Es war erstaunlich ruhig an diesem Tag in dieser Stadt. Keine Geräusche von fahrenden Autos, kein Klang menschlicher Stimmen, kein Vogelgezwitscher, nicht einmal der Wind traute sich mir durch die Ohren zu pfeifen. Ich konnte meinem eigenen Herzschlag lauschen, wie einem Metronom, das den Takt für meine Handlungen vorgab.
Von dem Dach auf dem ich lag konnte ich die Straße nicht sehen. Es bot sich mir auch keine atemberaubende Aussicht. Ich hatte das Gefühl dort eine Ewigkeit zu liegen. Ich beobachtete ihn. Er lag mehrere Dächer weiter wie ein gestrandeter Seehund. Seine Kleidung war schwarz, sein Gesicht wurde von einer schwarzen Maske verborgen. Vermutlich hatte er das linke Auge zusammen gekniffen, denn mit seinem Rechten betrachtete er jemanden durch das Visier.
Ich war enttäuscht. Ich hatte ihn mir größer vorgestellt. Jetzt musste ich genauer zielen, um ihn nicht zu verfehlen.
Ich hob leicht den Kopf, um ihn mit beiden Augen zu betrachten. Für einen Augenblick regte sich etwas in mir. Meine innere Stimme flüsterte mir zu: Hier stimmt etwas nicht…
Ich befahl ihr den Mund zu halten, denn der Profi in mir war sich des Ausmaßes der Gefahr bewusst, die meine Zielperson für dieses Land darstellte.
Eigenartigerweise hob er zur selben Zeit den Kopf. Ein Anflug von Panik stieg in mir hoch. Hatte er mich gesehen? Wusste er, dass er beobachtet wurde? Er verharrte und starrte das Gebäude ihm gegenüber an.
Auch wenn ich nicht sah, was sich in seinem Blickfeld abspielte, wusste ich was er vorhatte. Augenblicklich war das letzte Bisschen Einspruch meiner inneren Stimme verklungen. Ich betrachtete ihn wieder durch mein Visier. Im selben Moment visierte auch er wieder sein Ziel an.
Ich konzentrierte mich. Schweißperlen bildeten sich auf meiner Stirn und navigierten sich, den Poren entlang, an meinem Gesicht herab. Mein rechter Zeigefinger der die ganze Zeit auf dem Abzug ruhte, spannte sich an. Ich spürte leichten Widerstand.
In zählte meinen Herzschlag. Aus einer solchen Distanz musste man zwischen zwei Herzschlägen arbeiten, um nicht zu verfehlen.
… acht… neun.. ich betätigte den Abzug. Zwei Schüsse fielen.
Ich hatte das Gefühl alles in Zeitlupe zu erleben. Es verging eine Ewigkeit, bis ich aufsah. Er schien wie eingefroren zu sein, doch er verharrte zu lange in einer aufrechten Position für jemanden, der schon längst tot sein sollte.
Mist! Ich hatte ihn verfehlt!
Mit trainierter Präzision packte ich das Scharfschützengewehr in ein dafür vorgesehenes Gadget, noch während ich mich vom Tatort entfernte, so dass es augenblicklich auf Taschengröße schrumpfte. Auf meinem Rücken hatte ich ein FlyingGadget geschnallt. Ich war vorbereitet auf alles. Auf der anderen Seite des Daches sprang ich in die Tiefe.
Es wäre die schnellste Fluchtmöglichkeit gewesen, doch auf der Höhe des neunten Stockwerkes verlor ich die Kontrolle über mein Gadget. Mein Kopf knallte hart gegen die Mauer des gegenüberliegenden Gebäudes und noch während der Schmerz in meinem Kopf vibrierte, glitt ich immer weiter hinab. Mit den Händen versuchte ich mich an den Unebenheiten der Wand festzuhalten, um den Fall zu stoppen und das Gleichgewicht wieder zu erlangen. Ich fluchte innerlich.
An einer äußeren Fensterbank fand ich Halt und stieß mich kräftig ab, aber schon bald merkte ich, dass dies ein Fehler war. Das Gadget riss mich zur rechten Seite und mein Körper wurde umher gewirbelt, bis ich kopfüber auf den Boden zuraste. Eine Mischung aus Überraschung und Panik ließ meinen Körper augenblicklich verkrampfen.
„Schweben aktivieren!“, rief ich und betete, dass diese Funktion des Gadgets nicht beschädigt war. Reflexartig kniff ich die Augen zusammen, da ich davon ausging auf dem Boden aufzuschlagen, doch stattdessen passierte nichts.
Ich blinzelte und öffnete dann behutsam die Augen. Nur wenige Millimeter schienen mich vom Boden zu trennen. Sofort streckte ich die Hände aus und stieß mich vom Boden ab, sodass meine Füße wieder auf festem Boden standen und riss das das FlyingGadget vom Rücken. Der rechte Flügel war verbogen.
Meine Gedanken überschlugen sich, als ich mich auf mein Motorrad schwang. Der Wind summte in meinen Ohren und die Geräusche des mittäglichen Verkehrs zogen an mir vorbei, während ich durch die Straßen fuhr.
Ich hatte versagt! Es war kein Versagen, bei dem jemand einem auf die Schulter klopft und sagt: „Keine Sorge! Das machst du nächstes Mal besser!“. Es gab kein „nächstes Mal“. Mir wurde dieser Auftrag anvertraut, da ich in der Vergangenheit große Arbeit geleistet hatte. Unter den Guards war ich die geschickteste Scharfschützin. Und nun verfehlte ich diesen einen verdammten Sniper.
In mir stieg Wut auf. Ich war enttäuscht von mir selbst. Das hätte ich besser machen müssen. Nun hatte ich ein Problem. Nicht nur, dass ich mich vor meinem Vorgesetzten erklären müssen würde. Wenn der Sniper, den ich verfehlt habe sein Ziel wiederum getroffen hatte, dann war der Präsident jetzt tot. Allein durch mein Versagen hatte ich die nationale Sicherheit in Gefahr gebracht.
Ich fuhr durch ein Industriegebiet voller Lagerhäuser. Städte bestanden nicht mehr aus Vororten, das war vor Jahrhunderten so. Heute wurden die Städte von Lagerhäusern eingehüllt. Ich fuhr an Gebäuden aller Art vorbei. Viele von ihnen ragten in gigantischer Höhe empor. Während ich zwischen ihnen fuhr, kam ich mir sehr mickrig vor. Eines der Gebäude, getarnt als ein weiteres Lagerhaus, war die Zentrale der GN5, den Guards of the Nation, zuständig für alle fünf Kontinente. Legenden besagten, dass es einmal sieben waren. Kriege und ein unachtsamer Umgang mit der Umwelt waren die Gründe, weshalb wir unsere Städte in eiserne Kokons hüllten und in Häusern innerhalb von Häusern wohnten.
Als ich durch das Tor zum GN5 Gelände fuhr, packte mich eine enorme Nervosität. Das Tor schloss sich unmittelbar nach mir. Eine vertraute Gestalt lief mir entgegen und ich bremste hart vor ihr ab. „Das hast du aber toll gemacht“, ertönte eine bekannte Stimme, mit einem ironischen Unterton. „Geh mir jetzt nicht auf die Eier!“, entgegnete ich etwas gereizt. „Du hast nicht einmal welche“, sagte Jean, „nicht, dass ich wüsste.“ Sein Blick glitt von meinem Gesicht an mir herab. Ich ahnte, wo er gerade hinsah. Im Vorbeigehen drückte ich ihm das FlyingGadget hart gegen die Brust. „Hier! Das hat den Geist aufgegeben. Blödes Mist-Ding.“ Die letzten Worte murmelte ich vor mich hin. Jean sah an sich herab auf das Gadget. „Hmmm.. Ich lass es durch die Maschine laufen.“, sagte er überzeugt.
„Die Maschine“ war ein einziger Mechanismus, welcher ganze Werkstätte vereinte. Ließ man ein Gadget hindurch laufen, fand sie seinen Fehler und regenerierte ihn im selben Zug.
Wir traten durch ein massives Tor, welches sich hinter uns verschloss.
Die Zentrale der GN5 war eine Lagerhalle von überwältigender Größe, in der ganze Straßen und Gebäude Platz fanden. Die Straße vom Eingangstor führte um eine Kurve und danach einen Berg hinunter. Der Teil der Straße, der hinunter führte, wurde von mehrstöckigen Gebäuden, die sich links und rechts auftürmten, begleitet. Hoch über den Gebäuden flog eine riesige Drohne in Form eines Zeppelins. Dort oben in der Drohne befand sich die Leitungszentrale der GN5. Unmittelbar in der Nähe des Haupteingangs befand sich ein ScanGadget, das dafür ausgerichtet war, Agenten und sämtliche anderen Mitglieder der GN5 bei ihrer Ankunft zu identifizieren. Automatisch steuerte ich darauf zu, gefolgt von Jean, der immer noch das FlyingGadget hielt. Ich blieb vor dem ScanGadget stehen und zögerte. Ein mulmiges Gefühl stieg in mir hoch. Sobald ich identifiziert wäre, würde mein Vorgesetzter, Desmond Creamer, wissen, dass ich wieder zurück war. Von meinem Versagen hatte er, dem war ich mir mehr als sicher, schon gehört. Jean sah mich an. Er kannte mich zu gut. Mehrere Jahre waren wir nun zusammen im Dienst, das schweißt zusammen. Zumindest empfand ich das so.
Er drehte das ScanGadget zu sich und identifizierte sich als Erster.
„Willkommen, Agent Defort“, sagte eine automatische Stimme. „Du bist dran, Imogen“, sagte er und drehte mir das Gadget zu. Ich atmete tief durch, mir blieb nichts anderes übrig. Außerdem kam ich mir blöd dabei vor, wie ein kleines Mädchen Angst vor dem Vorgesetzen zu haben. Ich legte meinen Daumen behutsam auf den Fingerabdruckscanner und richtete meine Augen auf die Scanlaser. Als der Routineprozess vorbei war, lehnte ich mich zurück. Langsam wich die Spannung von mir. Jean lächelte. Er wusste, was in mir vorging. Ich war fast schon soweit entspannt, dass mir etwas Wichtiges entging. Jean bemerkte es ebenfalls. Ich hörte nichts. Wir hörten beide nichts. Der Bildschirm links vom Scanner, der meine Daten erfasst hat, blinkte leuchtend rot, anstatt mich zu begrüßen.
„Achtung, Achtung, an alle Einheiten, begebt euch sofort zum südlichen Haupteingang. Ich wiederhole: An alle Einheiten, begebt euch sofort zum südlichen Haupteingang…“, ertönte Creamers Stimme aus allen Lautsprechern der Zentrale. Jean und ich sahen uns gegenseitig überrascht an. Wir wussten beide nicht, was vor sich ging.
„… und Agent Mack..“, mein Herz verkrampfte sich und mein Körper spannte sich an. „… bewegen Sie sich nicht von der Stelle….“, ich blickte etwas panisch zu Jean. Hier lief etwas völlig falsch, etwas was mir entging. An Jeans Blick erkannte ich, dass auch er über das, was sich gerade abspielte, nicht im Bilde war. Er überlegte was er machen sollte und für einen Moment glaubte ich, er wollte mich schnell packen. Denn was auch immer Creamer von mir wollte, er würde sicher eine Belohnung kriegen, wenn er es war, der mich festnahm.
„… Sie sind verhaftet, wegen versuchten Mordes an dem Präsidenten. Ihr Widerstand ist zwecklos. Es sind Drohnen zu Ihnen unterwegs.“
In meinem Kopf überschlugen sich die Gedanken. Es war mir unmöglich, klar zu denken. Mein Gefühl sagte mir, dass mein Ende sich mir näherte, in welcher Form auch immer. Doch ich verstand es nicht. Es war letztlich Jean, der meine Gedanken ordnete und zu Ende führte: „Du hast den Anschlag auf den Präsidenten gar nicht ausgeübt. Jemand will dir was anhängen.“. Jean, der die ganze Zeit auf den Boden starrte, sah wieder zu mir, und ich wusste, dass er auf meiner Seite stand.
Er überlegte kurz, dann sagte er mit entschlossener Stimme: „Geh! Verschwinde von hier!“
Es lag etwas in seiner Stimme, dass von so großer Überzeugungskraft und Selbstverständlichkeit war, dass mein Kampfgeist, der bereits zu einem Häufchen Asche zerfallen war, nun wie ein Phönix wieder auferstand – stärker denn je.
Meine Gedanken fanden einen Weg aus ihrem Labyrinth und arbeiteten nun an einem Plan, wie ich dem Irrsinn entkam. Ich rannte los.
Es war wichtig, dass ich mich vom Eingang entfernte. Die erste Tür, die ich erreichte, führte zu einer Personaltoilette. Dieser äußerst kleine Raum war wie geschaffen für meine Pläne. Ich schloss die Tür ab und griff hinter mich nach meinem Rucksack. Viel Zeit hatte ich nicht. Ich öffnete ihn und griff in eine kleine Seitentasche. Sofort fand ich was ich suchte - eine kleine Kapsel, die ich über meinem Haaransatz zerdrückte. Ich sah in den Spiegel. Plötzlich, wie eine Lawine, die sich vom Gipfel meines Kopfes löste und nun hinab stürze, glitt eine Farbwelle mein Haar entlang und verwandelte mein hellbraunes Haar in eine schneeweiße Mähne. Der leichte Stufenschnitt, der bis zur Brust ging, wich und an seine Stelle erschien ein schulterlanger, ebenmäßiger Haarschnitt.
Ich wandte mich wieder meinem Rucksack zu und holte ein weiteres Gadget hervor. Auf einer Folie klebten zwei durchsichtige Klebestreifen. Ich entfernte sie vorsichtig von der Folie und klebte sie mir auf meine Haut hinter die Ohren. Sobald ich die Streifen angebracht hatte, blickte ich wieder in den Spiegel. Mein Gesicht begann sich zu verändern, schmerzlos und schnell. Schließlich sah ich aus wie Beth, aus der Kommunikationsabteilung. Schnell wechselte ich die Kleidung und zog einen grauen Business Anzug an, um einer Sekretärin zu ähneln. Die anderen Sachen stopfte ich in den Rucksack und stülpte ihn um, sodass er die Form einer kleinen Handtasche annahm, dann trat ich aus der Personaltoilette.
Sie waren zu Hundert. Tausend. Es waren so viele, dass ich sie nicht alle zählen konnte. Versammelt vor allen Ein- und Ausgängen. Drohnen, in der Größe eines Gymnastikballs, flogen umher auf der Suche nach mir. Ich durfte kein Aufsehen erregen.
Vor allem musste ich schnell das Gebäude verlassen, denn sollte Beth bereits auf ihrem Arbeitsplatz oder auf dem Weg dahin sein, wäre es gravierend ihr über den Weg zu laufen. Ich versuchte sie so gut es geht nachzuahmen, während ich auf den Ausgang zusteuerte. Sie ließen mich passieren. Doch auch draußen legte sich meine Spannung nicht. Meine Panik war zurückgekehrt und drückte mir die Lungen zu. Das erste Mal in meinem Leben wusste ich nicht, was ich machen sollte. Meine Lage schien ausweglos zu sein.
Ich kannte die Stadt in- und auswendig, dennoch wusste ich nicht, wohin ich hingehen sollte. Ich konnte unmöglich nach Hause, vermutlich hatten sie schon alles auf den Kopf gestellt, um Beweise zu suchen. Beweise für etwas was ich nicht getan hatte.
Vor mir breitete sich ein unsichtbares Labyrinth aus. Ein Labyrinth an dessen Ende jemand stand, der mich los werden wollte. Ich wusste nicht wer. Ich wusste nicht warum. Aber vor allem wusste ich nicht, wo das Labyrinth anfing.
War es vorhersehbar? War es bereits Teil eines Plans als ich auf dem Dach lag? Waren es vielleicht meine eigenen Leute? Oder wollte jemand von außen mein Ende?
Ich hatte mehr Fragen als Antworten, als ich zur nächsten Underground Station lief, aber ich hatte auch eine klare Aufgabe!
Die Underground Station war fast leer, als ich dort eintraf. Automatisch steuerte ich auf die nächste Toilette zu. Ich durfte keine Spuren hinterlassen. Meine Handtasche stülpte ich wieder zum Rucksack um und nahm ein Blumenkleid, flache Sandalen und eine Lederjacke heraus. Für die konservative Beth wäre es untypisch gewesen. So würde mich keiner erkennen.
Umgezogen nahm ich das letzte Gadget aus meinem Rucksack heraus. Es sah aus wie die früheren Streichholzpackungen, die heute nicht mehr existierten. Ich legte alles was ich nicht mehr brauchte ins Waschbecken. „Vernichten“, aktivierte ich das Gadget und warf es zwischen die Sachen. Binnen Sekunden entflammte sich der Inhalt des Waschbeckens in blauen Flammen und wurde pulverisiert. Ich drehte den Wasserhahn auf, um die Überreste wegzuspülen, da ging ein schriller piepender Alarm los. Ausgelöst durch die Flammen, die meine Sachen vernichteten.
Ich nutze die Gelegenheit und verließ schnell und unauffällig die Toilette. Die Underground war bereits eingetroffen und ich sprang hinein. Als ich noch ein letztes Mal hinter mich blickte, sah ich wie einige Guards auf die Toilette zustürmten. Die Türen der Underground schlossen sich und sie setzte sich in Bewegung. Für einen Moment entspannte sich mein Körper. Auch meine verkrampften Lungen ließen einen Tiefen befreienden Atemzug zu. Vorerst war ich in Sicherheit.
Die Underground fuhr in schwindelerregender Geschwindigkeit. Innerhalb von Sekunden konnte man eine beeindruckende Strecke hinter sich bringen. Unterhalb der Erdoberfläche waren sämtliche Städte und auch die Kontinente vernetzt. Für die Kontinente war das die einzige Verbindung. An der Oberfläche außerhalb des Schutzkokons konnte kein Gadget der Welt dich am Leben erhalten – das kommt davon, wenn man sämtliche Sphären und die Ozonschicht beschädigt. Künstliche schützende Ummantelungen konnten für die einzelnen Kontinente hergestellt werden, aber es erforderte jahrelange Arbeit und Forschung diese aufrecht zu erhalten und eine Garantie, dass wir so lange überleben würden gibt es nicht. Wir büßten für die Fehler unserer Vorfahren und schauten unserem Planten bei der Selbstzerstörung zu, die wir selbst einst eingeleitet hatten.
Für einen kurzen Moment meiner inneren Verzweiflung kam mir eine Idee. Ich würde den Kontinent verlassen müssen. Auf einem neuen Kontinent war ich eine Fremde. Ich würde eine neue Identität annehmen und von vorne anfangen – das wollte ich eh schon immer. Die Underground näherte sich der Grenze. Sobald sie diese passieren und sich im Übergangstunnel befinden würde wäre mein Neuanfang sicher.
Doch eigentlich war das nicht meine Art. Ich habe noch nie aufgegeben. Vor meinen Problemen davon zu laufen würde diese auch nicht lösen.
Meine Gedanken, die erst jetzt wieder langsam Form annahmen, wurden von einer automatischen Stimme unterbrochen:
„Sehr geehrte Passagiere, das Passieren der Grenzen ist zurzeit nicht gestattet. Steigen Sie an der nächsten Station aus. Wir bitten um Ihr Verständnis…“, die automatische Stimme wiederholte alles auf sämtlichen, mir unbekannten, Sprachen und legte sich, wie ein metallischer Draht, um meine Kehle. Mit jedem Wort wurden meine Atemwege enger geschnürt, sodass ich nach Luft schnappte. In der Underground breitete sich ein Wispern aus. Für alle Anwesenden war dies eine Neuigkeit, ebenso wie für mich. Als die Türen der Underground sich öffneten, strömte eine dickflüssige Menschenflut hinaus. Ich mischte mich darunter, um möglichst nicht aufzufallen. Mir blieb sehr wenig Zeit mir einen Plan auszudenken. Ich brauchte dringen einen Unterschlupf, allerdings konnte ich niemandem blind vertrauen – ich hatte niemanden. Seitdem ich denken konnte war ich auf mich alleine gestellt, bisher hatte es mich auch nie gestört, doch nun war alles anders.
Plötzlich regte sich etwas in mir, als mich die Menschenflut den Bahnhof entlang spülte. Es gab nur eine einzige Person, der ich genug vertraute. Eine einzige Person, die all die Jahre bei mir war und mich kannte. Der einzige Mensch, der nachvollziehen würde, was mit mir passierte.
Mit einem Ruck erwachte ich aus meinem Gedankentrance und steuerte entschlossen auf eine Underground zu, die gerade angekommen war. Ich stieg ein und fuhr beinah die gesamte Strecke, die ich zuvor hinter mich gebracht hatte zurück.
Am Rande der Stadtmitte stieg ich aus und schlich mich, mit der Menge verschmelzend, durch die engen Straßen. Der zentrale Teil der Stadt bestand aus schwindelerregenden Hochhäusern, die über hunderte von Stockwerken hatten. Ich fragte mich oft, ob es möglich gewesen wäre, solche riesigen Gebäude zu bauen, wenn wir ein natürliches Wettersystem hätten.
Zu den Hochhäusern kam ich nicht. Stattdessen bog ich in einige menschenleere Gassen, die die Wohnblöcke bildeten. Jedes Haus war individuell gestaltet und hatte sein eigenes System, um es zu betreten. Ich hielt vor einer Glaswand an. Als ich ein Blick hineinwarf stellte ich fest, dass es sich um ein unterirdisches Einkaufszentrum handelte, was mindestens so viele Stockwerke in die Tiefe ging, wie die Wolkenkratzer in die Höhe ragten. Es sah sehr einladend aus, mit den vielen Läden und Cafés. Ein wonniges Gefühl durchströmte mich und für einen Moment vergas ich meine Situation. Ich wollte es betreten, mich unter die Menschen mischen und mich einfach dem euphorischen Gefühl hingeben ein Teil davon zu sein.
Ich zwang mich zur Besinnung zu kommen, doch versprach mir, dass wenn alles vorbei wäre, ich an diesen Ort zurück kommen würde.
Ich ging weiter an der Glaswand entlang und fand, was ich suchte. Eins der Asphaltplatten sah anders aus, als die anderen. Ich stellte mich drauf. Nach drei Sekunden fuhr aus einer Lücke ein Menü hoch, mit Buchstaben, Zahlen und Zeichen. Daneben stand außerdem eine Auswahl an Namen, die die Bewohner dieses Hauses kennzeichneten. Ich drückte auf die Taste, auf der „Defort“ zu erkennen war. Eine automatische Stimme begrüßte mich: „Bonsoir. Vous avez choisi ….“, noch bevor die Stimme zu Ende sprechen konnte rief ich genervt dazwischen, „Standardsprache aktivieren!“ Die gleiche Stimme wiederholte, was sie mir zuvor auf Französisch hatte sagen wollen: „Guten Abend. Sie haben Monsieur Defort gewählt. Bitte, warten Sie einen Moment.“
‚Verdammter Mistkerl, mit seiner Scheiß Romantik‘, fluchte ich innerlich und ahnte, dass das französische Getratsche für seinen weiblichen Besuch war.
Eine kleine Drohne – nicht größer, als mein Kopf – kam vom Dach geflogen. Sie piepste niedlich und richtete sich direkt auf mein Gesicht. „Ich bin’s, Jean“, sagte ich, denn ich war noch in Gestalt von Beth. „Imogen“, flüsterte ich der Drohne zu. Die Drohne piepste zwei Mal und nickte mir dabei zu. Die Drohne nickte mir zu? Ich war verblüfft von der Eigenart der Sicherheitstechnik. Noch bevor ich weiter darüber nachdenken konnte verschwand die Drohne und die Asphaltplatte, auf der ich stand, setzte sich in Bewegung. Langsam beförderte sie mich auf das Dach über der Glaswand. Eine grüne Fläche fiel mir augenblicklich ins Auge – eine Wiese! Sie war nicht groß, vielleicht sechs oder sieben Quadratmeter und es war eindeutig, dass sie künstlich war, da unser unfruchtbarer Boden eine solche Kostbarkeit nie zulassen würde. Trotzdem war ich fasziniert, über ihre Schönheit.
Ich hockte mich vor ihr hin und streckte zögerlich die Hand aus. Diese Wiese mochte harmlos aussehen, jedoch war ich mir sicher, dass sie so modifiziert war, dass sie bei ungewolltem Besuch sich zu spitzen, dornenähnlichen Zacken aufstellen konnte, welche sämtliche Sohlen durchbohren würden. Der Einbrecher würde qualvolle Schmerzen erleiden und könnte nicht fliehen, schließlich würde er einen grausamen Tod durch die Drohnen sterben. Doch das Gras unter meiner Hand war gefügig, es fühlte sich unglaublich weich an. Ich überlegte kurz, meine Sandalen auszuziehen, wenn ich darüber laufen würde, jedoch verwarf ich den Gedanken schnell.
Meinen Blick immer noch auf den Boden gerichtet, durchquerte ich den Rasen und stieg in einen geräumigen Aufzug, der seine Türen bereits zum Empfang geöffnet hatte. Er befand sich schräg gegenüber der Asphaltplatte, die mich nach oben gebracht hatte.
Die Türen schlossen sich hinter mir und ich blickte auf eine Wand aus Milchglas die von hinten beleuchtet wurde. Plötzlich begann sich das Licht zu bewegen. Es formte Wellen und spitze lang gezogene Figuren, während es sich visuell der Stimme fügte, welche sich an mich wendete. Obwohl ich erkannte, dass es eine automatische Stimme war, überraschte es mich, dass es sich ausnahmsweise um eine männliche Stimme handelte.
„Guten Abend, Agent Mack. Wie war Ihr Tag?“
Für einen Moment vergas ich zu atmen. Mir war bewusst, dass es sich um ein Programm handelte, welches vermutlich so geschrieben wurde, jeden nach seinem Befinden zu fragen.
Trotz allem war ich solche Gesten von einer Maschine nicht gewohnt. Sämtliche sprachfähigen Gadgets waren zwar darauf programmiert höflich zu sprechen, jedoch waren soziale Interaktionen auf einer empathischen Basis unmöglich. Die Macher der Gadgets sahen es als schlichtweg unnötig den Gadgets solch menschliche Züge zu verleihen. Ich fragte mich, wie Jean an dieses Sicherheitssystem kam.
„Äh… mein Tag war .. gut.“, antwortete ich, während ich mir überlegte, was der Fahrstuhl mit dieser Information anfangen würde.
„Das freut mich sehr.“, antwortete die Stimme, wobei sie einen fröhlichen Unterton hatte. „Mister Defort erwartet Sie bereits.“, sprach er weiter und setzte sich in Bewegung.
Vom Gefühl her zu urteilen fuhr der Fahrstuhl nicht einfach rauf und runter. Wir glitten erst nach links, stiegen dann am Haus eine Etage auf, um daran entlang weiter nach hinten zu gleiten.
„Mögen Sie Chopin, Miss Mack?“, gleichzeitig setzte eine sanfte, flüssige Melodie ein, die, wie ich vermutete, an einem Klavier gespielt wurde. Mir klappte der Mund auf und ich schaute perplex umher. „Bitte, was?“, es war mir unbegreiflich, wie ein Aufzug Smalltalk führen konnte.
„Eines seiner berühmtesten Stücke.“, versicherte mir die Stimme.
„Wer bist du?“, rutschte es aus mir raus. „Du bist kein gewöhnliches Programm!“
„Verzeihung! Wo bleiben meine Manieren? Ich heiße Cainwis – civilization analysing intelligence with interaction skills. Stets zu Ihren Diensten!“
Mir blieb die Sprache aus. Es war ihm also tatsächlich möglich mit Menschen zu interagieren. Mein Kopf füllte sich augenblicklich mit Fragen, doch bevor ich auch nur eine stellen konnte, kam der Fahrstuhl sanft zum Stillstand und die Türen links von mir glitten auf.
„Einen schönen Aufenthalt wünsche ich Ihnen, Miss Mack.“
Ich stieg aus und betrat einen großen Raum. Direkt mir gegenüber breitete sich eine lange Fensterwand aus, deren Ausblick zum Teil von großen Jalousien verschleiert wurde. Sie waren halb geschlossen und die abendliche Sonne tauchte das Apartment in schimmernde Goldtöne. Zu meiner Rechten befand sich eine Küche. Ich erkannte eine Wand voller Bildschirme dahinter. Auf den meisten Schirmen waren sämtliche Plätze zu sehen, die von den Überwachungsdrohnen eingefangen wurden, auf anderen wiederum waren Zeichen und Matrizen zu sehen. Ich konnte nicht zuordnen was sie darstellten oder wofür sie da waren. Je genauer ich diese Wand betrachtete, desto mehr eigenartige Technik fiel mir auf. Erneut fragte ich mich, wie Jean an dieses Sicherheitssystem kam. Aber vor allem fand ich es merkwürdig, dass er diese ganze technische Vorrichtung brauchte.
Mein Blick glitt weiter durch das Apartment. Es war sehr gemütlich und stilvoll eingerichtet. Auf der anderen Seite des Raumes stand ein großes Bett. Ich erwischte mich dabei, wie ich mich fragte, wie viele Frauen in diesem Bett bereits nächtigen durften.
Zwischen zwei massiven Säulen, die in der Mitte des Raumes bis zur Decke ragten und den Bau unterstützen, war eine Eisenstange angebracht. Ein verschwitzter, nackter Oberkörper zog sich mit seinen muskulösen Armen immer wieder an der Stange hoch. Jean betrachtete mich gar nicht. Als ob er mich nicht bemerkte. Seine pechschwarzen Locken waren klatschnass und hingen ihm ins Gesicht.
Plötzlich ließ er die Stange los und sprang ab.
„Du hast echt Nerven, Mack.“, sagte er, während er mit einem Handtuch sein Gesicht abwischte.
Ich war immer noch in Gestalt von Beth, also griff ich hinter die Ohren und zog die Streifen, die mein Aussehen veränderten mit einem Ruck runter. Zwar konnte ich mein Gesicht nicht sehen, jedoch spürte ich wie die Spannung und der Druck von meinem Gesicht wichen. Ich war wieder ich.
„Es tut mir leid! Gebe es einen anderen Weg, wäre ich nicht hier.“, es war die Wahrheit. Als ich mit der Underground zurück zur Stadt fuhr, ging ich im Kopf alle Möglichkeiten durch, die ich hatte. Dies war die einzige, die ich nach langem Brainstorming gefunden habe. Ich wusste, dass ich möglicherweise Jean in Gefahr brachte. Wenn es dafür überhaupt einen Weg gab, würde ich mich später revanchieren.
Jean zog für einen Moment die Augenbrauen hoch, dann lachte er kurz auf. Er war sichtlich nicht begeistert. Ohne mich anzublicken lief er an mir vorbei und griff nach einer Wasserflasche. Gierig trank er mit großen Schlucken, dann schüttete er sich ein wenig Wasser über den Kopf und trank schließlich den Rest aus.
Einen Augenblick schaute er nachdenklich zu Boden, dann sprach er das aus, was ich erwartet hatte: "Was ist dein Plan?"
"Es gibt keinen.", das war kein guter Anfang, doch war der Gefallen, um den ich ihn bitten würde, so groß, dass ich mich entschied in allem die Wahrheit zu sagen. Er blickte mich bereits ungläubig an, als ich fort fuhr: "Ich habe keinerlei Vermutung, wer hinter der Sache steht und es ist mir unmöglich die Datenbank durchzukämmen, um rauszufinden, wem ich in der Vergangenheit auf die Füße getreten bin.", ich zögerte, um seine Reaktion abzuwarten, doch sein Blick hatte sich nicht verändert. "Ich werde ganz von vorne anfangen müssen.", weiter war ich mit meinen Gedanken nicht gekommen. Ich würde den Tatort untersuchen müssen. Jede Spur, die mich zu dem Scharfschützen führte, jeder noch so kleine Abdruck, würde mir große Dienste bei seiner Suche erweisen. Fände ich den Scharfschützen, so wäre auch sein Auftraggeber nicht weit. Schlussendlich könnte ich beweisen, dass ich den Anschlag auf den Präsidenten nicht verübt hatte. "Ich muss zum Tatort!", es gab keinen anderen Weg.
"Wie stellst du dir das vor, Mack?", meldete sich Jean zu Worte. "Spazierst du dahin und kratzt ein wenig am Beton? Abgesehen davon, dass du kein Equipment hast: Du wirst von der gesamten GN5 und der Regierung gesucht!", er ging an mir vorbei zur Küche und stützte sich mit beiden Händen an den Tresen ab. "Deshalb brauche ich deine Hilfe. Du musst für mich die notwendigen Gadgets besorgen und eine neue Tarnung. Außerdem wäre es nicht schlecht, wenn du dich umhören würdest.“
Ruckartig stieß sich Jean von den Tischplatte ab und drehte sich wieder zu mir: „So läuft das nicht, Mack! Du kannst nicht hier in der Sicherheit meines Apartments bleiben und Däumchen drehen, während ich meinen Arsch für dich riskiere. Wenn die erfahren, dass du hier bist, dann bin ich auch dran, weil ich dich hier verstecke. So als sei ich dein Komplize.“, das letzte Wort sprach er mit einer deutlichen Abneigung aus. Sein Gesicht war nur wenige Zentimeter von meinem entfernt, er sah mir eindringlich in die Augen. Er war wütend.
„Du glaubst also auch, dass ich den Präsidenten ermorden wollte.“, stellte ich fest.
„Es geht nicht darum, was ich glaube. Du bist überall in den Nachrichten – das Thema Nummer Eins. Hier.“, er malte mit seinen Fingern ein unsichtbares Zeichen in die Luft, sofort wurden die Nachrichten auf die Wand hinter mir projiziert.
Augenblicklich fiel mir das Foto ins Auge, das neben der Nachrichtensprecherin förmlich in der Luft hing. Mein ganzer Körper zog sich zusammen, so dass es schmerzte. Übelkeit stieg in mir hoch. Hätte ich heute etwas gegessen, so hätte mein Körper es in dieser Sekunde mit großer Gewalt hochgewürgt.
Sie fahnden nach mir, schoss es mir in erster Linie durch den Kopf.
Noch bevor ich mich darauf konzentrieren konnte, was die Nachrichtensprecherin sagte, schaltete Jean weiter. Er zappte durch mehrere Kanäle und jedes Mal wurde mein Foto gezeigt. Es war eins der Bilder aus meiner Akte, aus meinem Profil in der Agenten Datenbank. So wie ich mich dort in den Nachrichten sah, kam ich mir vor wie ein Verbrecher. Als hätte ich tatsächlich den Präsidenten ermorden wollen.
Die Stimme einer weiteren Nachrichtensprecherin riss mich aus meinen Gedanken.
„…morgen wurde ein Mordanschlag auf den forteonischen Präsidenten, Sir Michael Cavanaugh, verübt. Der Präsident befand sich zur Zeit des Attentats in seinem Büro, als vom Dach des gegenüberliegenden Gebäudes auf ihn geschossen wurde. Sir Cavanaugh überlebte den Anschlag, da der Täter ihn knapp verfehlte. Laut Angaben des Behördenleiters der GN5, Desmond Creamer, soll es sich bei dem Scharfschützen um die Agentin Imogen Mack handeln. Ihr FlyingGadget wurde in der Nähe des Tatorts geortet und sie wurde dort von Passanten gesichtet. Zusätzlich stamm die Kugel, die am Tatort gefunden wurde, aus ihrer Waffe. Welche Motive sie für dieses Verbrechen hatte ist noch nicht geklärt. Die GN5 ermittelt den Fall und fahndet nach der Täterin….“
Wie in einer Trance, stand ich da und bewegte mich keinen Millimeter. Ich starrte zwar weiterhin auf die Leinwand, doch mein Blick war verschwommen. Das war mein Ende.
„...Imogen? IMOGEN", Jean holte mich wieder zurück.
„Ich bin erledigt.", darauf wurden wir beim Sicherheitsdienst nie vorbereitet. Ich konnte aus jeder noch so unangenehmen und gefährlichen Situation entkommen. Angeblicher Verrat gehörte da nicht zu. Wie hätte ich das Problem lösen können, wenn ich nicht wusste, was vor sich ging?
„IMOGEN, verdammt!", Jean klang genervt, doch an seinem Unterton merkte ich, dass er besorgt war.
Langsam ordnete ich meine Gedanken. Ich zwang mich zur Besinnung. Ich konnte es mir nicht erlauben, mich gehen zu lassen.
Während ich vom gesamten Kontinent gesucht wurde, musste ich einen Weg finden meinen eigenen Fall zu lösen. Mir blieb weder viel Zeit, noch hatte ich die notwendigen Gadgets und sollte etwas schief gehen, blieb mir keine Möglichkeit über die Grenze zu fliehen.
Die Grenzen - augenblicklich fiel es mir wieder ein. Es war eigenartig, dass sie gesperrt waren. Noch nie, seit der Erschaffung der Kontinenten-Konstellation und der unterirdischen Globalvernetzung, waren die Grenzen jemals gesperrt. Es war die einzige Möglichkeit auf die anderen Kontinente zu kommen.
„Die Grenzen sind gesperrt.", ich richtete das erste Mal seit einer gefühlten Ewigkeit das Wort an Jean. Zu meiner eigenen Verwunderung klang ich gelassen und gefasst zu gleich. „Was weißt du darüber?"
Jean sah mich überrascht an. Er wollte scheinbar ansetzen, um mir etwas zu sagen, doch dann wendete er sich wieder der Leinwand zu. „Cainwis!"
„Ja, mein Herr?"
Ich hielt die Luft an. Hatte Cainwis die ganze Zeit zugehört?
„Sortiere alle Nachrichten der letzten 24 Stunden. Zeig mir alles was mit der Sperrung der Grenzen zu tun hat.", "Jawohl, mein Herr!"
Dann wandte sich Jean wieder mir zu. „Bist du sicher, dass die Grenzen gesperrt sind? Woher weißt du das?"
„Sie haben mich heute nicht passieren lassen.", rutschte es mir heraus.
„Du... WAS?!", sein Entsetzen stand ihm förmlich ins Gesicht geschrieben. „Du wolltest fliehen?!"
Ich blickte zu Boden und schämte mich fast schon. Nicht wegen Jean, sondern weil ich so leicht aufgeben und vor meinen Problemen fliehen wollte. Als ob es irgendetwas lösen würde.
„Sir?", durchbrach Cainwis die peinliche Stille die soeben eingetreten war. "Ich habe einen Nachrichten Bericht über Ihr gewünschtes Thema gefunden. Wollen Sie, dass ich es jetzt abspiele?"
Jean antwortete nicht. Er starrte mich nur weiterhin an. Schließlich nickte er unmerklich und auf der Leinwand tauchte wieder eine Nachrichtensprecherin auf. Cainwis konnte scheinbar tatsächlich menschliche Körpersprache lesen.
Neben der Nachrichtensprecherin ragte ein Umriss unseres Kontinentes in die Höhe. Darunter war eine Schlagzeile zu lesen:
Forteon bald verkauft?
„Der Nachbar Kontinent Fertileon möchte Forteon aufkaufen. Laut des Präsidenten Sprechers von Forteon soll der fertileonische Präsident, Archibald Sapin, ein großes Interesse an dem kleinsten aller Kontinente haben. Er möchte auf diesem eine Entsorgungs- und Recycling-Basis errichten, die von allen Kontinenten genutzt werden kann. Jedoch habe Sir Michael Cavanaugh nicht vor Forteon abzutreten. Als vorübergehende Sicherheitsmaßnahmen wurden sämtliche Underground-Verbindungen über die Grenzen gesperrt, solange der Konflikt andauert….."
Wie einbetoniert standen wir da. Keiner von uns beiden wagte sich auch zu bewegen. Selbst das Atmen schienen wir eingestellt zu haben. Doch auch wenn von außen keine Bewegung zu vernehmen war, kreierten meine Gedanken ein komplex vernetztes Informationssystem, ausgelöst durch die Informationen aus den Nachrichten.
„Das ist es..“, entglitt es mir als ein Flüstern.
Jean, der zuvor seinen eigenen Gedanken nachhing, blickte zu mir hoch. „Was genau meinst du jetzt?“
„Cavanaugh steht im Konflikt mit Sapin! Wenn Sapin wirklich Interesse an Forteon hat, hat er vielleicht jemanden beauftragt Cavanaugh zu töten.“
„Und weiter?“, Jean zog überrascht die Augenbrauen hoch.
„Der Scharfschütze, den ich töten sollte, der, der versucht hat den Präsidenten zu töten, vielleicht gehört er zu Sapin.“ Und mich haben die dafür hingehalten, vervollständigte ich meine Theorie.
„Das ist ja alles schön und gut, aber den Auftrag hast du doch von der GN5 erhalten, oder? Meinst du nicht, die hätten gewusst, auf wenn die dich aufgesetzt hätten und was derjenige vor hat?“, Jean hob eine Augenbraue und sah mich erwartungsvoll an.
Ich musste mich zusammenreißen, um nicht zu lächeln. Er stand wirklich auf meiner Seite. Zumindest glaubte er nicht, dass ich es auf den Präsidenten abgesehen hatte.
„Und dennoch wirst du von ihnen gesucht und kein anderer!“
Einen Augenblick dachte ich über seine Worte nach. Zwar hatte Jean mit seinen Ausführungen recht, jedoch nur zum Teil. „Die GN5 existiert kontinentübergreifend. Sapin hätte keine Probleme gehabt, die nötigen Leute zu kaufen und die haben alles in die Wege geleitet.“, noch bevor ich meine Gedanken weiter ausschweifen konnte unterbrach mich Jean.
„Imogen, hast du eine Ahnung, wovon du da redest?! Die GN5 vertritt das Gesetz! Ferner noch: Sie sorgt dafür, dass Verbrechen verhindert werden. WIR sorgen dafür, du bist ein Teil davon!“, während er sprach, kam er leicht auf mich zu. Die ganze Zeit über sah er mir direkt in die Augen.
Vor einem Tag noch dachte ich genau wie er. Ich hätte nicht einmal im Traum an dem System, der GN5 oder der Regierung gezweifelt. Jahrzehnte lang schien alles perfekt zu funktionieren.
„Nicht mehr.“, korrigierte ich ihn und wandte mein Blick von ihm ab. Wieder einmal schwiegen wir uns an und ich dachte darüber nach wie ich vorgehen sollte.
„Egal wer hinter der Sache steckt, ich werde es ja früher oder später rausfinden. Zunächst muss ich zum Tatort. Also, wie sieht es aus?“, diesmal war ich es, die Jean direkt in die Augen blickte. Ich musste wissen, ob er nicht nur auf meiner Seite stand, sondern auch bereit war mir zu helfen. Übel nehmen, wenn er es nicht würde, könnte ich es ihm nicht. Immerhin gab es für ihn keinen besonderen Grund sein Leben für mich zu riskieren, bis auf das wir Partner waren. „Hilfst du mir, Jean?“
Eine Weile stand er einfach nur da und blickte mich an. Dann entspannte sich sein Körper und seine Gesichtszüge. Er atmete laut aus bevor er sprach. „Du brauchst Gadgets? Aus der GN5 kann ich dir keine besorgen. Ansich sollte ich mich erst einmal dort ruhig verhalten. Da wir Partner sind werden die vermuten, dass ich dir helfe.“
Ich nickte leicht. Ich hatte auch nicht erwartet, dass er mir hilft.
Er legte eine kleine Pause ein bevor er weitersprach:
„Aber ich kenne jemanden, der dir helfen kann!“
Es dämmerte noch, als Jean und ich uns auf dem Weg machten. Selbst als ich den mir viel zu großen, schwarzen Sportanzug anzog, den Jean mir gegeben hatte und mein Haar unter der schwarzen Kappe versteckte, hatte ich nicht einmal eine Vermutung, wohin Jean mich bringen wollte. Den ganzen Morgen hatte er kein Wort gesagt. Lediglich die Tatsache, dass er seine Stirn in Falten legte, verriet, dass er strengstens über einen Plan nachdachte.
Wir stiegen in den geräumigen Fahrstuhl.
„Cainwis? Bring uns zur Endstation! Vermeide alle belebten Wege und schalte alle Kameras aus, die sich auf dem Weg befinden und die du greifen kannst. Vermeide sämtliche GN5 Drohnen – ausnahmslos.“ Es war das erste Mal, dass Jean an dem Tag sprach.
„Jawohl, Sir“, antwortete Cainwis in seiner gewohnten, gutgelaunten Stimme.
Der Fahrstuhl setze sich in Bewegung, doch er beförderte uns nicht zu dem Eingang, aus dem ich den Abend davor gekommen war. Stattdessen fuhr er weiter nach Hinten an der Wand entlang und stieg danach an einem Turm empor, nur um über ein weiteres Gebäude zu kommen. Danach fuhren wir hinunter. Durch das Glas konnte ich erkennen, dass wir an einer Seitenstraße in der Nähe des Eingangs zum Einkaufszentrum fuhren. Auch wenn die Straße so dicht am überfüllten und lebhaften Viertel lag, war sie vollkommen leer.
Ein paar Lichtstrahlen hatten sich durch die Wolkenkratzer der Innenstadt gekämpft und ließen symmetrische Figuren auf dem gegenüberliegenden Gebäude aufleuchten, wie ein futuristisches Design. Es war faszinierend, wie etwas künstlich Erschaffenes, etwas so Schönes projizieren konnte. In Wirklichkeit gab es keine Strahlen. Die Kontinente mit ihren künstlichen Ummantelungen, die wie Kuppeln über der noch verbliebenen Erdoberfläche lagen, kannten keine Sonne, keinen Himmel, keine Sterne und auch kein Wetter. All das wurde an den gigantischen Bildschirmen, die an der Decke unseres Wohnraumes angebracht wurden, lediglich projiziert. Es entstand der Eindruck, als ob die Welt unversehrt und nicht am Rande der Zerstörung wäre.
Ich fand es absurd, dass ich gerade in einem solchen Augenblick daran dachte, wie die Menschheit sich selbst vorspielte, dass alles in Ordnung sei.
Der Fahrstuhl näherte sich einer großen Asphaltplatte auf dem Boden, doch kurz bevor er drohte auf ihr aufzuprallen, öffnete sich diese und wir fuhren in die Dunkelheit. Obwohl der Fahrstuhl mit eine Glasbeleuchtung ausgestattet war und Cainwis‘ Stimme visuell durch ein Lichtspiel dargestellt wurde, konnten wir nicht sehen, was sich außerhalb des Fahrstuhls befand.
Schließlich kamen wir in einem äußerst kleinen Raum zum Stehen. Die Türen glitten auf und wir stiegen aus.
Der Raum war mit einer grellen Lampe beleuchtet, die weder einen Lampenschirm, noch irgendeine andere Art von Verkleidung trug. Nicht nur, dass er dadurch sehr unheimlich erschien, er regte auch zu einem klaustrophobischen Anfall an.
Ich war so in Gedanken über der kleinen Raum vertieft, dass mir gar nicht auffiel, wie sich der Fahrstuhl in Bewegung setzte und wieder an die Erdoberfläche verschwand.
Der einzige Weg aus diesem Raum führte durch eine verschlossene Tür, die jedoch eigenartig aussah. An ihr war kein Daumenscanner und auch keine Leiste zur Eingabe eines Codes. Stattdessen befand sich neben der Tür ein Schalter. Er sah aus wie die alten Lichtschalter, die es heutzutage nicht mehr gab. Neben der Tür, in der linken Ecke, befand sich eine Überwachungskamera. Auch diese hatte nichts mit den aktuell üblichen Kameras gemeinsam. Ich kam mir vor, als wäre ich in eine andere Zeit gereist.
Jean, der hier sichtlich nicht zum ersten Mal war, betätigte den Schalter. Ein gedämpftes Klingeln ertönte, scheinbar auf der anderen Seite der Tür. Die Kamera richtete sich plötzlich mit einem zischenden Geräusch auf uns.
„Bitte, identifizieren Sie sich mit Ihrem Namen, Ihrer Personalnummer oder Ihrem Geburtsdatum.“, forderte eine freundliche Stimme uns auf. Mein Körper verkrampfte. Ich wurde vom gesamten Kontinent gesucht und durfte mich nirgendwo identifizieren oder scannen lassen. Wo hatte Jean mich hingebracht?
„Lass den Scheiß, Phil. Mach die Tür auf!“, sagte Jean und ich verstand, dass die zuvor gemachte Aufforderung nicht ernst zu nehmen war – ein einfacher Scherz unter Freunden.
„Aber, Sir“, sagte die Stimme,„ ich muss Sie bitten der Aufforderung nachzugehen. Dies sind die Standardvorkehrungen in diesem Haus. Sie haben doch sicher Verständnis.“
„Ich hab keine Zeit für diesen Scheiß, Phil. Mach auf, verdammt!“
Jean wurde zunehmend gereizter und seine Stimme etwas lauter. Gleichzeit lag eine gewisse Verzweiflung darin.
„Sir, bitte bewahren Sie Ruhe..“, setzte die Stimme wieder an, doch sie wurde daraufhin unterbrochen.
„Master Phil, machen Sie bitte die Tür auf!“, meldete sich Cainwis zu Worte. Ruckartig blickte ich um mich. Warum war Cainwis immer noch hier?
„Ja ja, schon ok, Cainwis.“, sagte die Stimme und ein schrilles Summen ertönte.
Jean lehnte sich gegen die Tür und sie gab unter seinem Gewicht nach. Ich folgte ihm in einen langen, hell beleuchteten, weißen Gang. Wir bogen rechts ab und folgten ihm, bis dieser nach links führte. Schließlich kamen wir an eine weitere Tür, die genauso aussah, wie die, die wir zuvor betreten hatten. Jean öffnete sie und wir traten in ein exorbitantes Laboratorium.
Alles war in ein blaues Licht getauft, was einen enormen Kontrast zu dem weißen Flur bildete. Überall hingen digitale Aufzeichnungen von mir fremden Objekten, auf Regalen türmten sich Bücher und auf den vielen Tischen, die im gesamten Raum zu verschiedenen Gruppierungen angeordnet waren, standen Querschnitte und Modelle von verschiedenen technischen Prototypen.
Wer auch immer dieser Phil war, er war scheinbar ein IT- und Ingeneiurwissenschaftler.
Einige der Prototypen erkannte ich. Sie waren Teil der Grundausrüstungen der GN5 Agenten. Phil arbeitete also für die GN5!
In der Mitte des Raumes stand ein großer Arbeitstisch, auf dem sich mehrere große durchsichtige Bildschirme befanden. Auf jedem einzelnen Bildschirm arbeiteten teilweise mehrere verschiedene Programme auf Hochtouren. So wie ich auf dem ersten Blick erkennen konnte, arbeitete Phil an einem Android oder etwas anderem menschenartigen. Auf der Wand zu meiner rechten Seite, die sich hinter dem Bildschirm befand, hingen vier rießige Bildschirme. Sie schienen Statistiken und Werte von den Prototypen anzuzeigen, die noch in Bearbeitung waren. Zumindest konnte ich erkennen, dass sie die digitalen Abbildungen von den Objekten darstellten, die vor ihnen standen und an verschiedenen Kabeln und Röhren angeschlossen waren.
Ein weiteres Detail, das auffiel, war, dass die Technik, Einrichtung und Ausstattung in einem großen Widerspruch zu dem Eingang des Labors standen. Jemand der über eine solches Equipement verfügte, konnte sich ein bei weitem aufwendigeres Sicherheitssystem leisten und in Phils Fall – selbst designen.
„Aaaaaah. Jean, du hast ja noch nie Besuch mitgebracht!“, sagte die Stimme, die wir zuvor durch die Lautsprecher gehört hatten. Sie gehörte einem jungen Mann, mit schwarzen Locken und einer Brille. Er war vielleicht in seinen Zwanzigern und sportlich gebaut, für jemanden der Tag ein Tag aus in einem Labor verbrachte. Unter seinem weißen Arbeitskittel konnte ich einen grauen Pullover und eine schwarze Hose erkennen, welche sehr untypisch für diese Zeit war. Er saß, nach hinten gelehnt, auf einem großen Drehstuhl aus Leder.
„Phil, das ist…“, Jean setzte gerade an, um mich dem jungen Techniker vorzustellen, als dieser ihm dazwischenredete.
„Ich weiß genau wer sie ist! Agent Imogen Fortia Mack. Geboren am 15.Mai 2133 auf Forteon. Großgezogen worden auf der Kinderstation Fortiaris. Mit 8 fiel sie der GN5 auf, mit 10 trat sie die Ausbildung zum Guard an, mit 16 wurde sie rekrutiert und nun….“, Phil, der bei seinem Vortrag die ganze Zeit mich mit seinem Blick fixierte, machte eine Pause, um die Aufmerksamkeit auf das zu lenken, was er als nächstes sagen würde, „.. ist sie drauf und dran eliminiert zu werden.“
Der Ingenieur schien eine ausgeprägte sarkastische Ader zu haben, denn das schmunzeln verließ nicht einmal für eine Sekunde seine Lippen und seine Augen funkelten vor Neugier auf meine Reaktion. Er wollte meine Fähigkeiten als Agentin testen und sehen, ob ich es tatsächlich schaffen würde in Anbetracht der Tatsachen mein Pokerface zu behalten, oder ob ich bereits aufgegeben hatte.
„Oh, Verzeihung!“, sprach er plötzlich aus – immer noch mit einem ironischen Unterton. „Wie unhöflich von mir. Ich bin Phil!“
„Du wirst es nicht glauben,“, sagte ich. Es war das erste Mal, dass ich das Wort an ihn richtete, „aber das habe ich mir bereits gedacht.“
„Wiiirklich!?“, fragte er mit einer gespielten Überheblichkeit. „Und bestimmt weißt du auch, woher ich das alles über dich weiß, oder?“
Nun war sein Schmunzeln zu einem amüsierten Grinsen gewachsen.
„Und lass mich raten: Du weißt es, weil du eine Agentin bist!“
Aus dem Blickwinkel bemerkte ich, wie Jean, der gerade zwischen den Regalen her schlich und einzelne Gadgets betrachtete, grinste.
„Ich nehme an,“, sagte ich mit ruhiger Stimme, „dass du für die GN5 arbeitest. Das würde zumindest erklären, warum du viele von den Prototypen unserer Gadgets besitzt. Darüber hinaus hast du diese Prototypen und sämtliche Technik selber angefertigt. Daher fühlst du dich hier in diesem Labor wie ein Gott. Demnach kann ich daraus schließen, dass du auch unser Sicherheitssystem designt hast und bestimmt hast du Zugang zu unserer Datenbank. Die Informationen hattest du bereits, als wir vor deiner Tür standen.“
„Wow! Wie viele Jahre hat man dich trainiert, damit du diese mehr als offensichtlichen Informationen über jemanden herausfindest?“
Phil schien keine Provokation auszulassen.
„Abgesehen davor arbeite ich nicht FÜR die GN5, ich arbeite wenn überhaupt MIT ihr. Es stammen zwar alle Gadgets der letzten 10 Jahre von mir, aber ich bin nicht eure Nutte!“
„Master Phil? Ich nehme mir die Freiheit, Sie darauf hinzuweisen, dass, falls Sie von Agent Mack nicht „ein paar auf’s Maul kassieren wollen“, wie Sie es stets zu sagen pflegen, Sie sich mit Ihren Bemerkungen zurückhalten sollten. Ich vernehme eine stetige Zunahme von Reizen in ihrem limbischen System, die auf Wut und Gereiztheit hinweisen. Außerdem stieg ihr Körpertemperatur um einige Grad an. Sie sollten es wirklich nicht drauf ankommen lassen!“
Cainwis‘ Stimme überraschte mich, aber noch mehr überraschte mich, dass er scheinbar in der Lage war, durch mich hindurch zu sehen.
„Was zum…?“, entwischte es mir meinen Lippen, während ich verwundert zwischen Phil, Jean und dem Bildschirm her blickte, auf dem Cainwis‘ Stimme digital visualisiert wurde.
Ein Lachen ertönte aus der Richtung, in der Jean stand. Ich blickte zu ihm hinüber und er verstummte. Allerdings lag immer noch ein breites Grinsen auf seinen Lippen.
Ich wendete mich wieder zu Phil und sah in fragend an.
„Er kann mich … ,lesen‘?, fragte ich, ohne mir sicher zu sein, dass das der passende Ausdruck war.
„Aaaaah, du bist also mit Cainwis vertraut? Sehr schön! Und ja, er kann dich ‚lesen‘, wenn du das so nennen willst.“, er zeigte Gänsefüßchen mit seinen Händen.
„Wobei ich es eher analysieren nennen würde, auch wenn die Aussprache des Wortes länger dauert, als der Prozess selber.“
„Du hast ihn programmiert!“
Nun war mir klar, woher Jean an das Sicherheitssystem kam. Dennoch wusste ich immer noch nicht, in welcher Beziehung die beiden zu einander standen. Aber vor allem wusste ich nicht, wie dieser kindische, verrückte Wissenschaftler mir bei meinem Fall helfen sollte.
Phil nickte stolz und zufrieden.
Plötzlich fiel mir etwas auf. Es waren sehr leise Klänge zu vernehmen. Sie waren rhythmisch und doch waren sie nicht wie die weichen, zarten Klänge, die wir von Musik gewohnt waren. Diese hatten Schläge – einen erkennbaren Takt. Außerdem konnte man einzelne Stimmen darunter erkennen, die etwas im Takt sprachen.
Jean bemerkte es auch. „Phil, hörst du dir wieder Hip Hop an?“, sagte dieser.
Hip Hop? Diese Musikrichtung gab es seit einem Jahrhundert nicht mehr. Ferner noch war sämtliche Musik, Literatur und Kunst aus der Vergangenheit vor der jetzigen Kontinenten-Konstellation verboten. Alles, was an den damaligen Lebensstil erinnerte und dazu anregen konnte, wurde verbannt. So etwas wie damals durfte unter keinen Umständen nochmal passieren.
„Japp,“, antwortete Phil, „er hilft mir beim Konzentrieren und wenn ich etwas zum Entspannen brauche, lese ich ein paar meiner Schätze.“
Er sah von Jean zu mir, wobei er bei er zum Schluss in Richtung eines Bücherregals nickte. Ich trat näher heran.
Bei genauerem Betrachten las ich Shakespeare auf mehreren der Einbände. Der Name, als auch der Titel waren schwer zu erkennen, da das Einband bereits stark abgenutzt war. Meine Finger glitten wie von selber über die vielen Buchrücken. Bücher in so einer Form hatten schon lange an Aktualität verloren.
Aber vor allem war es suspekt, dass Phil sie besaß.
„Allein die Existenz solcher Bücher ist illegal. Der Besitz könnte dich das Leben kosten.“, wies ich ihn darauf hin, jedoch kannte ich bereits seine Antwort:
„Und wer will mich dafür verhaften? Du etwa?“
Irgendwo hatte er recht. Vor nicht allzu langer Zeit hätte ich ihn augenblicklich verhaftet und ohne zu hinterfragen weggesperrt. Sein Schicksal hätte ich schließlich den führenden Personen überlassen. Doch nun war ich selbst auf der Flucht.
„Nuuun? Warum seid ihr hier?“, erinnerte mich Phil daran, weshalb ich eigentlich hier war.
„Sie braucht eine Ausrüstung.“ Jean, der zuvor aufmerksamer Beobachter des Geschehens war, stieg wieder ins Gespräch ein.
„Das Standard Equipement der GN5 sollte reichen, immerhin kennt sie sich damit bereits aus.“
„Mehr wird sie auch nicht kriegen.“, sagte der IT-Profi.
Fast hätte ich geglaubt, dass er mich nicht mag.
„Zumindest noch nicht.“, fügte er jedoch hinzu. „Falls sie sich bewährt, falls sie tatsächlich so gut ist, wie du sagtest“, er blickte zu Jean, „bekommt sie das coole Spielzeug zum ausprobieren.“
Er grinste mich schelmisch an. Das Funkeln in seinen Augen verriet, dass er aufgeregt war, doch konnte ich nicht zuordnen weshalb.
„Mal sehen, was ich für dich tun kann.“, sagte er und drehte sich zu den Bildschirmen.
Seine Finger flogen flink und geschickt über die virtuellen Tasten und innerhalb weniger Sekunden hatte er alles, was er brauchte.
„Wir hätten da…“, es ertönte ein lauter Knall, der alles erbeben und uns aufschrecken ließ. Wir beide blickten zu Jean, der daraufhin ein Objekt, welches er in der Hand hielt scheinheilig zurück auf das Regal zurücklegte.
„Jean, fass hier bitte nichts an.“, sagte Phil mit gelassener Stimme. „Es gibt Gadgets hier, die tödlich und explosiv sind und es gibt hier Prototypen, die noch nicht fertig sind und es gibt Prototypen, die tödlich und explosiv sind, weil sie noch nicht fertig sind.“
„Soll ich alle Muster vorsichtshalber abschalten, Master Phil?“, fragte der virtuelle Butler.
„Ja, das ist eine gute Idee.“, stimmte Phil ihm zu, bevor er sich wieder der Liste der Gadgets zuwendete, die er für mich aussuchte.
„Wir hätten da einen kugelsicheren Suit, mit integrierter Elektroschockfunktion. Sie schockt nur den, der dich berührt. Du merkst davon nicht einmal was. Und einem integrierten Flying Gadget! Passend in Farbe und Design – Handschuhe mit eingebauten Schusswaffen, Sensoren für Erkennung und Analyse verschiedener Objekte, Substanzen etc. und verschiedenen anderen Extras, die du noch rausfinden wirst UND….. ein NeuroTablet.“, er schaute mich an, als erwarte er, dass ich wüsste was es ist.
„Mein Gott, sag bloß du hattest noch nie das Vergnügen? Ein NeuroTablet ist ein Tabletleiste, die durch Neurotransmitter in deine Stirn eingebaut wird. Das ermöglicht dir nicht nur einzelne Gadgets per Gedanken zu steuern, sondern ermöglicht dir Dinge mit bloßem Auge zu erkennen, wofür andere Gadgets benötigen. Dein gesamter Suit wird komplett neurogesteuert sein, durch einzelne elektronische Impulse in deinem Gehirn.“
Phil strahlte mich, fasziniert von seinen eigenen Ausführungen, an. Er liebte jedes einzelne seiner Gadgets und noch mehr liebte er es, davon zu erzählen.
„Warum kenne ich keine einzige dieser Erfindungen? Die GN5 hat mir nie so etwas zu Verfügung gestellt und nein, sie gehören auch nicht zur Standard-Ausrüstung!“
„Vielleicht weil du nicht cool genug warst.“, schmunzelte Phil wieder. „Nein, tatsächlich gehören diese Babies nicht zur aktuellen Ausrüstung. Noch sind sie die Zukunft. Doch sie werden schon bald die Gegenwart ablösen.“ Phil wirbelte mit den Fingern umher, um zu symbolisieren, dass etwas Gigantisches auf uns zukommen wird.
„Hey Phil, was ist das?“, meldete sich Jean wieder zu Worte.
Er hielt einen Gegenstand in der Hand der einer alten Hockeyscheibe ähnelte und schien gerade erst den Knopf an der Seite bemerkt zu haben.
Ruckartig riss sich Phil aus dem Ledersitz. „NEIN, ES IST NOCH NICHT FERTIG!!“, rief er. Doch Jean hatte bereits den Knopf gedrückt und legte das Gadget auf den Boden.
Binnen Sekunden zerfiel das Gadget in einzelne schwarze Partikel, die wie kleine Käfer oder Ameisen aussahen. Sie schienen an einander hochzuklettern und sich zu einem großen Objekt zu formen. In weniger als drei Sekunden stand plötzlich ein zweiter Phil im Raum. Jean und ich standen wie versteinert da und konnten keinen Gedanken zusammenfügen, was gerade passiert war.
„Hi, ich bin Phil und du bist ein wundervolles Wesen. Daher halte ich es kurz: du, ich, Dinner?“, der zweite Phil zwinkerte Jean flirtend zu.
„Was zur Hölle?!“, stieß dieser aus.
Phil, der ein Tablet in die Hand nahm und scheinbar versuchte den Mechanismus des zweiten Phils auszuschalten, erklärte: „Er erkennt dich nicht! Er weiß nicht, was er da redet!“
„Was ist das?!“, sprach ich die Frage aus, die Jean und ich uns vermutlich beide stellten.
„Es ist… es ist ein Tech-Clone es ist noch nicht fertig, zumindest nicht in der Form, in der ich ihn gern hätte.“ Phil hatte es geschafft, den ‚Tech-Clone‘ in seine ursprüngliche Form zu bringen und hob ihn vom Boden auf. Noch während er ihn genauer betrachtete und auf etwas untersuchte, lief er zurück zu seinem Platz am Schreibtisch.
Jean folgte ihm mit einem verwirrten Blick. „Was ist es? Ein Android? Dafür ist er zu klein in der Ursprungsform. Ein Hologram ist es nicht, da es sich aus den Partikeln zusammengesetzt hat. Man kann ihn also anfassen. Also WAS ist das? Und vor allem wofür?“
Phil lehnte sich wieder in seinem Ledersessel zurück und legte das Gebilde auf den Schreibtisch. „Nun ja. Bevor ich ins, für mich recht Oberflächlich, für euch jedoch Detail gehe, muss ich euch vorab eine kleine Geschichte erzählen, wie ich zu dieser mehr als genialen Idee kam:
Als ich einst wieder die Vorteile meines Latenssprays ausnutzte, um die süße Gesellschaft junger, schöner und wissenshungriger Studentinnen zu genießen, habe ich von ihnen erfahren, dass ich nur deswegen zu diesem Glück kam, da sie zum wiederholten Mal Vorlesungsausfall hatten. Sie klagten über den Mangel an Dozenten um ihren Wissensdurst zu stillen und schlugen mir tatsächlich sogar vor selbst in die Rolle eines Dozenten zu springen. Diese süßen Dinger….“
Seine Wangen erröteten, als er von den Studentinnen sprach. Offenbar faszinierte ihn weitaus mehr, als nur ihr ‚Wissenshunger‘, wie er es nannte.
„Und natürlich hätte ich nur zu gerne eins der freien Stellen angenommen, um öfters in den Genuss der freundlichen Unterhaltungen mit ihnen zu kommen. Doch ich hatte einen ganz anderen Einfall. Ich stand vor einer ganz neuen Aufgabe, deren Lösung es so noch nie gegeben hat. Ein technischer Klon eines Menschen, bestehend aus Nanobots, der jedoch nicht eine Ähnlichkeit mit dem Original hatte, sondern ein exaktes Replika war,…… bis ins limbische System, dem Bewusstsein, der Erinnerungen, Sprachweise, Mimik, Gestik etc. einfach alles! Auf diese Weise könnte man einen Dozenten in einem Modul beliebig oft klonen und er kann überall gleichzeitig Vorlesungen halten und das ist noch nicht alles!“
Phil nahm den Tech-Clone wieder vom Tisch und legte ihn auf den Boden. Der Prozess der Verwandlung in den anderen Phil wiederholte sich.
„Protokoll ‚Demo‘ aus!“, rief er und der zweite Phil veränderte seine Position.
„Er kann noch bei Weitem mehr. Ähnlich wie das Neuro-Tablet kann man den Tech-Clone mit dem Gehirn des Menschen, dessen Klon er ist, verknüpfen. Er kann dann exakt das nach machen und sagen, was man selber sagt. Es ist, als ob der Mensch und der Klon in dem Moment eine Person sind.“, sagten beide Phils in ein und derselben Tonlage in perfekter Synchronisation, während sie sich bis ins Detail gleich bewegten.
Jean, der immer noch ungläubig den Klon anstarrte, streckte seine Hand aus und schubste ihn an der Schulter an. Beide Phils wichen präzise gleich zurück. Daraufhin hob der echte Phil die Hand und schwang sie in der Luft, als ob er eine unsichtbare Fliege abwehren wollte. Der Klon-Phil tat es ihm exakt gleich und verpasste Jean damit eine Ohrfeige.
„Cool, nicht wahr?“, sagte Phil, nachdem er am Tablet einige Funktionen wieder abschaltete.
„Und es gibt unendlich viele Möglichkeiten, wie man sie noch weiter ausbauen kann!“, sagte der Klon-Phil. Es schien so, als würde er den echten Phil nicht nur ergänzen, sondern als wären sie ein und dieselbe Person in zwei Körpern.
„Ach und man kann sie in der Ursprungsform sehr praktisch stapeln.“, fügte der echte Phil grinsend hinzu. „Das ist super praktisch und platzsparend.“
Obwohl Jean und ich beide immer noch nicht fassen konnten, dass sich ein genaues Replika von Phil mit im Raum befand, hatte Jean anscheinend seine Fassung wiedergewonnen.
„Verbindung sagst du? Wenn ich dem Klon also eine reinhaue,“, Jean holte zu einem Schlag aus, „wirst du es spüren?“
„Neuro-Verbindung trennen!“, reagierte Phil schnell genug, um dem Schlag zu entkommen. Der Tech-Clone hingegen zerfiel in die einzelnen Nanobots, welche daraufhin in ihre Ursprungsform zurückkehrten. „Aaaaw, sry! Hab ich deinen großen Moment gestohlen, Jean?“
Der Erfinder ging wieder zum Schreibtisch und setze sich in seinen Stuhl. Jean murmelte unzufrieden etwas vor sich hin, verkniff sich jedoch eine Auseinandersetzung zu entfachen. Dennoch war er sichtlich enttäuscht, dass er nicht seine Rache für die Ohrfeige bekommen hatte.
„Woher kann der,“, ich zögerte etwas, da der Name für mich immer kurios war, „Tech-Clone deine Persönlichkeit so gut nachahmen? Wie kann ein Programm deine Gedanken übernehmen?“
Phil lehnte sich vor und sah mich direkt an. Seine Augen funkelten vor Begeisterung an seinem eigenen Projekt. „Das, Agent Mack, ist das Interessanteste an der ganzen Sache!“
„Ich trage dazu bei, Miss!“, meldete sich die Stimme, die an einem der Bildschirme optisch dargestellt wurde.
Cainwis war die Persönlichkeit?
Jean stellte sich dieselbe Frage wie ich. „Inwiefern?“
„Wie mein Name es bereits verrät, bin ich dazu in der Lage nicht nur die Zivilisation im Ganzen, sondern herunter gebrochen auf jedes einzelne Individuum zu analysieren. Jeder Mensch auf Forteon besitzt mehr als genug technischer Gegenstände, die er tagtäglich benutzt. Ferner noch gibt es überall Drohnen, Überwachungssysteme und Kameras. Es gibt Scanner und Gadgets, die den Puls, die Körpertemperatur, den Herzschlag, den Blutdruck usw. messen. Darüber hinaus hat Master Phil ein Programm geschrieben, welches ermöglich, durch die reine Berührung eines Gadgets Impulse zu senden, die in das gesamte limbische System, bis hin zum Hippocampus vordringen, um direkte Informationen über die Emotionen, Gefühle und sogar Gedanken zu sammeln. Mir stehen mehr als genug Möglichkeiten zu Verfügung, um den Menschen, seinen gesamten Organismus und sogar seinen Geist zu analysieren und Informationsdatenbanken über ihn anzulegen. Diese Informationsdatenbanken verwendet Master Phil, um den Tech-Clones eine exakte Replika der Persönlichkeit des geklonten Menschen zu verleihen.“
„Civilization analyzing Intelligence with interaction skills.“, rief Phil den Namen von Cainwis in Erinnerung – eine zivilisationsanalysierende Intelligenz mit Interaktionsfähigkeiten. Auf einmal war alles klar. Wieso Cainwis mich nach meinem Wohlbefinden fragte. Wie er wusste, dass ich gereizt gewesen bin. Wieso er Jean’s Körpersprache lesen konnte. Er wusste bei weitem mehr über uns, als wir selbst.
„Oh, im Moment lasse ich ihn aber nicht frei rumanalysieren.“, erklärte der Erfinder dieser mehr als komplizierten Technik. „Er wurde nur auf einzelnen Personen getestet, für die ich eine Genehmigung von der GN5 oder der Regierung hatte, oder die sich freiwillig in Cainwis Reichweite befanden, aber den Teil weiß weder die GN5 noch die Regierung. Die Tech-Clones befinden sich in der Entwicklung. Erst wenn das Projekt vollendet ist, darf es in Forteon auf den Markt gebracht werden.“
Für einen kurzen Moment entstand ein Schweigen im Raum. Ich war mehr als beeindruckt von Phil’s Genialität, Intelligenz und seiner Kreativität in der Erfindung und gleichzeitig war ich zwiespältiger Meinung, was den Einsatz solcher visionären Entdeckungen anging. Auf jeden Fall hinterließ dieses Projekt ein Gefühl der Verwundbarkeit. Bisher hatte man immer seine Gedanken nur für sich. Niemand konnte dir in den Kopf schauen und sogar ein Wahrheitsserum konnte nur einen unbedeutenden Teil deiner Erinnerungen entlocken, aber ein Programm das die Fähigkeit hatte gleich alle Informationen über dich zu bekommen hatte etwas Furchterregendes an sich.
„Ja, ich habe die Welt zwar nicht erschaffen, aber ich mache sie ein ganzes Stück besser!“, prahlte Phil. „Aber zurück zum eigentlichen Thema. Vorerst musst du dich mit der Grundausstattung, die ich für dich zusammengestellt habe, zufrieden geben. Erst wenn ich weiß, was du vor hast, werde ich wissen was du brauchst. Zumal einige meiner Babies noch in Entwicklung sind und erst später abgeschlossen werden. Aber genug geredet!“
Phil stand auf und führte mich in den hinteren Teil des Labors, welcher sich hinter seinem Schreibtisch befand. Zwischen verschiedenen Geräten, in denen Unmengen an verschiedenen Kabeln drinsteckten und Gadgets, die auf Tischen lagen und gescannt wurden, stand ein Stuhl mit einer Behandlungseinheit. Der Stuhl hatte eine Fläche für die Beine und war weit zurückgelehnt, so dass, wenn man sich draufsetzte, fast liegen würde. Er erinnerte mich an einen Zahnarztstuhl und ich dachte darüber nach, wozu Phil so etwas besaß, wenn er doch eigentlich für Gadgets und nicht lebendige Objekte zuständig war.
„Setz dich.“, zeigte er auf den freien Sitz.
Ich nahm Platz und wurde bald darauf in die horizontale Lage gebracht. Über mir brannte helles Licht, welches von den großen Scheinwerfern an der Decke kam. Dennoch zog Phil eine große Lampe von der Behandlungseinheit ran.
Wie ich da lag, konnte ich mein eigenes Blut rauschen hören, so still schien es zu sein. Jean machte keinen Ton und Phil ließ lediglich ein Klimpern zu, während er die notwendigen Materialien zusammenlegte.
Bald darauf hatte er sich ein paar sterile Latexhandschuhe angezogen und war dabei ein Stück Watte mit Desinfektionsmittel einzusprühen. Trotz seiner lauten und sarkastischen Natur, sagte er die ganze Zeit über kein Wort, sondern war äußerst konzentriert.
Ich fühle mich wie bei einer Operation und vermutlich hatte das, was Phil vorhatte ähnlichen Charakter, denn bald nachdem er meine Schläfen mit der desinfizierenden Flüssigkeit eingerieben hat, sah ich etwas Spitzes auffunkeln.
In einer Spritze befand sich eine grau-silberige Flüssigkeit, die mich an flüssiges Metall erinnerte. Ich fragte mich, wie schädlich diese Substanz für meinen Körper sein würde und doch war ich sowohl Jean, als auch Phil für ihre Hilfe dankbar.
"So.", setzte Letzterer an. "Das sind die Naniten vom Neuro-Tablet. Diese werde ich dir vor und zum Teil hinter die Hirnrinde einführen. Damit wirst du deinen Anzug und einige Gadgets steuern können und in Zukunft könnte man mit Upgrades neue Funktionen aufladen. Versuch dich zu entspannen."
Er setzte die Spritze an meiner Schläfe an und es folgte ein stechender, äußerst unangenehmer Schmerz. Tränen schossen mir in die Augen und ich kniff sie zusammen. Ein kribbeln breitete sich in meiner Stirn aus und starke, übelkeiterregende Kopfschmerzen traten ein.
Das Kribbeln und die Schmerzen schienen mit jeder Sekunde zu steigen.
Ich hörte noch wie Phil auf mich einredete: "Versuch dich zu entspannen, du machst es nur noch schlimmer!"
Dann verlor ich das Bewusstsein.
Als ich wieder zu mir kam wurde und langsam die Augen öffnete, war der Scheinwerfer über mir aus und die Lampe, die Phil zuvor für die OP angezogen hat war weg. Es war eine angenehme Dämmerung um mich herum, die meine Augen nicht belastete.
Nur noch ein leichtes Ziehen erinnerte mich an die Kopfschmerzen. Ich spürte weiterhin das Kribbeln in meiner Stirn, doch nun war es nicht mehr unangenehm.
„Miss Mack?“, hörte ich Cainwis‘ Stimme direkt in meinem Kopf. Sie hallte nicht nach, wie sie es im Labor tat, als sie aus den Lautsprechern kam. Stattdessen hörte sie sich an, als wäre sie nur für mich gedacht. „Bitte, erschrecken Sie sich nicht. Sie haben die Operation gut überstanden und die Naniten sind dabei sich in ihrem Organismus zu integrieren. Ihr Gedächtnis wurde nicht beschädigt und die Technologie hat keinerlei Einfluss auf Ihre Gedanken! Machen Sie sich also deswegen keine Sorgen. Dass Sie mich nun in Ihrem Kopf hören und dafür nicht mehr Ihre Sinneswahrnehmungen benötigen ist auch Teil der Neuro-Tablet Funktion. Master Phil wird nun den Rest des Neuro-Tablets einschalten und einige Tests mit Ihnen durchgehen. Haben Sie einen Augenblick Geduld!“
Ich hörte wie auf der anderen Seite des Labors etwas knisterte. Als es sich anfing zu bewegen, erkannte ich, dass Phil wieder auf seinem geliebten Sessel saß, die Beine übereinander geschlagen auf den Tisch gelegt hatte und Chips aß, während er auf er Tastatur, die auf seinem Schoß lag, etwas tippte.
„Master Phil?“, gab ihm Cainwis Bescheid, „Miss Mack ist nun aufgewacht.“
„Japp, danke!“, sagte er. „Dann wollen wir mal.“, murmelte er vor sich hin, während er die Füße vom Tisch nahm und aufstand. Bevor er zu mir kam, nahm er noch einige Gegenstände, die ich nicht erkennen konnte aus dem Regal.
„Wach auf, wach auf, Prinzessin.“, hörte ich ihn sagen, dann trat ging das Licht an und ich sah, dass er am Lichtschalter stand und mich angrinste.
Das Licht bereitete meinen Augen ein unangenehmes Stechen und ich schloss sie für einen kurzen Moment. Automatisch hob ich eine Hand, um mich vor der Beleuchtung abzuschirmen, doch es half nichts. Mit leichtem Blinzeln versuchte ich mich an die hellen Scheinwerfer um mich herum zu gewöhnen. Ich kam mir vor, wie jemand, der gerade von einer GN5 Einheit verhaftet wurde.
Der junge Techniker stand nun neben mir und legte die Gegenstände, die er zuvor aus dem Regal herausgenommen hatte, auf die Behandlungseinheit.
„Soo, Agent Mack. Ich werde dann mal das Tablet starten und dann wollen wir hoffen, dass alles gut läuft.“, er zwinkerte mir zu und seine Mundwinkel zogen sich zu einem breiten, schelmischen Grinsen auseinander.
„Miss Mack, nehmen Sie Master Phil nicht ernst! Natürlich wird alles gut laufen. Der Master ist ein Profi in dem was er tut und ich habe bereits Ihren Körper auf Nebenwirkungen, Unverträglichkeiten und unerwartete Reaktionen untersucht. Ihr Körper scheint bestens mit den Nanorobotern klar zu kommen.“, ertönte es wieder in meinem Kopf.
Phil hatte in der Zeit ein Tablet genommen und berührte den Bildschirm an verschiedenen Stellen. Obwohl das Tablet komplett durchsichtig war, konnte ich nicht erkennen, was er da machte. Doch bald darauf umrandete ein blaues Leuchten mein Sichtfeld. Es war, als würde ich durch eine Brille sehen, dessen Rahmen aufleuchtete.
Auf einmal erschienen so etwas wie eine Zielscheibenmarkierung direkt vor meinen Augen. Während ich meinen Blick durch den Raum schweifte, konnte ich einzelne Gegenstände anvisieren und sah vor meinem inneren Auge Markierungen aufleuchten, die mir Informationen über diese Gegenstände gaben. In der GN5 hatte ich spezielle Brillen tragen müssen, die über solche Funktionen verfügten, nun brauchte ich diese nicht mehr. Sämtliche Funktionen waren nun in meinem Kopf mit meinem Gehirn verbunden.
„Gut. Diese Funktionen arbeiten einwandfrei. Mal sehen, wie es mit Nachtsicht aussieht.“, sagte Phil und berührte wieder das Tablet in seiner Hand. Das gesamte Licht wurde daraufhin ausgeschaltet und sogar die Bildschirme schienen in einen standby-Modus zu gehen. Wir befanden uns in der absoluten Dunkelheit.
Zuerst sah ich nichts, doch als ich einen dumpfen leisen Schlag vernahm, der durch Phil’s Finger auf dem Tablet hervorgerufen wurde sah ich auf einmal den gesamten Raum vor mir. Er war immer noch schwarz, doch nun leuchteten sämtliche Tische, Geräte und Gegenstände grün auf. Auch Phil konnte ich deutlich erkennen. Er schaute auf sein Tablet runter und ich fragte mich, wie er in der Dunkelheit etwas erkennen konnte. Doch dann bemerkte ich einen Aufsatz an seiner Brille. Eine weitere Linse war angebracht. Sie war nicht dunkel wie seine Brillengläser und ich nahm an, dass er damit in der Dunkelheit sehen konnte, wie ich.
„Prima! Sämtliche Funktionen die die optische Wahrnehmung betreffen funktionieren einwandfrei.“, sagt er schließlich und schaltete das Licht wieder an.
Im selben Moment in dem die Helligkeit in den Raum zurückkehrt verschwand der grüne Schimmer in der Umgebung und ich sah wieder alles in seiner gewohnten Farbe und ohne Markierungen.
„Die Funktionen kannst du mit deinen Gedanken steuern. Die jeweiligen Impulse aktivieren die Programme und arbeiten so, wie du es ihnen aufträgst.“, sagte Phil.
Ich betrachtete ungläubig das Genie, welches diese komplexe Technik erschaffen hatte.
„Nun kommen wir zu deinem Anzug.“, er reichte mir ein paar lange schwarze Handschuhe, die ich mir anzog. Sie lagen fast perfekt an meinem Arm und an meiner Hand an, als wären sie nur für mich geschaffen. Das Material fühle sich unglaublich weich an und war äußerst leicht. An die Handschuhe brachte Phil einige Erweiterungen an. Sie verliehen den Handschuhen etwas futuristisch-elegantes und ich war mir sicher, dass darin Waffen, Laser und andere Kampfausrüstung versteckt waren.
„Wenn ich die Funktion für die Bedienung der Gadgets in deinem Anzug freischalte, versuche dich zu fokussieren und deine Gedanken unter Kontrolle zu halten. Du kannst immerhin durch reine Telepathie die Waffen steuern. Schweifst du gedanklich ab, könnte es gefährlich werden.“, wurde mir von dem Macher des Anzugs erklärt.
„Bereit?“, fragte er mich.
„Bereit!“, sagte ich voller Überzeugung, ohne zu wissen, was auf mich zukommen würde. Phil betätigte einen unsichtbaren Knopf auf dem Tablet und sämtliche Gadgets an meinen Handschuhen wurden aktiviert.
„Woooou, ruhig!“, warnte mich der Entwickler dieser Technik.
Konzentrier dich, Mack, versuchte ich mich selbst zu beruhigen. Eine solch mächtige Waffe unter eigener Verantwortung mit seinen eigenen Gedanken zu kontrollieren ängstige mich ein wenig. Immerhin hatte ich so etwas noch nie vorher trainiert. Erst jetzt kam mir die Ausrüstung der GN5 wie lächerliches, veraltetes Spielzeug vor. Es war für mich unbegreiflich, weshalb ich zuvor noch nie davon gehört hatte.
Kaum, dass meine Gedanken kurz meiner Aufsicht entflohen ertönte ein zischendes Geräusch und am anderen Ende des Labors explodierte etwas.
„Achtung, Achtung!“, warte uns eine automatische Stimme. „Sie schweben in Lebensgefahr! Bewahren Sie Ruhe und verlassen Sie zügig die Räume! Die Explosion wird behoben! Achtung, Achtung….“
„Cainwis, schalte den Alarm aus und räum‘ hier auf!“, rief Phil gegen die laute Stimme der Alarmanlage an. „Siehst du?! Das meinte ich, fokussier dich und lasse keine Abschweifungen zu, ich versuche gerade das Programm zu kalibrieren, damit du nicht durch die Nebenaktivitäten deines Gehirns jedes Mal eine Waffe ab feuerst.“
Ich konzentriere mich, wie es mir aufgetragen wurde und versuchte meine Gedanken vollständig darauf auszurichten, die Waffen nicht zu verwenden. Währenddessen hatte der Lärm aufgehört und ein großer Roboterarm der von der Decke hing war dabei, den Schaden, den ich verursacht hatte zu beseitigen.
„Wo ist Jean?“, fragte ich und achtete darauf, dennoch die Waffen unter Kontrolle zu halten.
„Er… musste zur Zentrale.“, teilte mir Phil ganz nebensächlich mit, da er immer noch an der Kalibrierung arbeitete.
„Was? Vermisst du ihn etwa?“, scherzelte er und sein konzentriertes Gesicht entspannte sich wieder zu einem Grinsen. Da hatten wir wieder den Sarkasmus.
„Hat er einen Auftrag?“, fragte ich vorsichtig. Es wäre zumindest durchaus ein kluger Schachzug Jean auf mich anzusetzen.
„Das hat er mir nicht gesagt.“ Phil beendete seine Arbeit: „So, du kannst dich nun entspannen.“
Tatsächlich musste ich mehrmals mit den Augen blinzeln, um meine Gedanken zu lockern. Es war sehr anstrengende gewesen die Konzentration für mehrere Minuten auf einen einzigen Gedanken zu richten, ohne auch nur kurz abzuschweifen.
„Wann kann ich wieder…“ Ich setzte an, um mich darüber zu erkunden, ob die Naniten Nebenwirkungen haben könnten oder eventuell eine Einwirkzeit.
"Oh, die schwer beschäftigte Dame hat es aber eilig! Du darfst jetzt schon zu deiner überwichtigen Mission, aber du darfst für 48 Stunden keine aussehenverändernden Gadgets verwenden!" Der blanke Horror packte mich. Wie sollte ich meinen Fall lösen, wenn ich überall gesucht wurde? Es gab kaum noch Orte die nicht von Drohnen oder Kameras eingefangen wurden! Es war nahezu unmöglich nicht erwischt zu werden. Dazu kommen noch versteckte oder offene Scans, die einen identifizieren konnten und nun patroullierten GN5 Einheiten überall. In weniger als einer Stunde würden die mich haben.
"Aber, Onkel Phil wäre nicht das Genie, das er ist, wenn er dafür nicht eine Lösung hätte!", während er sprach, setzte er spielerisch einen von sich überzeugten Blick auf.
"Wie anfänglich in meiner Ausführung über die jungen Studentinnen erwähnt, verwende ich ein sogenanntes Latensspray, um den Kameras und Drohnen zu entkommen, da ich ja eigentlich geregelte Arbeitszeiten habe."
Phil sah mir direkt in die Augen, um seiner Darbietung den nötigen Effekt zu verleihen.
„Das in das Latensspray eingesprühte Objekt – in dem Fall, du - wird nicht auf der Kamera oder mit Hilfe von technischen Geräten aufgezeichnet. Für die Drohnen bist du unsichtbar. Bleiben nur noch Menschen übrig und die meisten gehen ihrem Alltag nach und werden dich gar nicht beachten. Also bleiben nur Agenten der GN5 übrig und die wirst du überlisten können, da du ja selber eine bist. Das heißt, es gibt keine Probleme!“, er wendete sich ab und begann um mich herum aufzuräumen. Natürlich lag auch wieder ein sarkastischer Unterton in dem, was er sagte.
Sollte das Spray tatsächlich die beschriebene Wirkung haben, hätte ich tatsächlich einen geringen Teil meiner Probleme weniger. Dennoch brauchte ich den kürzesten und unbewachtesten Weg zu dem Gebäude auf dem der andere Schütze lag, geschweige denn einen Plan, wie ich dort reinkommen würde.
„Ich muss dich um einen weiteren Gefallen bitten.“, teilte ich ihm mit.
„Na wer hätte das gedacht!“, sagte Phil.
„Ich brauche den kürzesten Weg zur Fortiaris!“
Ich konnte sie bereits von Weitem sehen, als ich aus dem Hinterausgang des Labors trat. Sie hob sich empor, wie ein mächtiges Monument – massiv und einschüchternd.
Die Fortiaris war eine von mehreren Konstruktionen, die bis zur Kuppel reichten und diese wie eine Säule stützen. Doch im Gegensatz zu den anderen Fundamenten, bildete sie den Kern des Kontinents. Früher wäre sie als eine Hauptstadt bezeichnet worden, aber dieser Begriff wurde zusammen mit den gesamten vergangenen Konzepten, Normen und Sitten verworfen. Jeder Kontinent hatte seinen eigenen Kern. Sie wurden dazu konstruiert, die Last des Gewölbes zu tragen und ihre Form erinnerte an die eines Baumes. Das massive äußere Gerüst trug mehrere übereinander gebaute Plattformen, die so groß waren, dass dort eigenes Leben herrschte. Auf den einzelnen Ebenen befanden sich Einkaufsläden, Wohngebiete, Krankenhäuser und Bildungszentren. Nur auf diese Weise konnte man genug Menschen auf so kleinem Raum unterbringen.
Wie ich die Fortiaris in der Ferne betrachtete, erinnerte sie mich an einen Bienenstock. Die einzelnen Drohnen und Helikopter, die um sie herum flogen und auf den dafür vorgesehenen Plätzen landeten und die Aufzüge, die an der Struktur des Baus entlangfuhren und an verschiedenen Positionen hielten, ähnelten einem Bienenschwarm.
„Ich verstehe immer noch nicht, warum du dich lieber als ein androgynes, humanoides Etwas, anstatt einer hübschen, verführerischen Studentin verkleidet hast!“, hörte ich Phils Stimme in meinem Kopf. „Es sieht nicht nur lächerlich aus, du fällst auch noch auf!“
Ich war überrascht, als Phil im Labor plötzlich eine ganze Kiste voller Make Up und femininer Accessoires herausgeholt hatte. Anscheinend hatten seine Liebschaften jedes Mal, wenn sie bei ihm waren etwas vergessen oder absichtlich da gelassen. Da mir keine Möglichkeit blieb eins der Gadgets zu verwenden, um nicht mehr wie ich auszusehen, musste ich auf eine altmodische Alternative zurückgreifen.
Auch wenn Phil recht hatte und es sicher ein kluger Schachzug gewesen wäre, die Aufmerksamkeit aller auf sich zu ziehen, indem ich mich wie eine der kontaktsuchenden und lebensfreudigen Studentinnen präsentierte, um dadurch nicht entdeckt zu werden. Bekanntlich ist etwas bestens versteckt, wenn es am sichtbarsten Platz platziert ist. Allerdings entschied ich mich für das Gegenteil – etwas, was so unattraktiv und uninteressant war, dass es keinen zweiten Blick würdig gewesen wäre.
Meine Haare waren bis auf die letzte Strähne unter einer schwarzen, engen Kappe versteckt, so dass man vermuten konnte, dass ich darunter kahl war. Meine Augenbrauen hatte ich mit einem abdeckenden Concealer in meinem Hautton eingefärbt, was mich sehr alienhaft wirken ließ. Auch die Lippen deckte ich ab, so dass diese blass wirkten. Mit einem Bronzer konturierte ich mein Gesicht und hob meine Wangenknochen hervor, was meinem Gesamtbild etwas Mageres verlieh.
Phil hatte recht, mein äußeres Erscheinungsbild war nicht typisch für eine Forteonianerin und ähnelte eher dem, wie man sich auf Scientia oder Plenueon präsentierte. Aber dies würde mir, so war ich mir sicher, einen guten Dienst erweisen.
Ich blickte hinauf zum Gewölbe, welches uns von der Erdatmosphäre trennte. Wolken wurden auf die große Leinwand, die das Dach der Kuppel darstellte, projiziert. Es sollte nicht nur dem nahe kommen, was die Menschheit früher als ‚Wetter‘ kannte, es sollte auch eine Vorwarnung sein für das Wasser, dass auf uns herab gesprenkelt kam, um die Straßen zu reinigen. Mich erinnerte es an eine ganz normale Dusche – nur draußen.
Doch die Wolken erinnerten mich auch an etwas anderes. Wenn es erst mal anfing zu ‚regnen‘, wäre nicht nur der Dreck der Straßen weg gespült, sondern auch die Spuren am Tatort. Ich musste mich beeilen!
Mein Weg führte durch menschenleere Straßen, vorbei an den hohen fensterlosen Wänden von Gebäuden. Es erweckte den Anschein, als sei die Stadt tot, doch in Wirklichkeit waren die meisten Menschen die meiste Zeit auf der Fortiaris oder eins der anderen Säulen.
Mein Herz hämmerte in meinem Brustkorb als ich mich dem Gebilde näherte, obgleich mein Weg nicht in den Kern, sondern das Gebäude daneben führte. Der Schütze lag auf einem der Wolkenkratze, die unmittelbar neben der Fortiaris standen. Der Präsident hatte an dem Tag eine Versammlung in seinem Büro in der Präsidenten Residenz auf der Fortiaris gehalten. Mein Auftrag war es, den Schützen auszulöschen, aber trotz meiner Fähigkeiten hatte ich versagt. Das merkwürdige daran war, dass der Sniper den Präsidenten auch verfehlte. Wer auch immer es war, hatte seine Mission ebenfalls nicht beendet und würde es sicher wieder versuchen. Erst recht, da nun alles Augenmerk auf mir lag!
„Hey, hey, konzentrier‘ dich auf die eigentliche Mission, wir haben keine Zeit in Erinnerungen zu schwelgen. Zumal das Programm für die telepatische Kommunikation eine Beta Version ist und ich alle deine Gedanken ungefiltert empfange.“, meldete sich Phil über die Nanobots.
Ich zog die Kaputze meines langen Mantels ins Gesicht und versuchte meinen spezialangefertigten Anzug mit all seinen Extras so gut es geht zu verbergen, als ich eine mehr oder minder belebte Hauptstraße erreichte. Im Gegensatz zu den üblichen Straßen, außerhalb der Säulen, die hauptsächlich aus Lagerhäusern und anderen fensterlosen Gebäuden bestanden, waren hier Läden und Cafés. Die Einkaufspromenade führte direkt zur Fortiaris.
Gerade, als ich in das Getümmel trat, sah ich ihn – er war gigantisch groß und doch flog er sehr niedrig und wurde geschickt durch die Straßen manövriert. Auf beiden Seiten war mein Gesicht dargestellt und die Überschrift lautete: „Haben Sie diese Person gesehen?“
Wie ich den Zeppelin sah, befürchtete ich, dass ich schneller entdeckt wurde oder, dass jede einzelne Person auf Forteon Ausschau nach mir halten würde. Dem war aber nicht so. Ich blickte zu den Menschen, die die Straße entlang liefen. Jeder einzelne schien seinem eigenen Weg nachzugehen und über die eigenen alltäglichen Probleme nachzudenken. Sie schienen den übergroßen Zeppelin nicht einmal zu bemerken. Auch die digitalen Aushängeschilder, die die ganze Straße zupflasterten blieben scheinbar unentdeckt oder zumindest nicht allzu intensiv beachtet. Dies gab mir Mut und Hoffnung, bei meinem Vorhaben unentdeckt und in Sicherheit zu bleiben.
Schnellen Schrittes und dennoch ruhig, lief ich durch das volkreiche Viertel und war dabei eine abgelegene Straße anzusteuern, als mir einige GN5 Guards entgegen kamen. Sie wurden von Drohnen und einem großen Helikopter begleitet, die beinah lautlos über ihnen flogen.
Ohne den Schritt zu verlangsamen, blickte ich einem der Soldaten direkt in die Augen und nickte ihm leicht zu, als dieser meinen Blick erwiderte. Er nickte zurück und wendete sich wieder seinem Dienst zu. Ich hingegen bog in die Gasse ein, die im Schatten lag. Augenblicklich breitete sich eine Entspannung und Erleichterung aus.
„Das war ja knapp.“, merkte Phil an. „Wie hast du es geschafft, dort lebend rauszukommen.“
„Er hat mich nicht erkannt.“, teilte ich ihm mit, ohne auch nur einen Laut auszusprechen. „Außerdem erwartet keiner von denen von der Person gegrüßt zu werden, nach der sie Ausschau halten.“
„Ah, die Psychologie eines Agenten.“, kommentierte Phil sarkastisch.
„Nein,“, korrigierte ich. „die Psychologie eines jeden Menschen. Ach und Phil? Besorge mir bitte die Information, von wem der Auftrag für die Ermordung des Snipers kam.“
„Geht klar, Chef.“, sagte Phil.
Die Gasse führte zu einem großen leeren Platz. Mehrere kleinere Straßen mündeten in dieser großen Fläche, in deren Mitte eine Skulptur, umrundet von Sitzbänken, stand. Die Skulptur hatte die Form einer Pyramide, in der einige Symbole eingraviert waren.
„Siehst du die Straße rechts, schräg gegenüber von dir? Wenn du die nimmst, kommst du zu dem Viertel, in dem du gesichtet wurdest. Ab da solltest du wissen, wohin du gehen sollst.“, teilte mir Phil mit, aber ich achtete kaum auf das, was er sagte.
Meine Gedanken kreisten um den Platz auf dem ich mich befand. Er kam mir bekannt vor, ebenso wie die Pyramide mit den Gravierungen. In meiner Kindheit bin ich öfters hier gewesen. Das Kinderheim in dem ich aufgewachsen bin, hatte öfters Ausflüge gemacht, bei denen wir die Fortiaris verlassen hatte, um zu sehen, wie es außerhalb aussah. Während unserer Reisen haben wir auf diesem Platz Rast gemacht. Doch dies war nicht das einzige, was mich mit diesem Platz verband und da dämmerte es mir. In meinem Kopf hallte Phils Stimme nach: „Mit 8 fiel sie der GN5 auf…“
Es passierte eines Ausflugs. Wir hatten den Wetter-Park besucht und hatten uns die Entstehungsgeschichte von den Kontinenten angehört. Ich war gerade erst 8 geworden. Mit einigen der anderen Kinder aus dem Heim spielte ich mit einer aufziehbaren Drohne. Immer und immer wieder ließen wir sie steigen, bis sie plötzlich auf dem Dach eines der Gebäude um uns herum landete. Der Junge, der die Drohne zuletzt steigen ließ, fing fürchterlich an zu weinen, da es uns nicht gestattet war, Spielsachen zu verlieren oder unachtsam zu behandeln. Jede Missachtung der Regeln, bedeutete einen Verstoß gegen die Disziplin und muss bestraft werden. Immerhin war Unachtsamkeit der Grund, weshalb der Planet fast zerstört wurde.
Die Regeln der Gesellschaft wurden uns von klein auf an anerzogen und wir strebten stets diese zu befolgen, daher sah ich es als meine Pflicht, meinen Beitrag zu einem disziplinierten Lebensstil zu leisten. Bereits im Kindesalter verfügte ich über die Fähigkeit Dinge gut einzuschätzen und mit Präzision zu erledigen. Ich blickte zum oberen Rand des Gebäudes und schätzte die Distanz ein. Das Gebäude war nicht hoch. Die Herausforderung bestand jedoch darin, dass die Wände des Gebäudes eine sehr glatte Fläche hatten. Klettern war also ausgeschlossen. Ich lief zur anderen Seite des Platzes und sah mir den Weg zum Gebäude und dann die Mauer bishin zum Dach an. Mein Kopf analysierte und arbeitete an einem Plan, dann sprintete ich los.
Seit meiner Kindheit überraschte ich die Kinderpflegerinnen mit meinen sportlichen Leistungen und täglichem Fortschritt. Aber vor allem überraschte ich sie mit meinem unermüdlichen Ehrgeiz, das zu lernen und zu erreichen, was ich mir vorgenommen hatte oder uns aufgetragen war.
Kurz vor der Mauer machte ich einen Satz und lief die Mauer hoch. Mein Gewicht verlagerte ich dabei nach vorne, parallel zum Gebäude und winkelte die Knie an, wie jemand der in die Hocke ging.
Das erste Mal kam ich bis knapp über die Hälfte der Mauer, dann verlangsamte ich mich und mein Gewicht zog mich nach unten. Ich drückte mich von der Mauer weg und sprang ab.
Mein zweiter Versuch brachte mich bis unter das Dach. Nur wenige Zentimeter trennten mich von meinem Ziel und dennoch ärgerte ich mich über mich selber.
Beim dritten Mal nahm ich noch mehr Anlauf und lief noch schneller. Ich erklomm die Mauer in wenigen Sekunden und meine Hände klammerten sich an den Rand des Daches. Während ich dort hing und mein eigenes Gewicht auf meinen Händen lastete, versuchte ich alle meine Möglichkeiten zu überdenken. Ich wollte nicht loslassen. Dies würde bedeuten, dass ich aufgeben würde und das wollte ich auf keinen Fall, erst recht nicht, da ich so weit gekommen war und die anderen Kinder mich bei meinem Vorhaben erstaunt und bewundernd beobachteten. Meine Füße konnten keine Unebenheiten an der Mauer erkennen, sodass ich mich nicht hoch drücken konnte. Mir blieb nichts anderes übrig, als mich hoch zu ziehen, doch dafür hatte ich nicht die Kraft.
Ich versuchte dennoch Schwung zu nehmen und mich hochzuschaukeln, um ein Bein auf das Dach zu bekommen. Es wurde zunehmend schwerer, da meine Hände langsam verkrampften und schlapp wurden, da das Blut aus ihnen gewichen war. Trotz allem wollte ich nicht aufgeben und schwang mich mühevoll hin und her.
Meine Hände waren bereits wundgerieben vom Beton und meine Finger rutschten immer weiter von der Kante. Mein Herz schlug heftig gegen meine Brust und ich vergas vor lauter Anspannung zu atmen, da ich merkt, dass ich mich nicht länger halten konnte. Kurz bevor ich komplett abrutschte und meinem Ende entgegenfiel, griff eine grobe, warme Hand nach meinem Handgelenk und zog mich mit einem Mal rauf.
Auf eine Rettung war ich nicht vorbereitet und etwas in mir war beleidigt und im Stolz gekränkt, da ich es selbst geschafft hätte. Ich blickte hinauf zu der Person, die mir wieder Boden unter den Füßen bescherte und schaute in die Augen eines freundlich, jedoch auch einschüchternd wirkenden Mannes. Er war ganz in schwarz gekleidet und hatte ein Scharfschützengewehr in seiner Hand, welches er sich sofort hinter den Rücken schnallte.
„Siehe an, wen wir da haben.“, sagte er. „Eine sehr gewagte Entscheidung von dir, hier hochzukommen - und das für eine Spieldrohne. Wie hattest du gedacht, wieder runterzukommen?“
Erst jetzt fiel mir auf, dass ich mir keine Gedanken darüber gemacht hatte, wie ich wieder runter kam. Immerhin hätte es mich mein Leben kosten können, wäre ich einfach wieder runtergesprungen. Dennoch wollte ich es mir nicht anmerken lassen, dass mein Plan nicht ausgereift war.
„Das geht Sie überhaupt nichts an.“, erwiderte ich und setzte einen zornigen Blick auf.
Der Mann lachte. „Ok, lassen wir das so stehen. Wie heißt du denn?“, fragte er mich mit einem Lächeln auf den Lippen.
Ich hingegen ärgerte mich darüber, dass er über meine Reaktion gelacht hatte. Ich fühlte mich ausgelacht und das mochte ich gar nicht.
„Auch das geht sie überhaupt nichts an, Sir. Gehen Sie ruhig Ihrer eigenen Aufgabe nach.“, sagte ich und nahm die Drohne. Der falsche Stolz, den ich empfand, spornte mich an einfach vom Dach zu springen und es meinem Retter zu zeigen. Ich setzte an, einen Schritt zum Abgrund zu machen, da packte er mich an der Schulter und riss mich zurück. „Vorsicht!“, rief er und ich sah etwas Besorgtes in seinem Blick.
„Ok, bevor du noch etwas Dummes tust, komm her!“, er nahm mich trotz meines Protestes auf den Arm und sprang vom Dach. Für einen kurzen Moment verstand ich nicht, was der Unterschied zwischen meiner halsbrecherischen Entscheidung vom Dach zu springen und seiner halsbrecherischen Entscheidung vom Dach zu springen war. Doch dann spannten sich an seinem Rücken zwei metallische Flügel auf und trugen uns über die Köpfe der staunenden Kinder hinweg.
Wir landeten sanft auf der anderen Seite des Platzes, wo ich meinen Anlauf startete und er setzte mich ab.
„Das hätte ich auch alleine geschafft!“, murmelte ich immer noch unzufrieden. Ich fühlte mich vor allen anderen blamiert, als hätte ich tatsächlich Hilfe nötig gehabt.
Der Fremde lachte wieder und sprach: „Na gut, junge Lady, da Sie mir Ihren Namen nicht verraten wollen, erlauben Sie es mir zumindest meinen Namen zu nennen. Ich bin Agent Pavel Tesco von der GN5.“
Mein Zorn und verletzter Stolz verflogen sich im Nu und ich hatte Schwierigkeiten mein Staunen zu verbergen. Ein echter Guard stand vor mir, ein Beschützer der Nation, ein Bote der Ordnung und Sicherheit. Schon immer habe ich mir am liebsten Geschichten angehört, wie die Guards of the Nation Tag für Tag für die Sicherheit der Menschen sorgten und die übrig gebliebene Zivilisation vor Katastrophen bewahrten, die in der Vergangenheit die Menschheit beinahe auslöschten.
„Hätten Sie zumindest Interesse daran, in Zukunft unserer Akademie beizutreten? Sie wären eine Bereicherung für uns und könnten Tag täglich solche selbstlose Taten vollbringen.“, fügte er hinzu.
Mein Herz überschlug sich und ich musste mehrmals nach Luft schnappen, um nicht zu ersticken. „Aber selbstverständlich.“, sagte ich immer noch sehr aufgewühlt.
Aus der Menge von Kindern, die sich um uns herum versammelt hatten ertönten Laute des Erstaunens wie „Ah“ und „Oh“. Ich hingegen beachtete sie gar nicht, sondern konnte es kaum fassen, was sich gerade ereignet hatte.
Damit war meine Zukunft bereits besiegelt. Zwei Jahre später trat ich mit dreißig anderen Gleichaltrigen meine Ausbildung zum Guard an und befand mich mit 16 unter den letzten fünf, die die Schulung beendeten.
Nun schritt ich maskiert über den Platz, der mich zu meiner derzeitigen Situation führte und versuchte meinen damaligen Mut und Ehrgeiz wiederzugewinnen. Die Beschuldigungen und die Jagd, die auf mich eröffnet wurde, hatten mir wirklich zugesetzt. Ich hoffte darauf antworten am Tatort zu finden und gleichzeitig war ich mir unsicher, ob es mir überhaupt weiterhelfen würde. Wer auch immer mir den Anschlag anhängen wollte, wollte selber nicht auffallen und hatte sicher seine Spuren sorgfältig beseitigt. Es wäre nur vorhersehbar, dass ich kaum etwas finden würde, was mir weiterhelfen würde.
Ich hatte den Platz bereits überquert und meine Erinnerungen hinter mich gelassen, als ich durch eine weitere Gasse lief und in einer Gegend ankam, in der ich bereits am Tag meines Auftrags gewesen war. Von hieraus kannte ich den Weg auch ohne Phils Hilfe.
Zielsicher bog ich rechts ab und folgte dem Weg, der den ich schon einmal eingeschlagen hatte. Ich erkannte das Gebäude sofort. Es war breiter als die anderen und hinter ihm konnte ich bereits die Fortiaris sehen. Vor dem Eingang standen zwei Guards und vermutlich befanden sich weitere im Gebäude. Ich konnte kein Risiko eingehen und lief in eine Seitenstraße, die sich unmittelbar neben dem Gebäude befand. Sie war menschenleer und dunkel und bot mir genug Tarnung, um unauffällig auf das Dach zu gelangen.
„Dann wollen wir mal die Nanobots testen.“, murmelte ich vor mich hin, während ich mich darauf konzentrierte mit meinen Gedanken die Ausbreitung der Flügel zu aktivieren. Das FlyingGadget öffnete sich und hob mich geräuschlos empor. Knapp vor dem Dach bremste ich ab. Wenn Guards am Eingang postiert waren, konnten sie sich auch auf dem Dach aufhalten.
Zu meiner Verwunderung war das Haupt des Bauwerks leer und verlassen. Ich schwang mich hinauf und lief behutsam, ohne Spuren zu hinterlassen zur Tür. Eigenartigerweise lag eine dünne Schicht Staub auf der Türklinke. Ich beugte mich weiter hinunter, um sie besser zu betrachten. Allem Anschein nach wurde sie seit geraumer Zeit nicht angefasst. Der Schütze war also nicht durch die Tür gekommen. Wenn er ein GN5 Agent war, hatte er bestimmt ein FlyingGadget, mit dem er auf dieselbe Art und Weise hergekommen war, wie ich. Allerdings hätten die Agenten der GN5, die den Tatort untersucht hatten, Spuren hinterlassen müssen. Zumindest hätten sie keinen Grund gehabt mit FlyingGadgets auf das Dach zu gelangen.
„Phil?“, wandte ich mich an meinen Gehilfen.
„Ja, Agent?“, antwortete dieser.
„Kann dieser Anzug bestimmte Informationen, wie Hand- oder Fußabdrücke ablesen?“
„Ich dachte schon, du fragst nie.“, erwiderte eine fröhliche Stimme. „Auf der Innenseite deines Handschuhs befinden sich Sensoren. Wenn du deine Handfläche an das Objekt hältst, welches du untersuchen möchtest, erscheinen die notwendigen Informationen wie von alleine vor deinem ‚inneren Auge‘. Du denkst, es ist Magie, doch es ist reine Wissenschaft.“
Ich drehte meine Handfläche und blickte auf sie herab. Auf der Innenseite meines Handschuhs waren kleine schwarze Plättchen angebracht, die ähnlich wie ein Mosaikmuster angerichtet waren. Mit den Plättchen auf die Türklinke gerichtet, scannte ich das Schloss. Sofort sah ich, wie mit einem Röntgenblick, durch die Tür hin durch. Die Symbole und Kommentare, die ich bereits im Labor gesehen hatte, erschienen wieder. Ein Balken zeigte direkt auf das Schloss – abgeschlossen.
Für einen frischen Tatort war es nichts ungewöhnliches, wenn er abgeschlossen wurde, auch wenn die Spurensicherung bereits vor Ort gewesen wäre. Doch irgendwas sagte mir, dass hier nie jemand gewesen war.
Mein Blick schweifte langsam über den Boden von der Tür bis zu dem Platz, auf dem der Schütze gelegen hatte. Meine Hand folgte dem Blick, doch ich sah nichts. Der Boden war spurlos. Ich konnte weder einen Fuß-, noch einen Handabdruck erkennen.
An der Stelle, wo der Sniper gelegen hatte waren lediglich feine Kratzspuren. Sämtliche Zeichen oder Beweise, die auf einen menschlichen Aufenthalt hinweisen würden, existierten nicht.
Selbst bei einer sorgfältigen Beachtung aller Regeln und bei äußerst präziser Arbeit, war es kaum möglich in der Eile rein gar keine Spuren zu hinterlassen. Anhaltspunkte gäbe es immer, doch hier waren sie schlichtweg nicht vorhanden. Ich konnte es mir nicht erklären, wie am Tatort kein einziger Abdruck und kein Relikt zu finden war.
Langsam näherte ich mich der Position des Scharfschützens und sah mir den Beton genauer an. Kleine Risse durchzogen die Stelle, wie durch ein metallisches Objekt verursacht. Behutsam strich ich zunächst mit den behandschuhten Fingerkuppen und schließlich mit den Sensoren auf der Handfläche daran entlang, doch der Scanner hatte keine Information über den Ursprung dieser Ritzen.
Wer auch immer dieser Sniper war, er hatte zu gründlich und zu professionell gearbeitet und war den Fähigkeiten eines gewöhnlichen GN5 Agenten voraus.
Ich blickte auf und sah ein paar Dächer weiter den Platz, auf dem ich zu dem Zeitpunkt des Attentats gelegen habe. Von dieser Position schien das Geschehene so unwirklich zu sein, als wäre es nie passiert und doch lastete das sich hier ereignete auf mir. Automatisch wandte ich den Blick ab und schaute nach links, zu dem Büro des Präsidenten. Das Glas war bereits erneuert worden und spiegelte nun die Umgebung, die sich davor befand. Mein eigenes Abbild war so mickrig aus dieser Distanz und ich fühlte mich beobachtet.
Plötzlich regte sich ein Gedanke in mir. Er schien mir absurd und doch empfand ich, dass mein Gefühl mich nicht täuschte.
„Phil?“, sprach ich den fleißigen Laboranten an.
„Jaaa?“, kam als Antwort zurück.
„Kann man irgendwie an ein Objekt auf Distanz ranzoomen?“, fragte ich etwas skeptisch, da ich nicht wusste, ob das der richtige Begriff dafür war.
„Forme einen Kreis mit Daumen und Zeigefinger, wie eine Lupe und nun führe sie zu deinem Auge. Drehst du die Lupe nach rechts, ‚zoomst‘ du, wie du es sagtest, ran, drehst du sie nach links, zoomst du raus.“
Mit den Fingern bildete ich einen Kreis, wie der Designer es mir erklärte und hob die Lupe zu meinem linken Auge. Mein rechtes Auge schloss ich. Die Lupe drehte ich zur rechten Seite, als mir das Präsidentenbüro entgegen sprang. Binnen Sekunden vergrößerte sich das Bild um ein vielfaches und ich erschrak von der Wucht des auf mich zukommenden Fixierpunktes.
„Lupe deaktivieren.“, rief ich reflexartig, um die Zoomfunktion manuell zu deaktivieren. Augenblicklich verschwand das Bild und ein besorgter Phil meldete sich:
„Was ist passiert? Warum…. Wieso hast du die Lupe manuell ausgeschaltet? Sie wird von deinen Gedanken gesteuert, wie alles andere an deinem Anzug.“
„Das Ding…“, sagte ich, während ich nach Luft schnappte, „hat zu heftig rangezoomt.“
Vor Überrumpelung hatte ich einen Augenblick vergessen zu atmen.
"Du musst die Lupe ja auch behutsam bedienen. Sie hat eine bequeme Bedienweise, wie die Servolenkung in den Autos damals.", versuchte mir Phil die Bedienung zu erklären. Allerdings konnte ich keinen passenden Gegenstand und dem Begriff 'Auto' in Erinnerung rufen, geschweige denn wusste ich, was eine Servolenkung ist.
"Und nun schalten wir die Lupe wieder an und versuchen es nochmal.", forderte mich der Mechaniker auf.
"Lupe aktivieren.", sagte ich und setzte die zu einer Lupe geformte Hand wieder an das Auge. Vorsichtig und dieses Mal achtsam drehte ich meine Hand, wie ein unsichtbares Objektiv.
Stockend kam das Büro des Präsidenten näher, bis ich das Glas zu erreichen schien. "Distanz zwischen Ausgangspunkt und anvisiertem Objekt ausrechnen.", befahl ich den Nanobots.
Eine Zahl erschien in meinem Sichtfeld.
Ich drehte mich zu dem Gebäude zu meiner Rechten und blickte zu dem Platz auf dem ich gelegen hatte. Dann wiederholte ich den Prozess und zoomte heran.
"Distanz zwischen Ausgangspunkt und anvisiertem Objekt berechnen und mit vorheriger Distanz vergleichen."
"Mack, du musst dabei nicht sprechen. Die Nanobots können auf deine Gedanken reagieren.", teilte mir Phil mit.
"Es fällt mir aber leichter.", sagte ich.
Eine weitere Zahl erschien vor meinen Augen, wie auf einer unsichtbaren Linse.
"Distanz Übereinstimmung: 99,9%.", wurde mir von einer Adroid-Stimme mitgeteilt.
Unter Berücksichtigung der Tatsache, dass ich nicht die exakte Position kannte, wo die Kugel des anderen Scharfschützen das Glas traf, bestand die Möglichkeit einer 100%igen Übereinstimmung. Es war äußerst merkwürdig - eine so genaue Deckung war sehr unwahrscheinlich.
„Agent? Es gibt ein Problem.“, fügte der IT-Ingenieur hinzu.
„Was gibt’s?“, erkundigte ich mich.
„Ich bin grad an der Information, über den Auftrag dran. Du wolltest wissen, woher er kam. Nun ja, das Sicherheitssystem der GN5 hat sich anscheinend über Nacht gewandelt. Es wurde verstärkt und intensiver verschlüsselt. Ich kann es hacken, für mich ist das kein Ding. Aber es wird dauern.“
Die Information machte mich stutzig. Erst vor einem Tag hatte Phil angeblich über die Datenbank mein Profil abgerufen und nun, war es nicht mehr möglich. Das hieß entweder, dass er den Prozess verlangsamen wollte, oder dass er die Auskunft über mich sich wo anders geholt hatte.
„Wie lange wird es dauern?“, fragte ich.
„Das weiß ich nicht…“, kam als Antwort zurück.
„Lass es mich wissen, wenn du was weißt!“
„Geht klar!“, fügte er hinzu. „Ach übrigens… Ich meine, ich bin kein Agent, aber ich hab mir gedacht: vielleicht siehst du dich auf der Fortiaris im Büro um?“
„Nein,“, erwiderte ich. „die Fortiaris ist zu stark überwacht, zu viele Menschen. Die Chancen sind gering, dass ich da lebend rein oder raus komme. Außerdem gibt es dort nichts, was mir weiterhelfen könnte, außer der Kugel, aber die weist angeblich auf mich hin.“
Ich verstummte nachdenklich. Keineswegs konnte ich mir erklären, wie eine Kugel aus meiner Waffe im Büro gefunden wurde. An sich verstand ich nichts von dem was vor sich ging. Zu viele unbeantwortete Fragen schwirrten in meinem Kopf.
Während ich in Gedanken schweifte, sah ich mir die Umgebung genauer an, als mir etwas auffiel. Mein Kopf neigte sich automatisch leicht nach vorne und ich kniff die Augen zusammen, um es besser sehen zu können. Auf der Mauer des Bauwerks, welches sich hinter dem Schützen befand, erkannte ich ein kleines, fast mickriges Objekt. Es war direkt auf mich gerichtet.
„Phil?“, erkundigte ich mich. Stille.
„Phiiil?“, sprach ich nochmal in Gedanken aus.
„Ah?“, meldete sich der Entwickler. „Was gibt’s?“
„Auf dem Gebäude gegenüber vom Tatort ist eine Kamera.“
„Uuund?“, fragte mich Phil.
„Sie zeigt genau in meine Richtung.“, fügte ich hinzu.
„Mack, du bist in Latensspray eingesprüht, schon vergessen? Die Kamera erkennt dich nicht und du bleibst….“, er machte eine Pause, scheinbar war er anderweitig beschäftigt. „unbemerkt.“
"Das meinte ich nicht.", erklärte ich. "Die Kamera ist auf die Stelle gerichtet, wo der Schütze lag und wo sich alles ereignet hat. Ich bin mir sicher, es existieren Aufnahmen von dem Anschlag!"
Dies war ein äußerst nützlicher Anhaltspunkt. Ich fasste neuen Mut und erlang neue Hoffnung. Der Tatort selber ist mir schließlich keine Hilfe gewesen.
"Kannst du mir die Aufnahmen besorgen?"
"Klar,", sagte Phil und ein zufriedenes Gefühl breitete sich in meinem Körper aus. "sobald ich mit dem Sicherheitssystem der GN5 fertig bin."
"Nein!", korrigierte ich ihn. "Die Aufnahmen dieser Kamera haben äußerste Priorität! Wenn ich sehe, wer es war und was sich ereignet hat, brauche ich die Information über den Auftrag nicht mehr. Ich könnte beweisen, dass ich es nicht gewesen bin und damit wäre ich frei von allen Beschuldigungen. Besorge mir die Kameraaufnahmen."
"Ja, Sir!", sagte Phil in einem lauten, beinah aggressiven, aber dennoch gebieterischen Ton. Ich fragte mich, woher er das hatte. "Also dann wollen wir mal,.... einen Moment... Ah, da haben wir dich lokalisiert. So, welches Gebäude, sagst du, hat die Kamera?"
Das junge IT-Genie murmelte einige der Satzteile vor sich hin und redete mehr zu sich selbst, als zu mir.
"Das gegenüber der Fortiaris, hinter dem, auf dem ich mich befinde."
"So, hab es erfasst. Einen Moment."
Phil machte sich daran das Bildmaterial des Attentats zu besorgen, da kam mir ein Gedanke. Ich musste etwas überprüfen und irgendwas sagte mir, dass das was ich rausfinden würde, noch mehr Fragen aufwerfen könnte, als ich bereits hatte.
Mein Kopf drehte sich wie von selbst zu dem Platz, wo ich gelegen hatte, als ich auf den Schützen zielte. Ich spürte, wie sich auf meinem Rücken etwas spannte. Das Gewicht wurde verlagert und neben meinen Schultern erschienen zwei Flügel. Mein Unterbewusstsein schien meinen Gedanken vorauszueilen. Ich schritt auf den Abgrund zu und stieß mich vom Boden ab. Innerhalb weniger Sekunden war ich auf der anderen Seite angekommen und spürte unter meinen Füßen den Grund.
Mein Blick lastete auf der Stelle, wo sich mein Körper befunden hatte. Ich ging in die Hocke und untersuchte den Boden ohne ein Gadget zu verwenden. Es war nichts Sichtbares zu finden.
Also betrachte ich die Stelle genauer und diesmal mit allen verfügbaren Gadgets. Es waren vereinzelt Spuren vom Schusspulver zu erkennen und am Beton waren Einkerbungen von dem Zweibein zu vernehmen, die beim Rückstoß des Schusses entstanden waren.
Da ich Handschuhe getragen hatte, existierten keine Hand- oder Fingerabdrücke, doch ich fand vereinzelnd Haare und Abdrücke der Schuhsohlen auf dem Boden, die zur anderen Seite des Daches führten. Sie verschwanden an der Stelle, wo ich abgesprungen war.
Trotz sorgfältiger Beachtung aller Maßnahmen, um keine Spuren zu hinterlassen, war es dennoch nie möglich gar keine Spuren zu hinterlassen. Mag man es auf die menschliche Imperfektion schließen oder auf den Zufall.
Wie ich es bereits vermutet hatte, konnte ich es mir nicht zusammenreimen, wie der Scharfschütze, der auf den Präsidenten geschossen hatte, absolut gar keine Spuren hinterlassen konnte. Es war nicht mal ein Ansatz eines Schusspulvers vorhanden. Doch dann dämmerte es mir: Vielleicht ist der Schütze nach der Tat zurückgekehrt und hat seine Spuren gründlich beseitigt. Wäre er tatsächlich von Sapin beauftragt worden, hatte dieser ihm vielleicht ein viel weiter entwickeltes Equipement zur Verfügung gestellt. Aber auf jeden Fall, dem war ich mir sicher, hatte der Sniper eine GN5 Ausbildung genossen. Jemand der so gründlich gearbeitet hatte, konnte es nicht zu ersten Mal getan haben und wusste genau was zu tun war.
Dennoch erklärte es nicht, warum ich verdächtigt wurde. Meine Spuren waren vorhanden, aber auf einem anderen Gebäude. Aus diesem Winkel konnte ich den Präsidenten nicht einmal sehen, geschweige denn auf Ihn schießen. Aber vor allem stellte sich mir die Frage, wie meine Kugel in das Büro des Präsidenten kam. Außer natürlich, der Täter hatte Zugang zu meiner Ausrüstung.
Meine Gedanken bahnten sich einen Weg durch das scheinbar endlose Labyrinth aus Sackgassen. Auf eine unbeschreibliche Weise schüchterte der unbekannte Täter mich ein. Er schien mir nicht nur in allem voraus zu sein, er war auch äußerst unvorhersehbar. Ein Gespenst, welches keine Spuren oder Anhaltspunkte hinterließ, doch allen Anschein nach kannte er mich, denn er schien mich gekonnt hinzuhalten.
„Agent?“, unterbrach mich eine etwas besorgte Stimme.
„Ja, Phil?“, erwiderte ich.
„Es gibt ein,… naja wie soll ich sagen, es ist nicht direkt ein Problem, aber….“, setzte Phil an und redete um den heißen Brei.
„Komm auf den Punkt Phil!“, sagte ich ihm.
„Die Kamera auf dem Gebäude gehört nicht der GN5 oder der Regierung, sondern ist ein privates Sicherheitssystem der Bank, die in dem Gebäude ansässig ist. Anscheinend hatten die in der Vergangenheit einige Einbruchversuche vom Dach aus, da haben sie sich abgesichert. Das Problem ist allerdings, dass sie eine sehr altmodische Technik haben…“, erklärte Phil.
„Wie lange brauchst du, um sie zu hacken?“, fragte ich.
„Das ist es ja. Ich kann sie nicht hacken, weil sie an kein einziges Netz angeschlossen ist. Das Videomaterial wird auf einem USB Stick aufgenommen. Dieser wird einmal die Woche – sowie heute – ausgewechselt und in einem Raum im Gebäude aufbewahrt.“, teilte mir Phil mit.
„Du willst mir also allen Ernstes sagen, dass ich in ein voraussichtlich überwiegend von Menschen bewachtes Gebäude einbrechen muss, um das Filmmaterial zu besorgen?“, stellte ich eine rhetorische, fast schon sarkastische Frage.
„Naja, ich hätte die jetzt auch einfach mal gefragt, ob die das Bildmaterial uns zu Verfügung stellen, aber…. da fiel mir direkt wieder ein, dass du vom gesamten Kontinent gesucht wirst und sie vermutlich einer Kriminellen nicht helfen werden, also…. JA! Du musst einbrechen.“, legte Phil ironisch dar. Seine Art hatte jedoch etwas beruhigendes an sich. Wenn man eine Situation erst mal ins Lächerliche gezogen hat, erschien sie einem nicht mehr so geheuer.
„Die gute Nachricht ist,“, fügte er hinzu, „dass ich einen Bauplan des Inneren des Gebäudes mit allen notwendigen Informationen besorgen konnte. Du hast also alles was du brauchst, um gezielt rein und raus zukommen. Die Dienstpläne von den Mitarbeitern in diesem Gebäude kann ich leider auch nicht einsehen, da sie vermutlich von Hand geschrieben werden. Was also das ‚unauffällig hineingelangen‘ betrifft, bist du also komplett also komplett auf dich alleine gestellt.“
„Verstanden!“, sagte ich. Wenn die Aufnahmen mir dabei helfen könnten meine Unschuld in der ganzen Angelegenheit zu beweisen, wäre es mir jedes Risiko wert, in diese Gebäude einzubrechen.
Ich müsste aber vorerst nochmal ins Labor zurückkehren, um das fehlende Equipement zu besorgen und einen Plan auszuarbeiten. Es wäre außerdem nicht schlecht, wenn Phil mir das Beste an Tarnung besorgen würde, was er kann. Auch die Nanobots würden gute Dienste leisten, immerhin ermöglichen sie mir den Einsatz von Gadgets ohne auch nur ein Wort zu sagen. Ich kann also nicht gehört werden.
„Bin auf dem Weg zum Labor!“, teilte ich Phil mit, als ich etwas Feuchtes auf meiner Haut spürte. Ein weiterer Tropfen folgte und als ich hinunter blickte, sah ich einzelne dunkle Flecken auf dem Boden – der Regen.
„Phil?“, fragte ich etwas nervös.
„Ja?“, antwortete dieser.
„Kann Wasser dem Latensspray etwas ab?“, wollte ich wissen.
„Nunja, ein paar Tropfen machen nichts aus, aber wenn man sich unter eine Dusche stellt, kommt es ab, wieso?“, erwiderte die mittlerweile vertraute Stimme.
„Weil es anfängt zu regnen und ich noch den ganzen Rückweg vor mir habe.“, antwortete ich, während ich augenblicklich die Flügel ausbreitete und mich über das Dach hievte, nur um auf der anderen Seite hinunter zu fliegen. Ich kam aus derselben Gasse raus, aus der ich gekommen war und machte mir unmittelbar auf den Weg zum Labor. Ein kurzer Gedanke kam mir, mich unter eine Markise zu stellen und zu warten, bis der Regen aufhörte, doch das wäre nicht nur riskant, da ich entdeckt werden konnte, die Wirkung des Latentssprays war ohnehin begrenzt, daher wäre sie abgelaufen, noch bevor ich das Labor erreicht hätte. Also ging ich weiter durch dieselben Straßen, aus denen ich zuvor gekommen war. Der Regen hatte sich von einzelnen Tropfen in eine strömende Dusche verwandelt und ergoss sich mit einer solchen Intensität über mich, dass er meinen Körper leicht in die Knie drückte. Dadurch wurde mein Schritt verlangsamt.
Ich erreichte wieder den Platz, auf dem meine GN5 Karriere begann und sah zu der Stelle, auf der ich damals mit Agent Tesco gelandet war. Später hatte er sich freiwillig dafür gemeldet mein persönlicher Mentor zu sein. Er war ein ausgezeichneter Scharfschütze – so wie ich! Alles was ich konnte, hatte ich ihm zu verdanken. Niemals hätte ich geglaubt, dass mich meine Scharfschützenkarriere in Schwierigkeiten bringen würde.
Der Regen hatte bereits aufgehört, als ich mich der Promenade näherte.
„Mack, du darfst auf keinen Fall durch den Hintereingang zum Labor.“, verkündete Phil. „Geh die Promenade entlang zum Einkaufszentrum!“
„Was? Phil, das kann ich nicht!“, erwiderte ich, immerhin waren gerade auf der Promenade viele Kameras und Drohnen. Auch die GN5 Einheiten patroulierte dort, ich wäre wie auf einem Silbertablet.
„Doch du kannst und musst! Vertrau mir!“, bestärkte Phil.
Also tat ich was er sagte. Ich erreichte die Allee und bog nach rechts ab, um zum Einkaufszentrum zu kommen. Mein Mantel klebte an meinem Anzug und meine Schuhe waren mit Wasser vollgelaufen. Meine gesamte Kleidung schien an mir runter zu hängen wie ein Sack. Trotzdem versuchte ich mit der Kapuze so viel von meinem Gesicht zu verdecken, wie möglich.
Ich verhielt mich unauffällig und versuchte trotz langsamen Schrittes so weit voran zu kommen wie es ging. Nebenbei fielen mir wieder die digitalen Aushängetafeln mit meinem Gesicht auf, gleichzeitig dachte ich daran, dass mein Gesicht unter dem Make Up gut maskiert war, sodass man mich mit dem bloßen Auge nicht erkennen konnte. Lediglich die Drohnen konnten durch solche Fassaden blicken, da sie neben der Gesichtserkennung auch über Augenscans, aber vor allem externe DNA Scans und Fingerabdruckscans verfügten. Sollte auch nur eine Drohne mit einfangen, wäre ich erledigt.
Gerade als ich unter dem gigantischen Zeppelin mit meiner Anzeige herlief, zu ihm hochblickte und ein eigenartiges Gefühl der Sicherheit durch meinen Körper strömte, da ich das Einkaufszentrum fast erreicht hatte und unerkannt geblieben bin, sah ich vor mir wieder die GN5 Einheit. Es war dieselbe Einheit, der ich zuvor begegnet war.
Es machte keinen Sinn die leeren Gassen zu patroulieren, denn dort reichten die Kameras und Drohnen vollkommen aus, aber eine solche belebte Promenade, war selbst für die Scans nicht vollständig zu erfassen.
Angst schloss sich wie ein Korsett um meine Brust und schnürte sie enger. Dennoch bewahrte ich einen kühlen Kopf und versuchte mich unauffällig zu verhalten. Alles in mir hoffte darauf, dass die Drohnen mich nicht erfassen würden, doch genau in dem Augenblick drehte sich eine von ihnen zu mir. Sie wirkten teilweise wie lebendig. Sie erinnerten mich an kleine Kinder, die jemanden beim Spielen entdeckten und auf einen zugelaufen kamen. Die Drohne sah so harmlos aus, auch wenn sie ironischer weise mein Ende bedeutete.
„Phil, ich brauche irgendeinen Plan B! IRGENDEINEN!!!“, teilte ich ihm in Gedanken fast schon hysterisch mit. Es kam keine Antwort.
„Phil?! Hörst du mich?!??!“, ich schrie schon beinah in meinem eigenen Kopf, während meine Gedanken einen einzigen Plan auswarfen, der in dieser Situation halbwegs in Frage kam – Rennen!
Mein Körper wurde gepackt von enormem Adrenalin. Ich spürte es bis in den Fingerspitzen. In meinem peripheren Sichtfeld suchte ich die Gassen nach einer passenden Fluchtmöglichkeit ab. Währenddessen flog die Drohne, die mich entdeckte geradewegs auf mich zu.
Eben als ich die passende Straße gefunden hatte, die zu eng für den Helikopter und die Drohnen gewesen wäre, und zum Entkommen ansetzen wollte, näherte sich mir eine langbeinige Blondine schnellen Schrittes. Sie trug ein enges, magentafarbenes Kleid und farblich abgestimmte High Heels. Sie strahlte mich an und ihre roten Lippen zogen sich zu einem herzlichen Lächeln auseinander, während ihre goldenen Locken mit jedem Schritt wippten.
„Da bist du ja endlich!! Ich war schon ohne dich shoppen.“, sagte sie mit einer beinah schrillen Stimme und nahm mich hastig in den Arm.
Was geht hier vor?, dachte ich mir und doch hatte ich das Gefühl, dass alles irgendwie mit einander verbunden war, da sie mich mit ihrem Rücken von der Drohne abschirmte. Der fliegende Ball erfasste sie, anstelle von mir und flog zufrieden fort.
Ich blickte ihr ungläubig und verwundert nach. Zwar war ich dankbar für die Rettung, jedoch kannte ich dieses freundliche Wesen gar nicht.
Ich lehnte mich leicht zu ihr, auch wenn sie einen Kopf größer war als ich, und sagte, beinah im Flüsterton: „Ich glaube, Sie verwechseln mich.“
Das blonde Geschöpf lachte aus vollem Hals. „Doch ich meine dich! Schau mal, was für ein neues Erfrischungsspray ich gekauft hatte!“
Sie zog eine rote Sprühflasche aus der Tasche und sprühte mich beinah hastig von Kopf bis Fuß damit ein. Ich schreckte leicht zurück und wunderte mich über ihre Eigenart und wer diese Person wohl sei. „Nur drei forteonische magna!“, teilte sie glücklich mit und blickte mich erwartungsvoll an, als wollte sie, dass ich mich auch dafür begeistere.
Mein Blick schweifte zu der GN5 Einheit die immer noch auf uns zu kam, da die Drohne ihnen vorausgeeilt war. Einige der Guards schauten zu uns, doch sie schienen eher die Blondine anzustarren, als mich. Mein immer noch angespannter Körper begann sich leicht zu entspannen, da lehnte sich meine Gesellin an mein Ohr und presste zwischen den Zähnen hervor: „Mach einfach mit, verdammt!!“
Ruckartig dämmerte mir alles. Ich blickte zu ihr hoch und starrte sie ungläubig an, während sie mich wieder angrinste, sich bei mir einhackte und mich in Richtung des Einkaufszentrums zog.
„Phil?!“, fragte ich immer noch zweifelnd.
Doch Phil in Blondinenform antwortete lachend: „Na das wäre ja was! Du meine Güte! Sehe ich etwa aus, wie ein Phil? Ich bin Mariella, deine beste Freundin!“
Wir liefen zusammen an den Agenten vorbei, die uns nachsahen, da drehte sich ‚Mariella‘ zu ihnen und zwinkerte ihnen verführerisch zu – dieser Casanova konnte sogar mit Männern flirten.
Eine weitere Drohne, die die Gegend zu unserer Linken ab gescannt hatte, drehte sich zu uns und noch bevor ich Phil warnen konnte, hatte sie uns gescannt und nickte uns anerkennend zu. Meine Stirn legte sich automatisch in Falten, doch dann fiel es mir wie Schuppen von den Augen: das ‚Erfrischungsspray‘ war das Latensspray. Ich war wieder unsichtbar für sämtliche Maschinen.
Phil brachte uns zügig und zielsicher in das Einkaufszentrum und ich fragte mich, wie oft er wohl als Frau unterwegs war, denn sein Gang in den hohen Hacken war unglaublich sicher und selbstbewusst. Nicht einmal ich konnte solche Absätze tragen.
Zusammen liefen wir durch die große Glastür, die aus einzelnen kleinen Glasquadraten bestand, die sich wie Mosaik zu einer Glaswand aufbauten. Wenn jemand eintreten wollte, sprang die Glaswand förmlich auf und gewährte Eintritt. Danach wuchsen die Glasplatten wieder zusammen und formten eine Glaswand.
Hinter dieser Glaswand befanden sich viele Rolltreppen, die alle hinunter führten, da die eigentliche Shopping Mall sich unter der Erdoberfläche befand.
Schließlich kamen wir in der angenehm beleuchteten überdimensionalen Einkaufshalle an, die sich über hunderte von Etagen erstreckte. Um uns herum tummelten sich große Menschenmassen. Sie drängelten sich zu den Cafés und Bars durch oder wollten in den Unmengen an Läden shoppen. Dort auf den unzähligen Etagen waren Schwimmbäder, tropische Wellness Oasen, Sporthallen, Kinderspielstätten und vieles andere, was ich noch nie gesehen hatte. Es war wie auf der Fortiaris, nur unter der Erde.
‚Mariella‘ navigierte uns geschickt durch die Menschenmenge und führte mich zu einer weiteren Rolltreppe. Eine Etage tiefer bogen wir in eine separate Einkaufsallee ein. Erst jetzt fiel mir auf, dass diese Shopping Mall wie eine eigene Stadt aufgebaut war. Plötzlich führte Phil mich in ein Damenbekleidungsgeschäft. Ich wollte protestieren, da ich keine Zeit für Shopping hatte und auch nicht verstand, weshalb wir hier her gekommen waren. Doch da begrüßte die freundliche und gutgelaunte Blondine neben mir die Verkäuferinnen und zog mich geradewegs zu den Umkleidekabinen, jedoch nicht ohne vorher einige Sachen in unterschiedlichen Größen mitzunehmen. ‚Mariella‘ schob mir in eine der freien Umkleidekabinen und hinter uns schloss sich eine digitale, schwarze Tür.
„Guten Tag! Möchten Sie die beiden Kleider, den Rock, die fünf Oberteile und die zwei Leggins erst anprobieren, oder wünschen Sie dieselben Teile in einer einheitlichen Größe?“, fragte eine automatisierte Stimme.
„Entschuldige mich einen Moment.“, sagte Phil in einem für ihn gewöhnlichen Ton, während er mich bei Seite schob und zum Spiegel vortrat. Er untersuchte den Spiegel an den Seiten und strich mit der Hand an ihnen entlang, als etwas Rotes daran aufleuchtete, als sei es dahinter versteckt. Die blonde Frau kramte wieder in ihrer Tasche und diesmal achtete Phil nicht darauf weiblich zu wirken. Er stand breitbeinig vor seiner Reflektion und hatte die Tasche auf eines seiner Beine gelehnt. Dadurch war sein Unterleib nach vorne geschoben und sein Rücken war zu einem Buckel geformt – nicht gerade ladylike.
Kurz darauf fand er, was er suchte und nahm es heraus. Es sah aus, wie eine frühere Kreditkarte und war vermutlich auch aus Plastik, denn die milchige Oberfläche schien hindurch.
Er hielt es an die Stelle, die zuvor aufgeleuchtet hatte und sofort zischte der Spiegel und gab nach.
„Ah!“, stieß die Blondine aus und wirkte wieder wie eine fröhliche Dame. Sie griff den Spiegel an der Seite, wo er etwas hervor getreten war und öffnete ihn ganz. Dahinter befand sich eine massig wirkende Tür, ähnlich wie die, durch die Jean und ich gekommen waren.
Zu meiner Verwunderung holte Phil einen altmodischen Schlüssel raus und schloss die Tür auf. Er nahm die Kleidungsstücke, die er mit in die Umkleidekabine genommen hatte und ging hindurch. Ich folgte ihm verwundert.
Hinter der Tür befand sich ein langer weißer Gang, der genauso aussah, wie der, über den Jean und ich zum Labor gelangten. Allerdings bogen wir nun links ab. Wir folgten dem langen Korridor, der ab einer bestimmten Stelle nach rechts führte.
Zu Letzt kamen wir an einer weiteren weißen Tür an. Diese führte, wie ich es vermutet hatte, zum Labor.
Wir kamen exakt auf der gegenüberliegenden Seite rein, wie Jean und ich am Tag zuvor. Sämtliche Geräte, Bildschirme und Gadgets leuchteten in derselben Sekunde auf, in der wir eingetreten waren. ‚Mariella‘ trat direkt die High Heels von den Füßen und riss sich die durchsichtigen Streifen hinter den Ohren hinunter. Die blonde Mähne schien zurück zu wachsen und wurde mit jeden Zentimeter, den sie verlor, dunkler. Die zarten, weiblichen Züge des Gesichtes dehnten sich zu den maskulinen, groben Zügen von Phil aus. Der Körper gewann zwar nicht an Größe, jedoch wurde er breiter, männlicher und muskulöser. Ein Riss war zu vernehmen.
„Oh!“, sagte Phil und seine Augen weiteten sich. „Ich hätte das Kleid vielleicht vorher ausziehen sollen!“
Er schaute etwas ratlos um sich herum und fand schließlich, was er suchte. In einer Kiste unter seinem Schreibtisch lagen seine Anziehsachen, welche er heraus nahm.
Langsam schlich er auf mich zu und drehte sich mit dem Rücken zu mir. Über seine Schulter sagte er: „Kannst du mir mit dem Reisverschluss helfen?“
Zögerlich zog ich den Reisverschluss des Kleides auf. Daraufhin entfernte sich Phil hinter eine Trennwand und wechselte die Kleidung. Als er wieder hinter dem Raumtrenner hervor trat, richtete er sich den Kragen seines Kittels und sagte: „Du willst also das Tape besorgen? Ich weiß genau, was du brauchst!“
Phil ging hinüber zu seinem Schreibtisch und tippe etwas auf der Tastatur.
Unmittelbar nachdem er fertig war, erschienen viele Fenster über allen Bildschirmen verteilt. Sie zeigten Querschnitte und digitale Skizzierungen eines Gebäudes. Ich konnte nur erahnen, dass es die Architektur der Bank war.
Vermeintlich ganz unabhängig davon erschien hinter ihm ein dreidimensionales, schwarzes Hologramm des Gebäudes. Es türmte sich bis über seinen Kopf auf.
Mein Mund öffnete sich leicht in Erstaunen. Noch nie hatte ich ein schwarzes Hologramm gesehen.
Es war visuell erkennbar, wo die einzelnen Etagen waren. Da es weitestgehend durchscheinend war, konnte man auch die Gänge und Räume schwach wahrnehmen.
"Die fiesen Eigentümer der Bank wollen sich zwar nicht in die Karten schauen lassen. Aber sie konnten nicht verhindern, dass die Architektur und der Bau des Gebäudes nicht von ihnen stamm und daher digital einsehbar ist.", grinste Phil. Er war sichtbar stolz auf seinen Fund.
Er nahm nun ein Tablet in die Hand und tastete auf den Bildschirm und kurz darauf leuchtete eine der oberen Etagen blau auf. Neben ihr tauchte die Bezeichnung „E10“ auf. Sie hing für sich alleine in der Luft, wie eine Punktezahl bei einem digitalen Spiel. Es war anzunehmen, dass es sich dabei um die zehnte Etage handelte.
Wie eine Schublade, die man aus der Kommode rausgezogen hatte, fuhr die Etage aus der gesamten Baueinheit heraus und glitt hinab, bis ich die ganze Etage von oben überblicken konnte. Schließlich kippte das blaue Wunder und blieb, wie von Geisterhand in schwebender Position.
Noch bevor ich die Möglichkeit bekam, mich genauer umzuschauen, leuchtete ein Kasten in der rechten oberen Ecke der markierten Etage auf. Es war einer der Räume, oder besser gesagt, der einzige Raum, der nicht zu der restlichen Raumeinheit oder dem Gang gehörte.
Das Bauwerk hatte eine quadratische Form. Der Gang verlief von einer Treppeneinheit, die links oben eingezeichnet war, zu einer weiteren, welche in der Mitte des Gebäudes lag. Der Korridor selber erinnerte an eine eckige Schnecke, welche solange nach links eingeknickt wurde, bis sie die Treppe im Zentrum der Etage erreichte. Die Raumeinheit und der markierte Raum bildeten hingegen die äußere Schnecke. In meinem ganzen Leben hatte ich noch nie ein so komplexes und, meiner Meinung nach, unpraktisches Bausystem gesehen.
„Das ist der Raum, wo alle Kameraaufnahmen verwaltet werden.“, kommentierte Phil. „Darüber hinaus befindet sich dort ein Wachmann, der den Überblick über alle Plätze hat, die von den Kameras eingefangen werden – in Echtzeit. Ich kann weder die Kameras lokalisieren, noch sagen wie viele es sind. Aber das sollte dir, dank des Latenssprays, keine Probleme bereiten.“
Ich war gerade dabei den Gang genauer zu betrachten, da berührte Phil wieder das Tablet und schon ordneten sich sämtliche Querschnitte der Etagen zu einem ganzen Gebäude zusammen.
„Soo.“, setzte der Ingenieur an, „dann wollen wir mal.“
Plötzlich wurde das Model in einen Kontext eingeführt und man konnte die Straße vor der Bank, sowie die Häuser und Straßen jeweils daneben erkennen. Doch im Gegensatz zu dem dunklen Anwesen der Bank, waren alle anderen Objekte grau.
„Das Gebäude hat elf Etagen, ein Erdgeschoss und ein Dach. Das Erdgeschoss wird am wenigsten bewacht – ich habe gehört, dass es dort nur eine Kamera gibt.“, erklärte er.
„Es lässt einen denken, dass die Bank wenig bewacht wird, damit die Einbrecher nicht merken, dass sie sich in die Höhle des Löwen begeben. Aber wir sind zum Glück schlauer...“
Während er sprach wurde das Erdgeschoss visuell aus der Konstruktion entfernt und flog auf uns zu, bis es an derselben Stelle in der Luft hängen blieb, wie zuvor die zehnte Etage. Wieder konnten wir die Etage von oben betrachten. Das Bild zeige einen vollkommen leeren Raum. Nur ein einziges Treppenhaus war in der Mitte der Etage zu erkennen.
„Aaaalso, folgende Informationen konnte ich einem guten Freund, der früher Mal bei der Bank gearbeitet hat, abkaufen: die Büroräume liegen auf der ersten und zweiten Ebene. Sie werden nur durch Kameras überwacht, aber das Personal kennt sich unter einander. Wenn jemand dort neu eingestellt wird, stellt man ihn jedem einzelnen Mitarbeiter vor – und wenn ich sagte ‚jedem einzelnen‘, dann meine ich JEDEM einzelnen. Ein Neuling oder Eindringling fällt daher sofort auf und der Alarm wird aktiviert!“, erläuterte Phil die nächsten Ebenen, während diese im selben Moment aus dem virtuellen Gebäude entglitten, um im nächsten Moment in voller Größe einen Meter vor mir zu erscheinen. Das Erdgeschoss konnte ich gerade noch rechtzeitig auf seinem Platz in der virtuellen Darstellung erkennen, bevor die erste Etage die Sicht über den Gesamtüberblick versperrte.
Ab der ersten Etage fing die schneckenartige Konstruktion der Gänge an. Wobei die Treppenhäuser, die zur jeweils nächsten Ebene führten sich abwechselten. Auf die erste Etage führte das Treppenhaus, welches in der Mitte des quadratischen Bauwerkes lag. Von der Treppe aus führte ein Gang, der insgesamt vier Mal nach rechts führte, bis man zu den Stufen gelang, die in der linken oberen Ecke eingezeichnet war. Diese führten zur zweiten Etage. Um zum Aufstieg zu kommen, der zum dritten Stock führte, musste man dem Gang folgen, bei dem man vier Mal links abbog. Am Ende erreichte man wieder eine Stufeneinheit, die in der Mitte des Gebäudes lag.
„Falls du dich über die schneckenartige Gangkonstruktion wunderst: Sie dient dazu, dass man es schwerer bei der Flucht hat, falls man denn auf die Idee kommen sollte, dort einzubrechen.“
Phil schaltete wieder um und die dritte Etage erschien vor unseren Augen. Auch diese war wie eine Schnecke aufgebaut.
„Soooo, ab der dritten Etage fängt die Hauptüberwachung an. Etagen vier bis neun erfassen nämlich den Geldtresor und der wird von allen Seiten überwacht.“, Phil pausierte kurz in seiner Erklärung und schaute vom Tablet zu mir auf. „Von wirklich ALLEN Seiten!“
Er tippte erneut die Oberfläche des Tablets auf und die Etagen Vier bis Neun wurden auf einmal mit virtuellen Platten von dem Rest der Bank abgetrennt. Über alle sechs Ebenen erstreckte sich ein blauer rechteckiger Körper – der Tresor.
„Ab der dritten Etage sind auf jedem Stock Wachmänner in den Gängen postiert. Sie bewachen nicht nur die Ein- und Ausgänge des Tresors, sondern auch die Wände und Mauern drum rum. Sie bewachen jede Seite, aus der man in den Tresor vordringen könnte.“
"Was ist in den Räumen um die Gänge herum?", fragte ich.
"Die Kundendatenbank, oder besser gesagt - die Karteiverwaltung.", erklärte der dunkelhaarige Experte. "Dort werden die Informationen über die Kunden gesammelt und verwaltet, aber auch über die Bank selber, die Gründung, Geschichte usw.. Die Wachmänner patroullieren da nur selten, aber du könntest auf Sachbearbeiter oder Geldboten stoßen."
Geldboten…Auf Forteon bestellte man sich das Geld direkt nach Hause. Früher hätten man dafür noch zur Bank gehen müssen. Dieser Gedanke kam so zusammenhangslos und unerwartet, dass er vollkommen unwirklich erschien.
Ich versuchte mich wieder auf meine Aufgabe zu konzentrieren und sah mir den Querschnitt genauer an. Die Gänge unterscheideten sich stark von denen auf den ersten drei Etagen. Sie waren U-förmig, da sie um den Geldtresor führten. Auch die Räume um die Gänge herum hatten eine Hufeisenform. Genauergenommen hatte jede Etage einen einzigen großen Raum.
"Die letzen beiden Etagen haben wieder dieselbe Gangform, wie die ersten drei Etagen und auch dort sind Wachmänner postiert. Und auf dem Dach sind immer drei Wächter."
Phil rief auch die letzten beiden Etagen auf und tatsächlich konnte ich sie nicht von den ersten drein unterscheiden. Alles in einem war das Gebäude so stark abgesichert, dass niemand den Tresor leerräumen konnte – aber da wollte ich auch gar nicht hin.
"Darüber hinaus sind sämtliche Böden so verkabelt, dass der Alarm losgeht, wenn auch nur ein Loch gebohrt wird. Also alles in einem, waren die bei der Sicherung sehr gründlich...", kommentierte er. In seiner Stimme lag ein wenig Verzweiflung, immerhin war er das Genie. Ideen sprudelten aus ihm heraus, wie aus einem Vulkan. Doch hier schien alles ausweglos zu sein.
„Du sagtest, du weißt genau, was ich brauche?“, fragte ich ihn.
„Japp, ein Wunder, Mack!“, bestätigte er meinen Eindruck. Ich schaute ihn fragend an.
„… und meine Hilfe.“, fügte er hinzu und versuchte selbstsicher zu wirken. Innerlich musste ich schmunzeln. Phil wollte nicht zeigen, dass er das erste Mal nicht wusste, was zu tun war.
„Zeig mir jede Etage einzeln.“, bat ich den nachdenklichen Wissenschaftler.
Er widmete sich wieder dem Gadget in seiner Hand und bald darauf gingen wir das gesamte Bauwerk noch einmal Ebene für Ebene durch.
Ich musste einen Weg finden, dort ohne große Explosionen oder dem Einsatz von Gas reinzukommen, da sonst die GN5 davon erfahren würde. Ich durfte weder erwischt werden, noch einen Wachmann niederschlagen. Der Zugang über das Dach war also bereits ausgeschlossen.
Am helllichten Tag ein Loch in die Mauer zu bohren, wäre nicht nur auffällig, es würde auch auf Kamera sichtbar sein. Das Latensspray konnte zwar die Person unsichtbar machen, aber nicht ihre Handlungen.
Die einzige Möglichkeit die mir blieb und die auf den ersten Blick unmerklich war, war der Haupteingang. Allerdings lief ich Gefahr, von Mitarbeitern der Einrichtung entdeckt zu werden.
Da sich auf den ersten beiden Etagen das Bankpersonal überwiegend in den Büroräumen aufhielt, wäre ich gezwungen den Gang zu nehmen und doch könnte jemand diesen betreten, noch während ich mich dort befand.
"Phil?", wandte ich mich an meinen Komplizen.
"Mhmmm?", kam als Antwort.
"Verfügt das Neuro-Tablet über irgendeine Funktion, die es mir ermöglichen würde, durch Wände oder dichte Oberflächen hindurchzusehen?"
Phil überlegte kurz. "Noch nicht", teilte er mir mit. Er ging zu seinem Arbeitsplatz und machte sich darauf, am PC etwas einzurichten. "Aber ich kann die Funktion hinzufügen."
Wieder wandte ich mich der Skizze zu.
Es war natürlich mit einem großen Risiko verbunden, allerdings musste ich es versuchen. Ich würde mich leise Gang für Gang durcharbeiten.
Ab der dritten Etage war der Korridor für mich bis einschließlich der zehnten Etage ausgeschlossen und das stellte auf den ersten Blick ein großes Problem dar. Durch Wände konnte ich nicht gehen und selbst wenn, würden mich dies nur zu den Karteiräumen führen.
Lange wanderten meine Augen durch jeden Millimeter der Aufzeichnung und meine Gedanken sprangen von einer Idee zur anderen, die immer wieder im nächsten Moment verworfen wurden, da mir Details des Sicherheitssystems einfielen. Es war zum verzweifeln, doch ich dachte nicht für eine Sekunde daran aufzugeben.
Bereits eine dreiviertel Stunde war vergangen, bis mein Blick schließlich auf einen Block in dem Querschnitt fiel und mein Gehirn im selben Moment einen wahnsinnigen Plan auswarf.
„Phil?“, wandte ich mich wieder an den jungen Mann, der während meiner Überlegungen im hinteren Teil des Labors verschwunden war.
„Ja?“, ertönte es hinter einem Regal.
„Schau dir das bitte an.“, sagte ich und wartete, dass er sich wieder zu mir gesellte.
Phil trat hinter dem Regal hervor und hielt einige Rohre und Schläuche in der Hand. Scheinbar hatte er sich mit etwas komplett anderem beschäftigt und dachte nicht mehr über meinen bevorstehenden Einbruch.
Er kam zurück und stellte sich neben mich. Sein Blick war auf die Zeichnung gerichtet.
„Wo?“, fragte er.
Mit meinem Zeigefinger deutete ich auf den rechteckigen Block, der in der linken oberen Ecke eingezeichnet war.
„Ist das ein Teil des Gebäudeskeletts?“, wollte ich wissen.
„Ja, das ist Beton.“, antwortete er zögerlich. Er verstand nicht, worauf ich hinaus wollte.
„Ist dort eine Verkabelung drin?“, fragte ich weiter nach.
Der Ingenieur fixierte einen unsichtbaren Punkt auf dem Boden und dachte nach. Erst dann begriff er.
„Nein.“, antwortete er schließlich. „Und ich weiß genau, was wir brauchen.“
Flink lief er zum Tisch. Dann ließ er sich in den Sessel fallen und zog sich an der Tischplatte heran.
„Cainwis?“, sprach er.
„Ja, Master Phil?“, hörte ich ihn das erste Mal seit langem sprechen.
„Such bitte die Akte für das Bauprojekt raus, das ich vor ein paar Jahren herausgearbeitet habe. Du weißt schon, das mit den Löchern in der Mauer und alles.“
Phil war nicht besonders präzise in seiner Beschreibung und doch hatte Cainwis ihn verstanden, denn er antwortete: „Sehr wohl, Sir.“
Bald darauf erschien ein virtueller Ordner auf einem der Bildschirme und blinkte rot.
„Perfekt.“, kommentierte Phil. „Genau das, was ich suche.“
Schnell tippte er etwas auf dem Keyboard. Der Ordner wurde geöffnet und unzählige Dateien tauchten auf dem Monitor auf.
Um ihm besser folgen zu können, gesellte ich mich hinzu und nahm auf einem hohen, beweglichen Hocker Platz.
Ich selbst konnte mit den Aufzeichnungen und Notizen rein gar nichts anfangen. Phil hingegen wandte sich zu mir und fing an zu erklären:
„Vor ein paar Jahren hatte ich mal für ein paar angehende Architekten aus der Uni einige Gadgets erfunden. Da sie recht neu im Geschäft waren und noch nicht viel Erfahrung in der Praxis hatten, an sich jedoch äußerst visionäre Gentlemen waren, brauchten sie jemanden, der ihnen half, ihre Fehler zu beseitigen, auch wenn es scheinbar zu spät ist. Da kam ich ins Spiel.“, er setzte wieder sein prahlerisches Grinsen auf.
„Beim Bau wurden einige grobe Fehler gemacht, die gravierend für die Konstruktion gewesen wären – das Gebäude wäre einfach eingestürzt. Also mussten Sie einen Weg finden, an vereinzelten Stellen den Beton aufzuschneiden und Teile daraus, auf schnellstem Wege, zu ‚eliminieren‘. Ich habe dafür einen speziellen Laser erfunden, der den Beton nicht einfach pulverisiert, sondern die einzelnen Partikel auch noch schrumpfen lässt. Es entsteht sehr feiner Staub und ein beliebig großer Tunnel. Anschließend habe ich dazu eine Auffüllmasse angemischt, die sich innerhalb von 24 Stunden komplett ausdehnen und die Fläche nach der Korrektur wieder auffüllen konnte. Vom Gewicht, der Struktur und der Konsistenz passt sie sich dem Material an, welches sie umgibt – in diesem Fall war das der Rest des Betons.“
„Also könnte ich mit dem Laser einen Tunnel bis zur zehnten Etage bohren und keiner würde es merken, richtig?“, fragte ich beinah zu euphorisch, auch wenn ich daran zweifelte, dass etwas so leicht gehen könnte.
„Leider, nein!“, bestätigte Phil meine Zweifel. „Solange der Tunnel besteht und die Masse erst im Begriff ist sich auszudehnen, ändert sich die Gewichtverlagerung des Gebäudes. Die Seite, wo das Loch, also der Tunnel sich befindet, ist leichter als der Rest des Baus. Das Gebilde würde schlicht und ergreifend einstürzen – erst recht, da es sich hierbei um das Skelett handelt.“
Die Ausführung war sehr einleuchtend und dennoch frustrierte es mich, dies zu hören. Alles, was ich wollte, war den Fall schnellstmöglich zu lösen und meine Freiheit zu erlangen. Die Aufzeichnung wäre eventuell ein Ansatz, doch eine Garantie, dass ich dadurch etwas Hilfreiches erfahren konnte, gab es nicht.
Andererseits hatte ich nichts anderes …
„Es gibt aber einen anderen Weg.“, hörte ich den Wissenschaftler sagen.
Er wandte sich in seinem Drehstuhl der dreidimensionalen Holographie zu. Seine rechte Hand lag auf dem Tablet. Die Linke streckte er aus und richtete die Handfläche zu Objekt. Langsam zog er die Finger zu einer Faust zusammen, doch bevor sich diese schloss hielt er an. Parallel dazu verkleinerte sich das gesamte Gebäude, bis es schließlich problemlos zwischen uns passte.
„Du kannst dich immer jeweils eine Etage hocharbeiten.“, Phil zeigte auf den Betonblock, auf den ich zuvor hingewiesen hatte. Er griff buchstäblich in die digitale Aufzeichnung. „Dann kommst du auf der nächsten Etage dort raus.“ Sein Finger glitt an dem Betonblock hinauf zur vierten Etage. „Danach läufst du den ganzen Kundenkarteiraum entlang bis zur anderen Seite.“, deutete er entlang der U-Form bis hin zur gegenüber liegenden Seite. „Dort gräbst du den nächsten Tunnel zur nächsten Etage. Vorab musst du jedoch auf der Seite gegenüber von den Tunneln diese Teile hier anbringen.“ Phil öffnete einen digitalen Ordner auf dem Computerbildschirm. Es erschien eine Bild eines rechteckigen Gadgets. Es hatte mehrere Lämpchen und einen Schalter, ansonsten waren keine Bezeichnungen, Display oder Eingabetasten dran.
„Was ist das?“, fragte ich etwas verwirrt. So viele neue Gadgets und Funktionen auf einem mir fremden Gebiet, wie Architektur, irritierten mich. Zugleich war ich dankbar, dass ich einen Profi mit umfangreichem Wissen in ganz unterschiedlichen Bereichen hatte. Meine Kenntnisse umfassten nur den Kampf, Spionage und das Töten von Menschen.
„Ich nenne ihn den Equilibrion.“, verkündete der Ingenieur Stolz erfüllt. „Es kommt aus dem Spanischen und heißt so viel wie Balance oder Ausgleich. Dieses Gadget ist so programmiert, dass es auf die ausfüllende Masse reagiert und das Gewicht des Gebäudes reguliert. Ein Equilibrion passt sich genau einem der fill in Paketen an, daher musst du gegenüber von jedem Tunnel in dem du eins der fill in Pakete hinterlässt, ein Equilibrion setzen. Dadurch bleibt das Gewicht des Gebäudes stets ausbalanciert und es stürzt nicht ein.“
In meinem Kopf entstand ein Brei aus Informationen und dennoch war ich mir bewusste, dass ich den Ablauf verstehen musste. Morgen beim Einbruch musste alles reibungslos laufen, also schaute ich wieder auf den Bildschirm und ging die jeden Schritt einzeln durch.
„Ok, also… ich stehe hier vor dem Betonblock“, ich wies auf den Block, auf den ich aufmerksam geworden war. Phil sah von mir auch auf das Komplex und folgte meinem Finger. „Dann bohre ich mit diesem…. Laser…“
„Im Tunnel-Modus.“, fügte der Techniker hinzu.
„..im Tunnel-Modus….“, wiederholte ich. „.. einen Tunnel auf die nächste, in dem Fall die vierte Etage, richtig?“
„Ja.“, nickte Phil.
„Dann komme ich hier raus…“, ich zeigte auf den Betonblock in der linken hinteren Ecke der Skizze von der vierten Etage. „.. und gehe im Kundenkarteiraum den Gang entlang…“, mein Finger glitt von dort bis hin zur vorderen, linken Ecke. „Gegenüber vom Betonblock aus dem ich rauskam, bringe ich eins dieser….“, ich zeigte auf das Gadget, von dem mir Phil zuvor erzählt hatte.
„Equilibrion.“, wiederholte dieser.
„..Equilibrion…“, sprach ich ihm nach. „…an. Danach biege ich hier links ab…“, mein Finger bewegte sich von der linken, vorderen Ecke, zur Rechten. „…und laufe den Gang durch. Ich bringe ein weiteres Equilibrion an. Es wird auf dieselbe Mauer geheftet, wie das erste, nur am anderen Ende der Mauer, richtig?“
„Genau!“, stimmte freudig zu. Phil war begeistert, dass seine Ausführungen verständlich waren.
„Gut, und dann biege ich noch einmal links ab….“, wieder glitt mein Finger an der Skizze entlang des Ganges nach hinten. “…und laufe den Gang bis zum Ende durch, wo ich wieder einen Tunnel auf die nächste Etage grabe. Danach wiederhole ich den Prozess von Ebene zu Ebene, bis ich bei der zehnten Etage ankomme?“
„Super!“, Phil sprang fast im Sitz auf.
„Wie zum Geier soll ich das anstellen, ohne dass ich oder eins deiner Genieerfindungen entdeckt werden?“, fragte ich beinah wütend. Mein Körper verkrampfte sich und ich zitterte leicht. Ein Kloß bildete sich in meinem Hals. Ich atmete schwer und laut. Meine Idee wäre simpel gewesen: ein Tunnel von der dritten bis hin zur zehnten Etage, in dem mich niemand sieht oder gar vermutet. Natürlich würde ich da wieder Gefahr laufen, entdeckt zu werden.
Doch jedes Stockwerk einzeln abzulaufen, machte es für mich fast unmöglich, unentdeckt die Aufnahme zu besorgen und dann wieder unauffällig rauszukommen. Erst recht, wenn ich auf jeder Ebene mindestens zwei Gadgets hinterlassen musste. Bei den Sicherheitsmaßnahmen der Bank wär ich sicher entdeckt, noch während ich mich im Gebäude befinden würde. Der Alarm würde ausgelöst sein und nichts oder niemand könnte mir da wieder raushelfen.
Auf einmal schien der Plan für mich zu unrealistisch zu sein und mit einem Augenblick entzog es mir die gesamte Motivation. Ich sank kraftlos in mir zusammen.
„Ich gebe zu, die Sache ist riskant, aber…“, setzte Phil an.
„Sie ist nicht riskant.“, erwiderte ich entkräftet. „Es ist unmöglich.“
Phil fixierte wieder nachdenklich einen Punkt. Auch er schien von der Aussichtslosigkeit der Situation überzeugt zu sein.
Schließlich regte er sich und sprach wieder. „Mack, die Bank ist nur vor Einbrüchen normaler Bürger gesichert.“
Ich verstand nicht, worauf er hinaus wollte. „Was willst du damit sagen?“
Er sah mich an.
„Ich will damit sagen, dass Sie nicht umsonst keine zeitgemäße Technik verwenden, sondern komplett auf eine digitale Ausstattung verzichten. Ein normaler Hacker ist hier wehrlos und kein gewöhnlicher Bewohner, egal ob auf Forteon, Fertileon, Concentio, Scientia oder Plenueon, verfügt über das notwendige Equipement, um sich in eine Bank zu schleichen und selbst wenn einer es hätte,… was ich wiederum bezweifle,…. hätte niemand den Mut dazu.“
Phil machte eine kurze Pause. In seinem Blick lag volle Überzeugung. Er hatte es geschafft, sich selber Hoffnung zuzusprechen. Mich hatte er, aber noch nicht überzeugt.
„Die einzigen, die über die notwendige Ausrüstung verfügen und das nötige Know-How haben, sind GN5 Agenten. Aber von denen erwartet keiner eine solch skrupellose Handlung. Zumal man normalerweise in eine Bank einbricht, um sie leer zu räumen und nicht um einen USB-Stick zu klauen. Im Normalfall verdient jeder genug Geld, um sich ihn einfach zu kaufen.“, fügte der schöpferische, junge Mann im Scherz hinzu.
„Du hast mehrere große Vorteile.“, betonte er. „Du bist eine Agentin und du bekommst von mir das Beste, was es an Ausrüstungen gibt.“
Etwas rührte sich in mir, als würde ein Stromstoß durch meinen Körper fließen. Genau wie Jean, schaffte es Phil, mir Hoffnung zu geben. Ich sah es als eine Chance mich aufzurappeln und hielt an dieser neugewonnenen Motivation fest, bevor sie wieder verflog. Im Grunde verstand ich nicht einmal, warum ich, von allen Menschen, aufgeben wollte. Noch nie hatte es mir an Selbstbeherrschung gefehlt und noch nie hatte ich Zweifel an meinem Können. Sollte alles wofür ich jahrelang gearbeitet und gekämpft hatte umsonst gewesen sein, und die GN5 nun unterwandert und zu korrupten Zielen verwendet werden, so kann ich wenigstens alles, wozu sie mich gemacht hat gegen das verwenden, was man mir versucht anzutun.
Mein Kiefer spannte sich von alleine an und mein Mund öffnete sich zu einem großen Gähnen. Ich hatte vergessen, dass ich seit zwei Tagen weder gegessen, noch geschlafen hatte.
„Nun, nicht gerade die Reaktion die ich hervorrufen wollte, aber…“, Phil hatte meine Müdigkeit missinterpretiert. Er selbst wirkte immer ausgeruht und euphorisch. Ich fragte mich, wann er Zeit zum Schlafen fand.
„Ich bin müde.“, sagte ich. „Und ich habe eine ganze Weile nichts gegessen.“
Der junge Ingenieur verstand sofort und nickte leicht. „Keine Sorge, du wirst heute noch schlafen. Was den Hunger angeht…. Cainwis?“, rief er, wobei sein Blick an die Decke gerichtet war, als wäre dort ein mir unsichtbares Objekt, welches Cainwis verkörperte.
„Das übliche XXL Energy-Boost Menü? Oder darf diesmal die Lady entscheiden?“, fragte die mir mittlerweile vertraute Androidstimme.
„Nein, Kumpel. Energy-Boost ist genau das was wir brauchen. Sag Alicia, dass ich es selbst abhole…. ausnahmsweise mal“ , den letzten Teil murmelte er unmerklich. Mir zu Liebe würde er sich den Lieferservice ersparen.
Er stand auf, ohne sich abzustützen und zog den Kittel aus. „Ich bin gleich wieder da.“, sagte er, bevor er hinter der Tür verschwand, durch die wir hereingekommen waren. Mir schwebte die Umkleidekabine vor, die zu dem Flur führte. Vermutlich gab es weitere Ausgänge, die zum Einkaufszentrum führten. Es schien mir absurd, dass Phil nun durch den Spiegel in die Umkleidekabine eines Frauenbekleidungsgeschäftes stieg, um uns etwas zu Essen zu holen.
Plötzlich fiel mir der Betonblock der Bank ein und dass wir noch keinen Plan herausgearbeitet hatten, wie ich überhaupt vom Gang in die Karteiräume kam. Der Laser den mir Phil zum ausgraben des Tunnels zur Verfügung stellen würde, würde ein Loch hinterlassen, welches leicht entdeckt werden konnte. Es müsste eine Möglichkeit geben diesen Einschnitt in der Wand vorübergehend abdecken zu können…
„Erlauben Sie mir den kurzen Eingriff, Miss. Dieser Bereich übersteigt zwar meine Kompetenzen, denn ich bin, daran ist keine Zweifel, kein Wissenschaftler und erst recht dem Intellekt von Master Phil nicht gewachsen, doch ich meine eine Antwort auf Ihre Frage zu wissen.“, meldete sich Cainwis unerwartet. Seine Stimme hallte im Labor nach, obwohl er Zugang zu meinem Neuro-Tablet hatte und meine Gedanken las. Bei unserer ersten Begegnung im Fahrstuhl, hatte mich sein Programm fasziniert und neugierig gemacht, doch jetzt, wo ich wusste was er war und was er konnte, fühlte ich mich unbehaglich mit ihm allein zu sein. Erst recht, da ich nicht wusste, ob ich einer selbstdenkenden Maschine vertrauen konnte.
„Bitte verzeihen Sie mir den Eingriff in Ihre Privatsphäre! Es ist mir bewusst, dass es für sich erschreckend und unbehaglich ist, zu wissen, dass ich Ihre Gedanken lesen kann. Doch ich verspreche Ihnen: Meine Programmierung lässt es nicht zu, dass ich diese Informationen je gegen Sie verwenden könnte. Im Gegenteil, es ermöglicht mir Ihnen jeden Wunsch von den Gedanken abzulesen – im wahrsten Sinne des Wortest. Hahaha.“, das Lachen der Maschine klang zwar freundlich, jedoch hatte es nichts von einem echten, herzlichen Lachen eines Menschen. Meine Zweifel waren noch da. Ich vertraute Cainwis nicht, aber ich vertraute Phil und er vertraute wiederum Cainwis.
„Also gut. Was hast du für einen Vorschlag?“, sprach ich laut aus und sah mich dabei im Raum um. Es war eigenartig mit einem körperlosen Wesen zu sprechen, welches man nicht anschauen konnte.
„Danke für Ihr Vertrauen, Miss Mack!“, hallte Cainwis‘ feuchtfröhliche Stimme durch den Raum. „Sie werden es nicht bereuen.“
Im nächsten Moment geschahen mehrere Dinge gleichzeitig.
Das Hologramm des Gebäudes, welches Phil zuvor verkleinert hatte, glitt wie durch Geisterhand auf seinen Platz zurück und dehnte sich auf die ursprüngliche Größe aus. Zur selben Zeit erschien ein Zeichen auf einem der Bildschirme auf dem Schreibtisch. Kaum nahm ich es auf dem Monitor war, als es sich wie von alleine öffnete. Dort drin waren Zeichnungen und Skizzen gespeichert. Ich erkannte Formeln und ganze, vermutlich erklärende, Textpassagen. Mit diesen Bildern konnte ich rein gar nichts anfangen. Noch bevor ich überlegen konnte, wie mir diese Dinge helfen könnten, räusperte sich Cainwis und brach schließlich in euphorischer Erklärung aus: „Master Phil hatte einst einen Laser erfunden, den man praktischerweise im Handschuh Ihres Kostüms anbringen konnte. Ich habe bereits alles kalkuliert!“
Eins der Bilder löste sich aus der Menge heraus und wurde über den ganzen Bildschirm geöffnet. Darauf war eine behandschuhte Hand zu erkennen. Am Handgelenk waren zwei kleine Röhrchen angebracht. Aus dem größeren Oberen kam ein roter Strahl, vermutlich der Laser. Aus dem kleineren Unteren kam jedoch ein heller, fast weißer Strahl. Ich konnte mir nicht denken, was es war.
„Der Laser selbst ist nichts Spezielles. Er schneidet Oberflächen jeglicher Art, das ist alles. Aber dem Laser folgt ein spezieller Klebstoff, der es möglich macht dasselbe Stück Fläche an dieselbe Stelle wieder anzubringen.“, klärte Cainwis mich auf.
„Sie könnten also..“, setzte er wieder an und die dritte Etage rutschte aus dem Gebäudekomplex. „.. mit dem Laser eine Öffnung in die Wand des Treppenhauses schneiden.“ Eine geisterhafte Hand tauchte vor mir auf. Es war ein dreidimensionales Modell der Zeichnung auf dem Bildschirm. Sie bewegte sich, als wäre sie lebendig und tat das, was Cainwis erklärte, sie schnitt ein Loch genau in die Stelle des Treppenhauses, über die ich zuvor nachgegrübelt hatte. „Dadurch würden Sie in den Karteiraum gelangen. Dort angekommen, halten Sie die Fläche die Sie zuvor entfernt hatte einfach wieder dran und niemand wird auch nur den Umriss erkennen können.“
Die Hand hatte das Stück Hologrammwand wieder zurück an die Stelle gebracht, wo sie es zuvor rausgeschnitten hatte. Das Stück fügte sich wieder nahtlos ein. Lediglich ein kleiner, blasser Umriss war zu erkennen, der jedoch nicht weiter ins Auge sprang.
Einen Augenblick lang war ich still. Ich hatte zwar eine Lösung für eins von vielen Problemen erhalten, jedoch war es ein bizarres Gefühl von einem Computerprogramm in so einer heiklen Angelegenheit wie einem Einbruch beraten zu werden. Ich fragte mich…
„Ja, Master Phil weiß darüber Bescheid, was ich Ihnen gerade vorgeschlagen habe. Ich habe ihn um Erlaubnis gebeten und er hat es genehmigt. Und glauben Sie mir, ich verstehe auch Ihr Misstrauen, aber zu Ihrer Beruhigung, ein Computer kennt die Unterscheidung von Gut und Böse nicht. Er kennt nur das, wozu er programmiert wurde. Ich habe also in dem Sinne kein, wie Sie es nennen, Gewissen.“
Ich verstand nicht worauf er hinaus wollte.
„Sie können in die Bank ruhig einbrechen. Ich habe nichts dagegen und ich verurteile Sie nicht.“, half er mir freudig auf die Sprünge.
„Danke, Cainwis.“, war das einzige, was mir darauf einfiel. Für einen kurzen Augenblick hatte er mich durcheinander gebracht. Doch irgendwie hatten Cainwis‘ Worte bei mir Wirkung hinterlassen. Ich begann allmählich zu entspannen.
Ein Geräusch ertönte vom anderen Ende des Raumes. Phil war zurückgekehrt und balancierte eine große Tüte auf der Handhandfläche, während er mit dem Fuß die Tür zutrat. Die massive Metalltür fiel etwas zu stark ins Schloss, sodass sie die Wände erzittern ließ und der Knall durch das gesamte Labor hallte. Eine Welle der Erleichterung durchzog mich. Zwar war ich in Cainwis‘ Gegenwart nun weniger verkrampft, alleine wollte ich mit ihm jedoch nicht sein.
„Hier, hau rein.“, sagte Phil, der die Tüte auf der Arbeitsplatte abgestellt hatte und nun nach und nach Päckchen, Pappschachteln und Plastikbecher rausholte. Als er fertig war, sortierte er ein paar für sich ab und schob mir den größten Teil zu.
Ohne lange zu überlegen, nahm ich eins der Päckchen und wickelte es auf. Darin war ein großes Sandwich mit einer dicken Fleischbulette, Salat, Tomaten und einer Scheibe Käse, welche leicht angeschmolzen war. Mein Magen knurrte in Reaktion und mit einem Mal spürte ich mein Hungergefühl aufkommen. Der erste Bissen fühlte sich an wie von Gott persönlich gesegnet und eh ich mich versah schlang ich das ganze Sandwich hinunter. Als ich einen großen Schluck vom Getränk nahm und die nächste Schachtel aufmachte, war ich bereit weiter am Plan zu arbeiten.
„Ok,“, stimmte ich an, den Plan Schritt für Schritt abzugehen, um sicher zu sein, dass ich an alles gedacht habe und ihn eventuell zu verbessern. „ich weiß, wie ich ins Gebäude komme: Über den Haupteingang. Ich gehe die Treppe rauf und es bleib mir nichts anderes übrig, als die ersten zwei Etagen durch die Gänge zu schleichen und zu versuchen nicht erwischt zu werden. Ab der dritten Etage scheide ich ein Loch in die Wand und klettere hinüber in den Karteiraum, decke das Loch ab und begebe mich zum äußeren Block. Dort Bohre ich einen Tunnel mit diesem speziellen Laser, den du mir gezeigt hast und gelange dann somit auf die vierte Etage.“ Bevor ich mit dem Plan fortfahren konnte, meldete sich ein anderer Gedanke. „Werden die Flügel des FlyingGadgets in dem Tunnel überhaupt aufgehen können?“
„Wir lernen ja schnell.“, grinste Phil mich an. Die ganze Zeit während meiner Ausführung mampfte er chicken nuggets die er in eine rote Sauce dippte, doch nun stellte er das Packet ab und leckte sich die Finger. „Nein.“, fügte er wieder erst hinzu. „Aber auch darüber habe ich bereits nachgedacht und…“, er streckte die Hände nach der Tastatur aus. „ich habe wieder eine Lösung. Du siehst, die Situation ist gar nicht so aussichtslos, wie sie dir anfangs vorkam. Ich weiß gar nicht, was du hast.“
Tatsächlich breitete sich zum ersten Mal seit langem etwas wie Erleichterung in mir aus. Natürlich hatte ich eine komplizierte und gefährliche Mission vor mir, doch das hatte mich bisher noch nie gestört und wenn ich erst einmal das Tape hätte, wäre der Wahnsinn vorbei und ich hätte meine Freiheit wieder.
„Hier.“, sagte Phil und öffnete einen weiteren Ordner an diesem Tag. Diesmal erkannte ich Skizzen eines Fußes.
„Ein weiteres Gadget?“, fragte ich ungläubig.
„Nein.“, antwortete der Ingenieur. „Es ist etwas komplizierter.“
Wenn jemand wie Phil etwas als kompliziert bezeichnete, hieß es sicher nichts Gutes.
„Eigentlich ist es eher zu vergleichen mit dem Neuro-Tablet in deinem Kopf. Hmmm…. Wie erkläre ich es dir am Besten. Es werden Nanobots in deinen Fuß integriert. Diese ermöglichen es dir eine geraume Weile zu schweben oder zu gleiten. Du könntest mit Leichtigkeit gewisse Distanzen überbrücken oder eine Mauer hochspringen, die du im normalen Zustand nicht erklimmen könntest. Die Nanobots können auch einen Fall abfedern, voraussichtlich deine Füße sind parallel zum Boden.“, erklärte er.
„In meinem Fall würde es also heißen, dass ich jeweils eine Etage hochspringen kann?“, fragte ich immer noch kauend nach um sicher zu gehen, dass ich auch alles verstanden hatte. Phil hat mir an einem Tag so viele Gadgets und Funktionen vorgestellt wir noch nie. Ich hatte Angst sie mir nicht alle merken zu können.
„Ja, genau das heißt es…. Es würde dir aber auch helfen, wenn etwas schiefgehen würde und du vom Dach springen müsstest.“, fügte er hinzu.
Mein Blick bohrte sich in ihn und ich war mir sicher, dass die nötige Spannung in ihm lag, die ich vermitteln wollte.
„Als Notfallplan, für alle Fälle.“, ergänzte er, während er zu mir hinüber schielte.
„Wie lange dauert der Eingriff?“, lenkte ich das Thema ab, bevor einer von uns beiden sich noch wehtat.
„Der Eingriff selbst dauert mehrere Sekunden, aber die Prozesse, die sich danach in deinem Körper abspielen sind so ähnlich wie die beim Neuro-Tablet.“
„Ich wäre für ein paar Stunden außer Gefecht gesetzt?“, hackte ich nach.
„Ja,“, bestätigte mir Phil mein Befürchten. „Und es wäre gelogen, wenn ich sagen würde, dass du den Eingriff kaum spüren würdest.“
Ich konnte mich noch genau an den pulsierenden, unerträglichen Schmerz beim Neuro-Tablet erinnern. Sollte der Schmerz bei dieser Operation auch nur halb so intensiv sein, wird Phil mich an den Stuhl ketten müssen, damit ich nicht die Wand hochkletter. Dennoch war ich bereit alles auszuhalten, wenn ich am Ende meinem Ziel näher kam.
„Einverstanden“, sagte ich. „Wann fangen wir an?“
„Ähm….. also, von mir aus jetzt, aber…“, Phil wirkte zögerlich. „willst du vorab nicht den ganzen Plan nochmal durchgehen, um sicher zu gehen, dass du nicht noch mehr Gadgets brauchst?“
Er hatte Recht. Noch waren nicht alle Punkte der Mission durchdacht.
„Ok, wo waren wir….“, murmelte ich und sah zum dreidimensionalen Bauplan. „Ich komme auf der nächsten Etage raus und bringe auf der Wand gegenüber dieses gewichtausgleichende Ding an…“
„Falsch, du hast was vergessen!“, unterbracht mich der Wissenschaftler. „Du hast Glück, dass du mich die ganze Zeit in deinem Kopf haben wirst. So werde ich dich vor gravierenden Lastern bewahren können.“
Tatsächlich war ich Phil dankbar für alles was er in den letzten knapp 48 Stunden für mich getan hat. Allein seine Unterstützung und seine Hilfe waren der Grund, warum ich noch nicht hoffnungslos verloren war. Ich stand bis an mein Lebensende in seiner Schuld.
Doch für glorreiche Dankesreden hatte ich leider keine Zeit.
„Danke, wo war mein Fehler?“, fragte ich.
„Du hast einen Tunnel von der dritten zur vierten Etage gebohrt. Du musst das fill in Paket dort hinterlassen, damit die Masse sich ausdehnen kann, um den Tunnel zu schließen, wenn du bereits draußen bist.“
„Den muss ich bereits zu Beginn dort reinlegen? Ich nehme denselben Tunnel für den Rückweg. Komme ich dann überhaupt noch raus?“, Phils Erfindungen brachten mich durcheinander.
„Das Paket hat 24 Stunden Zeit, um sich auszudehnen. Du wirst, wenn alles richtig kalkuliert ist, innerhalb von zwei Stunden dort wieder raus sein. Du hast also genügend Zeit.“
Phils Erklärungen waren einleuchtend. Das Paket wird den Tunnel noch bei weitem nicht vollständig gefüllt haben, wenn ich auf dem Rückweg sein werde.
„Also gut, ich lege das fill in Paket in den Tunnel und bringe das… „, ich sah fragend zu Phil. Die Bezeichnung für das Gadget, welches das Gewicht des Gebäudes regulieren würde, während der Tunnel noch nicht gefüllt war, konnte ich mir nie merken.
„Equilibrion“, griff mir Phil unter die Arme.
„Ich bringe das Equilibrion an die Wand gegenüber vom Tunnel. Danach bringe ich eins auf derselben Wand aber am anderen Ende an. Gegenüber von dem zweiten Equilibrion grabe ich den nächsten Tunnel, zur nächsten Etage und so verfahre ich bis zur Zehnten. Richtig?“, wieder sah ich zu dem jungen Techniker und suchte seine Bestätigung.
„Ja! Haargenau richtig!“, sagte dieser freudig.
„Damit hätte ich bei zwei Stunden für die gesamte Mission circa sechs Minuten pro Etage nur für den Hinweg. Ich soll das alles innerhalb von sechs Minuten machen und darf mich dabei nicht erwischen lassen.“, ich sprach mir selbst nicht gerade Mut zu, aber ich wusste, dass ich nicht drum rum kam damit fertig werden zu müssen.
Etwas anderes beruhigte mich da weiteraus mehr.
„Reicht die Wirkzeit des Latenssprays für die ganze Mission aus?“, wollte ich wissen. Immerhin stellten Kameras das größte Problem dar, da wir nicht wussten wie viele es waren und wo sie angebracht sind.
Phil kratzte sich am Kopf und wirkte sehr nachdenklich. Schließlich setzte er an: „Ich kann sie auf maximal zwei Stunden ausdehnen. Du müsstest dich also jeweils unmittelbar vor und nach der Mission damit einsprühen.“
Ein weiterer Punkt war also geklärt und ich dachte weiter darüber nach, was noch bevor stand und was noch fehlte. Es war wichtig, dass ich mein Tempo bis zur zehnten Etage halten musste. Nirgends durfte ich mich länger als sechs Minuten aufhalten. Freilich bestand die größte Herausforderung darin, den Wachtmann aus dem Raum mit den Kameraaufnahmen zu locken, damit ich das Tape holen konnte.
„Phil?“, fragte ich nach einiger Zeit des Stillschweigens.
„Ja?“, antwortete dieser. Er saß im Sessel nach hinten gelehnt und hatte die Zeigefinger auf einander gelegt. Die ganze Zeit schien er mich geduldig zu mustern.
„Wie bekommen wir den Wachtmann aus dem Raum, ohne dass ich auffliege und so dass ich genug Zeit habe, die Aufnahme zu besorgen?“, spielte ich ihm das Problem zu, auf das ich nach langem Grübeln keine Lösung fand. Irgendwas sagte mir, dass es recht leicht zu lösen wäre, aber dass ich dafür eine bahnbrechende Erfindung brauchen würde.
Der Schöpfer setzte sich auf und stütze die Ellbogen auf seinen Knien ab. Die Zeigefinger ruhten dabei immer noch auf einander. „Hmmmm…“, gab er nachdenkend von sich.
„Also es muss irgendwas natürliches sein, was ihn aus dem Raum lockt. Es darf ihn nicht beunruhigen, sonst wird die Sicherheit verstärkt. Sonst hätte ich eine Explosion auf dem Dach vorgeschlagen. Vielleicht also ein….“, er dachte immer noch verschärft nach. „.. Kurzschluss!! Genau! Das ist es!“ Er sah zu mir auf und strahlte mich an, bevor er sich wieder der Tastatur zu wendete.
Auch ich freute mich über seine Euphorie und seinen Heureka-Moment, da ich wusste, dass er ein weiteres Hindernis beseitigt hatte. Dennoch wusste ich nicht, worauf er hinaus wollte.
„Ich baue eine Funktion in deinen Anzug ein, mit der du einen Kurzschluss im ganzen Gebäude verursachen kannst. Damit wären sämtliche Kameras, Lampen und Funkgeräte für mehrere Minuten außer Gefecht gesetzt. Der Wachtmann müsste seine Position verlassen, um am Stromkasten den Saft wieder einzuschalten und du hättest je nachdem fünf bis zehn Minuten Zeit!“, wieder funkelten Phils Augen vor Begeisterung für seine eigenen Ideen und ich war froh für jede einzelne von ihnen.
Er redete quirlig weiter: „Außerdem baue ich dir statt dem FlyingGadget einen Rucksack ein, wo du die fill in Pakete und die Equilibrions transportieren kannst und du bekommst von mir… ja, ich weiß, für alle Fälle…. Nur für den Notfall.. FALLS etwas schief läuft…… drei Minidrohnen, die du mit deinem NeuroTablet steuern kannst. Pass aber auf!“, warnte er mich. „Setze die Drohnen nur ein, wenn die Wirkung vom Latensspray abgelaufen ist, hörst du? Die Drohnen müssen dich nämlich erkennen können, sonst könnten sie dich erwischen.“
„Ich hab verstanden.“, teilte ich ihm mit. „Und nun, da wir den Plan vollendet haben..“
Ich wollte ihn an den Eingriff erinnern, dem ich zuvor zugestimmt hatte und der mir das Schweben ermöglichen würde.
„Ahhh, genau. Die Gravilaris“, sagte Phil. „Folge mir bitte.“
Er stand auf und schwang sich seinen Kittel um die Schultern, um ihn anzuziehen. Sicheren Schrittes machte er sich auf den Weg in den hinteren Teil des Labors, wo ich bereits das NeuroTablet eingepflanzt bekam und merkte meinen fragenden Blick nicht.
„Was ist die Gravilaris?“, fragte ich, während ich ihm folgte.
„Oh, hab ich das nicht erwähnt? So nenne ich das Projekt mit den Nanobots, die wir dir in die Füße stechen. Kommt aus dem Lateinischen,“, erklärte der Techniker, während er mehrere eingepackte Spritzen aus einer Schublade holte und diese auf ein Tablett neben einer Liege platzierte. „von den Wörtern ‚gravitare‘, also ‚rotierend‘ und ‚solularis‘, sprich ‚Sohle‘.“ Er nahm zwei Gummihandschuhe aus einer Box und zog sie sich an. „Ja, ich weiß. Es ist nicht sonderlich kreativ, aber es hört sich beeindruckend und mächtig an.“, sprach er, während er verträumt an die Decke schaute und lächelte. Allmählich hatte ich das Gefühl, dass ihm seine Erfindungen mehr bedeuteten, als ein Mensch es je könnte. Er schien auch weitaus mehr Zeit mit ihnen zu verbringen. Ich überlegte, wie oft er wohl rausging.
„Nicht oft.“, ertönte eine bekannte Stimme über das NeuroTablet und brachte mich zum schmunzeln. Cainwis wusste schließlich mehr als jeder andere über seinen Meister Bescheid.
„Sooo.“, sagte Phil. „Nun ziehe deine Schuhe und Socken aus und leg dich hin. Achte dabei darauf, dass deine Füße und Hände auf den dafür vorgesehenen Markierungen liegen.“
Langsam ging ich zu der Liege hinüber auf die er gedeutet hatte. Auch wenn ich fest entschlossen war, diese Prozedur durchzuziehen, wehrte sich ein Teil von mir mich freiwillig den qualvollen Schmerzen auszusetzen. Außerdem hasste ich Arztbesuche schon seit meiner Kindheit.
Ich betrachtete die Papierrolle, die auf der Liege ausgebreitet war und als ich mich auf sie draufsetzte, achtete ich darauf, mich so wenig wie möglich zu bewegen, um sie nicht zu zerfetzen. Mühsam zog ich mir einen Schuh nach dem anderen aus. Zum Einen, weil ich mit den Füßen nicht auf den Boden kam und meine Beine in der Luft baumelten, zum Anderen weil die Stiefel schwer waren. Vielleicht kam es mir aber auch nur so vor.
„Ist alles ok?“, hörte ich Phil hinter mir fragen.
„Ja, alles in Ordnung.“, antwortete ich und versuchte dabei so überzeugend wie möglich zu klingen.
„Soll ich dir helfen?“, hackte er nach.
„Ich schaffe das alleine.“, beteuerte ich, rollte flink die Socken von den Füßen und ließ sie zu Boden fallen.
Ich lehnte mich seitlich nach hinten, bis mein Rücken auf der Liege lag, erst dann legte ich ein Bein nach dem anderen auf die Markierungen. Zuletzt legte ich die Arme auf die eingezeichneten Stellen.
Der junge Wissenschaftler kontrollierte, ob ich alles richtig gemacht hatte und nickte leicht in Zufriedenheit, danach widmete er sich einem Tablet.
„Soo, wenn alles soweit in Ordnung ist, können wir anfangen.“, sagte er, ohne vom Bildschirm aufzuschauen.
Ich blickte zu ihm hoch und beobachtete ihn durch das durchsichtige Tablet. Er hatte die Stirn gerunzelt und seine Augen scannten etwas von links nach rechts. Mein Blick ging von ihm, auf das, was er las. Es waren außergewöhnliche Zeichenkombinationen, die auf den ersten Blick völlig zusammenhangslos waren. Doch nach einer Weile erkannte ich eine Art Struktur darin. Phil dagegen schien das geschrieben zu lesen wie einen ganz gewöhnlichen Text.
„Ist etwas passier?“, fragte ich nach, nachdem die Falten auf seiner Stirn nach einer Weile immer noch nicht gewichen waren.
„Hier.“
Phil drehte das Tablet um, damit ich den Text richtig erkennen konnte. Im Hintergrund waren Diagramme und Grafiken zu erkennen, die sich scheinbar auf die bevorstehende Operation bezogen, doch in der Mitte des Bildschirms war ein Fenster geöffnet. Selbst als ich die Zeichen richtig herum sah, ergaben sie für mich keinen Sinn.
|<0|\|7a|<7 a|_|5935(|-||_0553|\|. 9|\|5 a|\/| |-|a|_2. ||-|.- 53||) a|_||= 3|_|(|-| a|_|_3||\| 93573|_|_7.
„Kannst du es lesen?“, fragte Phil, als ich meine Stirn wiederum in Falten legte.
„Nein.“, antwortete ich wahrheitsgetreu. „Ich kann nicht einmal identifizieren, was es ist.“
„Cainwis? Übersetze es bitte in eine einfachere Form, mach aber keinen Schrifttext draus.“, befahl der Techniker seinem Gehilfen.
„Jawohl, Sir.“, sagte diese, bevor sich die Zeichen umschlugen, als hätte jemand einen Kalender umgeblättert. Plötzlich erkannte ich einen beinah lesbaren Text in dem Geschriebenen.
k0N74K7 4u5g35chL0553n. GN5 m h4l2. 1hR 531D 4uF 3uCh 4Ll31n G3573ll7.
„Kontakt … ausgeschlossen. GN5 am Hals. Ihr seid… auf euch …allein gestellt?“, entnahm ich der Kodierung.
Phil bestätigte mein Befürchten: „Das ist von Jean. Wir kommunizieren immer so, wenn es keine anderen Augen sehen dürfen.“
Mein Körper spannte sich bei seinen Worten ein wenig an. Irgendwas sagte mir, dass etwas nicht stimmte, doch bevor ich etwas sagen konnte, unterbrach der Ingenieur meine Gedanken.
„Vermutlich ist da aber nichts Ernstes hinter. Er ist halt immer äußerst vorsichtig.“, überspielte er die Situation, um mich zu beruhigen und lächelte mich an.
„Danke!“, schoss es aus mir raus, bevor ich es als Gedanken überhaupt identifizieren konnte. „Für alles! … Ich weiß gar nicht, wie ich dir das alles zurückgeben kann.“ Es war die Wahrheit. Immerhin brachte er sich selbst in Gefahr, damit dass er mir half, dass er mich bei meiner Mission unterstützte, sogar dass er mich in seinem Labor aufnahm, obwohl er mit der GN5 zusammen arbeitete.
Sein zuvor leicht gespieltes Lächeln wuchs zu einem herzlichen, freundlichen Grinsen. Schnell wandte er sich ab und drehte sich dem Tisch hinter sich zu.
„Das war das erste Mal seit zwei Tagen, dass du dich bedankt hast. Ich dachte schon ich muss mich ewig selbst loben, bis dir endlich mal auffällt, was für einen Goldschatz du gefunden hast.“, fügte er schnell sarkastisch hinterher. Ich musste Grinsen – der alte Phil war wieder da. Nur bei der Arbeit legte er seinen Sarkasmus überwiegend ab und war er selbst.
„Technisch gesehen hat Jean dich gefunden. Er hatte dich mir vorgestellt.“, erwiderte ich lächelnd.
„Gefunden??“
Phil drehte sich zu mir um. Seine Augen waren weit aufgerissen und er schaute mich eine Weile an, bevor er kurz die Stirn runzelte und dann eine Augenbraue hob.
„Du denkst wirklich, er hat mich gefunden?“
Ich sah ihn fragend an und wollte gerade zu einer Erklärung ansetzen, aber er kam mir zuvor.
„Ihr arbeitet seit Jahren Seite an Seite und du weißt echt nichts über ihn?? Ich dachte, ihr steht euch nah und dass er dich deswegen zu mir gebracht hat.“
Langsam verlor ich den Faden und verstand kein bisschen worauf er hinauswollte.
„Ich verstehe leider nicht, was du meinst.“, versuchte ich die beinah angespannte Situation zu lösen. Es überraschte mich, welchen Lauf das Gespräch nahm und das ihn das Thema so beschäftigte.
Phil ließ sich in einen Drehstuhl fallen, so dass dieser ein wenig näher zu mir rollte. Er rutschte noch weiter zu mir herüber und blickte mir direkt in die Augen.
„Jean ist mein Cousin.“, sagte er im vollen Ernst. Mein Kinn klappte nach unten und meine Augen weiteten sich. Das Geständnis kam wie aus dem nichts und schien so unwahrscheinlich. „Er ist die einzige Familie die ich habe, aber das tut gerade nichts zur Sache. Du weißt echt nichts über seine Familie?? Hattest nicht einmal nachgefragt: ‚Hey du, Jean, wir arbeiten schon seit fast einem Jahrzehnt zusammen, hast du eigentlich Verwandte? Was geht in deinem Leben so vor? Erzähl mal ein wenig von dir.‘“, Phil imitierte eine übertrieben hohe weibliche Stimme, sodass ich fast lachen musste. Dennoch hatte er mitten ins Schwarze getroffen. Ich habe stets immer angenommen, dass Jean eine Familie hat – irgendeine Familie, doch ich hatte nie nachgefragt. Ich wusste im Grunde gar nichts über ihn, dafür schämte ich mich.
Aus Phils Reaktion schloss ich, dass Jean ihm von mir erzählt hatte und wie ich ihn so ansah, fielen mir die schwarzen Locken auf und sein muskulöser Körperbau. Sie hatten Ähnlichkeiten. Wäre ich nicht so vertieft in meinen eigenen Fall gewesen, wäre es mir sicher aufgefallen. Zumal auch Phil, genau wie Jean, Machozüge hatte.
„Was ist mit eurer Familie?“, fragte ich. Es war das erste Mal seit Ewigkeiten, dass ich jemandem eine persönliche Frage stellte, die nichts mit der Arbeit zu tun hatte.
„Nun.“, Phil sah von mir auf und fixierte einen Punkt auf dem Boden, während er nachdachte. „Unsere Mütter waren Zwillinge.“ Er lächelte, als er scheinbar an sie dachte.
„Waren?“
„Ja“, erwiderte er. „Sie kamen ums Leben, wobei es bis heute nicht geklärt wurde wie und wieso. Jean ging dafür extra in die GN5, aber… vergeblich.“ Er blickte in seinen Schoss und stand dann auf, um seine Arbeit am Tisch fortzusetzen.
„Meinen Vater kannte ich gar nicht. Jean kennt zwar seinen Vater, aber er ist nicht sonderlich angetan von ihm. Wobei das auf Gegenseitigkeit beruht. Auch zu der restlichen Verwandtschaft seines Vaters hat er keinen Draht. Wir wuchsen also im selben Kinderheim auf.“, mein neugewonnener Freund schielte kurz zu mir und widmete sich dann wieder dem Tisch zu.
„Das war’s. Happy End.“, beendete er seine Ausführung, bevor er sich mir zuwandte.
„Also, genug geschwafelt, dann wollen wir mal. Cainwis?“ Er schien wieder zur Decke zu sprechen.
„Ja, Master Phil?“, meldete sich dieser.
„Schnall sie fest.“, befahl der Techniker. „Wir wollen doch nicht, dass sie sich aus dem Staub macht und das Beste verpasst.“, sagte er mehr an mich gewandt, als an Cainwis.
„Jawohl, Sir. Auf keinen Fall, Sir.“, reagierte die Maschine auf beide Aussagen.
Daraufhin legten sich Metallschnallen um meine Hand- und Fußgelenke, meine Hüfte und sogar meinen Kopf. Ich sah etwas beunruhig zu Phil, doch dieser bemerkte mich nicht, da er wieder in seinem Tablet vertieft war.
„Gib mir alle Daten, die du über sie erfassen kannst, live auf mein Tablet. Danke.“, sprach er wieder mit dem Butler. Das Tablet hielt er dabei in der Armbeuge und sah sich meine Füße genauer an.
„Ich denke wir werden keine Probleme haben.“, sagte er und blickte kurz zu mir hoch, bevor er zu dem kleinen Tisch am Kopfende der Liege ging und diesen zu sich auf die andere Seite zog.
Er setzte sich vermutlich auf einen Hocker. Ich konnte gerade noch seinen Kopf zwischen meinen Füßen erkennen.
Nach einer Weile, die mir wie eine Ewigkeit vorkam, nahm er endlich ein Wattepad und besprühte es mit einer Flüssigkeit, die er dann über meinen Fuß wischte.
„Ok, ich will dich nicht beunruhigen.“, sagte er, nachdem er meinen rechte Fuß desinfiziert hatte und dabei war, eine Spritze auszupacken.
Mit seinen Worten beunruhigte hatte er mich bereits beunruhigt.
„Aber ich werde erst einen Fuß machen und wenn du dann bewusstlos bist, kommt der zweite dran.“
Ich kippte den Kopf, da die Metallschnalle meine Bewegungen einschränkte und funkelte ihn an. Er wollte mich also nicht beunruhigen, war aber bereits fest davon überzeugt, dass ich vor Schmerz in Ohnmacht falle. Ein Kribbeln zog durch den rechten Fuß. Es war, als ob er protestierte, da er wusste, was auf ihn zu kam.
„Es ist so besser für dich, vertrau mir!“, redete Phil auf mich ein. Ich nickte.
Was mir bevor stand war wichtig für die Mission. Es musste sein. Also nahm ich all meine Kraft zusammen und stellte mich auf das ein, was kommen sollte.
„Ich beeile mich. Ich verspreche es.“, hörte ich Phils stimme das letzte Mal, bevor er mit dem Eingriff begann.
Bald darauf spürte ich das erste leichte Stechen am Fußballen und dann ein weiteres an der Hacke. Etwas bewegte sich sanft in meinem Fuß, als wäre es flüssig. Dann breitete sich ein leichtes Brennen in der gesamten Fußsohle aus. Dieses wurde immer stärker, bis plötzlich ein Krampf einsetzte. Ein stechender Schmerz ließ meine Zehe stark zusammen rollen, nur um danach wieder auseinander gespreizt zu werden. Ich atmete sehr laut, stieß ein lautes Brüllen zwischen den Zähnen aus. Der Krampf quetschte meinen Fuß förmlich zusammen. Es fühlte sich an, als würden alle meine Knochen in meinem Fuß brechen. Ich schrie. Ich dachte etwas wie ein Schuldgefühl in Phils Blick zu bemerken, doch Tränen benetzten daraufhin meine Augen und verdeckten meine Sicht. Der Schmerz war unerträglich. Meine Gliedmaßen verrenkten sich beinah unmenschlich. Das Brennen zog mein Bein hinauf. Es drohte meinen Körper zu verschlingen. Mein Schrei war so schrill, dass es in meinen eigenen Ohren wehtat.
Das letzte was ich fühlte war, das Gefühl, als ob jeder Knochen einzeln gebrochen und auseinander gerissen wurde. Es stieg langsam das Bein hinauf. Dann umhüllte mich die Dunkelheit. Es war vorbei.
„Ich bin am Platz. Sobald ich weiß, dass der Gang frei ist, gehe ich rein.“
Ich musste die Worte nicht einmal aussprechen. Sie erschienen in meinen Gedanken, als wären sie nur für mich bestimmt. Meine Silhouette verbarg sich hinter drei großen, zusammengeklappten Schirmen, die nah an der Mauer in einer Seitenstraße standen. Sie gehörten zu dem Café, welches sich direkt um die Ecke befand. Die Nebenstraße war leer und die Wände, die sie umschlossen enthielten weder Fenster noch Türen. Sie war nicht mehr als ein Betongang, aus dem es kein Entfliehen gab. Die Straße auf die das Kaffeehaus hinausragte war im Kontrast dazu reichlich gefüllt mit Gaststätten, Restaurants und Läden. Nur vereinzeln ragten graue Mauern aus der belebten Fassade empor, die nur eine einsame, verlassene Tür und manchmal ein paar leere Fenster hatten. Das Gebäude gegenüber dem Café hatte ich bereits unzählige Male von allen Seiten betrachtet. Ich sah es auf ein vielfaches verkleinert. Ich blickte durch dessen Mauern hindurch in das Innere. Es wurde vor meinen Augen gewendet, gedreht und aufgeschnitten. Nun, da ich ihm gegenüber stand, schien es mir so unreal und gleichzeitig strahlte es eine eisige Wirklichkeit aus.
Eine Gänsehaut durchzog meinen Körper und mit einem Mal spürte ich den Anzug in den ich gehüllt war. Er saß eng an meinem Körper und wirkte sehr dünn, daher war es umso unglaublicher, wie viele Möglichkeiten er bot. Phil hatte mir die Funktionen erklärt, doch zum Testen war keine Zeit. Er bestand lediglich darauf, dass ich mich mit der gravilaris auseinander setzte.
Beim ersten Sprung flog ich so weit hoch an die Decke, dass ich mit meinem Kopf eins der Lampen im Labor zerbrach. Mein Haupt dröhnte. Hinter der Stirn und an den Schläfen bewegte sich etwas, was ein unangenehmes Kribbeln verursachte. Mein Sichtfeld war von bunten Punkten durchzogen. Es war Cainwis, der als erster nach meinem Wohlbefinden fragte, während Phil breitbeinig in seinem Sessel nach hinten lehnte und beinah hysterisch lachte. Als der Butler Worte des Mitgefühls aussprach, hob der IT-Experte nur die Hand und zeigte mit dem Finger zustimmend in die Luft, da er immer noch nicht sprechen konnte.
Ernsthafte Verletzungen hatte ich mir nicht zugezogen. Lediglich das NeuroTablet musste neugestartet werden. Beim zweiten Test konnte ich es besser einschätzen, wie stark ich mich abzustoßen hatte, um eine gewisse Distanz zu überbrücken. Mit einem Satz hoben sich meine Füße vom Boden ab und eine Schwerelosigkeit umhüllte mich. Sie trug mich wie auf Wolken über den gesamten Raum. Ich flog an die Decke und schwebte über alle Gadgets und einen applaudierenden Phil hinweg.
Eine männliche Stimme riss mich aus meinen Erinnerungen. Obwohl ich sie sehr klar vernahm, wusste ich, dass nur ich sie hörte. „Ein ‚Viel Glück‘ wird zwar keine magische Wirkung auf dich haben – ich kann mir gar nicht vorstellen, was gerade in dir vor geht, aber komm da heil wieder raus!“
Seine Aussage stimmte, nichts und niemand konnte mich beruhigen oder aufmuntern. Ich war auf mich allein gestellt und alles was später passieren sollte, ging auf meine Verantwortung. Allerdings lenkte Phils kleine Rede ein wenig von meiner Verzweiflung ab. Es tat gut, in dem Moment zu wissen, dass es jemanden gab, der sich um mich sorgte. Das Gefühl kannte ich schon lange nicht mehr. Dennoch war ich mir bewusst, dass wenn ich erst mal einen Fuß in die Bank gesetzt hatte, es kein Zurück mehr gab.
Kognitiv schaltete ich das NeuroTablet ein. Sofort erschienen Beschriftungen in meinem Sichtfeld, die mit feinen dünnen Linien versehrt waren. Jede Linie führte zu dem jeweiligen Objekt oder einer Räumlichkeit. Dann verschwanden sie wieder und es blieb nur eine einzige Bezeichnung. Die Linie führte genau zu dem Bauwerk mir gegenüber. Am anderen Ende der Linie stand:
Forteonische Bank Filiale Nr. 1
„Lade Transparent-Modus.“, wies ich das NeuroTablet an. Augenblicklich änderte sich das Bild vor meinen Augen. Der steinharte Beton des Gebäudes transformierte sich zu einer milchigen, durchsichtigen Oberfläche. Der gesamte Bau erinnerte an eine Kristallvitrine. Wie bei dem Hologramm sah ich jede Etage, jeden Gang und jede Tür. Doch im Gegensatz zum digitalen dreidimensionalen Modell der Anlage fiel mir ein weiteres Detail auf. Das NeuroTablet zeigte mir Silhouetten. Verglichen mit den milchigen Wänden, waren sie strahlend weiß und dynamisch. Einige von ihnen liefen in den Räumen umher und jede einzelne ging etwas eigenem nach. Ich konnte jeden einzelnen Mitarbeiter im ganzen Gebäude sehen.
Ich wartete scheinbar geduldig ab, bis alle auf ihren Plätzen zu sein schienen und sich keiner mehr im Gang aufhielt, oder bis ich zumindest das Gefühl hatte, dass keiner mehr in den Flur treten könnte. In Wahrheit hielt ich mich selbst davon ab, meine Mission zu beginnen. Es war der härteste Test, der mir je bevor stand. Ein einziger Versuch und sollte ich scheitern, wäre ich nicht einfach disqualifiziert – ich wäre erledigt. Seit Jahren hatte ich die Spannung wie bei einer Prüfung nicht mehr gekannt. Ich hatte vergessen, wie sich der Bauch verkrampfte und der Magen umdrehte. Die Übelkeit, das Gefühl, als ob der Körper Tonnen wiegte, das enger Schnüren der Brust, waren alles Teil einer verblassten Erinnerung und nun lebte diese Erinnerung in voller Intensität auf. Meine Hände zitterten und der Kloß im Hals ließ mich dankbar sein, dass ich nicht nur bei der Mission nicht sprechen brauchte, sondern nicht einmal sprechen durfte.
„Mack, lebst du noch?“
Phils Stimme setzte mich unangenehm unter Druck.
„Ja, verdammt.“, stieß ich in meiner Vorstellung zwischen den Zähnen hervor. „Ich bin noch nicht so weit!“
Es folgte ein kurzes Schweigen und ich stellte mir vor, wie Phil an seinem Schreibtisch saß und an der Tastatur arbeitete, während sich die verschiedensten Zeichen, Ordner, Grafiken und Skizzen vom Bildschirm auf seiner Brille spiegelten. Hin und wieder, wenn er zu tief in seiner Arbeit versank, brachte ihn Cainwis zurück in die Realität.
„Du wirst nie so weit sein. Das ist, wie einen Pflaster abzureißen, da musst du einfach durch!“, hallte die fremde und gleichzeitig bekannte Stimme in meinem Kopf.
Wieder einmal hatte er Recht. Ich hatte zwei Stunden Zeit und wenn ich erst mal im Gebäude wäre, müsste alles in glatter Abfolge passieren, wie bei einer Choreografie. Je schneller ich damit begann, desto schneller käme ich dort wieder raus, umso schneller wäre mein Fall gelöst.
Ein letztes Mal scannte ich die erste Etage. Die menschlichen Umrisse verhielten sich nun ruhiger als zu vor und die meisten von ihnen waren, so nahm ich an, auf ihren Plätzen. Im Flur hielt sich kein Objekt auf. Meine Zeit war gekommen.
Schnell griff ich in meine Manteltasche und holte ein schwarzes, eiförmiges Objekt raus. Es sah auf den ersten Blick fest aus, doch wenn man es zusammendrückte, gab es nach und spritzte eine Flüssigkeit aus. Die Löcher, durch die die feuchte Substanz den Gegenstand verließ, waren unsichtbar. Durch meinen Handschuh konnte ich nicht spüren, wie es sich anfühlte.
Den Mantel legte ich mit einer schnellen, fließenden Bewegung ab und deponierte ihn hinter den Schirmen. Hastig sprühte ich mich von allen Seiten ein und gab mir Mühe, die Mixtur so gleichmäßig wie möglich zu verteilen. Ich beendete die Prozedur und verstaute das Ei zurück in der Tasche – dann lief ich los.
Da mein Anzug schwarz war, ging ich auf den ersten Blick als Bote durch. Das machte es für mich leichter unbemerkt in die Bank zu kommen.
Mein Tempo war beschleunigt, jedoch hastete ich nicht. Mit jedem Schritt, den ich näher an mein Ziel kam, erschien es mächtiger und angsteinflößender. Eine Hitzewelle überrannte mich und ich spürte Schweißperlen auf meiner Haut. Vor allem der Rücken, der den Rucksack mit dem Equipment trug, schien zu brennen. Mein Herz pochte mit einer solchen Intensität, dass ich das Gefühl hatte am ganzen Körper zu vibrieren. Die Beschriftung des Gebäudes wich für keine Sekunde aus meinem Sichtfeld, es erschienen lediglich einige weitere Beschriftungen, doch mein Fokus lag auf dem Eingang.
Die Straße hatte ich schneller überquert, als ich es erwartet hätte. Ich brauchte das NeuroTablet nicht, um das gesamte Erdgeschoss zu überblicken. Es war vollständig verglast. Im Gegensatz dazu glich der Rest des Gebäudes einem einzigen Betonblock, da es sonst keine Fenster gab. Je näher ich der leeren Eingangshalle kam, desto ruhiger wurde ich. Meine Nervosität und Angst wich, stattdessen war ich hochkonzentriert und fokussierte mich auf meinen Auftrag.
Meine linke Hand hob sich zum großen Türgriff. Ich drückte die Glaspforte auf und trat in die Halle. Jede Bewegung die ich tat hatte etwas Einstudiertes. Der gesamte Ablauf war mir bekannt und ich war bereit mich allem Unbekannten zu stellen, was auf mich zukam. Sicheren Schrittes lief ich auf die Treppe zu, die in der Mitte des Raumes war, wie es das Hologramm schon prophezeit hatte. Bevor ich sie erreichte, schaute ich noch ein letztes Mal hoch. Ich spähte durch die Decke, ob der Korridor frei war, als sich eine Gestalt in mein Blickfeld drängte. Sie war mir bereits aufgefallen, als sie sich Richtung Tür begab. Ihr Blick war auf etwas in ihren Händen gerichtet, was ich jedoch nur als ein milchiges, durchsichtiges Rechteck wahrnahm. Es sah so aus, als ob sie durch das Objekt mich ansah, doch dies was nicht möglich. Auch wenn die Person und mich eine Betonschicht trennte, spannte sich mein Körper an. Automatisch verlangsamte ich meinen Gang, als ich sah, dass das Geschöpf in den Flur trat, jedoch beschleunigte ich mich sofort, als diese sich in die entgegengesetzte Richtung aufmachte. Die Spannung wich jedoch nicht. Ich bemühte mich, die Füße sanft über den Boden rollen zu lassen, damit mich keiner hörte. Das Treppenhaus war dunkel und wirkte noch furchteinflößender auf mich. Stufe für Stufe erklomm ich den ersten Treppenabsatz. Ich hielt mich nah an der äußeren Mauer, sodass ich frühzeitig sehen konnte, was um die Ecke geschah. Als ich dem zweiten Stufenabsatz näher kam, wechselte ich die Seite und drückte mich näher an die innere Wand. Der Beton war äußerst kalt. Ich fröstelte. Mein Körper spielte förmlich verrückt, doch ich konnte es mir nicht leisten auf ihn zu achten. Ich blickte vorsichtig um die Ecke, ob wohl ich mit Hilfe des NeuroTablets bereits wusste, dass sich dort niemand aufhielt. Trotzdem hatte ich paranoide Angst, dass mir das Tablet oder meine Sinne selber einen Streich spielen könnten. Die Treppe war frei, dennoch wagte ich mich nur zögerlich die Stufen hinaufzusteigen und in den Gang zu treten. Mein Magen fühlte sich schwer an und mein Bauch verkrampfte, sodass ich leicht gebückt ging. Ich sah über die Kante der obersten Stufe, der Gang war leer, aber ich konnte vage Stimmen vernehmen. Sie kamen aus den Räumen links und rechts vom Gang. Ich atmete tief ein und aus, dann riss ich mich förmlich aus meiner Komfortzone, lief den letzten Treppenabsatz hoch und den Gang entlang. Auch wenn die Röhrenlampen entlang dem Korridor grelles Licht warfen, wirkte alles düster und strahlte etwas Unbehagliches aus. Vielleicht war es aber auch nur Teil meiner Wahrnehmung gekoppelt mit meiner derzeitigen Lage. Mein Blick war streng geradeaus gerichtet. Je schneller ich lief, desto schneller konnte ich zur nächsten Treppe gelangen. Der Gang vor mir knickte nach rechts ab, ich wusste, dass das Schneckenmuster folgen würde. Meine Füße hoben sich automatisch und die letzten Schritte bis zur Ecke überbrückte ich auf Zehnspitzen. Als ich mich dabei erwischte, zwang ich mich wieder zurück auf die Hacken, um besseren Halt und Balance zu haben. Den Rücken an die Wand gedrückt, stand ich unmittelbar vor dem Knick und atmete nochmal tief durch. Das Gehege des Löwen, in das ich mich begeben habe war nun verschlossen und ich hatte keine andere Wahl, als der Gefahr auszuweichen. ‚Etwas theatralisch, Imogen.‘, tauchte der Gedanke in meinem Kopf auf. Phil hatte noch vor dem Betreten des Gebäudes, auf meinen Befehl hin, sein Mikro ausgestellt und auch Cainwis hielt sich aus meinen Gedanken raus. Ich konnte mich unter keinen Umständen ablenken lassen. Sowohl vor mir, als auch hinter mir war ein leerer Gang, ein offenes Feld, auf das jeden Moment jemand treten könnte. Ich sollte mich besser beeilen. Ein letztes Mal sollte ich noch tief ein- und ausatmen, um den Puls zu senken, dann trat ich in den Knick und setzte meine Mission fort. Mir lief die Zeit davon, alles war bereits vorgeplant. Ich hatte nur zwei Stunden Zeit für die gesamte Mission. Meine Füße rollten lautlos über den Boden. Wie eine Katze schlich ich mich von Ecke zu Ecke. Ich kam mir dabei vor, wie ein Kleinkind, was dabei war etwas auszufressen. Das Glück schien auf meiner Seite zu sein, denn niemand kam mir entgegen, oder trat aus den Büroräumen. Es gab mir ein sicheres Gefühl. Vielleicht sollte dieser Auftrag vollkommen glatt verlaufen, vielleicht war es Schicksal, dass ich das den Stick bekomme und der Jagd ein Ende setzen sollte. Ich lief bereits den letzten Gangabschnitt vor der Treppe entlang. Bald konnte ich die erste Etage hinter mir lassen.
Plötzlich hörte ich das Quietschen einer Türklinge, gefolgt von dem Knarren der Tür selbst. Um meine Kehle schloss sich die metallische Hand von Angst und Panik. Ich verharrte in meinem Schritt und meine Augen flogen ruckartig zu der Stelle, von der aus das Geräusch vernommen wurde. Es war die letzte Tür im Gang, auf der linken Seite. Ich stand zu weit von der Ecke entfernt, um zurückzukehren. Der erst beste Gedanke ließ mich einen Satz zu einer naheliegenden Tür machen. Mein Körper drückte sich an den Eingang ohne diesen zu berühren. Automatisch zog ich den Bauch ein und hoffte, dass man mich vom anderen Ende des Flurs im Türrahmen nicht sehen konnte. Mein Herz schlug so laut und fest, dass ich Angst hatte, dass man es hören konnte. Auch meine Körpertemperatur spielte verrückt. Ich kochte förmlich in dem Anzug und der Schweiß ließ mich darin schwimmen, wie ein Lachs im Butter. Zögernd lehnte ich meinen Kopf etwas nach hinten und spähte aus dem Türrahmen zur geöffneten Tür. Eine Frau in weißer Bluse und schwarzem Rock trat aus dem Büroraum heraus. Ich erkannte gerade noch, dass sie ihre Haare zu einem strengen Dutt hochgesteckt hatte, bevor sie sich der Richtung zuwandte, aus der ich gekommen war. Ich zog meinen Kopf zurück und schloss die Augen. Würde sie den Gang weit genug laufen, würde sie mich entdecken. Meine Mission wäre früher aus, als ich dachte und ich würde den Rest meines Lebens in einer Unterwasserzelle des forteonischen Hauptgefängnisses verbringen – ich wüsste nicht einmal wofür.
Doch das hatte ich nicht vor! Für einen Moment kämpfte sich der Gedanke in meinen Kopf, wie ich die Frau niederstrecken könnte, ohne viel Aufsehen zu erregen. Meine Freiheit war mir jedes Risiko wert! Bevor ich auch nur etwas unternehmen konnte, hörte ich, wie eine weitere Tür geöffnet wurde. Diesmal schaltete ich wieder den Transparent-Modus ein und scannte das letzte Stück der Schnecke. Die Frau war verschwunden, der Gang war leer. Mein Körper entspannte sich scheinbar ins Unermessliche. Lediglich das Klopfen des Herzens nahm nur stetig ab, bis sich mein Puls normalisiert. Ich löste mich aus meiner Starre und überbrückte das letzte Stück bevor ich die Treppe erklomm. Das Treppenhaus war dunkel. Es wurde lediglich von den Lichtresten der Gänge beleuchtet. In ihm fühlte ich mich sicherer, da ich nicht sofort gesehen werden konnte. Wieder blickte ich über die letzte Stufe in den Flur der zweiten Etage. Er war leer. Ich wollte keine Zeit verlieren und lief los. Diesmal knickte die Schnecke nach links ab und ich folgte ihr schnellen und leisen Schrittes. Wieder hörte ich Stimmen aus den Büroräumen, doch ich verließ mich auf meine Sinne und die Technik, mit der mich Phil ausgestattet hatte, dass ich die Gefahr schnell genug erkennen würde. Nur ein einziger Gedanke beruhigte mich vollends: Bald wäre ich in den Karteiräumen! Dort wäre nur selten jemand vorzufinden und ich könnte, wie in einer Bibliothek, hinter den Regalen und Schränken Schutz und Deckung finden.
Ich lief immer schneller. Das Gefühl, bald in Sicherheit zu sein, trug mich immer weiter voran. Zweimal hatte die Schnecke einen Knick gemacht, es folgten noch zwei weitere. Lautlos schritt ich auf die Abbiegung zu. Es waren keine Geräusche aus dem Gang zu vernehmen. Mein Selbstvertrauen stieg immer weiter. Ich wollte keine Zeit vergeuden und schlich mich nicht an die Ecke ran, um vorab nachzusehen, ob jemand dahinter steht. Meine Füße waren wie Katzenpfoten und ich war eine sichere Raubkatze, die sorgenlos um die Ecke kam, nur um einen Augenblick später vor Schreck zurück zu springen. Sofort trat ich den Rückzug an und drückte meinen Rücken gegen die Wand. Wieder bebte mein Herz stärker. Hinter der Windung stand ein Bankmitarbeiter. Sein Blick und seine Aufmerksamkeit galten voll und ganz dem Klemmbrett in seiner Hand. Er wirkte, als versuchte er etwas zu identifizieren, denn seine Stirn lag fragend in Falten. Ich betete, dass er mich nicht gesehen hatte. Doch als er keine Anstalt machte Alarm zu schlagen, ging ich davon aus, dass er zu abgelenkt gewesen war. Auch er trug die übliche Bankuniform: Schwarze Hose, weißes Hemd. Vielleicht hatte er mich nur aus dem Blickwinkel wahr genommen und dachte ich sei ein Geldbote. Wie dem auch war, hatte ich ausnahmsweise Glück und wurde daran erinnert aufmerksamer zu sein. Vorsichtig linste ich, um sicher zu gehen, dass der Mann sich nicht in meine Richtung aufmachen würde. Er wirkte jedoch wie angewurzelt und hatte seine Haltung kein bisschen verändert. Dies könnte zum Verhängnis werden, sollte er sich entscheiden dort weiter zu verharren.
Hinter mir schnarrte es. Meine Augen weiteten sich vor Panik und ich drehte mich hektisch um. Nur zwei Meter von mir entfernt wurde eine Tür zu einem Spalt aufgemacht. Mein Brustkorb pochte mit einer solchen Intensität, dass es sich anfühlte, als würde sich mein ganzer Körper schütteln. Die Stimmen wurden lauter und brachen in einem Chor des Gelächters aus. Doch zu meiner Verwunderung verharrte die Tür in einer Halböffnung. Eilig überprüfte ich den Gang in dem ich den Mitarbeiter entdeckt hatte. Ich hoffte darauf, dass er ihn verlassen hatte, fand ihn jedoch nach wie vor dort stehend. Verdammter Mist! Mir blieb nichts anderes, als an ihm vorbei zu gehen, denn sollte die drei Grazien sich endlich dazu bewegen in den Flur zu treten, blieb mir nur die Konfrontation eines Scharr schnatternder Hühner, oder ein in sein Klemmbrett vertiefter Roboter, der sich nicht einmal von einem Wirbelsturm ablenken lassen würde. Sollte das Glück mir noch einmal zuspielen, würde er mich gar nicht mal wahrnehmen und im schlimmsten Fall für eine Mitarbeiterin halten und grüßen.
Das Qietschen ertönte wieder, die Tür wurde geöffnet und die Dreiergruppe von lachenden Frauen machte sich auf in den Korridor. Ich kehrte ihnen den Rücken zu und machte gerade einen Satz hinter den Knick, da bewegte sich der Roboter zum ersten Mal. Zögerlich drehte er sich ein Stück nach links. Sein rechter Zeigefinger lag auf seinem Mund, den er wie zu einem Kuss gespitzt hat. Schließlich wandte er sich vollständig von mir ab und lief in dieselbe Richtung wie ich. Beruhigt atmete ich aus.
„Wir sehen uns später!“, vernahm eine unangenehme, weibliche Stimme hinter mir.
Sofort nahm ich ein zügigeres Tempo ein, versuchte jedoch weiterhin hinter dem Roboter zu bleiben. Als ich den nächsten Türrahmen zu meiner Linken erreichte, fügte ich mich wie ein Puzzelteil in den Rahmen ein und hoffte darauf, dass die Frau nicht an mir vorbei kam.
Mein Herz machte einen Satz, als sich plötzlich eine übergewichtige Dame in mein Blickfeld drängte. Ihr Rücken versperrte beinah vollständig die Sicht auf die Tür, die mir direkt gegenüber lag. Ich flehte innerlich, dass sie sich nicht umdrehen mochte, aber auch sie schien mich nicht bemerkt zu haben. Stattdessen versuchte sie in der Tasche ihres Rockes zu kramen, was sich als schwierig erwies. Der enge schwarze Rock schien ihre Oberschenke und Hüfte zusammen zu quetschen, so dass ihr Oberkörper wie ein Muffin oben herausquoll. Schon als Kind hatte ich eine Abneigung gegenüber übergewichtigen Menschen gehegt. Sie waren langsam, ihre dicken Wurstfinger waren tollpatschig, ständig schwitzten sie ohne Grund und atmeten laut, als wären sie einen Marathon gelaufen. Keiner von ihnen schaffte die Akademie und alle gaben bei der kleinsten Belastung auf.
Endlich fand sie, was sie suchte. Ein silberner Schlüssel wurde aus der Tasche gezogen und mir fiel erst jetzt auf, dass ich in der Bank ein ähnlich altmodischer Bau wie in Phils Labor wiederfand. Es interessierte mich brennend, wie es zu diesem außergewöhnlichen Zufall kam. Ein schabendes Geräusch war zu hören, als sie ihren Fund ins Schloss schob. Mit einem Klick öffnete sie die Tür und watschelte langsam wie ein Pinguin rein. Bevor sie sich umdrehen konnte, um die Tür zu schließen, löste ich mich aus meiner Starrheit und verschwand bereits hinter die Ecke, um das letzte Stück Flur zu überbrücken. Für alle Fälle schaltete ich den Transparent-Modus ein, um sicher zu gehen, dass es keine bösen Überraschungen mehr gab. Der Gang war sicher, genau wie das Treppenhaus.
Diesmal ging ich die Treppe nicht rauf, ich erklomm die Stufen auf allen vieren, bis ich den Gang der dritten Etage überblicken konnte. Am Ende des Flurs, direkt vor dem Knick, konnte ich eine in schwarz gekleidete Gestalt erkennen. Sie hatte einen Helm auf und war vermutlich bis auf die Zähne bewaffnet. Zumindest hielt er ein beeindruckendes Maschinengewehr in den Händen. So wie seine Hände es umklammert hielten, wie eine Schaufel, wurde er nicht bei uns ausgebildet. Aber man sollte den Feind bekanntlich nie unterschätzen.
Ich rückte an die Wand links von mir und rief gedanklich den Laser im retun-Modus auf. Auf dem Handschuh meines rechten Zeigefingers leuchtete ein roter Punkt auf. Unmittelbar unter ihm leuchtete ein weiterer blauer Punkt auf, jedoch weitaus schwächer als der Rote. Es war genau wie auf dem Bild, was mir Cainwis gezeigt hatte, als Phil nicht da war. Mit dem Transparent-Modus sah ich durch die Wand um zu schauen, wo die dritte Etage endgültig anfing. Ich musste klare Vorstellungen haben, wo ich anfangen musste zu schneiden, um den Boden nicht zu berühren.
Wieder verwandelte sich der harte Beton vor meinen Augen in eine milchig durchsichtige Oberfläche. Mit einem Mal konnte ich den ganzen Raum überblicken und sogar die Außenwand wurde transparent. Es war, als säße ich in einem Glashaus. Die Regale waren tatsächlich wie in einer Bibliothek angeordnet und bildeten etliche Reihen, die über einen großen Gang in der Mitte zugängig waren. Eine weiße Silhouette stand etwas weiter im Raum. Der Tür hatte sie den Rücken gekehrt und sie studierte in einer unmenschlichen Starre eine Akte – der Roboter. Nach unserer letzten Begegnung kam er wohl in den Karteiraum. Dass er bei seinem langsamen Tempo es in so kurzer Zeit von der zweiten in die dritte Etage geschafft hatte, war beeindruckend.
Um keine Zeit zu verlieren, sah ich das letzte Mal in den Flur. Der Wachtmann hatte mir den Rücken gekehrt und lief den Gang wieder ab. Meine Chance war gekommen!
Wie eine Eidechse kroch ich die Stufen wieder hinab und entfernte mich in die hinterste und dunkelste Ecke des Treppenhauses. Mit dem rotleuchtenden Punkt setzte ich an der Mauer knapp über dem Boden des Karteiraumes an und zeichnete Rechteck, was groß genug war, dass ich durch passen konnte. Die ausgeschnittene Stelle nahm ich wie einen Bilderrahmen von der Wand und legte es in das Loch. Meine Hände platzierte ich auf der anderen Seite des Raumes und zielte mit meinem Kopf in die Öffnung in der Wand. Ein letztes Mal blickte ich den Flur entlang. Der Wachtmann erreichte bald die Ecke und würde sich umdrehen, also machte ich einen Satz und hob mich in den Karteiraum. Zielsicher und leise, mit der Präzision einer Gymnastikerin gelangte ich an mein Ziel und deckte die Öffnung in der Wand mit der Platte die ich ausgeschnitten hatte. Das Material fügte sich Dank der Gelmischung so perfekt in das Loch ein, dass ich bereits Sekunden danach nicht mehr wusste, wo der eigentliche Schnitt war. Phil hatte mal wieder hervorragende Arbeit geleistet.
Ich blickte hoch und sah mich um. Der ganze Raum war dunkel. Lediglich ein Teil des Zimmers wurde durch das durch die Tür hereinkommende Licht beleuchtet. Mitten im Lichtstrahl stand der Roboter. Ja, er war es tatsächlich. Er stand nur einige Meter von mir entfernt, doch hinter dem Regal mit den Akten konnte er mich nicht sehen. An sich konnte er vermutlich nicht sehen, bis auf die Stelle, auf die er ununterbrochen starrte. Seine Arbeitshaltung konnte mir zum Verhängnis kommen, da ich an ihm vorbei musste, um zur anderen Seite des Raumes zu gelangen. An ihm vorbei führte nur der große Gang in der Mitte der Regale, doch da würde er mich wahrscheinlich sehen, oder zumindest der Wachtmann aus dem Flur. Ich wartete eine Zeit lang und hoffte, dass er auch diesmal rechtzeitig gehen würde.
Doch auch nach fünf Minuten passierte nichts. Die Uhr tickte… die Zeit wurde immer knapper.
„Mack, verdammt, du kannst dort nicht länger bleiben!“, brach Phil sein Versprechen.
„Mack?... MACK?!“
„Rede mir hier nicht in meine Mission rein.“, ließ ich ihn zu meiner eigenen Verwunderung ruhig wissen. Ich hatte bereits einen Plan. Er musste nur durch ein Wunder aufgehen.
Mit Hilfe der Gravilaris stieß ich mich ab und glitt sanft bis an die Decke. Dort hielt ich mich mit den Fingerkuppen an der rauen Oberfläche der Wand fest. Der Klebstoff, mit dem ich knapp zuvor das fehlende Wandpuzzelstück angebracht hatte, half mir dabei an Stabilität zu gewinnen. Wie eine Echse kroch ich schlängelnd an der Mauer entlang und versuchte mich dabei so flach wie möglich an sie zu pressen um keinen Schatten zu werfen oder abzurutschen. Langsam passierte ich den Türrahmen knapp über der Decke. In der horizontalen Lage erwies es sich als äußerst schwierig das Gewicht zu halten. Ich hatte den Rahmen bereits fast hinter mir gelassen, als ich plötzlich den Halt verlor. Mein Herz verpasste mir einen kräftigen Schlag gegen die Brust. Der Schweiß hatte meine Finger haltungslos gemacht und sie setzten sich innerhalb der Handschuhe in Bewegung. Das einzige was mich rettete war die Tatsache, dass sie in den Handschuhen gefangen waren. Ich hatte überwältigendes Glück bei der Mission.
Wie ein Kriechtier setzte ich meinen Weg über die Wand fort und bewältigte auch das letzte Stück. Hinter einem Regal krabbelte ich auf allen vieren die Mauer wieder hinunter und konnte mich schon bald mit den Händen am Boden abstoßen. War ich erst wieder auf meinen Füßen, sprintete ich so lautlos wie möglich zwischen den Reihen in die tiefe Dunkelheit. Nur die Nachtsicht im NeuroTablet ließ mich etwas sehen. Ich folgte der Schneckenform und kam nun um einiges schneller voran. Bald hatte ich den Betonblock erreicht, er befand sich in der linken hintersten Ecke. Ich griff bereits beim Laufen hinter meinen Nacken. Im Rucksack war ein Mechanismus eingebaut, der sämtliche Objekt, die sich darin befanden, nach oben schob. So kam man an alles ran, ohne dass man ihn abnehmen musste. Sofort ertastete ich einen rechteckigen Gegenstand. Er war recht fest und gerade mal so groß, wie meine Hand. Ich aktivierte den return-Modus und wieder erschienen die beiden Punkte auf dem Zeigefinger meines Handschuhs. Sorgfältig zeichnete ich eine rechteckige Form auf dem Block nach. Das markierte Stück brach ab und ich lehnte es an die Wand.
„So und nun musst du den Laser im Tunnel-Modus aktivieren. Er pulverisiert den Betonblock, pass aber auf dass du ihn nicht bis nach draußen hin durchschneidest!“, erinnerte mich Phil.
,Aktiviere Tunnel-Modus!‘, befahl ich stumm dem Neuro-Tablet.
Die roten und blauen Punkte auf meinem Handschuh verschwanden. An ihrer Stelle erschien plötzlich ein hell gelber Ring. Ich wusste nicht so recht, was ich damit anfangen sollte.
„Halte ihn auf die Öffnung im Block. Lege deinen Daumen an deinen Zeigefinger und übe leichten Druck aus. Damit aktivierst du den Laser. Er pulverisiert alles in einer Reichweite von 30 cm in der Richtung des Strahls.“, navigierte mich die Stimme des Erfinders.
Ich folgte seinen Anweisungen und richtete meinen Zeigefinger auf die Kluft. Sicherheitshalber ließ ich ein wenig mehr Platz als ich sollte. Mein Daumen lag nahtlos am Zeigefinger an und ich presste sie sanft an einander. Der schwach gelbe Ring fuhr einen ebenfalls schwach gelben Lichtstrahl aus, der einen Kreis auf die Gesteinmischung zeichnete. An der Stelle, wo das Licht den Beton berührte bildete sich ein glatter, runder Tunnel. Der Inhalt des Lochs schien spurlos verschwunden zu sein. Ich drückte den Daumen wieder an den Zeigefinger und zeigte dem Laser die Richtung, in die der Tunnel entstehen sollte. Erst als der im Block entstandene Raum groß genug war, sodass ich selbst vollständig rein klettern konnte, fielen mir ganz feine Staubpartikel auf, die sich auf meinem pechschwarzen Anzug niederließen. In weniger als dreißig Sekunden war der Weg zur vierten Ebene frei. Rasch nahm ich das fill-in Paket, welches ich zuvor aus dem Rucksack geholt hatte, brach ihn in der Mitte auf und platzierte es in den ausgeschnittenen Mauertrakt, wie es mir sein Erfinder erklärt hatte. Die Betonplatte, die ich anfangs aus der Wand herausgebrochen hatte, drücke ich nun, mich von der anderen Seite befindend, auf ihren Platz. Mit einem leichten Satz schwebte ich hoch bis zur nächsten Ebene und scannte zuerst den Raum bevor ich mir mit dem Laser Durchgang verschaffte. Der Raum im vierten Stock war ebenfalls dunkel. Diesmal war er völlig leer, also deckte ich meinen zukünftigen Fluchtweg ab und sprintete los, um zum anderen Ende der U-Form zu gelangen und die verlorene Zeit aufzuholen.
„Vergiss das Equilibrion nicht!“, durchbrach Phil die Lautlosigkeit meiner Gedanken.
Wieder einmal war ich froh, dass er sich nicht an das Versprechen hielt.
Ich kehrte um und rannte zur Mauer gegenüber dem Tunnel. Unmittelbar davor stand ein Regal mit Akten, Ordnern und kleinen Tresoren. Im Sprint nahm ich wieder ein rechteckiges Werkzeug aus meinem Rucksack. Dieses Mal war es jedoch viel fester als das fill-in Paket und es hatte an der Seite einen einzigen Schalter. Diesen legte ich um und fixierte das Equilibrion unten an der Wand hinter einem großen Aktenordner. Das Regal war die perfekte Tarnung für den schwarzen Kasten. Hier würde man es nicht so schnell erkennen.
So schnell ich konnte lief ich zur anderen Seite derselben Wand und brachte das zweite Equilibrion an, bevor ich zum gegenüberliegenden Betonblock eilte. Diesmal lief der Vorgang schneller und gekonnt ab. Ich schnitt einen Einstieg in die Mauer und zerlegte das Innere des Blocks in kleine Nanopartikel. Wieder entstand ein Tunnel – diesmal zur fünften Etage. Ich kletterte in die entstandene Höhle und deckte diese mit der ausgeschnittenen Platte ab. Ein weiteres fill-in Paket wurde aktiviert und deponiert. Als ich sicher stellte, dass die Luft auf der fünften Ebene rein war, fertigte ich mit dem Laser eine Öffnung an und stieg in den nächsten Karteiraum. Auch dieser war leer und dunkel. Das war mir recht so. Ich hastete hinter dem Regal hervor und den Gang entlang. Diesmal wusste ich genau, was ich tat. Innerhalb einer Minute waren beide Equilibrions angebracht und ich war bereits auf dem Weg zu Ebene Sechs.
Doch bereits im Tunnel konnte ich durch die Wand erkennen, dass sich eine Silhouette im Raum befand. So leise wie möglich zeichnete ich mit dem Laser einen Durchgang in das Gestein und entfernte lautlos die Platte. Das Licht war an, doch hinter dem Regal konnte ich die Person nicht erkennen. Nachdem die Platte wieder auf ihrem Platz war, schlicht ich mich an den Hauptgang heran und blickte hinter den Akten hervor.
Auf dem Boden saß eine junge Frau, vermutlich jünger als ich und sortierte Dokumente. Ihr blondes Haar war zu einem Zopf hochgebunden und auch die Uniform saß auf ihrer schlanken Figur weitaus lockerer, als bei ihrer Kollegin aus dem zweiten Stock. Auch wenn sie sehr vertieft in ihre Arbeit war, hatte ich keine Chance ungesehen an ihr vorbei zu schleichen. Alles deutete daraufhin, dass sie für eine Weile hier bleiben würde. Verdammt!
Mein Blick scannte bereits den gesamten Raum um sie herum. Ich suchte nach jeder noch so kleinen Möglichkeit, an ihr vorbei zu kommen, doch der Raum war zu übersichtlich konzipiert. Man konnte ihn nicht unbemerkt überqueren.
„Mack, du verlierst Zeit!“, teilte mir Phil unnötig mit.
„Ach wirklich?“, teilte ich ihm sarkastisch über Telepathie mit.
„Du liegst zurück. Wenn du dich nicht beeilst, verliert das Spray seine Wirkung, bevor du da raus bist!“, redete der Ingenieur schon wieder auf mich ein. Es sägte ein wenig an den Nerven, auch wenn er recht hatte.
Ich begriff, dass die Situation aussichtslos war. Einfach so kam ich nicht um sie herum.
„Cainwis.“, wandte ich mich an das künstliche Bewusstsein. Phil war mir Moment zu negativ, als dass ich ihn ansprechen würde. „Hat das Kostüm oder das NeuroTablet oder irgendwas von meinem Equipement irgendeine Funktion, die einen Menschen betäuben oder außer Gefecht setzen könnten, ohne, dass ich mich ihm nähern müsste?“
Der digitale Butler ließ nicht lange auf seine Antwort warten:
„Die Mini-Drohnen haben ein Schlafgas, allerdings ist laut Master Phil der Einsatz dieser untersagt, da Sie das Latentsspray an sich tragen und die Drohnen Sie nicht erkennen können.“
„Ich werde mich schon nicht selbst abschießen.“, teilte ich Cainwis mit. „Heb‘ den Befehl auf!“
„Nur Master Phil….“, setzte dieser an, wurde jedoch augenblicklich von seinem Führer unterbrochen. „Cainwis, storniere den Befehl!“
Daraufhin folgte nichts mehr, beide schwiegen. Ich nahm an, dass der Befehl ausgeführt wurde und griff hinter den Rücken. Unten am Rucksack waren die drei Minidrohnen in speziellen Fassungen angebracht. Sie waren schwarz, wie der Rest des Kostüms und des Rucksacks und fielen auf den ersten Blick gar nicht auf.
Auf den zweiten Blick konnten Sie als Dekoration durchgehen – eine außergewöhnliche Verzierung des Rucksacks. Wohl kaum einer käme dahinter, um was für ein tödliches Werkzeug es sich handelte.
Im Normalfall reichte es die Drohnen zu aktivieren und schon waren sie einsetzbar, doch in meinem Fall könnte es ein böses Ende nehmen. Ich nahm eine der drei Kugeln manuell raus. Sie war hart und hatte eigenartige Gravuren und Formen an der Oberfläche. Da sie matt war, spiegelte sie kein Licht und war daher weniger sichtbar.
„Aktiviere Drohne B-3“, befahl ich dem NeuroTablet und konzentrierte mich auf dem runden Objekt. Ich fühlte, wie sie in meiner Hand leicht vibrierte, also ließ ich sie langsam los. Das unbemannte Luftfahrzeug verblieb schwebend. Behutsam navigierte ich es um die Ecke und fokussierte mich darauf es gerade zu halten. Die ferngesteuerte Kugel flog im Schatten der Regale. Ich achtete darauf, dass sie jedoch genug Abstand ließ, damit sie nirgendswo gegenflog. Als der fliegende Ball nah genug an der jungen Dame war riss er sich vom Rand ab und flog zur Mitte des Raumes. Direkt über dem Kopf meiner Missionsbremse blieb er schweben.
„Aktiviere Schlafgas“, diktierte ich schließlich dem schwebenden Objekt.
Das junge Geschöpf schwankte unter der Drohne und glitt sanft zu Boden. Sofort nahm ich wieder meinen Weg auf. Im Laufen griff ich nach dem schwarzen Flugobjekt und riss es aus seinem schwebenden Zustand, um es zurück in seine Fassung unter dem Rucksack zu setzen. Ich rannte wieder los. Es dauerte nur wenige Sekunden bis ich beide Equilibrions angebracht hatte und auf die nächste Mauer zulief. Ich betete, dass es das letzte Hindernis auf meinem Weg war.
„Phil, wie weit liege ich im Rückstand mir der Zeit?“, fragte ich, obwohl ich wusste, dass mich die Antwort nervös machen würde. Doch ich wollte wissen, wie viel ich aufzuholen hatte.
„Dir fehlen neun Minuten!“, sagte Phil trocken. „Aber der Rückweg wird leichter, da du die Tunnel nicht mehr scheiden musst, außerdem wird dich der Wille dort schnell wieder rauszukommen vorantreiben.“
Seine Worte verliehen mir etwas mehr Sicherheit. Ich befand mich bereits im Tunnel zur nächsten Ebene und stellte fest, dass diese wieder dunkel und leer war. Das beruhigte mich immens. Kurz darauf hatte ich mir einen Durchgang zum Raum verschafft und sprintete so schnell ich konnte die mittlerweile gewohnte Routine ab. Als beide Kästen angebracht waren und ich bereits auf dem Weg zur achten Etage war, waren gerade mal zwei Minuten vergangen. Ich hatte die Sekunden im Kopf gezählt.
Als ich auf der anderen Seite des Schachtes rauskam sah ich mir nicht nochmal den Gang an, um sicher zu gehen, dass niemand reinkommen würde. Ich rannte los. Diesmal brauchte ich nur eineinhalb Minuten, bis ich auf der nächsten Etage war. Der Zeitdruck nahm ab, zumindest fühlte ich mich besser. Durch die graue Mauer prüfte ich den Raum auf Ebene neun. Auf der anderen Seite der U-Form zwischen den Regalen stand eine weiße Gestalt. Ich behielt sie im Auge, als ich aus dem Tunnel stieg und das erste Equilibrion anbrachte. Die Person machte keine Anstalt zu gehen. Ich schlich mich an die Ecke heran und spähte in den Hauptgang des letzten Raumabschnitts, wo sich das Hindernis aufhielt. Es war nicht sichtbar. Das nutzte ich aus und setzte den zweiten Kasten auf seinen Platz. Langsam näherte ich mich dem Regal hinter dem sich der Bankmitarbeiter befand. Er stand zum Hauptgang gerichtet und schaute sich etwas in seinen Händen an. Es war zu riskant sich einfach an ihm vorbei zu schleichen, doch warten, bis er sich von alleine entfernt, konnte ich auch nicht.
Also wandte ich mich an meinen digitalen Freund, der immer alles wusste:
„Cainwis, ich brauche etwas, womit ich etwas abschießen kann, dessen Mündungsgeschwindigkeit jedoch zu gering ist, als das ich es kaputtschieße. Mit anderen Worten: ich brauche etwas mit der Mündungsgeschwindigkeit einer Papierkugel, die aus einem Strohhalm gefeuert wird.“
Für einen Moment hatte ich Sorge, dass ein Computerprogramm, auch wenn es so umfangreich war, wie das menschliche Bewusstsein, meinem Gedankengang nicht folgen konnte, doch Cainwis meldete sich sofort mit einer Idee:
„Ihr Kostüm besteht überwiegend aus Nanobots, die Sie mit ihrem NeuroTablet steuern können. Sie können wie die Minidrohnen eingesetzt werden, nur dass sie keinen Schaden anrichten können.“
Tag der Veröffentlichung: 11.08.2014
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