Wettervorhersagen traf Jule, wenn sie früh am Morgen mit geschlossenen Augen im Bett lag. Und zwar gleich nach dem Aufwachen wenn vor dem Kabinettfenster Karlonkel mit seinem Pferdefuhrwerk vorbeigepoltert war. Das tat er jeden Tag, immer zur selben Zeit. Karlonkel war besser als jeder Wecker, fand Jule. Und so traf sie ihre Vorhersage anhand der Geräusche die Pferde, Gespann und Karlonkel auf dem Kopfsteinpflaster machten.
Karlonkel wohnte sechs oder sieben Häuser weiter oben in der Straße. Das heißt: Jule erwachte eigentlich schon vom Klang des schweren Tors, das geöffnet werden musste um mit dem Fuhrwerk hindurch zu fahren. Es war wohl so alt wie Karlonkel selbst – wenn nicht älter - und je nach dem wie feucht es in der Nacht gewesen war, musste der Onkel mehr oder weniger oft gegen die Stange treten, die den großen Torflügel gegen die Straßenfront drückte.
Es war nämlich eines dieser alten Holztore, in denen man für den „normalen“ Gebrauch eine kleinere Tür eingefügt hatte, wo bequem Menschen und Fahrräder durchpassten. Die schweren, so entstandenen äußeren Torteile waren mit Hilfe dicker Stangen mit den Wänden links und rechts verspreizt und konnten nur von innen geöffnet werden. Dazu musste man diese Stangen aus den Verankerungen löste. Die aber klemmten, wenn es feucht war.
War das Gespann erst einmal auf der Straße, ging Jules Hörspiel weiter. Der Weg war mit so genannten „Katzenkopfsteinen“ gepflastert: Granitblöcken mit unterschiedlicher Farbe und Körnung, die glitzern konnten, wenn die Sonne im richtigen Winkel auf kleine Quarzeinschlüsse schien. Mit den Jahren waren sie sehr ausgetreten und uneben geworden, man hatte sie oft ausgegraben und umgeschichtet.
Die Fahrbahn glich mehr einem Flickenteppich als einer Straße. Mit leichtem Gefälle führte diese links hinunter zur Hauptstraße und rechts hinauf zum kleinen Platz, wo der Kaufmannsladen stand und ein öffentlicher Brunnen zur Wasserentnahme.
Jule konnte sich noch an die Zeit vor dem Wasseranschluss im Haus erinnern, als der Großvater jeden Tag mit vielen Kanistern zum Brunnen fuhr und den Bedarf für den ganzen Tag holen musste. Das war sehr außergewöhnlich. In der Stadt in der Schule, gab es sonst kein Kind mehr ohne fließendes Wasser im Badezimmer. Die hatten aber auch ein paar andere Dinge nicht mehr, die für die Ferientage bei den Großeltern zum Alltag gehörten, wie zum Beispiel Pferdegespanne auf Kopfsteinpflastern vor dem Fenster.
Die Hufe der Pferde klangen unterschiedlich, je nach dem, ob die Straße trocken oder nass war. Dazu kamen noch zusätzliche Abstufungen: ob nur der Sand zwischen den Steinen feucht oder klamm war, was das Hufegetrampel hart klingen ließ. Oder die Steine selbst waren nass, was den Hufen einen ganz eigenen, quatschigen Klang gab, der in kleinen Pfützen nachzuhallen schien. War es hingegen sehr trocken und warm, verschluckte der Staub, der aufgewirbelt wurde einzelne Töne, wodurch ein weicher, samtiger Gesamteindruck entstand.
So wie die Hufe auf der Straße, klangen auch die eisenbeschlagenen Räder des Holzkarrens je nach Witterung anders. Verfeinert wurde das Hörbild durch das Schnauben der Pferde und das Schlurfen des Onkels, der neben dem Fuhrwerk her ging. Beim Onkel lag es ganz einfach an den Schuhen, die er trug: Gummistiefel, feste „Böcke“ (wie er es nannte) oder die leichten „Latschen“, für heiße Tage. Die konnte Jule aber nur heraushören, wenn er direkt am Fenster vorbei ging. Auf diese Art waren sie so etwas wie eine letzte Bestätigung bereits zuvor gewonnener Eindrücke.
Die Erkenntnis für diesen Tag war: Spätsommer. Feuchtes Gras am Straßenrand, aber sonst alles eher trocken. Das Pferdeschnauben war entspannt und unangestrengt gewesen und obwohl bei allen Einzeleindrücken ein Hauch von Feuchtigkeit mitschwang, hatte Karlonkel die Latschen an, was auf einen sonnigen, trockenen Tag schließen ließ.
Erst jetzt öffnete Jule zufrieden die Augen, zog den Vorhang zur Seite, ließ das Rollo hochschnalzen und beugte sich aus dem Fenster um nachzusehen wie richtig oder falsch ihr innerer Eindruck vom neuen Tag war. So wie es aussah, war er wieder einmal goldrichtig. Weil sie den Tau zwischen den Zehen spüren wollte, bevor Großmutter mit dem Lamentieren über die Erkältungsgefahr begann, schlich sie sich am großelterlichen Schlafzimmer vorbei, den Gang hinunter zur Haustür und schlüpfte hinaus.
Tag der Veröffentlichung: 02.05.2009
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