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Prolog:

 

 

19.12.1891, 02.16 Uhr

 

Verzweifelt rannte er durch die Dunkelheit. Es war wie in etlichen seiner Alpträume. Doch nun war es die Realität.

Wieso? Wieso musste es so kommen?

Er wischte sich hektisch mit dem Ärmel über die Augen um die Tränen zu vertreiben, die ihm die Sicht nahmen.

Wenn er doch nur den Weg zum Hafen gewählt hätte, dann hätte er vielleicht das Land verlassen können! Aber daran hatte er im ersten Moment seiner Angst nicht gedacht und nun war es zu spät. Er wusste, dass er es nicht mehr schaffen würde zu entkommen. Mit über fünfzig Jahren hatte er nicht mehr die erforderliche Ausdauer für eine Flucht, und dann noch seine verdammte Entzündung im Knie …

Nein, er hatte keine Chance.

Und dieses verrückte Monster in Person war noch jung und würde ihn bald eingeholt haben …

Doch trotzdem rannte er weiter. Er war immer ein lebensfroher Mensch gewesen! Er wollte sich nicht so einfach geschlagen geben! Wenn er an all die schönen Dinge dachte! Er liebte die Natur in ihren ganzen Farben und Seiten; hatte es immer genossen mit Leuten zu reden; es hatte ihm das Herz erwärmt den Kindern der Nachbarn beim Spielen zuzusehen. Und es machte ihn umso trauriger, dass er selbst keine hatte. Wie gerne hätte er seine Tochter mit schönen Kleidern verwöhnt, oder seinem Sohn von seiner Zeit in der Marine erzählt. Seine Frau und er hatten immer darauf gewartet, dass dieses kleine Wunder geschieht, doch nie wurden seine Gebete erhört.

Er dachte an alle, die er liebte, und die er nie wieder sehen würde.

Wieso musste er sich damals nur mit seinen Geschwistern streiten? Nun waren das Letzte, was er an sie gerichtet hatte schlimme Worte. Wie gerne hätte er ihnen noch einmal gesagt, wie lieb er sie hatte. Doch dazu war er all die Jahre zu stolz gewesen.

Wie gerne hätte er auch noch einmal seine ganzen alten Freunde besucht. So lange war es schon her, seit er sie das letzte Mal gesehen hatte …

Doch nun war alles vorbei, sein Leben würde in Kürze beendet sein.

Er wagte einen Blick nach hinten. Die schwarzvermummte Gestalt war lautlos näher gekommen.

Er richtete den Blick wieder geradeaus und versuchte schneller zu laufen. Doch die Schritte hinter ihm wurden zunehmend lauter. Schon konnte er das Schnaufen seines Verfolgers hören.

Und dann plötzlich wurde ihm ein kräftiger Hieb von hinten verpasst, er schrie auf und stürzte zu Boden. Mühsam drehte er sich um und kroch rückwärts ein paar Meter weiter. Auch Grim, der seinen Spitznamen wegen seiner oftmals grimmigen Miene bekommen hatte, war ins Straucheln gekommen, aber auf den Beinen geblieben. Beider Atem keuchte vor Erschöpfung.

Grim ging, den Augenblick genießend, auf ihn zu und lächelte auf ihn herab. „Du solltest dich jetzt sehen“, sagte sein Verfolger mit schnurrender Stimme und begann langsam ihn drohend zu umkreisen, „Wie ein Käfer dem man ein Bein nach dem anderen ausgerissen hat. Sehr amüsant. Wie oft habe ich mir diese Situation in Gedanken still und heimlich vorgestellt!“

„Lass mich am Leben!“, flehte er.

„Dich am Leben lassen?“ Grim schüttelte den Kopf. „Nein. Dieses Risiko bin ich nicht bereit einzugehen. Ich möchte ja nicht, dass du mich doch noch verrätst.“

„Ich verrate dich nicht! Das würde ich nie tun!“

Ein jähzorniger Ausdruck breitete sich auf dem Gesicht seines Gegenübers aus, dann trat dieser ihm energisch in die Seite und schrie: „Lügner! Du warst bei der Polizei! Ich habe dich gesehen!“

Dieses Monster war ihm gefolgt … Ihm blieb der Mund offen stehen.

Grim lachte verbissen auf. „Es bringt nichts, jetzt noch irgendetwas zu leugnen. Es ist vorbei. Ich hätte dich schon viel früher töten müssen.“

Er wich noch weiter zurück. „Nein, warte! Bitte halte noch einen Moment ein!“ Als er sah, wie Grim tatsächlich zögerte, nahm er seine letzte Chance beim Schopf und versuchte ihn umzustimmen. „Es war nur ein Augenblick des Schwachwerdens! Und es wird nicht wieder geschehen! Ich fühle mich stärker als zuvor! Wirklich, ich schwöre es dir, ich stand nur davor, ich bin nicht ins Präsidium gegangen!“, versicherte er, „Du kannst deiner Sache weiter nachgehen! Ich werde dich nicht daran hindern! Weder das, noch werde ich mich einmischen! Glaube mir! Ich halte mich raus! Sowieso möchte ich nichts Genaueres wissen…!“

„Aber dennoch weißt du es“, erwiderte er. Die Augen funkelten bestialisch im Schein des Mondes unter der tiefgezogenen Kapuze hervor.

„Ich verspreche dir, es wird so sein, als wüsste ich es nicht!“, schwor er, „Darin bin ich gut. Ich weiß seit drei Jahren davon und du hast es erst vor kurzem gemerkt.“

Sein Gegenüber hielt einen Moment inne und schwieg.

Es schienen Stunden zu vergehen und er blickte erwartungsvoll zu dem anderen auf.

„Nein“, sagte Grim plötzlich und setzte sich wieder in Bewegung, „Du bleibst eine Bedrohung! Und jetzt da eine Legende untergeht! Jetzt, muss ich mich noch mehr der Sache widmen. Schon allein wegen des Meisters Würde und Weisheit!“

Er verstand kein Wort von dem was Grim sagte, und er flehte nun endgültig verzweifelt: „Ich möchte leben! Bitte! Ich tue alles was du willst! Bitte!“

Sein Verfolger trat ihn erneut. „Hör auf zu jammern! Zeig Stärke! So wie gerade eben. So wie immer!“

Dann lächelte Grim bittersüß. „Stirb mit Würde.“

 

 

 

***

 

 

Rückkehr

 

19.12.1891, 8.29 Uhr

 

Ich saß in meinem Büro hinter dem Schreibtisch, die Beine nach oben gelegt, und las die Akte meines frisch abgeschlossenen Falls mit einem zum Teil zufriedenen, und zum anderen Teil mit einem traurigen Lächeln. Ich hatte es geschafft Ameau Aurevoir, einen französischen Serienmörder, der in der Welt umher reiste und mit einer abscheulichen Leidenschaft Kinder tötete, das Handwerk zu legen, als er in Venedig, wo er gerade angekommen war, dabei war noch größeren Schaden anzurichten. Gerade befand er sich noch in Venedig hinter Gittern, aber bald würde er Auge in Auge mit dem Galgen stehen. Und darauf freute ich mich nur zu sehr!

Ich war nach über vier Monaten, die enorm belastend und anstrengend waren, wieder in meine Heimat London gereist. Ein Arzt hatte gemeint, dass ich noch ein paar Wochen Ruhe bräuchte. Und meine verletzte Schulter würde wohl etwas Langwieriges werden, was mir ganz und gar nicht passte. Ich war ein inzwischen erfolgreicher Inspektor und Fälle zu lösen war mein Leben! Ich brauchte diese Arbeit. Vor allem jetzt nach diesem Fall.

Vielleicht war es wirklich verrückt und starrsinnig sich immer wieder nach einer schlimmen Sache in die Nächste zu stürzen und sich wieder mit Arbeit zu überhäufen, wie meine Schwester immer meinte.

Aber so war es eben. Jeder Polizist den ich kannte, und das waren reichliche, verhielten sich so. Es war eine Tatsache, die nur im seltensten Fall angesprochen wurde. Keiner konnte besorgte Fragen über den eigenen Zustand nach einem zermürbenden Fall leiden.

Ich setzte gerade den Tassenrand an die Lippen als es an die Tür klopfte. Es war ein rhythmisches Klopfen, einfach unverkennbar! Und meine Miene hellte sich augenblicklich auf. Es war eindeutig mein guter Freund und Kollege Jared Everett. Er streckte den Kopf herein und sah mich ungläubig an. „Tevion! Und ich hatte schon gedacht, der Portier hätte sich verguckt.“

Ich rappelte mich auf, lachte und kam ihm entgegen. „Überraschung!“

„Das ist es tatsächlich.“ Wir umarmten uns freundschaftlich. „Wir alle hatten mit Ihnen erst in zwei oder drei Wochen gerechnet.“

„Ach, wirklich?“, meinte ich und zuckte mit der einen Schulter.

Er musterte mich eine Weile. „Sie haben sich einem zweiten Arztbesuch widersetzt, nicht wahr?“

„Ich weiß gar nicht, was Sie meinen.“ Ich lief zurück zum Schreibtisch und setzte mich.

„Natürlich …“ Jared zog sich den anderen Stuhl zu Recht und nahm mir gegenüber Platz. „Wann sind Sie wiedergekommen?“

„Vor ein paar Tagen. Ich hoffe, Sie vergeben mir, dass ich mich noch nicht gemeldet hatte. Aber ich … Ich musste mich erst einmal wieder einleben.“

Er nickte verständnisvoll und wusste, was ich ungesagt gelassen hatte. „Im Übrigen war ich so frei Ihre Post in Ihr Schließfach zu legen. Ich weiß ja, wie sehr Sie es mögen, wenn Ihre Post ungeschützt herum liegt.“

„Danke sehr!“ Ich streckte ihm grinsend die Hand entgegen und er gab mir den Schlüssel zurück. „Sah irgendeiner der Umschläge wichtig aus?“

Jared machte eine abwiegelnde Bewegung. „Es reicht, wenn Sie sie heute Abend lesen würden.“ Plötzlich schien ihm etwas einzufallen. „Apropos! Wenn ich gerade darüber nachdenke, habe ich die Zeit völlig vergessen!“

„Müssen Sie wo hin?“

Er lachte verlegen auf. „Ja. Es gibt Arbeit. Die anderen warten vermutlich schon auf mich.“

In Gedanken dankte ich Gott, da ich darauf gehofft hatte, dass es etwas zu tun gab.

Jared warf mir einen Blick zu. „Ich kann Sie nicht dazu bringen hier zu bleiben und sich auszuruhen, nicht wahr?“

Ich lächelte breit. „Unter keinen Umständen.“, meinte ich und stand entschlossen auf. „Worum handelt es sich denn?“ Er seufzte laut, dann setzten wir uns in Bewegung.

„Ein Junge hat vor ungefähr einer Stunde Hilfe geholt. Sein Vater und er hätten einen Toten gefunden. Darabont und Adams gingen nachschauen und haben nun Verstärkung angefordert. Und das nicht gerade wenig.“

„Hört sich interessant an.“

Jared grinste mich fröhlich an. „Schön, dass Sie wieder hier sind! Es wurde schon langsam langweilig, dass sich keiner Onnington widersetzt.“

„Schön zu hören.“ Ich erwiderte das Lächeln.

Als wir die letzte Treppe gegangen waren und in die große Eingangshalle gelangten, entdeckte ich sofort eine Gruppe Männer. Es waren meine Kollegen, die denselben Dienstgrad hatten. Isaac Perlman, der grenzenlos Optimistische; Angus Onnington, der mürrische Sturkopf; Elliot Lincoln, der ‚Bär des Yards‘ und die rechte Hand des Deputy Assistent Commissioners; James Rules, der verträumte Tollpatsch; Richard Hawn, der freundlich lächelnde ‚Gedankenleser‘; John Badham, der stille Beobachter; und Joseph Berland, die Quasselstrippe.

Mit den beiden, die von dem Jungen geholt wurden, nämlich Sidney Darabont, eine stets nörgelnde, schrecklich bequeme Person, und Robert Adams, eine Frohnatur; und Jared, der Strukturierteste von allen, und meiner Wenigkeit waren wir komplett. Wir waren die unterstellten Inspektoren von DAC Arthur Callaham.

Als sie uns entdeckten, war jedem die Überraschung ins Gesicht geschrieben.

„Tevion! Ich glaub’s ja nicht!“, rief Lincoln und kam fröhlich ein paar Schritte auf mich zu geschlendert.

„Sie sind ja wieder hier!“, sagte Richard. Die nächsten Minuten vergingen damit, dass sie mich willkommen hießen und wir über einiges redeten. Mir fiel auf, dass sich alle über meine Rückkehr freuten. Und das rührte mich. Es war schön, wieder das gewohnte Umfeld um sich zu haben!

„Los, machen wir uns auf den Weg!“, meinte Perlman und wir taten es. Wir riefen zwei Droschken heran und nahmen darin Platz.

Lincoln, der mir gegenüber saß, kramte etwas aus seiner Manteltasche. Es war eine zusammengefaltete Zeitung, die er mir reichte. „Der Artikel auf der Titelseite wird Sie interessieren.“

Ich las nur die Überschrift und sah schon wieder auf. „John Gate! Er hat Preston gefasst?!“

„Tut mir leid.“, sagte er. „Ich weiß, Sie hatten ihn auch ins Visier genommen.“

„Um Preston wollte ich mich nach … Venedig kümmern. Verdammt, er ist mir schon wieder zuvor gekommen!“

„Für uns alle war es überraschend.“, wand Jared ein. „Keiner hatte vermutet, dass Mr. Gate bereits so viel über Preston vorzuweisen hat.“

„Habt ihr mit ihm reden können?“, stieß ich aus. Meine Kollegen sahen sich an und begannen zu lachen.

„Nee, wo denken Sie hin?“, gluckste Jared.

„Keine Ahnung was nötig ist, bis sich der große John Gate, Privatdetektiv vom Feinsten, der ‚Gesichtslose’ mal blicken lässt.“, fügte Richard hinzu.

„Dafür müsste er wohl in einer Bärenfalle steckengeblieben sein.“

„Nein, eher tot. Eine Bärenfalle! Ich bitte Sie James, Mr. Gate wird doch wohl in der Lage sein sich aus einer Bärenfalle zu befreien!“, entgegnete Lincoln.

„Was ist dann passiert?“, hakte ich nach.

„Man hat mitbekommen, wie Gate Ruland Preston verfolgt hat“, erklärte mir Jared, während Lincoln und Rules über Bärenfallen diskutierten. „Irgendwann wurden wir wegen Ruhestörung gerufen. Und finden an durchgegebener Adresse Preston an einen Laternenmast gefesselt.“

„In seinen Taschen befanden sich dutzende Briefe von John Gate.“, ergänzte Richard.

„Ja. Das alles waren glasklare Beweise der Verbrechen Prestons.“

„Wir haben ihn schließlich mitgenommen, nochmals verhört und eingebuchtet.“, sagte Perlman.

Ich sah sie lange an. „Aber hat man den Detektiv denn wirklich nicht gesehen?“

„Jeder Zivilist, der etwas von der Verfolgung mitbekam, gab eine andere Beschreibung der Personen zu Protokoll.“

„Wie macht er das bloß?“, fragte ich ungehalten. „Allein seine Klienten müssen ihm doch persönlich gegenüber gesessen haben! Aber alle unserer Spione haben ihn anders beschrieben. Er kann sich doch nicht nur verkleidet umhertreiben! Irgendwer muss doch sein wahres Gesicht kennen!“

„John Gate ist das große Rätsel Londons.“, sprach Perlman.

Richard nickte zustimmend. „Und das wird er vermutlich noch lange Zeit bleiben.“

Betretenes Schweigen breitete sich aus. Wahrscheinlich konnte sich jeder denken, was gerade in mir vorging.

Ich war stocksauer! Irgendwie pickten John Gate und ich uns immer wieder dieselben Verbrecher heraus die wir überführen wollten. Mir kam es wie ein ständiges Kopf-an-Kopf-Rennen vor. Außerdem war es auch schon vorgekommen, dass er meine Klienten auf seine Seite zog. Mir war völlig unklar wie er das machte. Ich empfand es als eine absolute Frechheit wie er sich aufführte! Ständig und überall seine Nase drin haben, aber nie auch nur eine einzige Spur hinterlassen! Wenn ich ihm je gegenüberstehen sollte …!

„Wir sind gleich da.“, bemerkte Richard plötzlich. Er sah mich direkt mit seinen grünen allwissenden Augen an, als könne er einem bis in die Seele schauen. Deswegen war er der ‚Gedankenleser’, auch deshalb, weil er unglaublich vorausschauend war.

Resolut wand ich den Blick ab. Dass mir jemand in die Seele sah, konnte ich im Moment nicht gebrauchen.

Nachdem die Droschke zum Halt kam und wir nacheinander ausstiegen, bemerkten wir, dass die anderen etwas schneller angekommen und bereits vorausgelaufen waren.

Mit einem Blick auf das Umfeld – einer großen Weidefläche mit mindestens hundert neugierigen Schafen und vor dem Zaun, die ersten Schaulustigen – blieben wir entgeistert stehen.

Jared war der erste der seine Zunge wiederfand. „Das kann heiter werden.“

„Hoffentlich lässt sich die Presse Zeit!“, meinte ich. In dem Moment bemerkte ich einen geschäftig aussehenden Mann in einem edlen Jackett der auf uns zulief.

„Verzeihen Sie wenn ich störe, meine Herren!“, hielt er uns auf. Wir wechselten untereinander einen raschen Blick bevor wir uns dem Fremden zu wanden. Er war ein großer Mann, wobei der Zylinder, den er trug, einen enormen Teil zu seiner Körpergröße beisteuerte. Vielleicht war er ohne Hut eine Handbreite kleiner als ich. Wahrscheinlich, so sah er zumindest aus, führte er ein riesiges Unternehmen oder strebte den Posten eines Innenministers an, oder er war sogar adelig. All das sagte sein sicheres Auftreten und seine aufrechte und gepflegte Statur über ihn aus. Seine Stimme hatte interessiert geklungen, doch sein Blick strahlte eine Gleichgültigkeit aus, die mich verunsichern ließ, auch wenn ich es zu verhindern versuchte. Sein kantiges Gesicht war von ungewöhnlich rotem Haar, welches unter dem Zylinder hervor lugte, und einem etwas dunkleren Spitzbart umrahmt. So im Allgemeinen sah er ganz sympathisch aus, dennoch hatte er etwas Kühles an sich.

„Ich müsste Sie etwas fragen!“, sagte er. Ich zuckte innerlich zusammen. Irgendetwas an seiner Stimme fand ich tief beunruhigend ...

Lincoln stöhnte auf. „Sie sind doch nicht etwa einer von den Zeitungsleuten! Ich frage mich, ob Sie wirklich überall herumlungern müssen um unsere Arbeit zu stören!“

„Nein, nein! Machen Sie sich keine Gedanken! Ich halte ebenso wenig von der Presse wie Sie.“ Seine grauen Augen blitzten auf.

„Und wer sind Sie dann?“, fragte Lincoln ungeduldig.

„Ein besorgter Bürger.“

Mein Kollege riss sich deutlich zusammen, nicht mit den Augen zu rollen, doch einen Seufzer konnte er nicht zurückhalten. „Hören Sie. Wir sind im Dienst und müssen zu unseren Kollegen. Also kommen Sie auf den Punkt und sagen Sie uns was Sie wollen oder lassen Sie es bleiben!“

„Sie sind doch Elliot Lincoln! Ja, jetzt fällt es mir auf! Der Bär des Yards! Ich wusste doch, dass ich Ihr Gesicht kenne!“ Diesen Beinamen trug Lincoln, da seine Launen und seine Statur allseits bekannt waren. Und auch wenn er sich fürchterlich darüber aufregte, wusste ich, dass er irgendwo stolz über diesen Titel war, auch wenn er das nie und nimmer zugegeben hätte.

Und sobald der Herr dies ansprach, sah ich Lincoln augenblicklich auftauen, obwohl sich sein Gesicht verärgert verzog.

„Ja, der bin ich.“, bestätigte er und streckte die breite Brust kaum merklich hervor. „Doch nur ohne diesen Beinamen!“

„Ich werde es mir merken.“, entgegnete der Mann mit erhobener Stimme. Denn irgendetwas hatte die Schafe dazu bewegt sich nach vorne an den Weidenzaun zu begeben, und je näher sie trotteten, desto lauter wurde es.

„Dürfte ich fragen, mit wem wir es zu tun haben?“, fragte Lincoln, ebenso laut.

„Oh, ja, natürlich! Gestatten Sie, mein Name ist Orson Hoborn.“

„Bitte wie?“, hakte Lincoln nach und schüttelte den Kopf. „Entschuldigen Sie, aber man versteht kaum sein eigenes Wort bei dem ganzen Geblöke!“

„Mein Name ist George Orson Hoborn!“, wiederholte dieser. „Und ich möchte ehrlich sein, es ist mir eine wahrhafte Ehre Sie kennenzulernen!“

„Ach, bitte übertreiben Sie nicht.“

„Keine Bescheidenheit, Inspektor, die ist gar nicht angebracht!“, beteuerte der 'besorgte Bürger'. „Ich möchte Sie nur an den Madison–Fall erinnern!“ Und kaum war dieser Satz hinaus, verwickelten sich die beiden Männer in ein Gespräch, in das auch bald die anderen einbezogen waren. Ich hielt mich bewusst im Hintergrund und beobachtete wie George Orson Hoborn mehr und mehr meine Kollegen um den Finger wickelte, Komplimente machte, interessiert tat und auflachte, wenn die anderen es erhofften.

Die Minuten verstrichen und sie lachten und redeten über dies und jenes, über das Wetter bis hin zu ansteigenden Preisen von Marktwaren. Bis sie schließlich wieder darauf zurück kamen, weshalb wir hier waren, schienen Stunden vergangen zu sein, die Herde war wieder weitergezogen, es wurde deshalb ruhiger, und ich hatte mir inzwischen die Beine bis in den Bauch gestanden.

„Nun ja“, leitete Orson Hoborn plötzlich ein, „Um auf meine Frage zurückzukommen …“

„Nur zu“, ermutigte Jared. Ich warf ihm verärgerte Blicke zu, doch seine ganze Aufmerksamkeit galt dem suspekten Mann.

„Wer ist dieser Tote gewesen?“, sagte er mit betrübtem Gesicht. „Und was ist mit ihm passiert?“

Ich kniff misstrauisch die Augen zusammen. Wie, um alles in der Welt, konnte dieser Mann wissen, dass dort eine Leiche war? Um sicher zu gehen, dass man auch nichts von dem Weidenzaun aus erkennen konnte, warf ich einen Blick über die Schulter. Wie ich vermutet hatte sah man nur einen riesen Haufen Schafe um einen Haufen Contables. Man hätte nur munkeln können was überhaupt dort vor sich ging.

„Dürfte ich eine Gegenfrage stellen“, sagte ich und drängte mich in den Vordergrund. „Wer sind Sie, dass Sie glauben, wir werden Ihnen eine Antwort darauf geben?“

Die anderen sahen mich für einen Moment nur verdutzt an. Und in Orson Hoborns Augen lag ein dunkles Funkeln.

„Ach!“, stieß er aber plötzlich positiv erstaunt aus. „Das ist doch nicht–!“ Er lächelte und machte eine präsentierende Geste auf mich. „Luke Tevion! Dass ich Sie einmal treffe!“

Ja klar! Als ob er mich jetzt erst bemerkt hatte! Ungerührt sah ich ihm entgegen.

„Die ganze Stadt – Nein, was rede ich da! – Die ganze Welt spricht gerade nur noch von Ihrem Erfolg in Venedig! Sie haben die Welt von einer grausamen dunklen Macht befreit! Nun können alle erleichtert aufatmen!“, sprach er lobend und sah mich abwartend an.

Seine Schauspielkünste waren wirklich bühnenreif! Doch mich konnte er nicht beeindrucken! Seine Schmeicheleien ließen mich kalt, denn die Alarmglocken in meinem Inneren machten ordentlich Radau.

Ich schenkte ihm nur einen bohrenden Blick. Und nun konnte ich seinen innerlichen Gefühlsumschwung deutlich sehen. Wie der bittere Ärger vom Bauch bis in seine Kehle aufstieg und er mir am liebsten an die Gurgel gegangen wäre. Sein Lächeln blieb die ganze Zeit über erhalten, nur seinen Augen las ich es ab. Doch gab er sich nicht geschlagen. Er war eine Kämpfernatur, wie mir mehr und mehr bewusst wurde. Zwei sich gegenüberstehende Männer von hartnäckigem Charakter … Das konnte nicht gut ausgehen. Doch ich war gespannt darauf, wie sich die Situation entwickeln würde.

„Wie machen Sie das nur immer? Was ist nur Ihr Geheimnis für Ihren Erfolg?“, fragte er interessiert und starrte zurück.

Ich verschränkte die Arme vor der Brust und zuckte unschuldig mit der Schulter. „Nun ja“, meinte ich beiläufig. „Ich durchschaue meine Gegner frühzeitig.“

Für einen Bruchteil einer Sekunde schwieg Orson Hoborn, dann aber brach er in schallendes Gelächter aus. Verdutzt blickte ich auf und musste meine Wut angestrengt herunterschlucken.

Dieser George Orson Hoborn wusste wie man jemanden aus dem Konzept brachte. Ich gestand mir nur ungern ein, dass ich ihn etwas unterschätzt hatte.

Meine Kollegen verfolgten das Ganze schweigend.

„Ach, der jugendliche Hochmut“, lachte er und zwinkerte Lincoln, Perlman und Rules, die in etwa im gleichen Alter wie er selbst waren, zu.

Jugendlicher Hochmut!!

Verärgert wurde mir klar, dass er gezielt eine meiner Schwachstellen angesprochen hatte. Ich war der jüngste aller Inspektoren, eigentlich noch im Alter eines Constables, und immer wieder, trotz meiner Erfolge, wurde ich oftmals nicht richtig ernst genommen. Es gab diese, die mich mehr oder weniger willig akzeptierten, dann diese, die bewundernd zu mir aufsahen, und diese, die mir respektlos gegenübertraten. Und letztere nutzen jede Situation aus um mir ihren Hohn vor Augen zu führen. Es traf mich jedes Mal mehr als ich wollte und sagte.

Ich atmete scharf, aber dennoch leise, ein und aus, und versuchte die heiße Wut zu zügeln. Ich würde ihm sicher nicht den Gefallen tun, dass er aus unserer Auseinandersetzung als Gewinner herausging!

„Also hören Sie mal, Sie …“, setzte ich lässig an, doch ich wurde unterbrochen.

„Nun sagen Sie wo bleiben Sie denn nur?“, murrte Jemand ungeduldig und wir drehten uns um. Angus Onnington lehnte sich über den Weidenzaun und klopfte mit der Handfläche auf das Holz, eine Geste die deutlich zeigte, dass wir uns beeilen sollten. „Wir sehen Sie die ganze Zeit hier herum stehen und Sie kommen und kommen nicht! Wir möchten beginnen! Wenn Sie sechs nun endlich so freundlich wären?“, fuhr er fort.

„Verzeihen Sie, Mister“, wand Orson Hoborn ein. „Ich hatte eine Frage gestellt, die mir noch beantwortet werden muss!“

„Na und? Und ich muss meine Pflicht zu erfüllen!“, bellte Onnington ihn an und machte auf dem Absatz kehrt. Ich musste mir mit aller Kraft das Lachen über Hoborns empörtes Gesicht verkneifen. Und auch wenn ich sehr oft mit Angus Onnington aneinander geriet, musste man ihn manchmal einfach lieben!

Ich spürte die süße Genugtuung in mir, obwohl nicht ich es war der die Sache beendet hatte.

„Onnington“, sagte Rules kopfschüttelnd.

„Sie müssen Ihn entschuldigen, Mr. Hoborn.“, sagte Jared seufzend.

„Ja.“, stimmte Lincoln zu und fuhr fort. „Nun, wir müssen los. Bevor er noch endgültig die Beherrschung verliert. Vielleicht sieht man sich bald wieder!“

Darauf können Sie sich verlassen!‘, sprachen Hoborns Augen. Doch stattdessen sagte er: „Das wäre sehr schön!“ Dann fand sein Blick mich. Ich lächelte ihm herzlich zu, stieg unter dem Zaun hindurch und folgte Onnington, der zornig vor sich hin murrte.

„Manchmal geht es mir auf die Nerven!“, begann Jared als er mich eingeholt hatte. „Dass er immer so maßlos übertreiben muss!“

„Übertreiben?“, entgegnete ich verstimmt und schüttelte den Kopf. „Haben Sie eigentlich eine Ahnung, wie lange Sie sich mit diesem Kerl unterhalten haben?“

„Ach. Ich vergaß, dass auch Sie genauso sind!“

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Tag der Veröffentlichung: 31.08.2017
ISBN: 978-3-7438-3088-2

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