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Prolog

 

 Als hätten tausende von Engel meine Augen geküsst. Als hätte das Glück mir zugespielt und zugleich im Gegenzug mein Herz rausgerissen. Als meinte das Schicksal meines Lebens es nur ein einziges Mal mehr als gut mit mir. Als hätte sich der Himmel aufgetan und der Schöpfer persönlich hätte mir diese gottähnliche Kreatur geschenkt, nur um mir zu zeigen, was ich nicht haben kann. Ein Engelschor, der nur für meine Ohren spielte, während ich jeden Zentimeter ihres Antlitzes scannte und versuchte ihn so gut wie möglich im Gedächtnis zu behalten. In meinen Augen leuchtete die Atmosphäre die dieses Geschöpf umgab. Ihre langen kastanienbraunen Haare wehten leicht auf wenn sie sich bewegte. Die zarten Kurven ihres zierlichen Körpers, die sich durch das luftig dünne Kleid, das sie trug, zeichneten, ließen jeden Mann darüber fantasieren wie es wohl darunter aussah. Ihre sinnlichen Lippen öffneten sich leicht, als sie in meine Richtung sah. Meine Welt stand still, doch mein Kopf fuhr eine Achterbahn mit halsbrecherischen Loopings (Bitte, halten Sie eine Kotztüte bereit). Mein Herz wollte aus der Brust springen und sich vor die Füße dieser Göttin werfen, nur damit sie es mit dem dünnen Absatz ihres Schuhs aufspießt und an der Kante der Treppenstufe abwischt.

 

In mein Bild drängte sich ein blonder Kopf. „Antoine? ANTOINE!““, sprach eine fast schon schrille Stimme zu mir. Die luftig leichte Traumwolke, die mich noch zuvor gen siebten Himmel hob, zerberste unter mir binnen Sekunden und ich schlug schmerzhaft auf dem harten Boden der Tatsachen auf. Charlotte stand, in mein Blickfeld gebeugt, links von mir. „Das ist meine beste Freundin…. Anna.“, ihr Zeigefinger bewegte sich wie in Zeitlupe. Die Luft, die ich eingeatmet hatte, schien sich in einen Kloß verwandelt zu haben, der mir im Hals stecken blieb. Meine Organe wurden augenblicklich zu Steinen, die mich in die Tiefe zogen und mit jedem Zentimeter, mit dem sich ihr Zeigefinger meiner Göttin näherte, wurde mein Brustkorb enger geschnürt. Nein! NEIN!! In meinem Inneren schrie ich aus vollem Hals. Alles in mir verkrampfte. Charlotte zeigte eindeutig auf sie. Ich blickte sie an und sie schien meinen Blick zu erwidern, auch wenn es schier unmöglich war in der Menge. Doch sie blickte mich an und für einen Moment ließ die Panik, die in mir hochstieg, mich los und ich verlor mich in der unendlichen Tiefe ihrer schwarzen Augen.

 

Eine flache Hand mit gespreizten Fingern tauchte vor meinen Augen auf und ging hin und her. „Haaallo! Antoine, ich rede mit dir.“, Charlotte holte mich von meiner gedanklichen Reise. „Äh…. Ja“, war das erstbeste was mir einfiel. „Was ist los mit dir?“, fragte sie. Ich ignorierte sie und blickte wieder hinauf zur Treppe, doch meine Göttin war verschwunden.

 

Ich wollte mich wieder Charlotte zu wenden, doch ehe ich meine Gedanken ordnen konnte glitt meine Göttin aus der Menge, wie durch einen purpurnen Vorhang und nun stand sie direkt vor mir. Ihre großen Augen blickten kurz zu mir hoch und wendeten sich dann Charlotte zu. Zwei Finger tauchten vor meiner Nase auf und schnippten. Ich hatte sie wohl auffällig angestarrt.

 

Mein Blick folgte den Fingern, die Charlotte gehörten. Sie sah mich verständnislos an. Natürlich…

 

„Anna, das ist Antoine! Er ist heute etwas komisch.“, als sie den letzten Satz aussprach, blickte Charlotte mich mit gespielt übertriebener Skepsis an, wobei sie das letzte Wort langzog. Sie kehrte uns den Rücken zu und tänzelte zu den Anderen. Anna schenkte mir ein kurzes warmes Lächeln, während sie mir schüchtern die Hand reichte. Ich nahm ihre Hand wie ein kostbares Geschenk und in Gedanken liebkoste ich ihren Handrücken und wanderte weiter und weiter an ihrem Arm rauf. Doch ehe ich den Gedanken genussvoll vertiefen konnte, hatte sie ihre zierliche Hand aus meinem Griff befreit und wandte sich von mir ab. Ein Moment der peinlichen Stille zwang uns sich zu Charlotte und dem Rest zu gesellen.

 

Für die Anderen war ich Charlottes Freund und für Anna war ich nun der Freund ihrer besten Freundin. Ich werde auf ewig auf diesen Moment zurück blicken und mich dafür hassen, für das was war und für das was ist…

 

 

1. Charlotte

Mit einem schrillen, von mir so gehassten Alarm, des Weckers, schreckte ich aus meinem geliebten Schlaf. Erschrocken riss ich meine Augen auf, die unmittelbar danach wieder zufielen. Mein Herz verkrampfte sich leicht, da ich wusste, dass ich aufstehen musste. „Mhmmmmmmmm…“, ich zog den Laut extra lang, als würde er irgendwas bewirken.

 

Leicht blinzelnd öffnete ich die Augen. Der Raum wurde durch die geschlossenen Rollläden stark abgedunkelt, was den Eindruck weckte, es sei mitten in der Nacht. Lustlos setze ich mich auf und rieb mir mit den Handballen die Augen. Als ich die Bettdecke zur Seite schlug und mich die wollig flauschige Wärme des Stoffes ruckartig verließ, lief ein Schauer über meinen Körper – eisige Kälte.

 

Die Füße in meine plüschigen Tiger Pantoffeln  gebettet, schlurfte ich nach und nach zu allen Fenstern und zog die Rollläden hoch. Die ersten Sonnenstrahlen brachen durch die Wolkendecke. Sie legten sich wie ein goldenes Tuch über die Dächer, als ich mein Appartement verließ und aus der Rue Audran trat.

 

Nach der Schule hatte ich mir vorgenommen ein Jahr zu arbeiten, bevor ich mich dem Studium widmen würde. Ich erzählte allen, dass ich es nicht eilig hatte und stattdessen was erleben wollte, bevor ich mich für ein paar Jahre in eine Bücherei verschanzen würde, aber die Wahrheit war, dass ich nicht genug Geld für das Studium hatte.

 

Das Café des deux Moulins, das sich an der Kreuzung zur Rue Lepic und Rue Cauchois befand, öffnete mir zwar keine besonderen Türen, verschloss jedoch auch keine. Ich sparte für mein Studium und stand, mehr oder minder selbstständig auf den Beinen. Außerdem hatte ich genug Zeit für meine Schmetterlinge, die jeden Augenblick aus ihrem Raupendasein ausbrechen würden.

 

Wie jeden Morgen, betrat ich das Café und steuerte direkt auf die hinteren, für Kunden unzugänglichen, Räumlichkeiten zu. Zügig zog ich meine Arbeitskleidung an und gab mich dem alltäglichen Arbeitsleben hin. Eine andere Wahl hatte ich nicht.

 

„Wie sieht’s heute Abend aus?“, Pierre, der nur den halben Tag arbeitete, hatte nun Feierabend und lehnte an der Theke. „Was ist mit heute Abend?“, ich hatte zuvor einen Berg Geschirr gespült und räumte die Gläser zurück ins Regal.

„Na du weißt schon. Rausgehen. Spaß haben. Das Leben genießen.“, er war das Nachtleben gewohnt und versuchte mich immer wieder zu überreden. Bisher hatte ich mich jedes Mal gut rausreden können. „Komm schon!“

„Ich hab schon was vor!“, log ich nicht überzeugend. „Was denn? Schmetterlinge aus der Haut pulen? Komm schon, Antoine! Seit jeher meidest du soziale Kontakte…“, Pierre war schon immer sehr hartnäckig. „Ich meide nichts, ich bin nur zufrieden, wie es jetzt ist. Warum sollte ich daran was ändern?“ „Die einzigen ‚Freunde‘ die du hast sind Raupen!! Ich biete dir mehr, weitaus mehr. Wann bist du das letzte Mal mit einer Frau ausgegangen?“, mein bester Freund hatte einen wunden Punkt bei mir erwischt. Er kannte mich nur zu gut. „Ausgegangen? Du meinst…. So richtig?“, fragte ich, um Zeit zu gewinnen, obwohl es nichts brachte. Innerlich hoffte ich, dass sich ein Erdloch öffnen und einen von uns beiden verschlucken würde.

„Nein, falsch!“, meine Frage war dumm, das ist leider auch Pierre aufgefallen. „Wann bist du ÜBERHAUPT mal mit einer Frau ausgegangen? Hattest du schon mal ein Date?“

„Najaaa, also….“, ich schämte mich. Ich dachte an meine Schulzeit zurück, als ich von Monsieur Bertrand an die Tafel geholt wurde. Wie er mich gnadenlos immer und immer wieder mit seinen Fragen bohrte, wie ich dahin stotterte, wie mich meine Mitschüler auslachten. Es war keine schöne Zeit. Ich erinnerte mich ungern, doch genau so fühlte ich mich gerade, außer, dass Pierre keinen guten Lehrer abgeben würde. „…. du hast recht! Genauer genommen bin ich noch nie mit einer Frau richtig ausgegangen. Ich weiß nicht…. wie man mit ihnen umgeht.“, es hätte keinen Sinn gehabt zu lügen. Ich war kein Womanizer, ich war ein Spätzünder – und was für einer.

„Warst du schon mal verliebt?“, fragte mich der Mann, der immer mehrere Frauen gleichzeitig im Arm hatte und sich selbst nicht fest binden wollte. „Nein“, antwortete ich, „aber ich bin nicht schwul!“, setzte ich schnell an, als mir bewusst wurde, wie es sich anhörte. „Das weißt du doch gar nicht.“, grinste Pierre. „Doch! Ich….. weiß es einfach.“, ich schaute zu Boden. Die ganze Situation war mir mehr als peinlich. „Beweis es mir!“, Pierre beugte sich leicht nach vorne und schaute mich erwartungsvoll an. „Komm heute Abend mit! Wir gehen in einen Club. Ich stell dir ein paar Leute vor…. und ein paar Frauen!“, er zwinkerte mir zu. Mein Seufzer reichte ihm als Antwort und er wandte sich dem Gehen zu. „Ich hole dich halb elf ab… und lass die Schmetterlinge zu Hause!“, dann ging er fort.

 

Um kurz vor elf öffnete ich Pierre die Tür und er prustete drauf los. „WAS?!“, fragte ich und merkte, wie ich stark nervös wurde. „zu elegant?“, ich hatte meinen schwarzen Hosenanzug mit Krawatte an, die ich mir sorgfältig mühevoll gebunden hatte. „Alter, wir gehen auf ‘ne Party, nicht auf ‘ne Beerdigung“, sagte Pierre immer noch stark belustigt. „Ich war noch nie auf einer Party.“, gab ich zu, während ich meine Krawatte löste und auf meinen Schrank zusteuerte. „Was trägt man da denn so?“, ich stand ratlos vor meiner mageren Auswahl an Kleidung. Mit nur einem Blick und einem gezielten Griff holte Pierre mir ein schlichtes T-Shirt und eine Jeans raus. „Verwaschen und mit ein paar Löchern würde sie zwar besser aussehen, aber…. Tu mir einfach einen Gefallen und zieh sie dir nicht bis zum Bauchnabel hoch.“, dafür hätte ich ihm eine reinhauen können, wenn ich ihn nicht kennen würde.

 

Eine Stunde später stiegen wir Franklin D Roosevelt aus und schlenderten die Avenue des Champs-Elysées hinauf. Die Dunkelheit war schon längst hereingebrochen und die Straßen zu den Clubs füllten sich mit jungen Leuten in Partylaune. Wir mischten uns unter sie und erreichten schon bald den Queen Club. Eine lange Menschenschlange navigierte sich an der Wand entlang und wurde von der gläsernen Pforte verschluckt. Der Bass der Musik ließ den Club wie ein Herz pochen. Früher war das der Ort der Zusammenkunft für Homosexuelle, heute wird seine Stilrichtung als „chic“ bezeichnet. Im Inneren war es sehr laut. Die rhythmischen Klänge der Musik verleitete die Mehrheit der Gäste zum Tanzen, was vom flackernden Discolicht begleitet wurde. Pierre schlängelte sich gezielt durch die Menge und, wie durch unsichtbare Ketten angebunden, folgte ich ihm. Am Rande der Tanzfläche in der Nähe der Bar stand eine Gruppe von Leuten, die sich von allen anderen unterschieden. Zumindest sahen sie aus, als seien sie unter sich und würden keinen anderen in ihrer Runde dulden. Pierre steuerte geradewegs auf sie zu.  „Piiiieeeeeerre“, rief einer von ihnen und alle anderen schauten zu uns rüber. Pierre trat zu ihnen und sofort unterhielten sie sich angeregt über etwas, was ich nicht hören konnte, obwohl sie gegen die Musik förmlich anschrien. Ich stellte mich wie selbstverständlich hinzu, blickte jedoch um mich, ob sie nicht gleich über mich herfallen würden. Der Kerl, der bei unserer Ankunft Pierre zu sich gerufen hat, flüsterte nun diesem etwas zu, wobei er mich die ganze Zeit ansah. Daraufhin rief Pierre in die Runde: „Hey, jo, Leute, das ist mein Kumpel Antoine. … Er sucht grad ‘ne Freundin.“, beim letzten Satz zwinkerte er mir zu. „Hey, WAS?!“, rief ich ihm zu, doch durch den Lärm der Musik, hörte es sich nach nicht mehr als einem Flüstern an. „Das war so nicht abgemacht, Pierre.“ „Relax.“, meinte Pierre, „hier bist du unter Freunden.“

 

‚Unter Freunden‘, das war groß gesagt. Ich kannte niemanden und wusste auch nicht wie ich mich hätte in ein Gespräch integrieren sollen. Außerdem empfand ich es als unhöflich sich einfach in ein Gespräch zu mischen. So stand ich da, mitten drin und doch allein. Als sich ein Teil der Gruppe ablöst, um zu tanzen, wurde die Clique übersichtlicher und ich fühlte mich fast schon wohler. Ich bestellte mir eine Cola und stellte mich neben eine Gruppe, die aus zwei Kerlen und einer Frau bestand. Ich stand schon eine Weile dort, als die blonde Frau sich zu mir umdrehte. „Bist du öfter hier?“, ihre weibliche, von Natur aus hohe Stimme ging in der enormen Lautstärke der Musik fast komplett unter. „Waas?!“, fragte ich, wobei ich mich näher zu ihr beugte. „Ich sagte, bist du öfter hier?“ „Ich? Nein, das erste Mal.“ „Bist du alleine hier?“, ich betrachtete sie, während sie zu mir sprach. Sie hatte blondes, mittellanges, stufiges Haar, welches zu allen Seiten stand und vermutlich hatte sie helle Augen. Im grellen, sich ständig bewegenden Licht konnte ich die Farbe nicht genau erkennen. Sie war hübsch. „Ich bin mit meinem Kumpel hier“, ich zeigte in die Menge auf den tanzenden Pierre, an dem sich zwei freizügig gekleidete Mädels rieben. „Pierre, heißt er.“, sagte ich, um zu verdeutlichen, wen ich meinte. „Ach so, Pierre“, wiederholte sie und nickte wissend. „Und wie heißt du?“, fragte sie darauf hin. „Ähm… Antoine… und du?“ „Sehr erfreut, Antoine. Ich bin Charlotte.“, sie lächelte mich leicht verschmitzt an, dabei wirkte sie noch hübscher und irgendwie fühle ich mich zu ihr hingezogen.

 

Es war schwer sich bei den lebhaften Geräuschen, die die Partynacht von sich gab, zu unterhalten. Doch Charlotte hörte nicht auf mich mit Fragen zu bohren. Sie schien alles über mich wissen zu wollen. Für sie war ich der mysteriöse Kerl, den sie noch nie beim Feiern gesehen hat – der Fremde.

Ich erzählte ihr über meinen Job und über meinen größten Wunsch Lepidopterologie zu studieren. Sie hörte sogar gespannt zu, als ich ihr offenbarte, dass ich Schmetterlinge züchtete.

Als Gegenzug erzählte sie mir von sich. Sie ging auf das Lycée Janson de Sailly. Ihre erste Fremdsprache war Englisch und ihre zweite war Deutsch. Jeden zweiten Abend ging sie feiern. Nach der Schule wollte sie nach Amerika. Mit ein paar Freunden, sagte sie mir, wollte sie für einen alten VW Bus sparen, mit dem sie dann quer durch die USA reisen würden.

 

Ich war fasziniert von Charlotte! Für ihr Alter war sie sehr selbstbewusst. Sie wusste genau was sie wollte und gab sich nie zufrieden, bis sie es bekam. Sie war der Innenbegriff eines Freigeistes!

 

Es war kurz nach eins als Charlotte sagte: „Ich will eine rauchen. Kommst du mit raus?“ „Ja, gern“, sagte ich. Ein Gefühl des Stolzes überkam mich. Mir ist aufgefallen, wie die Kerle sie ansahen. Jeder wollte mit Charlotte befreundet sein. Sie war cool. Doch nun wollte sie mit mir raus – mit mir! Auf dem Weg aus dem Club lief ich an Pierre vorbei. Er wirkte leicht betrunken und erzählte den Grazien in seinen Armen scheinbar etwas Witziges, denn nachdem er aufgehört hatte zu sprechen, prusteten sie drauf los und eine von ihnen gab ihm sogar einen Kuss auf die Wange. Ich tippte seine Schulter an:“Pierre... Pierre….PIERRE!“ „Haa?“, mein bester Freund drehte sich, etwas wackelig auf den Beinen, zu mir um. Dabei drehte er auch seine Begleiterinnen mit, da diese ihn von beiden Seiten stützten. „Oh, ANTOOOIIIIINE“, rief er in feierlicher Laune. „Was geeeht, mein Freund?“ „Pierre, wir gehen raus…. Charlotte und ich gehen nach draußen.“, teilte ich ihm mit. Ich tat es nicht der Prahlerei wegen. Ich wollte mich nur bei meinem besten Freund abmelden bevor ich gehe. „Whooooou“, rief Pierre aus, so dass sich auch weitere aus der Clique zu uns drehten, „Charlotte und du?  Na, dann mal viel Spaß“. Er grinste mich breit an und ich wurde nervös. Ich wollte nicht, dass es die Anderen mitbekommen. Aber vor allem bemerkte ich erst jetzt, was mir bevorstand – ich wäre das erste Mal alleine mit einer Frau.

 

Ich schlängelte mich durch die Menge und erreichte schon bald Charlotte am Ausgang. „Hast du alles?“, fragte sie. „Ähm … ja…. Ja, ich denke schon“, entgegnete ich. „Du denkst??“, grinste Charlotte mich an. Wir liefen gerade hinaus.

 

Draußen war es sehr kühl geworden. Ich zog den Reisverschluss meiner Jacke hoch. Doch Charlotte, die ein weit geschnittenes Top trug, welches ihr lässig von einer Schulter hing, schien kein bisschen zu frieren. Sie zündete sich sofort eine Zigarette an. „Phuuu, was ‘ne Nacht“, sie pustete den Rauch aus. Ganz plötzlich fühlte ich mich dämlich. Mir fiel nicht ein, was ich sagen sollte. Ich war nicht wie Pierre, ich konnte nicht mit lustigen oder gar interessanten Geschichten punkten. Im Grunde hatte ich Charlotte im Club mein ganzes Leben erzählt. Sehr viel mehr gab es da nicht. Langsam verfluchte ich mich dafür, als Charlotte meine Gedanken unterbrach: „Warst du schon mal im Ausland?“ „Najaa“, ich musste überlegen. Auf die Frage war ich nicht gefasst. „Ich war mal mit meinen Eltern in Griechenland und….“ „Du gehst nicht oft raus, kann das sein?“, Charlotte sah mich an und zum ersten Mal sah ich, dass ich ihre Augen grünlich waren. Sofern man es im Laternenlicht erkennen konnte. „Nun, Reisen kostet Geld und…“ „Nein, ich meinte an sich… raus aus dem Haus.“, sie hatte ihre Zigarette fast zu Ende geraucht. „Nein. Ich bin’s nicht gewohnt….. Ich fühle mich wohler, wenn ich allein bin. Findest du das…. doof?“

„Nein“, sie lächelte mich wieder an, „bringst du mich Heim?“

Ich habe nicht erwartet, dass sie mich drum bitten würde. „Selbstverständlich“, erwiderte ich und verbeugte mich leicht vor ihr.

 

Der Weg zu dem Appartement ihrer Eltern erwies sich als kurz. In nur zehn Minuten standen wir vor ihrer Haustür. Sie holte den Schlüssel raus und stieg bereits die Stufe hoch, doch sie drehte sich noch einmal zu mir. „Wir können das mit deinem Alleinsein ändern.“, sie grinste mich selbstbewusst an, „was hast du morgen nach deiner Arbeit vor?“ „Ich? Nichts“, ich zuckte mit den Schulter. „Gut! Das war auch eine ironische Frage. Dann machen wir morgen was zusammen.“ Sie lächelte zufrieden. Sie wusste ich würde ihr nicht widersprechen. „Ok, gut.“ „Nach der Arbeit hol ich dich ab und dann schauen wir, was der Abend für uns bereithält. Wann hast du Feierabend?“

„Um sechs“, ich merkte, wie ich wieder nervös wurde. Ich war geistig schon beim morgigen Abend.

„Also dann, bis morgen. Gute Nacht“, Charlotte stieg noch einmal zu mir hinunter und zog mich in eine Umarmung zu sich heran. Sie war einen Kopf kleiner als ich, weshalb ich mich zu ihr hinunter beugen musste. „Guten Nacht, Charlotte“, flüsterte ich ihr ins Ohr.

Schließlich drehte sie sich um und verschwand hinter der Tür. Ich stand noch einige Zeit da und starrte auf den Fleck wo sie zuvor gestanden hat. Noch immer konnte ich nicht so recht einsehen, dass dieser Abend real war, dass ich in einem Club war, dass ich Charlotte kennengelernt hatte und dass ich nun mit ihr verabredet war.

 

Charlotte hatte etwas Magisches an sich. Meine Gedanken spielten verrückt als ich zur nächsten métro lief. Ich war zum ersten Mal mit einer Frau verabredet. Mochte sie mich? Ich mochte Charlotte. Sie war schön, klug, interessant, lustig….  War das ein Date? Was unterscheidet ein Treffen von einem Date? Was zieht man an, zu so einem Anlass? Ich war aufgeregt. Ich würde Pierre um Rat fragen müssen.  Es schien, als verspürte ich das erste Mal seit langem so etwas wie Freude. Ja, ich freute mich sehr auf das Treffen mit Charlotte.

 

Morgen würde ich sie wiedersehen…. 

2. le premier rendez-vous

Um Punkt sechs Uhr früh stand ich mit meiner 'engeren Auswahl' an Outfits vor Pierres Tür und klopfte an. Als er nach gefühlten fünf Sekunden immer noch nicht geöffnet hatte, fing ich an mit der flachen Hand gegen die Tür zu hämmern. "Pierre? Pierre, bist du da??", ich war in Eile und mit jeder Sekunde, in der ich an meine bevorstehende Verabredung dachte, stieg ein Stück mehr Panik hoch.

 

"Pierre, mach auf, es ist wichtig!", ich hämmerte weiterhin mit dem Handballen an die Tür und war so in Gedanken an Charlotte vertieft, dass ich nicht merkte, wie diese aufgerissen wurde und meine flache Hand im nächsten Moment jemandem gegen die Stirn klatschte.

"AAAAAH", stöhnte Pierre und rieb sich mit der Hand die Stirn. "Und das am frühen Morgen."

Doch mein Gedanken Karussell ließ mich ihn nicht beachten. Ich brauchte seine Hilfe und das sofort!

 

"Pierre, du musst mir helfen!", ich schob ihn bei Seite und trat durch. "Ich hab da eine Verab-", ich steuerte gerade den Wohnbereich seiner Einzimmerwohnung an, als er mich am Arm zurückriss. "Nein, nein, nein, warte!", flüsterte er mit einer, vom Schlaf, rauen Stimme zu. "Weck Monique nicht!"

Ruckartig drehte ich mich um. "Moni-?", erst jetzt bemerkte ich, dass er nichts außer einer Boxershorts trug. "Oh."

 

Pierre grinste und für einen kurzen Moment verlor ich meinen Gedankengang. Doch noch bevor ich daran denken konnte, was Pierre wohl gestern noch so alles im Club gemacht hatte, als wir schon weg waren und wer von den Mädchen Monique sein könnte, brachte mich das „wir“ bereits zurück. Mein Herz begann wieder zu hämmern und ein Hauch Übelkeit stieg hoch. „Pierre!“, riss ich die Augen auf, „Du musst mir sofort helfen!“

 

Pierre führte mich in die Küche. „Brauchst du eher einen Rat oder soll ich dir mit einem Glas Hochprozentigem ‚aushelfen‘?“, scherzte er.

„Ich habe grad keinen Nerv für Witze“, sagte ich und merkte, wie ich zu hyperventilieren begann, „ich brauche deinen Rat! Ich habe…..  Du… bist so…. aber ich bin…. Sie…. Und jetzt …. Später nach der Arbeit…. Ich weiß nicht. … ich… ICH….“

„Toll machst du das!“, sagte Pierre, „Noch ein bisschen und du sprichst in ganzen Sätzen!“

 

Ich war noch nie ein Verehrer von großen Risiken! Für mich galt es bereits als ziemlich gewagt meine Alltagsroutine zu brechen. Hier war ich nun – die gebrochene Routine trat eine Lawine los und nun war ich mit einer Frau verabredet!

 

In meinem Kopf schwirrten Unmengen an Fragen. Wieso ich? Warum musste es eine große Veränderung sein? Warum forderte mich das Schicksal direkt so heraus? Wieso konnte ich nicht mit etwas Kleinem anfangen? Ich könnte mir zum Beispiel ein rotes Paar Socken kaufen und dieses anziehen. Rot ist eine sehr leidenschaftliche Farbe, sehr gewagt, sehr aggressiv. Das würde vorerst völlig reichen. Aber nein, es musste direkt eine Frau sein.

 

„Antoine?“, ich starrte auf einen ‚I Love My Penis‘-Magneten, der am Kühlschrank hing. Pierre hatte offenbar nicht dieselben Probleme wie ich. „Antoine?“, ertönte es nochmal, „bist du noch da?“

„Ich bin verabredet“, schoss es plötzlich aus mir raus, „heute…. mit… Charlotte.“

 

„Heeeeeeey“, Pierre grinste so breit, dass man ihm einen Kochlöffel quer in den Mund schieben könnte. „Glückwunsch, mein Freund! Mach weiter so, dann wirst du noch vor deinem dreizigsten Lebensjahr entjungfert.“

Er war wie immer drauf und wie immer wollte ich ihm eine reinhauen. „Du musst mir helfen!“, wiederholte ich ein gefühltes tausendstes Mal heute.

„Neee“, sagte er immer noch erheitert und zwinkerte mir zu, „du findest schon selbst, wo es reingeht.“

„Das meinte ich nicht.“, beinah hätte Pierre mich aus dem Konzept gebracht. „Ich weiß nicht, was ich anziehen soll.“ Ich streckte Pierre meine sorgfältig gebügelten und symmetrisch gefalteten Sachen hin, die ich mir für mein bevorstehendes Treffen ausgesucht hatte. Er schien im ersten Moment verwirrt zu sein, nahm aber dann den Stapel entgegen und faltete ein Kleidungsstück nach dem anderen auseinander.

 

Als er fertig war, hingen alle meine Sachen übereinander auf einem Küchenstuhl. „Tjaaa“, zog Pierre den Laut in die Länge und machte es unheimlich spannend. Ich war mir sicher mein bester Freund würde mich gut beraten. „, am besten du verbrennst das Zeug.“

Das war eindeutig nicht das was ich hören wollte.

„Du willst mit Charlotte weg? Da muss was Lässiges her!“

Ich dachte über das Wort ‚lässig‘ nach und versuchte irgendeine Form von Kleidung damit in Verbindung zu bringen. Es gelang mir nicht so recht und ich kam zu dem Entschluss, dass das einzig Lässige was ich besaß ein Moskitonetz war und das konnte man nicht anziehen.

 

Noch bevor ich mir überlegen konnte, wie ich das Moskitonetz aufschneiden könnte, um es doch tragen zu können, fuhr Pierre fort. „Sie spielt in einer Band, hat sie dir das erzählt?“

„Nein, hat sie nicht. Was spielt sie denn so?“, ich war überrascht und auch sehr neugierig. Charlotte faszinierte mich.

„Ich glaube Gitarre, aber eigentlich singt sie mehr.“

Ich nickte und stellte mir vor, wie Charlotte auf einer Bühne stand, wie das Licht auf sie fiel und wie die Menge ihr zujubelte. Ja, das würde sehr gut zu ihr passen. Doch es beängstigte mich umso mehr. Ich war nicht wie sie, ich war weder ‚lässig‘ noch ‚cool‘ und Gitarre spielen oder singen konnte ich schon mal gar nicht.

 

„Wann triffst du dich mit ihr?“, zog mich Pierre aus meiner Gedankenwolke.

„Sie hat gesagt, sie holt mich heute nach der Arbeit hab.“, ich fühlte mich dämlich, da sie es war, die mich abholte. Eigentlich sollte es andersrum sein.

Ich sollte sie abholen, mit einem Blumenstrauß in der Hand und dann sollten wir essen gehen, in ein schickes Restaurant in der Nähe der Seine mit einer atemberaubenden Aussicht auf den Eiffelturm...

Um ein Haar hätte ich mich wieder meiner Träumerei hingegeben, aber die Absurdität der Vorstellung – ich, in der Rolle eines Gentlemans und vielleicht sogar Verführers – brachte mich wieder zurück. Niemals könnte ich den Mut aufweisen einer Frau so etwas zu bieten, auch Charlotte würde das einsehen und dann die Flucht ergreifen. Dieses Treffen würde bestimmt das erste und das letzte sein.

 

Passend zu meinem emotionalen Schub meines mangelnden Selbstwertgefühls, seufzte Pierre. „Da muss wohl Onkel Pierre wieder nachhelfen.“, sagte er und verschwand im Zimmer nebenan.

 

Nach einer Weile kam er wieder und hielt mir einen Bündel Kleidung hin. Ich starrte die Sachen an, die mir mein bester Freund ausgesucht hatte und dann ihn selber.

„In den Sachen, wird Charlotte dich flachlegen.“, grinste er mich an. „Du kannst mir später danken!“

„Meinst du…. Meinst du wirklich, das würde Charlotte gefallen?“, ich war sehr unsicher. Ich kannte Charlotte kaum und konnte ihren Geschmack gar nicht einschätzen. Mir blieb nichts anderes übrig, als Pierre zu vertrauen. Schließlich kannte er sich mit Frauen aus.

 

Das besagte Outfit, dass laut Pierre die „heißeste Scheiße überhaupt“ war und auf das die „Weiber total abgehen“ würden, bestand aus einer schwarzen engen Jeans, einem Nietengürtel und einem weißen T-Shirt. Ich konnte Pierre gerade noch die Bikerjacke mit Nieten ausreden, dennoch stattete er mich mit einer schlichten, schwarzen Lederjacke aus und betonte mehrmals, dass mir dadurch „die Chance meines Lebens“ entgehen würde „der pure Sex auf zwei Beinen“ zu sein. Ich meinerseits lief jedes Mal, wenn er das sagte, rot an, was er jedoch nicht mitbekam und daher weitermachte.

 

Auf der Arbeit ließ ich den Nietengürtel und die Lederjacke weg und fiel daher wie immer niemandem auf. Wie jeden Tag rannten die Leute in mich hinein, stolperten über mich oder quetschten mich gegen Regale oder Türrahmen. Ich versuchte nicht an Charlotte zu denken, doch hin und wieder, wenn ich einen kurzen Blick auf die Uhr warf und die Zeiger sich meinem Feierabend näherten, überkam mich eine leichte Panik. Im nächsten Moment rempelte mich jedoch wieder jemand an, sodass ich zu der Hektik des Alltags zurückkehrte.

 

Schließlich schaffte ich es doch noch die Zeit zu vergessen, als ich plötzlich Charlotte durch das Fenster erspähte. Ich wischte gerade die Theke ab und blieb wie eingefroren stehen. Beinah in Zeitlupe sah ich sie auf die Tür zukommen.

Die blanke Hysterie packte mich. Reflexartig hockte ich mich auf den Boden hinter die Theke, so dass Pierre, der gerade mit einem Tablett voller Gläser aus der Küche trat, über mich stolperte. Zusammen mit den Gläsern fiel er unsanft zu Boden. Die Gläser zerbrachen und verursachten einen solchen Lärm, dass alle im Café in unsere Richtung schauten, auch Charlotte, die soeben eintrat. Eine peinliche Stille traf ein.

 

Charlotte lief direkt auf mich zu, ohne den Blick von mir zu wenden.

„Was suchst du da unten?“, fragte sie und schaute mich skeptisch an. Ich konnte nur ahnen wie absurd und lächerlich ich gerade aussah, wie ich immer noch an die Theke gepresst, auf dem Boden hockte.

„Seine Eier.“, antwortete Pierre stellvertretend und schritt zurück in die Küche, um Besen und Kehrblech zu holen. Charlottes Gegenwart machte mich so nervös, dass ich ihm den Spruch nicht einmal übel nahm. Eigentlich, gestand ich mir ein, hatte er sogar recht.

 

Nach und nach begann sich der Raum mit Gesprächen zu füllen, sodass die Aufmerksamkeit nicht mehr mir galt. Langsam richtete ich mich auf.

„Nun, wenn du alles hast, können wir gehen.“, sagte Charlotte und grinste. Ich war ihr dankbar, dass sie die peinliche Situation nicht nochmal ansprach.

 

Eilig zog ich den Nietengürtel und die Lederjacke an, da Charlotte bereits draußen auf mich wartete. Beim rausgehen versuchte ich Pierre aus dem Weg zu gehen, damit er keine Gelegenheit bekam mir noch einen Spruch anzudrehen, der mich noch nervöser machen würde.

Und somit trat ich in den kühlen Abend hinaus.

 

Charlotte, die an der Mauer des Cafés lehnte und auf mich wartete, trug eine Leoparden Leggins und ein schwarzes Kleid. Ihre Lederjacke und ihre schwarzen Boots nahmen ihrer äußeren Erscheinung jedoch das mädchenhaft.

Sie war nicht eine dieser shoppingsüchtigen Mädchen die mit ihren übergroßen Taschen in den Armbeugen rumliefen, in denen sie überkleine Tiere – ich glaubte mal gelesen zu haben, dass es Hunde sind – trugen und überteuerte Getränke aus billigen Pappbechern tranken. Sie quiekten sich gegenseitig mit ihren schrillen Stimmen immer etwas zu, wenn sie mir auf den großen Avenues mit den vielen Läden entgegen kamen und mich vom Gehsteig drängten.

Charlotte war einfach nur cool und auf Tiere, hatte sie mir erzählt, war sie sowieso allergisch.

Als sie mich bemerkte, lächelte sie mich an, drückte sich von der Mauer ab und setzte sich zielsicher in Bewegung. Mir blieb nichts anderes übrig, als ihr zu folgen.

So schlenderten wir die Rue Lepic hinunter bis sie in den Boulevard de Clichy mündete und liefen zur nächsten Metró. Im Grunde genommen schlenderte nur Charlotte. Ich hingegen lief ihr hinterher und versuchte mich ihrem schnellen Tempo anzupassen. Außerdem wusste ich nicht wo unsere Reise hingehen würde und Charlotte machte auch keine Anstalt mich in ihre Pläne einzuweihen.

 

„Wohin gehen wird?“, fragte ich sie schließlich, als wir bei der Blanche Metró Station ankamen. „Wirst du schon sehen.“, sagte Charlotte geheimnisvoll.

„Du könntest es mir auch einfach sagen.“

„Keine Chance!“, grinste sie mich an und ich gab auf.

 

Eine halbe Stunde später stiegen wir Stalingrad aus und ich las auf einem Straßenschild, dass wir uns auf der Avenue Jean Jaurès befanden, die mir jedoch überhaupt nichts sagte.

Obwohl ich in Paris aufgewachsen bin, kannte ich bei weitem nicht alle Ecken dieser Stadt und das lag unter anderem daran, dass ich kaum mein zu Hause verließ. Gerade in diesem Moment ärgerte ich mich darüber, dass ich nicht wusste wo ich war.

Ich beschleunigte meinen Schritt, um Charlotte einzuholen und fürchtete mich davor sie aus den Augen zu verlieren. Der Gedanke, dass sie aus meinem Blickfeld verschwinden und ich mich verirren könnte, ließ mich leicht panisch werden. Doch bald darauf erreichten wir ein kleines Café. Es nahm gerade mal ein Drittel der gesamten Gebäudebreite ein und sah fast schon unmerklich niedlich aus. Mir wäre es vermutlich nicht aufgefallen, wenn ich die Straße entlang spaziert wäre. Aber ich kannte mich in der Gegend ja auch nicht aus.

 

Charlotte steuerte auf eine der Bänke des Cafés zu, die draußen im Schatten der Markise standen und setzte sich hin.

„Das war also dein großes Geheimnis? Du wolltest mir nicht sagen, dass wir in ein Café gehen?“, fragte ich leicht überrascht.

Zugegeben, war es ein äußerst gemütliches Café. Das konnte man bereits von außen durch die Glaswand erkennen.

„Na hör mal!“, rief Charlotte mit gespieltem Entsetzen, „das ist nicht irgendein Café! Das ist das Local Rock UND mein Stammcafé!“ Sie lachte auf und sah dabei sehr sympathisch aus.

„Außerdem ist das nur eine Zwischenstation.“, fügte sie diesmal ernsthaft hinzu und schaute auf die Displayuhr ihres Handys. „Wir sind früh dran und haben noch etwas Zeit totzuschlagen.“

 

Nicht lange nachdem ich mich gesetzt hatte, kam der Kellner. Charlotte bestellt sich „das Übliche“ und ich grübelte darüber nach, was das wohl hätte sein können. Da Charlotte so schnell bestellt hatte war ich in einem Dilemma, da ich nicht unnötig die Zeit des Kellners beanspruchen wollte. Allerdings war ich mit dem Menü des Cafés nicht vertraut und hätte erst einmal die Karte studieren müssen. Das würde Zeit kosten und ich fühlte mich überfordert, da sowohl Charlotte als auch der Kellner mir bei der Wahl zuschauen würden. Ich fühlte mich wie in einer Prüfung und fing an zu schwitzen. Mein Puls stieg an und bevor ich ohnmächtig wurde, entschied ich mich auf gut Glück auch „das Übliche“ zu nehmen.

„Ich nehme auch „das Übliche“.“, meine Stimme brach mitten im Satz ab. „Ich meine…. das was sie üblicherweise so nimmt.“, ich zeigte auf Charlotte, die das Geschehene amüsiert betrachtete und mich schelmisch angrinste.

 

„So so, du bist also auch „öfters hier“?“, sagte sie als der Kellner weg war. Ich wurde rot.

„Ich war noch nie hier.“, gab ich zu, „um ehrlich zu sein, kenne ich diese Gegend überhaupt nicht.“

„Wird sind am Pont de Flandre.“, erklärte Charlotte, als müsste es mir augenblicklich was sagen. „In der Nähe des Parc de la Villette.“, fügte sie hinzu, „das ist der größte Park in Paris und du warst noch nie hier??“

Ich schüttelte zögerlich den Kopf. Sie sagte es so, als hätte ich sie gefragt, ob der Mensch überhaupt innere Organe braucht.

 

Charlotte rollte mit den Augen. „Also gut, dann erzähl mir alles über dich!“, sie beugte sich über den Tisch und stützte sich auf ihre übereinander gefalteten Hände ab, die auf dem Tisch lagen. „Was möchtest du denn noch wissen?“, fragte ich sie. „Was machst du, wenn du nicht gerade deine Schmetterlinge züchtest?“, fragte sie.

„Also…“, ich musste überlegen. „Am Montag putze ich meine Wohnung, am Dienstag lese ich, am Mittwoch gehe ich … spazieren, am Donnerstag kaufe ich ein, Freitag und Samstag ist kreatives Arbeiten und Sonntag… „

„… gehst du in die Kirche?“, fragte Charlotte.

„Nein. Zu… meinen Eltern.“, erklärte ich.

Mein Alltag war durchgeplant. Jeder Tag trug eine Funktion.

Charlotte machte große Augen. „Wow!“, sagte sie. „Ich… weiß nicht, was ich sagen soll.“

 

Genau in dem Moment brachte der Kellner unsere Getränke, doch Charlotte schaute nicht auf, sie sah weiterhin mich an. „Weiß nicht. Ich stelle mir das alles anstrengend vor.“; sagte sie. „So durchgeplant und streng. Das hält doch keiner aus.“

Ich betrachtete meine Cola und dachte darüber nach.

 „Du solltest lockerer werden.“, sagte Charlotte und grinste mich an.

„Lockerer?“, fragte ich sie verwundert. „Wie meinst du das?“

Ich wusste, dass ich nicht sonderlich entspannt war, wenn ich von Fremden umgeben wurde, aber eigentlich sah ich nie einen Bedarf daran etwas zu ändern.

 

„Zum Beispiel..“, sie beugte sich noch weiter über den Tisch und ich griff schnell nach ihrer Cola, damit sie diese nicht mit der Schulter umstoßen konnte. „… solltest du ab jetzt viel mehr mit mir unternehmen.“ Charlotte sah mir tief in die Augen, wie eine Schlange, die ihre Kaninchen-Beute hypnotisieren wollte, dann griff sie nach der Cola, die ich immer noch in der Hand hielt. Dabei umfasste sie mit ihren Fingern die meine und eine Gänsehaut bildete sich auf meinem Arm und glitt scheinbar meinen gesamten Körper hinab. Mein Herz begann zu rasen und ich musste schnell nach Luft schnappen, da ich vergessen hatte zu atmen.

Oh Gott, ich war tatsächlich wie ein Kaninchen….

 

Ihre Mundwinkel glitten zu einem weiteren frechen Grinsen auseinander und sie zuckte kurz mit den Augenbrauen bevor sie den Strohhalm ihres Getränks an die Lippen führte.

 

„Dann ähm…. Erzähl du mir etwas über dich.“, stammelte ich.

Einerseits wollte ich tatsächlich alles über Charlotte wissen, gleichzeitig war ich froh, einfach nicht mehr über mich reden zu müssen.

 

Charlotte setze die Cola ab. „Über mich, phuuu“, sie wirkte nachdenklich und fasst schon verträumt. Es gab scheinbar so vieles über sie, dass sie nicht wusste, wo sie anfangen sollte. „Also ich spiele zusammen mit ein paar Freunden in einer Band. Wir proben immer am Wochenende und hin und wieder treten wir in kleineren Clubs oder Bars auf… Ich liebe Kunst! Sehr! Ich zeichne selber, aber Kunst aller Art fasziniert mich. Mein größter Traum ist es dieses Jahr an der „Nuit Blanche“ teilzunehmen! Wenn meine Eltern mich natürlich lassen würden...“, sie rollte mit den Augen und ich konnte nicht aufhören ihr zuzuhören und sie bei ihren Erzählungen zu beobachten. Was ich erwartet hatte, war, ein wenig mehr über Charlotte zu erfahren. Doch sie schien mir die Pforte zu ihrem Herzen zu öffnen, oder zumindest ein Fenster auf Kippe zu stellen, so dass ich einen Einblick erhielt wie es in ihr aussah. Die Art und Weise wie sie von Kunst sprach war unglaublich. Sie schien sich selbst darin gefunden zu haben. „…. zum Beispiel ein Bild vom amerikanischen Pop Art Künstler Roy Lichtenstein … es heißt „Ohhh…Alright…“ aus den Sechzigern… es würde sich total toll als Tapete auf meiner Wand machen, das wäre soo cool! Ich suche aber noch nach der passenden, oder nach einem Graffiti-Künstler, der mir das an die Wand macht. Ich selber kann in so großen Dimensionen leider nicht proportional zeichnen und….“

 

Ich war hin und weg von Charlotte. Ich liebte die Art wie sie die Kunst liebte. Zwar hatte ich keine Ahnung von Kunst und hatte auch noch nie arbeiten von diesem Künstler Lichtenstein gesehen, aber ich nahm mir just in diesem Moment vor, dass ich mich darüber erkundigen würde.

 

Als der Kellner unser Essen brachte, war ich fast schon enttäuscht, da Charlotte kurz zu ihm aufblickte und ihren lebhaften Redefluss unterbrach. Doch gerade, als ich ein „Rede bitte weiter!“ ansetzen wollte, plapperte sie vergnügt drauf los und diesmal über Kampfsport. Ich schluckte schwer und verschluckte mich an meinem eigenen Speichel, da der Gedanke, dass die kleine zierliche Charlotte mich wie ein Fischstäbchen zerhacken könnte, wenn sie wollte, unbehaglich war.

„Und.. wie lange machst du das?“, fragte ich zögerlich und hoffte darauf, dass sie nicht mit einer jahrelangen Laufbahn im Bereich exotischer Kampfkünste glänzen konnte oder zumindest keinen schwarzen Gurt irgendwo drin besaß. An dieser Stelle endete jedoch auch mein Wissen über solche Aktivitäten.

„Erst seit zwei Monaten…. Davor hatte ich es mit Trapez Akrobatik versucht. Schon seit ich klein war, war ich hin und weg vom Zirkus und wollte auch sowas können. Aber….“, sie nahm ein Schluck von ihrer Cola, „Leider hat dieses ganze Wunder am Trapez zu viel körperliche Anstrengung abverlangt und ich hätte mich schmerzhaft in ein Spagat dehnen müssen. Das alles ist sehr unentspannt und hätte viel zu viel Zeit gekostet. Da habe ich damit aufgehört.“

Charlotte schaute das erste Mal auf ihr Essen und schien es gerade erst bemerkt zu haben. „Mhmmm…“, schwärmte sie. „Na dann, lass es dir schmecken!“

 

Ich betrachtete das Essen, welches der Kellner gebracht hatte, genauer. Es bestand aus einem Burger mit Pommes, einer Cola und einem Törtchen,  was aussah wie ein Muffin mit Sahne. Auch wenn es nichts Besonderes war, sah es recht köstlich aus und ich war glücklich über „meine“ Wahl.

 

Unser Essen genossen wir fast im Stillen, nur die Geräusche des Straßenverkehrs und der Stadt begleiteten unser Abendmahl. Der Burger schmeckte erstaunlich gut und ich fragte mich, wie viel schädliche Stoffe er enthielt und ob das Fleisch echt war. Erst letztens hatte ich einen Bericht darüber gelesen, dass man eine Möglichkeit gefunden hatte Fleisch aus etwas anderem als Fleisch herzustellen. Sogar vom Geschmack sollte es sich nicht allzu sehr vom „echten“ unterscheiden. Den Tieren käme es natürlich sehr entgegen, was mich irgendwie positiv stimmte.

Ich war gerade in Gedanken, wie glückliche Schweine über die Wiese rannten und sich an ihrem Leben erfreuten, als Charlotte ihren Teller zur Seite schob und sich eine Zigarette anzündete.

„Wenn du dann gleich fertig bist, können wir gehen, sonst kommen wir zu spät.“, sie lächelte vieldeutig und ich wusste immer noch nicht, wo wir den restlichen Abend verbringen würden.

 

Ich beendete eilig meine Speise und griff zu meinem Portmonnaie, um die Rechnung in Angriff zu nehmen, als Charlotte mir versicherte: „Lass schon, ich mach!“

Sie ließ einige Scheine und Münzen auf den Teller fallen und streckte ihre Hand nach der meinen aus. Mein Körper verkrampfte umgehend. Zum einen freute ich mich, doch zum anderen war ich nicht sicher, was diese Geste bedeutete und wo sie hinführen würde. Ich war zu einer Beziehung noch nicht bereit, auch wenn mir Charlotte sehr gefiel.

So kam es, dass sie mich förmlich hinter sich her ziehen musste, wie einen widerspenstigen kleinen Jungen, da ich zu einer Statue gefroren war. Meine Emotionen und Gedanken haben scheinbar mein Gehirn überfordert und ich ließ mich von Charlotte einfach leiten. Sie hätte mich weiß Gott wohin hin bringen können und ich hätte es nicht einmal gemerkt.

 

Doch stattdessen zog mich Charlotte über die, wie sie sagte, Place de la Fontaine aux Lions, wo ein großer Springbrunnen stand, welcher von acht Löwen beschützt wurde, die alle samt Wasser spuckten. Es war ein schöner Brunnen und ich hätte mich gern dem Plätschern des Wassers hingegeben, hätte Charlotte mich nicht gnadenlos weitergezogen. Also spazierten wir weiter die Allée du Zénith hinauf und passierten dabei viele kunstvolle große Gebäude und Hallen. Ich fragte mich bei jedem einzelnen, was sich wohl darin verbarg und hin und wieder beantwortete Charlotte mir die Frage, ohne dass ich sie je aussprach. Hand in Hand liefen wir entlang der langen Promenade im Schatten der Bäume und zum ersten Mal am heutigen Tag begann ich mich zu entspannen. Es war ein wundervoller abendlicher Verdauungsspaziergang und er hätte niemals enden können, zumindest versprach die Allee auf den ersten Blick eine gewisse Endlosigkeit - jedoch sollte ich mich irren. Nicht einmal zehn Minuten später standen wir vor einem roten Gebäude, welchem eine große silberne Halle anhing. Mit großen, roten Buchstaben stand „le Zénith“ drauf, wobei die Buchstaben die Flügel eines Flugzeuges darstellten, welches auf die Erde zuzurasen schien.

 

„Da sind wir.“, sagte Charlotte völlig aufgeregt und ich konnte noch nicht begreifen weshalb sie so losgelöst war. Vor dem roten Gebäude standen Unmengen von Menschen in einer Schlange, die von Metallgerüsten als Absperrung navigiert wurde. Die meisten von ihnen waren Jugendliche. Vermutlich waren sie jünger als ich.

 

 „Ein Freund von mir hatte Karten für sich und seine Freundin bestellt, aber sie hat ihn vorgestern verlassen und jetzt will er nicht mehr hin, aaaaalso… hat er sie mir gegeben. Tadaaa!“ Ich sah zu Charlotte und sie strahlte mich an. Sie schien sich auf was auch immer da drin passieren würde zu freuen. Mein Blick fiel wieder auf das abstürzende „le Zénith“ Flugzeug und ich hoffte darauf, dass was auch immer wir heute Abend machen würden, nichts mit einem Flugzeug zu tun hatte. Der bloße Gedanke einmal hoch oben in der Luft zu sein, verursachte bei mir Übelkeit. Mir reichte es allein an Höhe auf einem Stuhl zu stehen, wenn ich nicht an ein Regal kam.

 

Ich erinnerte mich daran, wie ich als kleiner Junge eines Herbstes zum Spielen in den Park hinausgeschickt wurde. Alle anderen Jungen spielten mit einem Ball oder zogen die Mädchen an den Zöpfen. Ich hingegen wollte einfach nur allein sein.

Da sah ich sie! Unter ihrer Art war sie die Größte und Kräftigste, aber auch die Schönste. Leuchtend rot und wunderschön war ihr Haupt. Sie stach förmlich aus der Menge heraus und ich konnte meinen Blick keine Sekunde von ihr wenden. Meine Maman sagte mir später, dass sie ein Ahornbaum wäre. Ich hingegen nannte sie liebevoll Mérable, während ich mit dem Rücken an sie angelehnt meine Hausaufgaben erledigte und ihr hin und wieder aus einem Buch vorlas. Es sollte noch einige einsame Tage dauern, bis ich den Mut fasste und sie erklomm.

Zunächst umrundete ich sie einige Male und schaute mir ihre Äste von allen Seiten an.  Ich zog an dem einen oder anderen Ast, um die Tragfähigkeit zu testen und schließlich überwand ich mich und zog mich an einem von ihnen hoch. Mit den Füßen suchte ich Halt am Baumstamm und versuchte ein Bein über den Ast zu legen. Es gelang mir und ich legte das andere Bein von der anderen Seite um den Ast. So hang ich erst einmal da, bis mir einfiel, dass ich versuchen könnte ein Bein weiter über den Ast zu bekommen, um mich rittlings auf diesen zu setzen.

Nach mehreren Fehlversuchen und leisem Gekicher von einigen Mädchen, die sich scheinbar in der Nähe aufhielten und sich über mich lustig machten, gelang es mir endlich den Ast zu besteigen.

Ganz langsam und weniger elegant balancierte ich mich auf den Ast hinauf und versuchte den nächsten zu fassen.

Nach und nach bezwang ich einen Ast nach dem anderen und mit meiner Erfahrung und eingearbeiteten Routine stieg auch meine Sicherheit mit jedem weiteren Geäst. Letztendlich fand ich mich, umringt von roten, handförmig gelappten Blättern, in der Nähe des Baumwipfels und konnte die atemberaubende Schönheit der Aussicht nicht glauben, welche sich mir bot. Ich schloss die Augen und sog die Luft ein. Es erschien mir, als wäre dort oben alles anders. Die ganze Welt um mich herum war auf einmal wundervoll und ich wollte nie wieder von Mérable runter klettern.

 

Doch es waren die anderen, die mir mein Glück mit ihr nicht gönnen wollten. Sie riefen meinen Namen. Ich sollte runterkommen, man dürfte nicht so hoch klettern. Diesmal vernahm ich auch die Stimmen der anderen Jungen, sie hatten scheinbar aufgehört mit dem Ball zu spielen.

In meiner Ahnungslosigkeit, was daraufhin passieren würde, blickte ich zu ihnen hinunter.

 

Mein Herz blieb stehen und mich packte der größte Schreck, den ich je in meinem Leben hätte fühlen können. Vermutlich hätte mir sogar das Ende meines Lebens weniger Angst bereitet.

Ich blickte in die Tiefe. Äste, Äste und abermals Äste waren unter mir und unter ihnen standen kleine, nein, mickrige Gestalten. Fast schon unmerklich waren sie. Sie schienen meinen Namen zu rufen, doch auf einmal hatte ich das Gefühl, als ob sie zu weit weg waren, als dass ich sie hören konnte.

Meine Hände vergruben sich in der Rinde des Baumstammes und ganz plötzlich wurde aus der süßen Mérable ein Mhorrible – das Grauen meiner Kindheit!

Niemals hätte ich zurück auf die Erde gefunden und ich begann ein Heimweh zu empfinden, welches nur Astronauten kannten, die die endlosen Weiten des Weltalls erforschten und für die ‚Heimat‘ nicht das eigene Haus, sondern bereits der Planet Erde bedeutete.

Mir erschien es, als sei ich ein Luftballon, dessen Schnurr der kleinen, tollpatschigen Hand eines Kindes entglitt und nun stieg ich immer weiter hinauf und entfernte mich, entgegen der Erdanziehungskraft, vom Boden. Es dauerte eine Weile, bis ich merkte, dass ich mir dies nur einbildete, da mein Blick von meinen Tränen verschwommen war.

„Antoine, Antoine!“, meldeten sich die mickrigen Menschen wieder, „heulst du??“

Sie lachten über mich und tief im inneren meines Herzens tat es weh, aber noch viel mehr hatte ich Angst herunter zu fallen und diese mickrigen Geschöpfe platt zu wälzen.

Auf einmal vernahm ich den schrillen Alarm einer Sirene. Diese unangenehmen Klänge setzten so unerwartet ein, dass ich vor Schreck beinah vom Ast geflogen wäre. Jedoch hatte meine neuentdeckte Höhenangst meine Finger umso mehr in der Rinde verzahnt, sodass ich relativ sicher am Baum fixiert war.

Die Feuerwehr war gekommen, um mich vor Mérable zu retten! Meine ausersehene beste Freundin, die mir das Paradise schenkte, wurde innerhalb von Sekunden zu dem größten Albtraum, vor dem mich eine Feuerwehrleiter in Sicherheit bringen sollte. Doch zunächst einmal musste mich ein Feuerwehrmann aus meinen eigenen Fesseln befreien, indem er mit beruhigenden Worten auf mich einredete und geduldig einen Finger nach dem anderen aus der Starre zog. Er arbeitete sich so präzise vor, wie jemand, der an Weihnachten mühsam die Lichterketten entzwirbelte und am Ende gab es Applaus von der gesamten Crew, sowie sämtlichen Zuschauern, die sich über die Dauer meines Kletterabenteuers angesammelt hatten.

 

Ich fühlte mich wie in einem Film! Mit Ausnahme, dass ich nicht gerne im Rampenlicht stand, da ich mich sehr unsicher fühlte. Alle Augen waren in diesem einen Moment auf mich gerichtet und während das eine Schrecken mich verließ und ich den Boden nun endlich wieder unter meinen Füßen spürte, breitete sich das Zweite bereits aus – Aufmerksamkeit. In dieser Welt war ich stets unsichtbar, auf etwas anderes war ich nicht gefasst. Doch eh ich mich versah, blitzte es aus allen Richtungen und der Feuerwehrmann, der mich vom Baum rettete, legte seine Hand auf meine Schulter. Eins der Blitze ließ schließlich das Bild entstehen, welches später in der lokalen Zeitung abgedruckt wurde. Auf diesem Bild war ein großer freundlich aussehender Mann mit einem Schnäuzer zu sehen und neben ihm blickte ein kleiner Junge mit dunkelblonden Haaren und verweinten Augen erschrocken drein. Daneben stand ein halbseitiger Bericht über den heldenhaften Feuerwehreinsatz, ich hingegen wurde zu meiner Erleichterung nur kurz und nebensächlich erwähnt. Das Ganze war mit ‚Helden des Tages‘ betitelt.

 

„… sollten uns schnell anstellen, bevor es zu voll wird.“, vernahm ich Charlotte Stimme und meine kleine Gedankenreise verflüchtigte sich. Sie zog mich zielsicher in die Richtung, wo die Schlange anfing und tatsächlich, nur kurz nachdem wir uns angestellt haben, begann diese zu wachsen.

 

Mühsam kamen wir dem Eingang näher und in meinen Füßen und Beinen breitete sich ein leicht unangenehm werdendes Ziehen aus. Um uns herum blühten lebhafte Gespräche auf. Hier und da lachte jemand laut oder wippte ungeduldig von einem Fuß auf den anderen. Hin und wieder wurden Handys rausgeholt und bald darauf wieder zurückgepackt, manchmal wurde flink eine Nachricht eingetippt. Auch Charlotte war wieder in den Bildschirm ihres - wie sie es zu bezeichnen mochte – iPhone’s vertieft.

 

Je weiter die Sonne sich hinter den Horizont zurückzog und eine leicht kühle Brise durch die Menschenmenge flog, desto enger stand man bei einander. Reißverschlüsse wurden hochgezogen und die männlichen Begleiter nahmen die Mädchen in den Arm. Erst jetzt merke ich, wie dünn die Jacke war, die Pierre mir geliehen hatte. Doch Charlotte schien die Kälte nichts anhaben zu können. Sie stand einfach nur da, rauchte eine und kaute auf ihrer Unterlippe.

„Man, dauert das lange.“, es war das erste was sie seit gefühlt einer Stunde sagte. „Aber du wirst sehen, das Warten lohnt sich.“

Ihre Augen funkelten vor Aufregung und ich war bereit, was auch immer man da drin aufführen würde zu lieben.

 

Endlich hatten wir den Eingang  zum roten Gebäude erreicht und Charlotte holte die Karten raus, die ihr ihr Freund mit dem gebrochenen Herzen geschenkt hatte. Binnen Sekunden, in denen die Karten mehrere Hände wechselten, konnte ich die Worte „the“ und etwas, was wie „script“ aussah, lesen. Ich wusste werde, ob es der Name eines Stückes war, oder einer Gruppe, oder vielleicht einer Band.

 

Wir gingen hinein und ich orientierte mich an Charlotte, die sich scheinbar gut auskannte. Schon bald erreichten wir einen sehr großen Saal. Obwohl wir erst gerade in die Halle eintraten, war diese bereits fast  voll. Die Gespräche und Unterhaltungen, die den Raum füllten, erinnerten an das Summen eines Bienenschwarms. Es war überwältigend so viele Menschen auf einem Fleck zu sehen, jedoch auch beängstigend.  Ich pflegte stets solche Orte zu meiden, denn auch wenn ich immer unsichtbar blieb, konnte ich mich nie vollständig entspannen und mich meiner Gedanken hingeben. Doch neben Charlotte wollte ich das auch nicht.

Zielsicher navigierte sie uns zwischen Gruppen von jungen Leuten, die ihre Plätze bereits gefunden hatten und nun die Zeit totschlugen. Ich folgte ihr stumm.

 

Auf der rechten Seite, nur wenige Meter vor der Bühne, fand Charlotte den ‚perfekten Platz‘, wie sie es sagte. Selbstbewusst hatte sie sich durch die Mengen gedrängt und sich dort hingestellt, wo ihr die Sicht auf die Bühne am meisten zusagte. Im Kontrast dazu trottete ich etwas unsicher hinter ihr her, immerhin wollte ich niemandem den gewünschten Platz wegnehmen oder mich gar vordrängeln.

„Woohou! Und dann auch noch so nah an der Bühne!“, jubelte sie vor Freude und hüpfte leicht auf und ab. „Na los!“, fügte sie hinzu und deutete neben sich, "komm her!"

Umständlich versuchte ich mich neben sie zu quetschen. Das eigentliche Problem bestand dabei darin sich so hinzustellen, dass möglichst wenig Körperkontakt zu Charlotte und dem jungen Mann zu meiner Rechten bestand, was sich bei seinem überaus ausgeprägt muskulösen Körperbau als sehr schwierig erwies.

Kaum dass ich mich neben ihn gestellt hatte, schielte er zu mir rüber, wie auf einen mickrigen Käfer, was nicht gerade zu meiner Entspannung beitrug. Ein mulmiges Gefühl breitete sich in mir aus, so als könnten er und ich niemals Freunde werden.

 

„Bernard? Bernard, bis du’s??“, vernahm ich Charlottes überaus gut gelaunte Stimme.

Sofort wurden die grimmigen Gesichtszüge des Muskelprotzes weich, als er den Blick von mir zu der blonden Dame wechselte. Charlotte machte Anstalt in zu umarmen.

„Charly?? Fick mich doch!!! Hätte mir ja denken können, dass du hier abhängst. Indie ist ja schließlich dein Ding“, zwinkerte er ihr vertraut zu und lehnte sich über mich drüber, um Charlotte in den Arm zu nehmen. Da hinter mir bereits eine ganze Menge junger Menschen versammelt hatte, konnte ich nicht allzu weit nach hinten ausweichen, um der Umarmung nicht im Wege zu stehen. Mir blieb eigentlich nichts anders übrig als mich mit dem Oberkörper nach hinten zu lehnen und leicht in die Hocke zu gehen. Ich kam mir vor wie ein Huhn. Für einen kurzen Augenblick hatte ich das Gefühl so unwichtig zu sein, dass ich in einen gasförmigen Zustand übergehen könnte.

 

„Wer ist denn die Weichflõte hier?", sagte Bernard, als sie sich aus der Umarmung gelöst hatten. Mit seinem Daumen zeigte er eindeutig auf mich. „Du hängst doch sonst nie mit solchen Statisten und Nerds ab."

Perplex blickte ich zu Charlotte und als sich unsere Blicke trafen, rutschte mir beinah ein „Meint er mich??" raus. Ich konnte es kaum fassen, dass jemand so gemein und verletzend sein konnte. Auch Charlotte verlor leicht die Fassung. Scheinbar war sie auf eine solche Aussage ihres Freundes nicht gefasst.

Sie versuchte die Situation zu überspielen, indem sie überzogen lächelte und mir die Hand auf den Arm legte.

„Bernard, das ist Antoine. Antoine, das ist Bernard, er meint es gar nicht so. Eigentlich ist er ein ganz Lieber. Das war BESTIMMT ein Scherz."  Sie grinste mich noch einmal an, um sicher zu gehen, dass die Sache aus der Welt geschaffen war und blickte mehrmals von mir zu ihm und wieder zurück. Danach wendete sie sich wieder ihrem Handy zu.

 

„Wie du meinst, Süße!" Bernard schien ihre Meinung wohl nicht zu teilen und blickte mich noch einmal verurteilend von Kopf bis Fuß an, bevor er sich wieder seiner Begleitung zuwendete.

 

Ich stand da, wie eingefroren und dachte über die Worte des braunhaarigen Koloss nach, der sich hin und wieder von seiner hübschen Gefährtin abwendete, um heimtückisch zu mir rüberzuschielen. Sie flüsterten sich was zu und lachten. Ich war mir sicher, dass sie sich über mich unterhielten. War ich vielleicht tatsächlich so wie er es sagte? Und was meinte er mit Statist? Dachten das vielleicht alle von mir? Was dachte Charlotte wohl über mich?

Sie war immer noch in ihr Handy vertieft und wischte mit ihren Daumen immer wieder über den Bildschirm.

 

Einer Sache war ich mir sicher: dieser Bernard schien mich überhaupt nicht zu mögen und das aus einem unbestimmten Grund. Oder war seine Antipathie mir gegenüber völlig verständlich?

 

Noch nie hatte ich mir Gedanken darüber gemacht, wie ich auf Menschen wirken könnte. Nicht, weil es mir egal war, sondern einfach weil ich nie was mit anderen Menschen zu tun hatte. Ich war immer allein. Der einzige, der mir Gesellschaft leistete, war ich selber und über diese Art von Gesellschaft habe ich mich noch nie beschwert. Immerhin kannte ich mich lang genug und war an mich gewöhnt. Auch meine Schmetterlinge machten stets den Eindruck, als würden sie sich bei mir wohlfühlen. Nun fragte ich mich, ob sie nicht aus Höflichkeit nur so taten. Waren Schmetterlinge zu so etwas fähig? Was, wenn sie mich auch heimlich auslachten und hinter meinem Rücken gemeine Sachen über mich sagten? Würde mir das eines Tages auffallen?

 

Urplötzlich hatte ich das Gefühl mich selbst aus einem völlig neuen Winkel zu sehen. Aus irgendeinem Grund dachte ich allezeit, dass ich unsichtbar wäre. Aber unsichtbar sein war meiner Meinung nach nichts Schlimmes. Es hieß nur, dass man niemandem auffiel, weder positiv, noch negativ. Doch nun wurde mir offenbart, dass alles anders war.

 

Ich war so vertieft in meinen philosophischen Moment, dass mir gar nicht auffiel, wie es plötzlich dunkel im Raum wurde. Charlotte hatte bereits ihr Smartphone weggepackt und richtete sich etwas auf, um über die Köpfe hinweg besser sehen zu können. Ihre Aufregung, die zuvor von Bernards Bemerkung unterbrochen wurde, war wieder zurückgekehrt. Sie schaute kurz zu mir und grinste mich sehr breit an. „Es geht los!", flüsterte sie und stupste mich leicht mit ihrem Ellbogen an. Erst jetzt bemerkte ich, wie eng wir alle an einander standen und wie voll die Halle war.

 

Die Scheinwerfer auf der Bühne sprangen förmlich an und im selben Moment ertönten laut die ersten Töne einer Melodie. Erst jetzt verstand ich, dass es sich um ein Musikkonzert handelte.

 

Weder die Musik, noch die Interpreten waren mir bekannt, aber die Lautstärke war überwältigend. Schon bald empfand ich, als passte sich mein Herzschlag dem Bass an und ich begann leicht im Takt zu zucken. Es dauerte eine Weile, bis ich mich an dieses Gefühl gewöhnt hatte.

Auch wenn der Geräuschpegel nicht dem entsprach, was ich gewohnt war, gefielen mir die sich bewegenden Melodien der Lieder, welche durch angenehmen Gesang unterstütz wurden und ich fragte mich, wie dieses Genre genannt wurde.

 

Eine viertel Stunde in das Konzert hinein hatte das Gefühl des völlig Neuen nachgelassen und ich begann unter dem pochenden Bass die einzelnen Klänge der jeweiligen Musikinstrumente wahrzunehmen und zu lieben. Ein Gefühl keimte in mir auf, als würden mir die Töne eine gewisse Schwerelosigkeit schenken – Freiheit. Um dieses Gefühl empfangen zu können, schloss ich letztendlich die Augen und breitete meine Arme weit aus…

 

„Hey, was wird das??”, kämpfte eine tiefe Stimme gegen das Dröhnen der Musik an.

„Autsch!”, vernahm ich von der anderen Seite einen Schrei wie ein Flüstern. Ruckartig riss ich die Augen weit auf und zog schnell die Arme an meinen Körper. „Entschuldigung!”, versuchte ich laut genug zu schreien und doch kam nur ein Piepsen zustande. Es war bereits zu spät. Bernard baute sich vor mir auf. Zwei große Pranken, die seine Hände waren, packten mich am Kragen und zogen mich ein Stück hoch.  „Sieh an, wen wir da haben! Zuviel ‚Titanic‘ geschaut, oder was?? Was glaubst du, wer du bist?“

Sein Gesicht war nur wenige Zentimeter von meinem entfernt, daher konnte ich ihn klar und deutlich hören.

 

Hätte meine Angst vor ihm nicht mein Gehirn blockiert, wäre ich wahrscheinlich ohnmächtig geworden. Meine Knie zeigten gestaltenwandlerische Fähigkeiten und wurden zu Gummi. Seine grobe und massive Gestalt hatte definitiv die Wirkung auf mich, die Bernard hervorrufen wollte und ich musste aufpassen, mich vor lauter Respekt nicht einzunässen. Mein Herzschlag schien den Bass zu übertönen und ich zitterte so stark, dass ich befürchtete jeden Moment aus seinem Griff zu springen.

 

„Bernard! Lass ihn los!!“

„Oh mein Gott! Bernard!“

Charlotte und die dunkelhaarige vornehme Frau, die in Bernards Begleitung gekommen war, kamen mir zur Hilfe.

„Bernard, beruhig dich!“, Charlotte griff Bernard unter den Arm, um ihn von mir wegzuziehen.

Eigenartiger Weise blickte dieser zu seiner Gefolgschaft und schien sich etwas zu beruhigen. Zumindest ließ er mich los und richtete sich auf. Er nickte ihr kurz zu und rief: „Komm, Seline.“

Er sah mich noch ein letztes Mal an: „wir gehen!“, las ich von seinen Lippen ab.

Die beiden schritten durch die Menge von dannen und lediglich der intensive, prägende Eindruck, den der klotzige junge Mann hinterließ, blieb bis zum Schluss und bei mir persönlich bis zum Rest meines Lebens.

 

„Antoine, was sollte das?“, sagte Charlotte, nachdem unsere Nachbarn verschwunden waren und der Nachgeschmack des unangenehmen Momentes nachließ.

„Ehhh….“, ich wusste nicht so recht, was ich hätte sagen sollen, denn die Wahrheit, dass die Musik meine Seele geöffnet hatte, schien mir ziemlich peinlich. „Es tut mir leid…. Sehr!“ Mein Kopf sank automatisch und ich blickte zu Boden. Ein Schuldgefühl stieg in mir auf, dass ich den Abend für alle Betroffenen verdorben hatte, immerhin gingen Bernard und seine Freundin Seline sogar fort und dies war allein mein Verdienst. Doch für Charlotte schien an dieser Stelle alles geklärt zu sein. Ihre Aufmerksamkeit galt voll und ganz dem Geschehen auf der Bühne.  

 

Als wir am Ende des Konzertes zusammen mit einem dickflüssigen Menschenstrom die Halle verließen, mimte mein Herz immer noch die Takte der Lieder, allerdings wild durcheinander. Mein Körper pulsierte weiterhin vom Bass und die verschiedensten Emotionen entfalteten sich in voller Pracht in meinem Kopf. Ich spürte eine nie gekannte Euphorie und das Orchester meines Inneren drohte, mich wie eine Bombe in Stücke zu reißen. Einige besonders prägende Zeilen der Liedtexte wiederholten sich in meinem Gedächtnis wie auf Dauerschleife.

 

„Ist es immer so…. so…“, ich begann meinen Satz, ohne zu wissen, wie er enden sollte. Es war für mich schier unmöglich zu beschreiben, was in mir vorging.

„..voll?“, fragte mich Charlotte, bevor sie mich an die Hand nahm und uns gekonnt aus der Menschenmasse schlängelte. Durch ihren Einsatz kamen wir deutlich schneller voran und erreichten bald den Ausgang. Zielstrebig steuerte Charlotte die Allée du Zènith an, aus der wir heute bereits gekommen waren, und blieb abseits vom Gehweg unter einem Baum stehen. Sie drehte sich zu mir um. „Laut? Lebhaft?“

 

„Nein, magisch!“, ein passenderes Wort gab mein Kopf nicht her.

Charlottes Mundwinkel glitten langsam auseinander. Obwohl in ihrem Blick etwas Verständnisvolles lag, wirkte sie gleichzeitig verschmitzt und neckisch.

„Ich meinte… überwältigend.“ Etwas schüchtern blickte ich zu Boden.

„Es war sehr schön.“, sagte ich, um meinen Gefühlsausbruch abzurunden. Obgleich mich das erlebte Konzert vollkommen hinriss und meine Gefühle aufschwingen ließ wie ein Schmetterling, wollte ich Charlotte nicht mit meiner Stimmung belasten. Nachher würde sie mich noch für verrückt erklären.

 

„Also hat es dir gefallen!“, stellte Charlotte fest. „Das hatte ich erwartet.“

Sie grinste umso breiter und auch ich lächelte ihr entgegen. Es war ein magischer Abend.

 

Erst jetzt fiel mir auf, dass es bereits dunkel war und der Himmel eine Decke von Sternen über uns ausbreitete. Zwischen den Baumkronen sind sie mir zunächst einmal gar nicht aufgefallen.

 

Ohne den Blick vom Firmament zu nehmen, schob ich den Ärmel meiner Lederjacke hoch und hielt mein Handgelenk über meinen Kopf, um auf die Uhr zu blicken. Ich zuckte kurz zusammen, als diese mir verriet, dass es bereits nach Mitternacht war. „Oh Schreck!“, schoss es aus mir heraus. „So spät.“, fügte ich beinah im Flüstern hinterher. Es kam sehr selten vor, dass ich lange wach blieb, aber noch nie war ich zwei Tage hintereinander zur Bettzeit noch unterwegs.

 

„Was ist Cinderella? Verwandelt sich deine Kutsche bald in einen Kürbis?“, neckte mich Charlotte und ich vernahm ihr leises Kichern. Mein Blick fiel auf sie und ich stellte fest, dass sie im Sternenlicht besonders hübsch aussah. Prompt hackte sie sich bei mir ein. „…denn ich habe Hunger und wollte noch etwas essen gehen.“

 

„In Ordnung.“, hörte ich mich selber sagen. Schließlich konnte ich Charlotte nichts abschlagen. Also liefen wir dicht nebeneinander die Alleé du Zénith hinauf, was mir sehr entgegenkam, da ich langsam zu frösteln begann. Durch meine Lederjacke spürte ich die Wärme, die von Charlotte ausging. Auf eine eigenartige Art und Weise fühlte ich mich mit ihr verbunden, was auch daran lag, dass sie neben Pierre der einzige Mensch war, deren Gesellschaft ich länger als ein paar Minuten genoss. Unter anderen Umständen wären wir bereits beste Freunde, doch war ich mir der Beziehung in der ich zu Charlotte ihrer Meinung nach stand nicht sicher. Ich traute mich nicht einmal zu ihr hinzublicken, aus Angst ihr zu nahe zu treten und in ihre Privatsphäre einzudringen. Jedenfalls hatte ich keinen triftigen Grund, um auch nur in ihre Richtung zu schauen. Dabei hätte ich sie zu gern angesehen, wie sie unmittelbar nah neben mir her lief, wie ihre Haare im Laternenlicht leuchteten und….

 

„Burger oder Chicken McNuggets?“, ertönte es neben mir. Ruckartig starrte ich Charlotte an. Ihre Frage kam wie aus dem Nichts und ich war mir nicht mal sicher ob es als eine vollständige Frage zählte. „Wie bitte?“, sagte ich direkt in ihre Ohrmuschel.

„Na, was magst du lieber?“, versuchte Charlotte ihre Frage zu verdeutlichen. „Burger oder Chicken McNuggets? Wir sind fast da.“

Erst jetzt verstand ich, dass sich ihre Frage auf Essen bezog und ich erinnerte mich, wie Charlotte sagte, dass sie Hunger hatte.

„Nunja…. was hat weniger Fleisch?“, meine Frage kam mir nicht sonderlich geschickt vor.

 

„Hmmm“, überlegte sie. „Vielleicht bist du dann eher der McWrap-Typ… oder du bestellst dir einen Salat….. oder einen Veggie Burger. Ja, ich denke, da wird auch was für dich dabei sein.“ Sie lächelte ohne mich anzusehen und schien sich auf ihr Nachtmahl zu freuen und wie ich sie so sah, verspürte ich auch ein leichtes Hungergefühl.

 

Bald darauf standen wir wieder in der Avenue Jean Jaurés vor McDonald’s, welches sich nur zwei Gebäude vom Local Rock befand. Zu meinem Erstaunen hatte es sogar um diese späte Uhrzeit noch auf und eine Gruppe von Jugendlichen, die mit uns das Konzert verlassen hatten und vor uns die Alleé du Zénith hinauf gelaufen waren, tummelte sich an den Tresen.

 

„Oh, möchtest du auch eine Cola oder lieber was anderes?“, fragte mich Charlotte während wir eintraten. Eigentlich war ich es nicht gewohnt, überzuckerte diabeteserregende Getränke in solchem Maß zu konsumieren, gleichzeitig war ich mir aber auch nicht sicher, ob McDonald’s irgendetwas Gesundes oder zumindest nicht Gesundheitsvernichtendes anbot. „Gibt es hier Wasser? … Es kann auch Leitungswasser sein, wenn es ihnen nichts ausmacht.“, versuchte ich meine Erwartungen nicht zu hoch klingen zu lassen, um nicht fordernd rüberzukommen.

 

Doch Charlotte schien daran nichts Eigenartiges zu sehen. Sie marschierte zielsicher zur Theke und ließ ihre Bestellung aufnehmen, während ich noch unsicher am Ausgang stand, als sei ich jeder Zeit zur Flucht bereit. Ich sah hinüber zu ihr und sah, wie sie über die Theke gelehnt mit dem jungen Mann in Arbeitskleidung sprach, wie er sie angrinste, wie sie eine ihrer blonden Strähnen spielerisch hinter ihr Ohr klemmte und lachte, während er ihr etwas erklärte. Sie war so selbstbewusst und sicher, als wäre sie überall in der Welt zu Hause. Ich dachte daran zu ihr rüber zu gehen und auch etwas zu sagen, sie zum Lachen zu bringen oder damit sie mich zumindest ansah, doch ich fühle mich wieder wie ein Fremder, der nicht in die Szene passte.

 

Als sie wieder auf mich zu gelaufen kam, trug sie zwei große Tüten, die ziemlich schwer aussahen. Ich eilte ihr entgegen, um ihr diese abzunehmen, doch sie manövrierte diese geschickt unter meinem Griff hindurch und steuerte direkt auf die Tür zu.

„Neeeein, nicht hier.“, sagte sie und grinste immer noch guter Laune.

 

Also folgte ich ihr über die Straße, bis wir auf ein paar breiten, jedoch sehr unbequemen Fahrradständerpfosten Platz nahmen. Diese boten keine geeignete Sitzgelegenheit, weshalb wir uns nur mit unserem Gesäß daran anlehnten. Wir packten unseren Imbiss aus, als wäre es ein Weihnachtsgeschenk, auf das wir schon lange gespannt waren und tatsächlich hatte es Charlotte geschafft mein Menü weitestgehend fleisch- und zuckerarm zu halten. Und so langte sie bei ihrem Doppel-Cheeseburger, den Chicken McNuggets und einer großen Cola Light zu, während ich vergnügt meinen Quinoa Honig-Senf Wrap und einen Snack Salat mampte und beides mit Mineralwasser runterspülte. Dazu gab es für jeden eine Apfeltasche.

 

Gerade als ich die Ecke meines Nachtischs abbiss und den Mürbeteig etwas andrückte, sodass der Apfelmus mir entgegen quoll, beendete Charlotte ihre Mahlzeit. Wieder einmal war sie schneller als ich und zündete sich bereits eine Zigarette an. Nachdem sie einen kräftigen Zug nahm und eine Qualmwolke auspustete, richtete sie die zwei Finger, mit denen sie ihre Zigarette hielt, auf das Gebäude schräg links von uns.

„Weißt du, was das ist?“, fragte sie in einem Ton, als würde sie es mir schon gleich selbst verraten.

Ich schüttelte meinen Kopf, während ich ein „mh mh“ von mir gab, mit der Sorgfalt, den Mund dabei nicht zu öffnen.

„Das ist die Conservatoire de Paris. Meine beste Freundin Anna möchte dort aufgenommen werden.“ Charlotte schaute zu Boden und wurde etwas ernster als ich es von ihr gewohnt war. Ich konnte nicht deuten, ob es daran lag, was die Conservatoire de Paris darstellte oder ob es etwas mit der unbekannten Anna zu tun hatte. Gleichzeitig wusste ich nicht, was ich sagen sollte, daher entschied ich mich stumm zu bleiben, auch wenn ich mir dabei blöd vorkam und mich in Gedanken verfluchte.

„Sie macht Ballet und trainiert fast jeden Tag wie bekloppt…. Talente fordern eben viel!“, sie grinste etwas zu überheblich als sie mich wieder anschaute, „Komm wir gehen.“

 

Charlotte beugte sich vor und drückte ihre Zigarette an einer der McDonald’s Schachteln aus. Die Tüte hob sie auf und knüllte sie weitestgehend zusammen, während sie auf einen der Mülleimer zusteuerte. Ich tat es ihr gleich und folgte ihr. 

 

Als ich meine Begleiterin endlich einholte, in dem ich ein kleines Stück rannte, blickte sie kurz zu mir. Ihre Mundwinkel glitten dabei für einen Moment wieder auseinander und sie nahm noch einmal meine Hand. Diesmal war ich mehr darauf vorbereitet und genoss es sehr. Stolz erfüllte mich, dass ein Mädchen wie Charly (wie Bernard sie nannte) Hand in Hand mit mir durch die Gegend spazierte.

 

Ich stellte mir dabei vor, wie wir zusammen eine Parade entlang schritten, wie uns die Menschenmenge links und rechts von uns zujubelte, wie sie Rosenblätter auf uns herab warfen und wie sie sich mit mir freuten….  Die Romantik meiner Vorstellung wurde einzig und allein dadurch zerstört, dass wir in eine metró einstiegen. Schon seit meiner Kindheit fand ich metrós etwas unheimlich. Sie waren grell und unvorteilhaft beleuchtet und ließen alle Menschen wie Zombies aussehen, aber es waren vor allem die geisterhaften Reflexionen die in den Fenstern erschienen, sobald man durch einen Tunnel fuhr, die mich erschauern ließen.

 

Tatsächlich hatte diese Fahrt nichts Magisches an sich und konnte mit dem bisherigen Abend nicht mithalten, dennoch lag Charlottes Hand in meiner. Ihre Finger mit den schwarz lackierten Fingernägeln bewegten sich selten. Sie saß lässig und entspannt dar und schien vor sich hin zu träumen.

 

Nur gerne hätte ich durch ein Schlüsselloch in ihren Kopf geschaut und einen Blick auf ihre Gedanken erhascht. So viel an ihr schien unergründet zu sein, was mich sowohl faszinierte und gleichzeitig verschreckte. Sie war so viel, was ich niemals sein konnte. Ihre Art, ihre Einstellung, ihr Mut und ihre Unternehmensfreudigkeit waren so ansteckend, dass man so wie sie sein wollte. Zum ersten Mal in meinem Leben spürte ich eine Energie, die nie zuvor da war. Ich spürte, wie in mir der Hunger nach etwas Neuem aufkam, nach etwas noch nie zuvor Dagewesenem. Ich wollte Neues ausprobieren, die Welt erkunden, mutig sein, etwas erleben. Mit Charlotte würde ich Hand in Hand die Welt erobern.

 

Es stand fest: Ab morgen würde ich mein Leben umkrempeln und meine Lebensroutine ein für alle Mal über Bord werfen!

 

„Bei der Nächsten musst du aussteigen….“, verkündete mir Charlotte sicher. Sie schien alles zu wissen und in allem sicher zu sein. So wollte ich auch werden!

„… also machen wir Folgendes:“, setze sie an und lächelte mir verschmitzt zu, als hätte sie einen hinterlistigen Plan geschmiedet.

„Ich habe eine kleine Übung für dich.“, sie löste ihre Hand von meiner und griff nach meinem anderen Arm, den sie zu sich zog. Flink schob sie den Ärmel meiner Jacke etwas hoch und ehe ich mich versah hielt sie einen Stift in der Hand und war dabei, mir Zahlen auf meinen Arm zu malen. „Das ist meine Nummer. Wenn du mich sehen willst - und das willst du - rufst du an.“

 

Mein Brustkorb verengte sich und ich begann leicht zu frösteln. Die Tatsache, dass Charlotte mir geschickt die Zügel in die Hand drückte, überforderte mich und ich hatte Angst, mich versehentlich an ihnen zu erhängen. Zu meinem Bedauern gab meine Kehle auch noch keinen Laut her, sodass ich nicht widersprechen und ihr die Zügel zurückgeben konnte. Ich fühlte mich eindeutig nicht bereit für diese große Aufgabe.

 

Zusätzlich hielt die Bahn auch schon an meiner Station, jedoch waren meine Knie weich und die plötzlich eingetretene Angst, die diese unerwartete Situation hervorgerufen hatte, ließ mich etwas erstarren, sodass es mir schwer fiel aufzustehen und die metró zu verlassen. Charlotte zog mich förmlich am Arm hoch und geleitete mich zum Ausgang.

 

„Ich würde mich freuen!“, sagte sie mir zum Abschied, als sie mich durch die Tür schob. Die Türen schlossen sich hinter mir und die Bahn setzte sich in Bewegung.

3. un petit exercice

Sonntagsbesuche bei Arno und Elise waren selten etwas Erfreuliches. Während Elise mich wie ihren eigenen Sohn behandelte und umsorgte, sah mein Vater Arno seine größte Aufgabe darin mich zu einem ‚echten Mann‘ zu erziehen. Es passte ihm nicht, dass ich nach Maman kam.

 

Meine engelhafte Maman – wie gerne würde ich doch alles tun, um sie bei mir zu haben. Gerade jetzt, wo ich dringend ihren Rat gebrauchen könnte.

 

Hier saß ich nun auf einem der altmodischen grau-braunen Cord Sofa und ließ mir von Elise, einer Frau Mitte fünfzig, die allerdings immer noch bildhübsch war, Tee und Plätzchen auf dem kleinen Fernsehtisch servieren. Sie lächelte wie immer und zwinkerte mir zu bevor sie sich hinsetzte.

 

„Lepidopterologie. Le-pido-pterologie.“, wiederholte mein Vater das Wort, als wäre es eine Krankheit. Er fixierte dabei die ganze Zeit einen Punkt in der Ecke des Raumes knapp unter der Decke.

 

„Wäre es wenigstens Medizin oder etwas Vernünftiges!“, sah er mich wieder an. Diese Diskussion führten wir jedes Mal, wenn ich bei meinen Eltern war.

 

„Jetzt lass den Jungen doch!“, hörte ich Elise. Sie stellte sich meistens auf meine Seite, wenn mein Vater Streit anfing. Nur manchmal enthielt sie sich ‚um die Männer mal raufen zu lassen‘, sagte sie mir mal, als wir nach dem Abendessen in der Küche das Geschirr spülten.

„Nimm es Arno nicht übel“, hatte sie damals gesagt, „er macht sich nur Gedanken um deine Zukunft.“

Doch die machte ich mir auch. Ich hatte Angst! Ich hatte Angst das Falsche zu tun und ich hatte Angst das Richtige zu tun und dabei zu scheitern. Ich hatte einfach nur Angst!

 

„Antoine?!“, Arno starrte mich an. „Hörst du mir überhaupt zu?“

„Ja, Papa!“, antwortete ich.

„Gut! Dann kannst du mir ja auch erklären, warum du noch nicht Jura studierst! Dein Onkel Bruno hat für dich einen Platz an der Université Lumière Lyon 2 reserviert und…“

„Arno!“, meldete sich Elise zu Worte. „Nicht jeder hat das Interesse und die Begabung sich Gesetze einzuprägen und vor Gericht aufzutreten. Antoine hat ganz andere Leidenschaften! Vielleicht wird aus ihm ja ein toller Wissenschaftler. Du solltest ihn in seinem Vorhaben unterstützen. Er ist dein einziger Sohn und wir haben alle nur ein einziges Leben!“, sie setzte wieder ihr entwaffnendes Elise-Lächeln auf und wollte gerade weitersprechen, als Arno sie unterbrach.

 

„Erzähl du mir nicht, wie ich meinen Sohn zu erziehen hab!“, schrie er sie an.

„Ich weiß genau, was ich tue. Da lass ich mir von dir nichts reinreden. Du hast ja noch nicht einmal Kinder!“

 

Sofort verstummte Arno, als er begriff, was er da gerade gesagt hatte. Elise‘ Lächeln verschwand und in ihren Augen lag unfassbare Trauer.

Arno hatte es wieder einmal geschafft einen geliebten wundervollen Menschen auf taktlose Art und Weise zu verletzen.

 

Elise‘ Augen wurden feucht, doch sie fasste nochmal all ihre Kraft zusammen und lächelte.

 

„Entschuldigt mich, meine Lieben.“, sagte sie und verließ den Raum.

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Tag der Veröffentlichung: 11.08.2014

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