Sofort! Sie sollten zu ihr hinfahren, ihre Lieblingsblumen kaufen und sie um Verzeihung bitten“, das lief ja besser als erwartet. Er sah mich einige Sekunden lang an und sprang plötzlich auf.

„Sie haben recht! Völlig recht!“, er nahm seinen Mantel vom Stuhl, die Schlüssel vom Tisch und bewegte sich Richtung Tür.

„Warten Sie!“, sagte ich. „Ja?“, er drehte sich um. „Ich wollte nach meiner Gage fragen“, ich lächelte entschuldigend.

„Oh ja, natürlich.“, er eilte wieder zurück zum Schreibtisch, kritzelte etwas auf einen Zettel und drückte es mit in die Hand. „Auf Wiedersehen, Miss Abram.“ „Wiedersehen“, sagte ich fast schon sprachlos. Er hatte mir einen Check von über 500€ gegeben. Das war mehr als ich bekommen sollte. Doch wie sagt man so schön: „Nie einem geschenkten Gaul ins Maul schauen.“

„Danke“, rief ich ihm noch nach.

„Nichts, zu danken“, kam es zurück.

Grinsend spazierte ich zu meinem Spint und holte meine sieben Sachen. Mir blieben noch zehn Minuten bis mein Bus nachhause abfuhr.

Während ich die Uhr an meinem Handgelenk richtete, ging ich zum Ausgang und stieß mit jemandem zusammen. Fluchend sammelte ich meine herumfliegenden Notenblätter ein. „Es tut mir leid“, sagte ich zu dem Fremden, der sich vor mir hinkniete und half. Ich blickte auf. Es war ein Junge, vermutlich in meinem Alter oder etwas älter und er sah aus wie aus einem Modekatalog geschnitten. Er war schlank und trug ein blau kariertes Hemd. Er hatte dunkle ganz kurzgeschnittene Haare, perfekte Augenbrauen, auf die ich übrigens eifersüchtig war, hell grüne bezaubernde Augen und eine Jawline die Angelina Jolie Konkurrenz machte.

Er lächelte mich an. War ja klar, natürlich hatte er auch Grübchen! Während er meine Sachen aufhob und sie mir reichte, las er sie sich sichtbar durch. „Schon okay. Immerhin bin ich ja in dich hineingelaufen“, ich schluckte und verpasste mir selbst mental eine Ohrfeige. „Danke“, bekam ich heraus. „Hi, ich bin Anthony“, er streckte mir die Hand raus. Jugendliche, die sich die Hand schüttelten, gehörte zu den Gesten, die ich sehr amüsant fand. Ich tat es trotzdem. „Kira“, ich lächelte. Ich erkannte ein Tattoo auf seinem Hals unter dem Ohr. Irgendein mir nicht bekanntes Symbol oder Zeichen. „Ich muss los, entschuldige noch einmal“, sagte ich als ich an meinen Bus dachte und marschierte los. „War nett dich kennen zulernen Kira!“, rief er mir nach. Ich grinste in mich hinein. Der Typ war echt süß.

Ich wollte gerade in den Bus steigen als mich jemand anrief. Es war Nell Robin. „Hey Nells!“

„Hi, vergiss nicht heute um acht beim Stein“, der Stein war ein großer Felsbrocken wo man sich hinsetzen gleich bei einem Fluss. Mein absoluter Lieblingsplatz.

„Wie könnte ich das denn vergessen? Du erinnerst mich seit zwei Tagen regelmäßig daran.“

„Und das aus gutem Grund. Immerhin hast du ein Sieb als Gedächtnis.“

„Sollte ich mir Sorgen machen?“, ich ahnte Schlimmes, sie hatte mir zwar versprochen meinen Geburtstag dieses Jahr mit mir zu ignorieren, aber mir fehlte leider jegliches Vertrauen.

„Warum denn?“, fragte sie unschuldig.

Ich seufzte. „Wir sehen uns dort“

 

Nach einigen Stationen quer durch die Stadt kam ich an.

Ich wanderte den Gehweg entlang bis ich zum riesigen eisernen Eingangstor kam. Ich fischte meine Schlüssel aus der Handtasche und öffnete es mit einem kräftigen Stoß. Von hier führte ein Pfadweg zur Villa. Meine Familie könnte man als wohlhabend bezeichnen, immerhin besaßen sie diese beachtliche Villa mitten im Stadtzentrum. Das hellblaue Gebäude wurde rund 1760 von unseren Vorfahren erbaut. Es hatte eine Veranda, die mit wunderschönen Marmorsäulen geschmückt war. Oben am Rande der Fensterbretter standen Cherub-Statuen. Kunstvolle Wellen und Blumen zierten die Außenwände.

Die Familie Abram sah sich als Adel, ich grenzte mich jedoch vehement von solchen Begriffen ab. Vor mich hin summend verwendete ich den wie üblich den Hintereingang.

Mit dem Gedanken meiner Familie verdüsterte sich meine Stimmung und mit einem tiefen Ausatmen betrat ich das Haus. „Hallo? Jemand zu Hause?“, meine Stimme hallte durch den Flur. Keine Antwort.

Schnell sprang ich die Stiegen hoch. Mein Zimmer war früher mal der Dachboden, wurde aber auf Wunsch meiner Mutter renoviert. Nun war es ein Schlafzimmer und ein Bad, welches von mir allein bewohnt wurde. Es wirkte zwar so als wenn meine Mutter mir eine Freude machen wollen würde, jedoch war ihr Ziel es mich los zu werden, um das Zimmer meiner Zwillingsschwester Nessa zu vergrößern, immerhin benötigt das „Divini“ ja Platz und Ruhe.

Mir war dies nur recht, da es zwangsläufig auch hieß, dass ich weniger Zeit mit den Abrams verbringen musste.

Ich warf mein Zeug auf das Bett und ging mir das T-Shirt ausziehend ins Bad. Auf meinem Handy suchte ich schnell nach einem guten Song zum Duschen, immerhin war meine Zeit begrenzt. Ich entschied mich für Left Outside Alone von Anastacia.

Ich zog meine Jean aus und beobachtete mich mit Unterwäsche im Spiegel. Ich war ziemlich zufrieden mit mir. Es ist mir war bewusst, dass dies womöglich arrogant und selbstverliebt klang, doch es stimmte. Ich mochte alles an meinem Aussehen. Während ich den Rest auszog, sang ich „Why do you play me like a game...“. 

Mit vierzehn meldete ich mich am Jugendchor meiner Schule an. Ich liebte es zu singen, schon immer. Ich sang, wenn ich nervös, glücklich oder traurig war. Es hatte eine beruhigende Wirkung auf mich. Mein „Talent“ wurde mit fünfzehn von meinem damaligen Musikprofessor Mr. Reynolds entdeckt. Er zwang mich danach täglich Singunterricht zu nehmen.

Ich drehte den Wasserhahn auf.

And I wonder if you know how it really feels to be left outside alone when its cold out here..

Ich seifte mich nach Kokos riechender Duschcreme ein und wusch meine Haare mit Erdbeershampoo, damit ich nach einem Obstsalat roch. Ein Handtuch um den Kopf und das andere um den Körper gewickelt, verließ ich das Bad, als es unten an der Tür klingelte. Ich drückte den Knopf zum Öffnen des Gartentors und wartete vor der Haustür. „Nell?“, fragte ich überrascht. Sie umarmte mich. Wir hatten uns zwar gestern erst gesehen, aber ich hatte sie vermisst. „Ich wollte dir dein Geschenk jetzt schon bringen, weil ich sicher gehen wollte, dass du an deinem Achtzehntem nicht in einer Trainingshose herumläufst“, mein Verdacht erhärtete sich. Wir gingen zurück ins Haus. Zusammen machten wir uns Gesichtsmasken, schminkten uns, lackierten uns die Nägel und tanzten zu TLC s Waterfalls.

Jesses Geschenk war ein kurzes, schwarzes Kleid. Nachdem ich es anzog, betrachtete ich mich im Spiegel. Eine Seite war bis knapp zu meiner Hüfte aufgeschnitten und der Ausschnitt ging gefühlt bis zum Bauchnabel. Ich stand voll darauf. „Das Kleid ist toll! Danke“, ich gab ihr einen Kuss. Jess setzte mich hin um meine Haare zu stylen. Als alles erledigt war sahen wir beide bereit für eine lange Nacht aus. Ich mit meinen langen schwarzen Haaren, die wie eine wilde Mähne aussahen, blutrote Lippen und dunkelgrünen Augen, die auffallender wirkten, da sie von tief schwarzem Eyeliner umrahmt waren. Jess sah atemberaubend aus mit ihren kurzen, platinblonden Haaren, die verspielt und ohne richtige Ordnung in ihr Gesicht fielen. Sie trug eine altmodisch aussehende Brille. Ihre Augen waren kristallblau, manchmal dachte ich Billie Eilish Lied „Ocean Eyes“ handelte von ihr. Es waren einfach die Augen eines Engels. Sie trug ein enganliegendes rotes Kleid, welches ihre Kurven betonte. Ihre vollen perfekt geschwungenen Lippen glänzten verlockend in einer blutroten Farbe. Sie sah wunderschön aus.

Ich holte meine Polaroid Kamera und machte ein Foto von uns beiden. Unsere Zungen weit herausgestreckt und mit einer übertrieben sexy Pose, inszenierten wir uns auf die möglichst lächerlichste Art. Während sich das Bild entwickelte, zogen wir unsere High Heels an.

Wir verließen das Haus und gingen Richtung Busstation als mir auffiel, dass ich Grams Ohrringe, die sie mir heute Morgen geschenkt hatte, nicht trug. „Oh, verdammt! Jess, sie müssen im Gästehaus sein!“, Jess verdrehte lächelnd ihre Augen. „Na los, geh schon, ich warte hier“.

Ich suchte überall und schließlich fiel mir ein, dass ich sie im Salon liegen gelassen haben musste. Also riss ich die große Tür auf und stand vor dem Casting von Downton Abby. Die Männer trugen Anzüge und die Frauen schöne klassische Cocktailkleider. Mit weit aufgerissenen Augen starrte ich in die Masse.

Kurz dachte ich es seien Einbrecher, doch das ergab wenig Sinn. Waren sie schon die ganze Zeit über hier? Dieses Haus war einfach zu groß. Und plötzlich fiel es mir wieder ein. Es war unser achtzehnter Geburtstag. Ihre sogenannte Initiation in diese Welt. Irgendwo in der Menge erkannte ich sie. Meine Schwester Nessa. Wir waren uns in keinerlei Hinsicht ähnlich, vom Aussehen her konnte es dadurch erklärt werden, dass wir zweieiige Zwillinge waren. Ich hatte mich von Anfang an geweigert Teil dieser Welt zu werden. Es war zwar meine Kultur, mein Ahnen Gut, aber ich bevorzugte das normale Leben. Das Leben der Menschen, denn von ihrer Perspektive waren wir nur Mythen, Legenden, Engel, Götter, Nymphen.  

 

In Wirklichkeit waren wir Halbgottheiten oder besser gesagt, hatten göttliche Gene, weil vor Jahrhunderten, Gottheiten tatsächlich den „Devils Tango“ mit Menschen tanzten und voila hier sind wir, ihre Schützlinge. Die Gottheit mir der ich also verwandt war, ist Faye, die Göttin der Wahrheit und der Rache. Ihre Schützlinge haben die Fähigkeit die „Wahrheit zu sehen“, klingt ziemlich langweilig und unnötig, war es wahrscheinlich auch, dies hielt jedoch meine Familie nicht davon ab sich aufzuspielen. Nessa erklärte mir einmal, dass man die wahren Intentionen und die tiefsten Wünsche einer Person sehen konnte, bzw. es einfach wusste. Zu ihren Fähigkeiten gehörte auch Gedanken lesen.

In dieser Hinsicht tat Nessa mir leid, sie konnte es sich nicht leisten von hier abzuwenden. Sie musste all diesen Nonsens befolgen, da sie die Divini der Familie war. Das Auge, also die Erstgeborene, die die Fähigkeit geerbt hatte, sie war verbunden mit den Gottheiten und musste ihnen falls sie es befahlen, folgen. Dies ist jedoch noch nie vorgefallen. Meine Mutter Evie hat zwei Geschwister Adrian und Lauren. Mein Cousin Arthur, Laurens Sohn ist ebenfalls ein Divini. Adrians Tochter, Millie, meine vierjährige Cousine auch.

Ich beneidete sie für ihre Fähigkeiten nicht, vor allem das Gedankenlesen. Zwar ist der Beginn dieser Fähigkeit erst mit der Initiierung an ihrem achtzehnten Geburtstag, aber egal wie alt man ist, diese Fähigkeit kann nur zu unangenehmen Situationen führen. Diese Gaben oder besser gesagt Flüche trafen immer nur die Erstgeborenen. Nessa ist vier Minuten älter als ich. Schon verrückt, zweihundertvierzig Sekunden haben über meine ganze Zukunft entschieden, denn ich als Zweitgeborene habe keine Gabe. Uns nennen sie „Dirus”, was Latein ist für “die Schrecklichen“ oder besser noch „die schrecklich Erbärmlichen. Ja das sind wir, die Dreadfuls. Ich werde nicht lügen, es ist ein wenig verletzend. Aber uns haben die Götter eben nicht gesegnet.

 

Da stand ich also mitten im Raum voller Divinis, die für Katrins Initiation angereist sind.

Sie tat das was alle hier taten. Mich anstarren.

Es war Toten still. Man hätte eine Stecknadel fallen hören können.

„Hallo allerseits. Bitte verzeiht die Störung. Ich bin gleich wieder weg.“, sagte ich unsicher. Meine Stimme hallte und ich wusste, dass ich rot angelaufen war.

Mit schnellen Schritten ging ich zu dem Abstelltisch am anderen Ende des Raumes, auf dem meine Ohrringe lagen und wollte wieder verschwinden. Als ich schon fast beim Ausgang war, hörte ich jedoch die Stimme „Kira? “, meiner Mutter.

„Verdammt“, zischte ich.

Lächelnd drehte ich mich um.

„Ja?“

Sie kam auf mich zu. Es herrschte immer noch Stille. „Wo willst du denn hin?“, sie tat so als würde es sie tatsächlich interessieren. Sicherlich nur weil wir ein großes Publikum hatten. Was mich sofort rasend machte.

„Ich gehe auf eine Party “, sagte ich grinsend, dann führte ich an die Leute im Raum gerichtet, fort: „Habt ihr wirklich nichts Besseres zu tun. Das hier ist kein Zoo.“ Empörtes Aufatmen war zu entnehmen. Einige verschluckten sich sogar an ihrem Getränk.

„Wie bitte?“, fragte meine Mutter.

„Ich weiß es fällt dir leicht diese Tatsache zu vergessen, aber heute ist auch mein achtzehnter Geburtstag und ich gehe aus.“, so sehr ich es auch versucht mich wie eine reife Erwachsene zu benehmen, die ihr inneres Gleichgewicht gefunden hat, diese Frau schaffte es jedes Mal das Schlimmste in mir zum Vorschein zu bringen.

Sie nahm mich am Arm und zerrte mich aus dem Raum. „Könntest du dich bitte ein wenig respektvoller benehmen, um wenigstens den Schein für die anderen zu bewahren?“

Ich schnaufte genervt.

„Und was heißt, ich gehe aus wir haben uns doch ausgemacht, dass du heute dabei bist. Immerhin ist das auch Katrins Geburtstag.“

„Nein, du hast es ausgemacht, ich habe nicht zu gestimmt.“ Sie atmete langsam aus und sah mich enttäuscht an. „Warum musst du es allen immer so schwer machen?“ Ich sah sie sprachlos an. Nein, ich würde jetzt ganz sicher keine Diskussion anfangen. Ich rang mit mir selbst und biss mir schließlich auf die Zunge. Ich atmete tief durch und sagte, dann laut und deutlich an alle gerichtet: „Na dann, viel Spaß und guten Abend. Tut mir Leid, dass ich es allen so schwer mache.“ Ich machte am Absatz kehrt und stolzierte ich hinaus.

Ich wusste, dass das ein Nachspiel haben würde, aber es war es mir wert. Doch leider wurde mein wundervoller Abgang zerstört, denn ich knallte gleich gegen zwei Personen. Beschämt sah ich auf. Vor mir standen ein älterer Mann mit Brille und Halbglatze und ein Jüngerer. Sie trugen beide klassische Fracks und der Ältere hatte sogar eine Taschen Uhr und einige Broschen an seiner Brust. Der Jüngrere sah ziemlich gut aus. Blaue Augen, die perfekt zu seiner blauen Schleife passten und brünette Haare das typische eben.

„Tut mir so leid“, sagte ich.

„Ach, macht nichts“, sagte der Ältere.

„Du musst die Sängerin sein“, kam es von dem Schönen.

„Bitte?“

„Er meinte du musst der Zwilling sein“

Das war also meine Rolle hier. Katrins billiger Abklatsch. „Ja, ich bin Kira“.

„Sehr erfreut, mein Name ist Helmuth Werns der Vierte, und dies ist mein Enkel Vincent.“, stellte der Ältere sich und seine Begleitung vor. Es war immer wieder amüsant diese Reichen und Schönen reden zuhören.

Ich lächelte höflich.

„Was für eine schöne Halskette, die Sie dahaben“, sagte Helmuth

Ich sah auf mich hinunter. Natürlich, das alte Medaillon. Es war ein silbernes Auge.

„Ach, das ist...“

Bryon unterbrach mich: „Das Auge der Aziza. Woher hast du das?“

Aber es klang mehr wie: Warum hast du das. Es üblich in meiner Familie, Das Auge der Aziza in irgendeiner Art und Form bei sich zu tragen, um sich vor dem Bösen zu schützen. Die einzige Tradition, die ich mit machte. „Ich weiß nicht. Ich hatte es schon immer“, antwortete ich vorsichtig. Ich hatte immer angenommen, dass meine Eltern es mir als Baby geschenkt hatten. Meine Schwester hatte einen Ring.

Offensichtlich hatte meine Antwort Helmuths Interesse geweckt, denn er wollte noch eine Frage stellen, kam aber nicht mehr dazu, weil Nessa sich dazugesellte.

„Guten Tag Herr Werns. Hallo Vince“, begrüßte meine hochgeschätzte Schwester sie. Die Art wie sie Vince ansah ließ mich schmunzeln. Sie wollte also die nächste Miss Werns werden. Das hieß wohl, dass auch er ein Dirus war, sonst wäre eine Beziehung nicht erlaubt. Zwei Träger des Fluchs dürfen nicht zusammenkommen.

Sie sah mich an.

„Kira“, kam es herablassend von ihr.

„Nessa, alles Gute!“, sagte ich mit einem Lächeln, bei dem ich mich gar nicht erst bemühte es echt aussehen zu lassen.

„Ich hoffe dir ist klar, dass deine Aktion vorhin äußerst peinlich war.“

„Wirklich? Mann und ich hatte gehofft diese Party ein bisschen spannender zu machen. Aber Hey, es tut mir äußerst leid“

„Ich schätze wirklich deinen Humor Schwesterherz“

Lächelnd entschuldigte ich mich mit einem klassischen Satz: „Oh schon so spät! Zeit zu gehen“, und um nicht völlig ungezogen zu wirken, nicht dass es mich interessierte, was andere dachten, nickte ich Herrn Werns und Vinzent zu, obwohl ich mit dem Gedanken rang einen Knicks vorm „Herrn“ zu machen und machte mich auf den Weg.

Draußen dämmerte es schon. Nell wartete schon ungeduldig. „Wo bist du gewesen?“, ich verdrehte die Augen. „Ich erzähle es dir im Bus“.

 

„Richtig, die Initiation, Mensch bin ich froh mir diesen Kramm nicht antun zu müssen.“, auch Jess war ein Dirus. Sie stammte jedoch von Arija, der Göttin von Mut, Macht und Schönheit, ab und gehörte nicht zu irgendeinem adeligen Klan.

Als wir kurz vor unserer Station waren, holte Jess ein rotes Tuch aus ihrer Tasche.

„Ist das wirklich nötig?“, fragte ich. „Komm schon, nimm mir nicht den Spaß!“ Sie legte das Tuch sanft über meine Augen, sodass ich nur mehr in Rot getunkte Lichter ausmachen konnte. Der Bus hielt an und wir traten auf die Straße. Ein sanfte Briese wehte und ich atmete gelassen die kalte Oktoberluft ein. Ich versuchte mich auf die Geräusche um mich herum zu konzentrieren, um nicht mein Gleichgewicht zu verlieren. Nells legte ihre Hände von hinten auf meine Hüfte und führte mich wie ich vermutete zum Stein. Der Straßenverkehr wurde leiser und ich vernahm das leise Rauschen von Wasser, was hieß, dass wir bereits im Park waren. Wir blieben abrupt stehen. „Bist du bereit?“, flüsterte Nells. Ich nickte nur. Sie machte den Knoten auf meiner Augenbinde auf.

Vor mir schienen bunte Lichter, von Glühbirnen, die von Baumästen baumelten. Überall hingen Girlanden in den verschiedensten Farben. Auf dem Stein saßen meine Freunde und warfen mit Konfetti um sich. Sie alle schrien „Happy Birthday“. Aus Boxen spielte es Modern Love von David Bowie. Ich lachte überglücklich und lief auf sie zu. Korken knallten, Shotgläser überschwappten und die Luft wurde von Tschick Rauch verpestet. Nells und ich tanzten barfuß auf dem taunassen Gras und johlten mit Cynthia Johnson zu Funkytown mit. Nach zu vielen Vodka Shots und einer interessanten Variation des Bier Bong-Spiels, spazierte ich runter zum Fluss. In ihm spiegelten sich die Lichter der Stadt. Ich setze mich auf die Stiegen, die hinunter zum Wasser führten und ließ einfach die Umgebung auf mich wirken.  Um mich herum hörte ich die Grillen und die Stimmen und der Gesang der Party wurden immer leiser. Mir wurde schwindlig und die Farben und die Geräusche, die mich eben umgaben, verschwammen. Mit einem Schlag fühlte ich mich wieder nüchtern. Ich sprang auf.  Ein grelles weißen Licht blendete mich und zwang mich dazu meine Augen zu schließen. Es war totenstill. Als ich meine Augen zaghaft öffnete, war alles wieder normal. Ich stand vor demselben Fluss unter demselben sternenbedeckten Himmel. Erleichtert atmete ich aus. Ich wollte mich gerade umdrehen und zurück zu meinen Freunden als mir ein kleines Detail auffiel, welches mir einen Schlag versetzte. Ich hörte nichts. Keine Musik. Keine Stimmen. Nur das leise Rauschen der Blätter und die Grillen im Gras. Schnell drehte ich mich um. Alle waren weg. Ich spürte, wie Panik in mir zurückkroch. Suchend sah ich mich um. Langsam bemerkte ich doch ein paar Unterschiede. Zum Beispiel das Fehlen des Felsens, dort wo er früher stand, war jetzt eine leere grüne Fläche.

Da spürte ich eine sanfte Berührung an meiner Schulter, welche mich zusammenzucken ließ. Ich fuhr herum und sah eine atemberaubende Frau vor mir stehen. Sie trug ein dünnes kurzes weißes Kleid. Ich schätze sie auf zwanzig, jedoch ließen sie ihre müden, braunen, Reh gleichen Augen sahen müde aussehen.

„Kira?“

„Wer sind Sie?“, sie schien die Frage nicht gehört zu haben.

„Du bist so schön. Ich kann es gar nicht fassen“, ihre Stimme war angenehm melodisch. Sie kam mir so unheimlich bekannt vor.

„Wer sind Sie?“, wiederholte ich.

„Es tut mir so schrecklich leid.“ Eine Träne kullerte ihr Gesicht hinunter. Was sie noch mehr wie ein Engel aussehen ließ. Sie sah mich so verzweifelt an, dass ich Mitleid hatte. Ich brachte kein Wort heraus. Sie sah mir so tief in die Augen, in meine Seele und ich konnte nicht wegsehen. Es hatte etwas Hypnotisierendes an sich. Ja, es schien unmöglich nicht in die Augen dieser Frau zusehen. Diese braune Farbe war so klar, so tief, einfach eine Art von Farbe, die man nicht mehr vergessen kann. Und eben dieser Gedanke beschäftigte mich, wieso kam sie mir bekannt vor. Ich versuchte mich zu erinnern. Dann sagte sie leise.

„Aziza hat ihr Auge auf dich. Vertrau nur ihr.“ Instinktiv griff ich nach meinem Medaillon.

Sie sah mich lächelnd an, während ich nur Bahnhof verstand. Ich schaffte es mich von ihrem Anblick loszureißen und über ihre Worte nachzudenken. Aber sie machten einfach keinen Sinn. Ich hatte mich zwar dazu entschieden unsere Kultur nicht zu praktizieren, aber ich kannte unsere Bräuche und Fähigkeiten. Doch was auch immer gerade vorging, ich hatte keine Erklärung dafür. „Ich liebe dich“, mit diesen Worten berührte sie meine Halskette und schon wieder verschwamm alles. Die laute Musik hinter mir war zurück, was mich erleichterte. „Ich liebe dich?“, murmelte ich verwirrt. Wer war das? Was war das? Ich starrte weiterhin entsetzt in nichts. In das nichts, wo diese Frau eben noch stand. Wie durch einen Traum hörte ich jemand meinen Namen rufen. Nell.

„Da bist du ja! Wir haben nach dir gesucht! Du darfst deine Torte nicht verpassen, komm mit“

Sie nahm meine Hand. Ohne auf meine Antwort zu warten, zog sie mich zurück zur Party. Ich war wie benebelt und verstand nur die Hälfte des Satzes.

Ich bin übermüdet das muss es sein, Wahnvorstellungen meines überforderten Gehirns.

Ich beschloss das vielleicht Geschehene zu vergessen. Ich schüttelte meinen Kopf, wie wenn ich so die Erinnerung wortwörtlich wegschütteln könnte.  Zur Hölle heute ist mein Geburtstag ich habe ein Recht darauf verrückt zu sein.

Nell stellte mich vor einer Redvelvet Torte hin. Die Kerzen sprühten Funken. Ich spürte ihre Wärme und das Gefühl der Freude kam langsam wieder zurück.

Die Partygäste fingen an zu singen und ich zu lachen. Tränen stiegen mir in die Augen. Es schien, als ob der Wind meine Gedanken wegblies.

„Wünsch dir was!“, riefen sie.

Ich schloss meine Augen holte tief Luft und pustete die Kerzen, ohne an einen einzigen Wunsch zu denken aus. Nells klatschte und umarmte mich fest. „Ich liebe dich“, flüsterte sie mir zu. „Ich liebe dich auch“, flüsterte ich zurück.

Die ersten Sonnenstrahlen erhellten den Park ein wenig als die letzten Gäste sich verabschiedeten. Nell und ich blieben zurück.

„Unglaublich, heute ist dein Geburtstag und du hilfst mir die kaputten Plastikbecher vom Boden aufzuheben. Auch noch in diesem Kleid. Tragisch.“ Ihre gespielte Empörung ließ mich lächeln. Als wir endlich die letzte Chips Packung aufgehoben und die Girlanden weggeräumt haben, setzten wir uns noch einmal ans Ufer.

Unsere Füße ins kalte Wasser getaucht, schwiegen wir uns genossen einfach die frühmorgendliche Stille der Großstadt. Die mysteriöse Frau war fast vergessen. Ich nahm Jesses Hand und drückte sie fest. „Danke Nells“, flüsterte ich. Sie drückte mir einen Kuss auf die Wange.

 

Vor meiner Busstation drückte ich Nell nochmal und nachdem ich mich abermals bei ihr bedankt hatte, vollzogen wir unseren traditionellen, dramatischen Abschied. Wir winkten, verdrückten falsche Tränen und wehten quasi mir Taschentüchern. Ich hatte in ihr meine Seelenverwandte gefunden. Müde und bereits im Halbschlaf stieg ich in den Bus. Am Fenster war noch ein Platz frei. Ich lehnte meinen Kopf an das angenehm kühle Fenster und schloss meine Augen.

Plötzlich fielen mir die Worte der Frau wieder ein: „Aziza hat ihr Auge auf dich. Vertraue nur ihr.“ Bilder blitzten kurz vor meinem geistigen Auge auf. Ich erkannte die Frau. Sie lächelte mich an und sie trug das Auge Azizas um den Hals.

Mich beunruhigte das Ganze. Wer war diese Frau? Warum kannte sie mich? Woher kannte ich sie? Ich war einfach zu müde, um mir darüber Gedanken zu machen.

Als Lautsprecher meine Station ankündigten, stand ich mit einem Stöhnen auf und erntete dadurch einen fragenden Blick von dem älteren Herrn vor mir.

„Langer Tag“, sagte ich peinlich berührt und sprang schnell aus dem Bus und direkt in die Arme eines Fremden. „Hey, nicht so hastig!“

„Tut mir so leid.“, entschuldigte ich mich. „Ich stolpere wortwörtlich von einer Peinlichkeit zur nächsten“, murmelte ich mehr an mich gerichtet.

Der Junge lachte und ich sah erst jetzt zu ihm hoch. Oh nein, es war Vince!

„Moment Mal! Dich kenne ich doch! Du bist die Schwester von“

„Nessa, schon klar“, fauchte ich ihn genervt an.

Es schien es nicht bemerkt zu haben den er fragte munter weiter.

„Und wie war die Party?“

„Wundervoll und eure?“, ich beschloss bei dieser unnötig höflichen Konversation mitzumachen. „So wie formelle Feiern eben sind. Langweilig.“ Mich wunderte diese Antwort. Da ich nichts sagte, sprach er weiter. „Schönes Kleid.“ „Danke, gleichfalls“, erst nachdem ich es gesagt hatte, fiel mir der Fehler darin auf. Er runzelte die Stirn und schmunzelte. „Okay...ich nehme das mal als Kompliment.“

Ich schwankte und Vince hielt meinen Arm fest. „Soll ich dich nach Hause begleiten?“, fragte er ganz nach dem Motto Eine Jungfrau in „Not“. „Nein, das ist echt nicht nötig,“ winkte ich ab. „Es ist wirklich kein Problem, ich wollte ohnehin eben wieder zurück. Zögernd willigte ich ein. Ich torekelte neben ihm her und die Stille zwischen uns fing an unangenehm zu werden.

„Wie kommt es, dass ich dich heute zum ersten Mal gesehen habe?“, fragte ich aus dem nichts.

„Unsere Familie ist schon seit Jahrhunderten befreundet, das weißt du ja. Die Initiation ist eben eine große Sache, da haben deine Eltern alle zu sich eingeladen. Normalerweise sind Festlichkeiten bei uns am Land. Dort haben wir mehr Privatsphäre.“

„Ja, die Initiation ist ja topsecret.“, es klang spöttischer als ich es beabsichtigt hatte.

Ein Windstoß kam mir entgegen und ich bekam eine Gänsehaut. Ich schlang meine Arme um mich, was er natürlich sofort bemerkte.

„Oh, warte“ er zog seine Jacke aus und streifte sie mir über. „Hier“

„Danke.“ Seine Jacke war angenehm warm und roch außerdem nach teurem Parfum, nicht das ich mich damit auskannte, aber alles an ihm schrie: „Ich bin reich!“. Die Jacke gefiel mir trotzdem sehr gut, auch wenn sie viel zu groß war.

Er stopfte seine Hände tief in seine Schwarze Anzug Hose.

„Was ist eigentlich zwischen dir und Nessa?“, fragte er, ohne mich dabei anzusehen.

„Was sollte denn sein“, fragte ich mit rauer Stimme.

Vince bedachte mich mit einem Oh-Bitte- Blick.

„Okay, sie ist nicht gerade meine beste Freundin.“

„Nicht gerade meine beste Freundin ist untertrieben. Ihr habt euch so ätzend angesehen, dass ich schon Angst hatte, eine von euch würde sich auflösen.“

Meine Laune versiebte langsam.

„Können wir bitte nicht von Nessa reden, mit wird nämlich gleich übel.“

Vince grinste nur und sah auf den Asphalt.

Eigentlich war er ganz süß.

„Wie kommt es, dass ihr die einzige Familie seid, die noch mit Meiner angefreundet ist? Waren wir nicht früher mal mehr?“, fragte ich nun munter weiter. Er schwieg.

„Die Kobans sind ja auch noch Teil dieses Klans“ Bevor er antwortete, sah er mich kurz prüfend an, so als müsste er wegen irgendetwas sicher gehen. „Hast du etwa das Große Graeme-Drama nicht mitbekommen?“

„Das Graeme-Drama?“, fragte ich. „Du weißt ja, wir waren immer die vier auserwählten Familien, die zusammenhielten“, erzählte er. „Ja, das weiß ich. Ich kenne unsere Familiengeschichte.“

„Nun gut. Unsere Familien hatten einen Disput mit den Graemes und unsere Wege führten dann auseinander.“ Endlich sah er mir ins Gesicht.  „Disput bedeutet Streit.“, fügte er hinzu. Habe ich etwa eine so verwirrte Miene?

„Hey, Ich mag zwar der Aussteiger der Familie sein aber das bedeutet lange noch nicht, dass ich total bescheuert bin!“

„Schon gut ich wollte nur sicher gehen.“ Ich wartete, bis er weitererzählte, doch das tat er nicht.

Um ihn dazu zu bringen weiterzusprechen fragte ich: „Was denn für einen Disput?“

„Wenn ich ehrlich bin, weiß ich das selbst nicht so genau. Anscheinend waren sie nicht einverstanden mit der alten Tradition und als dann eine Tochter von ihnen verschwunden ist und keiner helfen wollte, trieb das einen Keil zwischen die Familien. Es war aber ziemlich dramatisch, alle schweigen dieses Thema bis heute noch tot.“

„Merkwürdig“

„Allerdings“

Das Gespräch endete hier. Zum Glück standen wir da schon vor meinem Haus. Ich kramte in meiner Tasche und fischte den Hausschlüssel heraus. Gerade als ich die Tür aufsperren wollte, schwang diese auf und ich schwankte nach vor.

„Vince hier bist du ja!“, rief Nessa. Sie beachtete mich nicht „Ich habe überall nach dir gesucht.“

„War nur frische Luft schnappen“, kam es von ihm. Hörte ich etwa Genervtheit heraus? Wie dem auch sei, ich nutzte die Gelegenheit, um unbemerkt durch die Tür zu schlüpfen. „Kira, warte!“, das war es dann wohl. Jetzt erst schien Nessa meine Anwesenheit anzunehmen und sie wirkte alles andere als begeistert. Sie prüfte mich mit einem leicht säuerlichen Blick. Plötzlich fiel mir ein, dass ich ja noch Vinces Jacke trug. Ich schlüpfte schnell raus und reichte sie ihm. „Danke noch mal“, sagte ich höflich zum Abschied. Unvermittelt nahm Vince meine Hand und küsste sie. „War nett deine Bekanntschaft zu machen.“ Wer sprach heute noch so? Dieses ganze Verhalten war mir generell suspekt. Also antwortete ich, nachdem ich mich wieder gefasst hatte „Ja, gerne wieder“ und machte mich schnell vom Acker.

Im Haus war noch einiges los, die Party war wohl noch im vollen Gange. Überall unterhielten sich Leute, mit Champagnergläsern in der Hand. Hier und da war sogar ein Lachen zu hören. Meine Mutter war nicht in Sicht. Ich huschte die Stufen zu meinem Zimmer hoch und schloss schnell die Tür hinter mir. Was für ein Tag!

Elegant schälte ich mich aus meinem Kleid und kickte meine Schuhe weg. Während ich mir durch die Haare fuhr, suchte ich meine Trainingsshorts und mein Hozier T-Shirt, das ich vor zwei Jahren auf ihrem Konzert ergattert hatte.

Erschöpft haute ich mich auf mein Bett und gerade als ich einschlafen wollte knurrte mein Mangen. Stimmt, ich hatte ja außer einem Geburtstagskuchen nicht viel gegessen, aber war es das wert noch mal hinunterzugehen? Mein Magen knurrte erneut. Es musste es wert sein. Ich rappelte mich wieder hoch und stieg die Stufen hinunter. Wie eine Agentin sah ich links und rechts. Die Luft war rein. In der Küche angekommen holte ich Toasts aus dem Regal und Käse aus dem Kühlschrank und haute beides in den Sandwich Maker. Da hörte ich meine Mutter im Nebenzimmer.

„Was soll das heißen ihr habt keine Divini?“, zischte sie.

„Soweit zeigt Dita keine Kräfte. Aber wir warten noch auf ihre Initiation nächste Woche“, der Mann räusperte sich. „Die Graemes haben nur Nikolaj “

„Ihr habt noch Kontakt zu den Graemes?“

„Nur wegen ihres Verschwindens werden wir sie nicht im Stich lassen.“, verteidigte sich der Mann.

„Normalerweise sollte sie doch schon vor ihrem achtzehnten Geburtstag gewisse Fähigkeiten haben.“, sie klang verwirrt, fast schon verzweifelt. „Das dachte ich auch“, antwortete er. Die beiden verließen den Nebenraum. Ich wartete noch einige Sekunden, um sicher zu gehen. Wovon haben die denn gesprochen. Was um alles in der Welt war heute nur los?

„Ähem“, jemand räusperte sich hinter mir. Erschrocken drehte ich mich um.

„Entschuldige, ich wollte dich nicht erschrecken.“, mir blieb der Atem weg. Es war Anthony! Der Hottie von heute Nachmittag!

Nach einer Weile fiel mir auf, dass ich noch nichts gesagt hatte und bekam bei meinem ersten Versuch nur ein „Naja, mhm ja“ heraus. Ich schüttelte schnell den Kopf. Mann, Kira reiß dich zusammen, das ist nur ein Kerl. „Ist schon okay“.

Er reichte mir die Hand. „Ich hatte heute nicht die Gelegenheit mich richtig vorzustellen. Mein Name ist Anthony Werns“

„Oh, du bist einer von denen?“, wieso nur wurde ich vom Pech verfolgt?

Er lachte. „Ich bin Kira Abram“

„Der berühmtberüchtigte Rebell der Familie?“

„Genau die“

Anthony lachte erneut und sah sich in der Küche um. „Und warum versteckst du dich in der Küche?“ „Um mir einen Schinkenkäsetoast zu machen, ohne von der Furie entdeckt zu werden“

Er machte große Augen. „Meinst du, dass ich mir einen bei dir erbetteln kann?“

„Was denn, bietet meine Mutter etwa kein Essen an?“

„Ich bin kein Escargot Fan.“

„Na dann, kann ich einen Toast für dich entbehren“

Er lächelte. „Dankeschön. Nettes Outfit übrigens“ Ich grinste und versuchte mein Shirt weit genug runterzuziehen, damit mein Hintern wenigsten ein bisschen abgedeckt war. In diesem Moment piepte der Sandwich Maker.

Während ich Teller suchte, spürte ich Anthonys Blick auf mir.

„Was genau meintest du mit: Du bist einer von denen?“, fragte er.

„Ich habe deinen Bruder bereits kennengelernt“

„Und er war dein schlimmster Albtraum?“ „Nein im Gegenteil“

„Gut, das freut mich denn ich bin sozusagen die bessere Version von ihm“, meinte er lachend.

„Achja?“, fragte ich und reichte ihm den Toast. Er lachte.

Die Küchentür ging auf und ich sprang hinter die Theke.

„Anthony, was machst du denn hier?“, fragte Nessa. Ich betete, dass er die Klappe hielt.

„Toast essen.“, er wedelte mit seinem Toast hin und her.

Ich hörte, wie sie zur Theke stolzierte und sich ein Glaswasser auffüllte.

„Drinnen gibt es noch reichlich Escargot“, meinte sie tadelnd.

„Gut zu wissen“, gab er zurück. Nessa nahm ein ein weiteres Glas aus dem Schrank und verließ die Küche wieder.

Ich sah zögerlich hoch. Anthony streckte die Hand nach mir aus und zog mich wieder hoch. „Machst du das immer so?“, fragte er.

„Sagen wir fast. Jedenfalls sollte ich wieder zurück auf mein Zimmer.“

Er nickte. „Schade, du bist die erste Person auf dieser Feier, mit der ich gerne rede.“

„Du kannst ja mitkommen“, hatte ich das eben wirklich gesagt? Er zog seine Augenbrauen hoch.

Ich führte ihn rauf auf mein Zimmer und er setzte sich auf meine Couch. Aus meinem Minikühlschrank holte ich zwei Cola heraus und reichte ihm eine. „Nettes Zimmer“, meinte er anerkennend. Anthony schien sich in seinem Anzug unwohl zu fühlen, er zog sein Sakko aus und krempelte sich sein Hemd hoch, was ein weiteres Tattoo zum Vorschein brachte. Blaue Muster und schwarze Wellen.

„Du scheinst auch ein Rebell zu sein. Deine Tattoos passen ja nicht ganz zur Adelsfamilie.“, meinte ich und plumpste neben ihm hin. Er lachte. „Da hast du wohl recht. Ich denke aber mein Barkeeper Job und die Tatsache, dass ich am Tag in einem mintgrünen Jackett Cocktails und Caffee serviere, hat ihnen das Herz gebrochen.“

„Ach, was du arbeitest im Blues? Ich bin eine Straße weiter im Enricos“ Er sah mich verwirrt an. „Ich dachte du bist Sängerin?“

„Nicht ganz. Das mache ich nur befristet.“ „Eine befristete Sängerin also, interessant“, er sah auf seine Dose runter. Okay, wie oft hat man eine solche Gelegenheit? Ich fing mit meinem ältesten und einfachsten Trick an. „Darf ich dein Tattoo sehen?“, ich legte meine Finger auf seinen Unterarm und fuhr dem Zeichen nach. Er hielt kurz inne und sah mich an. „Naja, dafür müsste ich mein Hemd ausziehen“, ich sah ihn schief und lächelte neckisch: „Bist du etwa schüchtern?“. Lachend stellte er seine Dose auf den Boden. „Nein und so wie es aussieht bist du es auch nicht.“ Er knüpfte sein Hemd langsam auf. Das Tattoo war atemberaubend, es führte von seinem Arm in schwarzen Schnörkeln hinauf zu seiner muskulösen Schulter und teilte sich dort in zwei Pfade. Eine führte zu seinem Nacken und die andere zu seiner Brust, wo sich das Specktakel eigentlich abspielte. Dezent wurden dort intensive türkis blaue Farben eingearbeitet, die Zeichen wirkten wirr, aber dennoch passte alles wie ein Puzzle zusammen. Ihm schien mein Blick unangenehm zu werden. Er räusperte sich. „Und jetzt ziehst du dein Shirt aus“, ich lachte. „Was bedeuten all diese Zeichen, das ist doch Donem oder?“ Donem war die alte Sprache unserer Götter, sie bestand aus Runen, Symbolen und Zeichen. „Du verstehst Donem nicht?“, er wirkte überrascht. „Nein, ich will nicht Teil von diesem Wahnsinn sein, aber ich kenne die Grundausdrücke. Wie das hier“, ich berührte das Tattoo auf seinem Brustbein, es war eine Variation vom Auge der Aziza. „Schutz vor dem Bösen“. Das Böse an sich gibt es nicht, in unserer Welt ist das Böse eine Einstellung ein Verhalten. Sowas wie Gier, Mord und Hass. Wenn es Besitz von dir nimmt, wirst du zum Bösen und somit zum Gift für andere. Man tötet deine Seele und macht dich zu einem Dämon. Anthony sah mir wieder in die Augen. Ich zog mein Top ein wenig höher und zeigte ihm mein Tattoo. Es war auf meiner linken Hüfte, das gleiche Auge. „Also glaubst du doch an die Religion?“ fragte er. „Es keine Glaubensfrage, ich weiß das Dämonen und Götter existieren, ich will nur kein Teil davon sein. Ich bin kein Teil davon“, plötzlich dachte ich an die Frau in meiner Halluzination zurück. „Das versteh ich, es ist uhm… Naja es ist viel und…“, er seufzte „und sehr kompliziert.“ Er schaute auf seine Tattoos und nahm meine Hand. Langsam ließ er sie um eine Rune laufen. „Das sind alles Ritualsprüche und Schutzsymbole.“ Er fuhr mit meiner Hand über seine linke Brust. „Dieses hier zum Beispiel. Es steht für Kampf, Krieg und Jagd. Ein Symbol der Göttin Ebba. Die Göttin meiner Familie“ Ich sah ihn überrascht an, aber bevor ich etwas fragen konnte, führte er fort: „Das Symbol für Freude, Glück und Manipulation, dafür steht die Göttin Mabel. Die Göttin der Kobans. Heilung und Tod, für Asa. Die Göttin der Familie Graeme. Weisheit, Wahrheit und Rache, für Faye. Die Leitworte der…“, „Abrams, meiner Familie.“, ich ließ meine Hand auf seiner Brust liegen und sah ihn an. „Sie sind wirklich schön.“ Er lächelte. Also fuhr ich mit der Hand runter zu seinem Bauchnabel. „Dieses Symbol kenne ich aber. Pugna ist das Zeichen für Krieger. Macht es dich wirklich stärker?“, kicherte ich. Er zog mein Kinn zu sich: „Manchmal“

Impressum

Texte: Sometimeswriter
Bildmaterialien: https://unsplash.com/
Cover: design by sometimeswriter
Tag der Veröffentlichung: 03.01.2020

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