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Anna trat aus dem Schatten des Eichenwaldes und setzte ihre Sonnenbrille auf. Das schöne Aprilwetter seit ihrer Ankunft hob beträchtlich ihre Laune. Beschwingt lief sie über die Wiese direkt auf die kleine Steinbrücke zu, die zu Ians Hof führte. Von Weitem sah sie das Ronnie, begleitet von einem silbergrauen Hirtenhund aus der Remise kam. Seine schlaksige Gestalt, die roten Locken, die in der Sonne glänzten, erinnerten Anna an seinen Vater. Nur das besorgte Gesicht, dass der Junge hatte, machte sie stutzig.
„Hey Ronnie! Alles klar bei dir?“ Anna streichelte ausgiebig den großen Hund, der schwanzwedelnd um Aufmerksamkeit bettelte.
„Nee – Lord Nelson ist weg!“ Ronnie gesellte sich an Annas Seite und sie gingen gemeinsam über den gepflasterten Hof.
„Lord wer?“, fragte Anna.
„Lord Nelson - mein Kater. Er ist jetzt schon seit einer Woche verschwunden. Ich suche jeden Tag nach ihm.“
„Ich würde mir keine Sorgen machen. Katzen verschwinden manchmal oft tagelang. Besonders ein Kater. Warte es mal ab, er kommt bestimmt bald wieder und mit einer ganzen Katzenfamilie im Schlepptau,“ sagte Anna und lächelte ihm aufmunternd zu. „Wie sieht er denn aus?“
„Pechschwarz und an seiner Schwanzspitze hat er einen weißen Fleck. Grandpa sagt immer Lord Nelsons Fell wäre so schwarz wie seine Seele. “
„Ich werde nach ihm Ausschau halten. Versprochen,“ sagte Anna lachend. Sie blieb stehen und blickte sich suchend um. „Übrigens, wo steckt Ian? Im Büro? Ich habe ihm gestern versprochen, mir die Herde anzusehen.
„Nee, ich glaube er ist immer noch auf der Nordweide.“ Ronnie stopfte seine Hände in die Taschen seiner verschlissenen Arbeitshose. „Keine Ahnung, warum er da in letzter Zeit ständig hingeht.“
Anna zuckte mit den Achseln. „Dein Großvater wird schon seine Gründe haben.“
Anna musterte Ians Schwiegertochter, die mit einer voll beladenen Schubkarre aus dem Stall kam. Ihre strahlend blauen Augen, die sich bei Annas Anblick zu schmalen Schlitzen zusammenzogen, erinnerten Anna augenblicklich an ihre ehemalige Schwiegermutter. Sie hasste diesen Blick, von oben herab, der zeigte, dass man nichts wert war. Nicht dazugehörte. Nur geduldet war.
„Oh, Hallo Camilla!“, rief Anna und versuchte zu lächeln.
„Ronnie, der Hund hat schon wieder versucht, sich unter dem Zaun des Hühnerstalls durchzugraben. Kümmere dich bitte darum,“ sagte Camilla liebevoll zu ihrem Sohn und wandte sich mit eisiger Stimme an Anna.
„Ich soll dir von Ian ausrichten, dass er auf der Nordweite auf dich wartet.“
Anna öffnete den Mund, schloss ihn wieder und schaute der groß gewachsenen Frau verblüfft nach, die mit hocherhobenem Kopf ihre Schubkarre in Richtung Misthaufen schob.
„Ich sehe mal lieber nach dem Hühnerstall,“ stammelte Ronnie verlegen und rannte mit hochroten Ohren davon. Anna nickte stumm und schüttelte den Kopf. Die Abneigung die Anna in Camillas Gesicht gesehen hatte machte sie nachdenklich. Wahrschlich gab Camilla ihr immer noch die Schuld am Tod ihres Mannes. Dabei hatte sie damals nur versucht, die McGregors vor dem Ruin zu bewahren. Warum Ian und sein Sohn nicht miteinander ausgekommen waren, hatte sie erst viel später erfahren. Es wunderte Anna, das Camilla immer noch auf dem Hof lebte und nicht wieder geheiratet hatte. Selbst nach dieser langen Zeit. Gedankenversunken schlug sie den Weg zur Nordweide ein.
Anna hob ihren Arm grüßend als sie Ian am Holzzaun mit seiner Flatcap winkend stehen sah und rannte ihm entgegen.
„Du kommst spät Mädchen!“
„Mich hat etwas aufgehalten,“ antwortete Anna und stellte ihren Fuß auf die unterste Sprosse des Zaunes. Sie vergrub ihre Hände in das zottelige braune Fell des Hochlandrindes, das auf der anderen Seite genüsslich an einem Büschel Gras kaute.
„Vermutlich ehr ein jemand!“, brummte Ian. Anna legte den Kopf auf die Seite und grinste. Das war eines der Dinge die Anna so an Ian mochte. Bei ihm konnte sie sicher sein das er immer sagte, was er dachte und das er sich von niemand etwas vormachen ließ.
„Stimmt,“ erwiderte sie lachend.
„Der McKenzie?“ Ian ließ Anna nicht aus den Augen. „Gefällt er dir?“
„Himmel,“ rief Anna entrüstet. „Ich habe die Nase endgültig voll von den Männern. Es reicht, dass wir uns das alte Cottage teilen müssen.“
„Du lebst mit ihm unter einem Dach?“
„Meine Güte Ian. Spiel dich bloß nicht als Moralapostel auf. Mir gefällt das ebenso wenig wie ihm. Aber durch die Renovierungsarbeiten im Haupthaus ist für mich kein Platz mehr.“
„Du weißt, dass für dich auf meinem Hof immer ein Platz ist.“
„Du willst dir doch nur die Tierarztkosten sparen, du Geizhals!“
Ian stimmte in Anna Lachen ein. Schnaubend kehrte die Kuh ihnen ihr massives Hinterteil zu.
Anna kletterte auf den Zaun und setzte sich.
„Kennst du Floras Neffe näher?“
„Wenn ich mich recht erinnere, kommt er aus den Staaten und hat anscheinend schon die ganze Welt bereist. Ich glaube Flora hat mal erwähnt, dass er ein Buch geschrieben hat.“ Ian zuckte mit den Schultern. „Vor vier Monaten stand er plötzlich vor ihrer Tür.“ Er schob seine Kappe in den Nacken. „Ich mag ihn nicht! Halte dich von ihm fern Mädchen.“
„Nicht leichter als das, aber warum?“
„Ich habe ihn zwei oder dreimal im „Rosis Inn“ gesehen. Er trinkt zu viel und die Weiber umschwärmen ihn wie die Motten das Licht. Außerdem habe ich den Verdacht das er ....,“ unterbrach Ian und zuckte mit den Achseln.
„Das Er was?“, fragte Anna. „Flora scheint ganz angetan von ihm zu sein. Und seine Weibergeschichten gehen mich zum Glück nichts an. Obwohl es mich schon interessieren würde, was ihn in diese Einöde verschlagen hat,“ fügte sie nachdenklich hinzu.
„Ach lassen wir das Thema. Bist du gekommen, um mit mir über den McKenzie zu reden, oder willst du dir die Herde ansehen?“
„Deine Herde,“ sagte Anna und lächelte. Ihr Blick schweifte über die Herde Hochlandrinder, die friedlich in der Sonne grasten.
„Wie viele hast du jetzt?“
„Zweihundert,“ sagte Ian stolz. „Der Großteil befindet sich auf der Südweide, gleich hinter den Hang. Heute Morgen ist der Stier gebracht worden, den ich gestern ersteigert habe. Ein Prachtbursche!“
„Eine gute Herde. Kraftvoll und gesund,“ stellte Anna mit Kennerblick fest.
„Ja noch,“ brummte Ian.
„Noch?“ Anna wurde hellhörig. „Was soll das heißen? Hast du dich mit dem Kauf übernommen?“
Ian drehte seinen Kopf und sah Anna finster an. Sie kannte ihn gut genug, um zu wissen, was dieser Blick bedeutete.
„Ian, was ist los?“, fragte Anna und ihre Stimme klang schärfer als beabsichtigt. Aber sie wusste auch, wie sie mit ihrem eigenwilligen Freund umgehen musste. Sein Seufzen versetzte ihrem Herzen einen Stich.
„Es begann vor vier Monaten. Da verschwanden ein paar Hühner. Ich dachte mir erst nichts dabei. Bei dem harten Winter, den wir hatten, ging ich davon aus, dass Marder oder ein Fuchs
sie sich geholt hatten. Doch dann im März verschwanden zwei unserer Ziegen spurlos. Und seit letzter Woche ist Ronnies Kater weg.“
„Meine Güte Ian! Katzen streunen Tage, manchmal sogar wochenlang umher,“ versuchte Anna ihren Freund zu beruhigen. „Die können hier doch überall etwas zu fressen finden.“ Ians Hand krachte auf den Zaun und Anna schaffte es gerade noch, sich festzuhalten.
„Ich habe ihn vor drei Tagen hier am Zaun gefunden. Besser gesagt, das, was noch ihm übrig war. Ronnie sucht immer noch nach ihm. Ich bringe es einfach nicht fertig, ihm die Wahrheit zu sagen.“
„Oh nein!“ Anna legte ihre Hand auf Ians Faust.
„Letzte Woche ...“ Ian griff in seine Hosentasche und holte eine kleine Schnupftabakdose heraus und reichte sie Anna. „habe ich das Zeug in der Futterkiste gefunden.“
Anna öffnete die Dose und schüttete sich den Inhalt in die Hand. Vorsichtig riechend zerbröselte sie die bunten Körner zwischen ihren Fingern. Abrupt fuhr ihr Kopf hoch.
„Rattengift!“, stellte Anna ungläubig fest.
„Tha!“
„Scheiße!, murmelte Anna und warf angewidert die Körner in die Dose. „Wie viele Tiere ...“
„Keine,“ unterbrach Ian sie. „Zum Glück. Jeder, selbst Ronnie hätte sofort erkannt, dass etwas mit dem Futter nicht stimmt.“
Anna nahm ihre Sonnenbrille ab und kaute gedankenversunken auf dem Brillenbügel.
„Ian hast du Feinde?“
„Wer hat die nicht? Aber wir hier regeln das von Mann zu Mann und vergreifen uns nicht an unseren Tieren.“
„Schon möglich,“ antwortete Anna nachdenklich und mochte sich nicht ausdenken, was geschehen wäre, wenn Ian oder gar Ronnie das Futter verteilt hätten.
„Und du sagst, das begann alles vor vier Monaten?“
„Tha!“
„Hat sich hier irgendetwas verändert? Oder ist jemand hier neu zugezogen?
„Nur der McKenzie!“
„Adian McKenzie?“, fragte Anna und blickte ihren Freund skeptisch an.
„Tha!“
„Das hört sich alles andere als gut an. Was meint denn die Polizei zu den Vorkommnissen?“ Ians abfälliges Schnauben ließ sie aufhorchen und sie ahnte, was das zu bedeuten hatte.
„Sag nicht, du hast die Vorfälle nicht gemeldet,“ fragte Anna entgeistert.
„Was sollen die schon groß machen?“
„Verdammt Ian!“ Anna sprang aufgebracht vom Zaun und stemmte ihre Hände in die Hüften. „Willst du solange warten, bis wieder etwas passiert?“
„Brauche ich nicht! Heute Morgen habe ich einen meiner Falken tot in der Voliere entdeckt.“
Anna schnappte nach Luft. Sie wusste, was ihm seine Falken bedeuteten.
„Du musst zur Polizei gehen!“
„Ja, wenn ich die Schweinehunde habe!“, stieß Ian hervor.
„Und wie stellst du dir das vor? Hat der große McGregor etwa vor sich auf die Lauer zu legen und sie auf frischer Tat zu ertappen?“ Anna stöhnte laut auf, als sie sein zustimmendes Nicken sah.
„Ian sei vernünftig!“, flehte sie. „Das schaffst du nicht!“
„Ich könnte etwas Hilfe gebrauchen.“
Anna hob abwehrend die Hände. „Oh nein! Eher breche dir noch einmal die Nase, du sturer Esel!“
„Ich wusste es!“
„Was weißt du?“
„Guck dich doch an!“ Sein Blick glitt abfällig über ihre dunkele Hose und ihren cremefarbenen Spencer. „Du siehst aus wie eine Stadtlady. Ziehst dich an, wie eine aus diesen Magazinen, die Camilla ständig liest, und trägst soviel Farbe im Gesicht wie die billigen Weiber im Pub! Wo ist die Frau geblieben, die ihr Haar offen trug und jeden Mann im Umkreis von fünfzig Kilometern den Kopf verdreht hat, wenn sie in ihrer braunen Lederhose und den Stiefeln in die Ställe marschiert kam.“ Ian stieß sich vom Zaun ab und ließ Anna mit weit aufgerissenen Augen stehen. „Deine Ehe hat einen Schlappschwanz aus dir gemacht!“, rief er ihr über die Schulter zu.
Anna stampfte auf und rannte los. Sie hielt ihn an seiner Jacke fest und riss ihn herum.
„Kannst du mir mal erklären, wie du dir das vorstellst? In einer Woche eröffne ich die Praxis.“
„Tagsüber kommt keiner ungesehen auf den Hof. Es sind die Nächte dir mir Sorgen machen.“
„Verdammt Ian, denk nach! Ich kann doch nicht Nacht für Nacht mit dir auf der Lauer liegen.“
„Wir könnten uns abwechseln. Eine Nachthälfte du, ich die andere.“
„Und was ist, wenn ich zu einem Notfall gerufen werde?“
„Dann weckst du mich. Mädchen bitte, ohne dich schaffe ich das nicht!“
Anna konnte an Ians Gesichtsausdruck ablesen, wie wichtig ihm ihre Hilfe war.
„Ich weiß nicht. Vielleicht solltest du doch besser die Polizei einschalten.“
„Nein!“, erwiderte Ian und ging weiter.
„Ian warte!“ Anna eilte hinter ihm her. „Bevor ich mich entscheide, will ich mir den toten Vogel ansehen.“ Sie wusste, dass sie sich selber etwas vormachte. Ihre Entscheidung war längst gefallen.
„Dann komm!“ sagte Ian grinsend und legte seinen Arm um ihre Schulter.
Schweigend gingen sie auf den Hof zu.
„Ian?“, flüsterte Anna.
„Was Mädchen?“
„Sehe ich wirklich wie eine Modepuppe aus?“

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Anna rannte an den Rhododendrenbüschen und den Azaleen vorbei. Wenn sie Ians Vogel noch weiter diesen heute beinahe sommerlichen Temperaturen aussetzte, würden ihre Chancen die Todesursache zu ermitteln immer geringer.
Sie bog an der Westseite des Cottage auf den Kiesweg ein, der das Haus mit der Praxis verband, als sie eine tiefe, männliche Stimme hörte. Sie fuhr herum und musterte den wohlbeleibten Mann, der in seinem blauen Overall aufgeregt winkend auf sie zu geeilt kam. Die Schweißtropfen, die unter seiner ausgebleichten Schirmmütze zwischen den fettigen Haaren hervor quollen, jagten ihre eine Gänsehaut über die Arme. Hastig versteckte sie die Tüte mit Ians toten Falken hinter ihrem Rücken.
„Na endlich, Lady! Glauben sie eigentlich wir, werden hier fürs Rumstehen bezahlt!“, keuchte der Mann und entblößte eine Reihe nikotinverfärbter Zähne.
„Wenn sie zu Mrs. McKenzie möchten, müssen sie zurückfahren und an der alten Eiche den Kiesweg zum Haupthaus hochfahren.“
„Nee, zu der wollen wir nicht! Sie sind doch Frau Balling, oder?“
„Von Barring! Anna von Barring.“
„Hey Arnie, schwing deinen Arsch aus dem Wagen! Wir können anfangen.“
„Moment mal,“ protestierte Anna. „Womit wollen Sie anfangen?“
Anna trat einen Schritt zurück, als der Mann seine Hände in die Hüfte stemmte und sie die Schweißringe, die sich auf seinem Overall abzeichneten, bemerkte.
„Hören sie Lady, wir haben hier zwei rappelvolle Transportkisten auf dem Hänger. Sie machen ihren Job und wir unseren. Also halten Sie uns nicht von der Arbeit ab!“
Anna drückte die Tüte an sich, rannte hinter dem Mann her, als sie das Splittern der Transportkisten hörte.
„Sind Sie sicher, dass Sie hier richtig sind?“, rief sie und blieb wie angewurzelt stehen.
Der Mann, der auf den Namen Arnie hörte, streckte seinen kahlen Kopf aus der Laderampe ihr entgegen.
„Hier steht auf jedem Karton A-. - V-O-N B-A-R R-I-N-G,” buchstabierte er heiser. „Sind sie das, oder nicht?“
„Ja,“ stammelte Anna und starrte auf den dürren Mann mit den Blut unterlaufenden Augen.
„Ok! Dann unterschreiben Sie hier und wir können unsere Arbeit machen. Sie sind nicht die Einzigste, die auf ihre Lieferung wartet.“ Anna suchte vergeblich nach ihrer Lesebrille, bis ihr einfiel, dass sie das Etui heute Morgen auf ihrem Nachttisch zurückgelassen hatte. Mit zwei Fingern hielt sie den Zettel hoch, den ihr der Mann gegeben hatte. Mühevoll schaffte sie es noch zwischen den Fettflecken zu entziffern, dass es sich um die Lieferung ihrer zehn Umzugskartons aus Deutschland handelte.
„Hey Lady, sollen wir die Kartons hier oben hin stellen, oder machen Sie die Tür jetzt auf?“, rief der Dicke grinsend und verscheuchte mit seiner Kappe einige Fliegen, die vor seinem Gesicht herumschwirrten.
„Ja, natürlich!“ Anna wurde jäh bewusst, dass sie immer noch den Vogel in Händen hielt. Sie steckte den Lieferschein in ihre Jackentasche und hastete die drei Stufen zum Haus hoch, holte ihren Schlüssel aus der Hosentasche und schloss die Tür auf.
„Bitte bringen sie die Kartons die Treppe rauf. Erste Tür rechts!“ Anna stieß die Haustür auf und raste durch den Flur in die Küche. Hastig öffnete sie die Kühlschranktür, schob die Folie mit dem rohen Fleischstück beiseite, wobei sie versehentlich ein Glas Tomatensoße umstieß, das klirrend auf den Boden zerbrach.
„Verdammt,“ fluchte Anna und stopfte den Vogel in das oberste Fach des Kühlschranks. Sie schloss die Tür und eilte an die Kochinsel, riss sich eine Handvoll Küchenpapier von dem Ständer ab und begann die rote Tunke, gespickt mit Kräutern und den unzähligen kleinen und großen Scherben vom Boden aufzuwischen.
„Hey Lady, wir wären soweit. Wir brauchen nur noch ihre Unterschrift,“ hörte Anna Arnie rufen. Sie gab ein wütendes Grollen von sich und wischte sie einen Fleck Tomatensoße von ihrer Hose.
„Einen Augenblick noch!“ Hastig wischte sie die Reste auf, warf das Papier samt Scherben in den Mülleimer und eilte in den Flur.
Sie blinzelte mit zusammengekniffen Augen, als sie die Kartons im Flur stehen sah.
„Ich hatte sie doch gebeten, die Sachen nach oben zu bringen.“
„Wir werden nur für die Anlieferung und das Abladen bezahlt. Sie können froh sein Lady, dass wir die Sachen in den Flur gestellt haben. Alles Weitere kostet extra,“ sagte der Dicke und entblößte seine gelben Zähne.
Anna bedachte die beiden mit einem Blick, der ihnen zeigte, dass sie gerade ihr Trinkgeld verspielt hatten, während sie den Lieferschein aus ihrer Jacke holte und Arnie das Klemmbrett aus der Hand nahm. Sie steckte den Lieferschein unter die Metallspange und nahm mit spitzen Fingern den Kugelschreiber, der an einer Plastikschnur baumelte. Schwungvoll setzte sie ihren Namen unter den Auftrag und drückte Arnie das Brett mit einem Lächeln in die Hand.
„Beannached leat! Gute Fahrt,” sagte Anna kühl und deutete mit dem Kopf Richtung Tür.
Erleichtert, dass sie die beiden Männer los war, lehnte sie sich gegen die geschlossene Tür und atmete tief ein. Ihr Blick wanderte über die unzähligen kleinen und großen Kartons.
„Auf geht’s,“ sagte sie, klatschte in die Hände und schnappte sich den erstbesten Karton vor ihren Füßen.


Adian öffnete schwungvoll die Hintertür, die vom Garten aus in die Küche führte und eilte zum Kühlschrank. Das weiße Achselshirt klebte schweißnass an seinem Rücken und sein Zopf hatte sich aus dem schwarzen Lederband vollständig gelöst. Er klemmte sich den Falknerhandschuh unter den Arm und riss die Tür auf, langte nach der Wasserflasche und stutze. Er blinzelte, einmal, zweimal, schüttelte den Kopf und ließ die Tür zufallen. Seine Braue fuhr alarmiert in die Höhe, als er die hellroten Flecken am Rand der Kühlschranktür bemerkte. Adian McKenzie behauptete nicht von sich ein perfekter Hausmann zu sein, aber ein passionierter Hobbykoch, der seine Küche als sein geheiligtes Refugium betrachtete.
„Ich hoffe, es ist nicht das was ich denke,“ murmelte er und öffnete Kühlschrank erneut um sich zu vergewissern, ob er sich vielleicht nur getäuscht hatte. Der Lederhandschuh fiel klatschend zu Boden. Und das Friedensangebot, das er seiner neuen Mitbewohnerin machen wollte, löste sich explosionsartig in Luft auf.
„ANNA!!“
Blindlings stürzte er aus der Küche, stolperte über einen Umzugskarton und schaffte es gerade noch über einen weiteren zu springen, bevor ihn eine lindgrüne Hutschachtel endgültig von den Füßen riss und er lang hingeschlagen wäre, wenn er sich nicht geistesgegenwärtig am Treppengeländer festgeklammert hätte.
Fluchend strich er sich die Haare aus dem Gesicht und zermalmte unter seinen schweren Stiefeln den braunen Stetson, der aus der Schachtel gefallen war.
„Anna! ANNA!”, dröhnte seine Stimme durch das Cottage.
Seine Hand schloss sich um das Treppengeländer und er wünschte sich im Augenblick nichts sehnlicher, das es der diesesmal der Hals seiner Mitbewohnerin wäre.
„Sie haben gebrüllt?“ Lächelnd kam Anna die Treppe hinunter und blieb auf der vorletzten Treppenstufe stehen.
„Ich brülle nicht,“ erwiderte er zähneknirschend und stellte erstaunt fest, als sie jetzt in Augenhöhe war, dass sich in ihrem Gesicht unzählige winzige Sommersprossen tummelten.
„Ach, dann sollte das wohl ein lustvolles Stöhnen sein?“ fragte Anna dreist und blickte Adian über den Rand ihrer Lesebrille an.
Adian wusste nicht, was in ihm gefahren war, aber pfeilschnell legte er seinen Arm um Annas Taille, seine freie Hand umfasste ihren Hinterkopf. Bevor Anna protestieren konnte, presste er seine Lippen auf ihren Mund. Er spürte das sich ihre Lippen ihm ebenso entgegen stellten wie ihre Hände, die sich gegen seine Brust stemmten. Den Schauer, den die Berührung in ihm auslöste, ließ ihn augenblicklich seine Taktik ändern.
Gemächlich, quälend langsam, begannen seine Lippen über ihre Mundwinkel zu streicheln. Zentimeter für Zentimeter liebkosten sie Annas seidige, nach Lavendel duftende Haut. Zärtlich strich seine Zungenspitze über die pulsierende Stelle ihres Halses. Er spürte, dass sie ihre Hände zu Fäusten ballten, als sie gegen seine Brust sank. Ganz im Gegensatz zu ihren köstlichen Lippen, die sich leicht öffneten. Das leise Stöhnen, das Anna entfuhr, spornte seine Wut und seinen entflammten Ehrgeiz, ihr eine Lektion zu erteilen, was er unter einem lustvollen Stöhnen verstand an.
Langsam wanderten seine Fingerspitzen über ihren Arm, was ihr ein weiteres lustvolles Stöhnen entlockte. Geschmeidig legten sich seine Finger um ihr Handgelenk.
Er musste sich zwingen den Kuss zu beenden und seinen Kopf zu heben. Für einen Wimpernschlag nahm der Gedanke, sie in sein Schlafzimmer zu bringen um diesen Kuss zu vertiefen Gestalt in seinem Kopf an.
Ihr gestammelter Protest erfüllte ihn mit Genugtuung, bevor er seinen Griff verstärkte.
„Ich hoffe, dass du noch soweit klar denken kannst, um mir zu erklären, was der Vogel in meinen Kühlschrank zu suchen hat,“ flüsterte Adian mit zusammen gekniffenen Augen.
Anna öffnete den Mund. Brachte keinen Ton hervor, während Adian sie hinter sich her in die Küche zerrte.
Er öffnete die Kühlschranktür so heftig, dass der Topf mit der Basilikumpflanze obenauf bedenklich schwankte. Anna starrte auf den Seeadlerkopf der Adians T-Shirt zierte. Langsam ballten sich ihre Hände und sie hob ihren Kopf. Es bereitete ihm ein maßloses Vergnügen zu sehen, das ihre eben noch verschleierten Augen langsam vor Wut zu funkeln begannen.
„Raus mit der Sprache! Was macht der dieser Vogel in meinem Kühlschrank?“
„Er wartet, dass ich ...“
Adian schlug die Tür zu. Der Topf mit der Basilikumpflanze fiel krachend zu Boden. Jahrelanges Training ließ Anna reflexartig zurückspringen.
„Er wartet? Dieses Vieh liegt neben meinem Steak,“ schrie Adian. „Worauf wartete es? Auf die Beilage?“
„Es wartet darauf, dass ich herausfinde, woran er gestorben ist“, erwiderte Anna ruhig, öffnete den Kühlschrank und holte die Tüte heraus. „Eigentlich wollte ich erst meine Umzugskartons wegschaffen, aber da Sie sich so anstellen, werde ich mich erst um den hier kümmern.“ Anna hielt Adian grinsend die Tüte vor sein Gesicht.
Adian stieß die Scherben und die Überreste der Pflanze beiseite, drängte Anna mit dem Rücken an den Schrank und stemmte seine muskulösen Arme rechts und links neben ihren Kopf.
„Dich bringt wohl gar nichts aus der Ruhe?“
Anna befeuchtete ihre Lippen und legte den Kopf auf die Seite.
„Ich habe in meiner Ehe schnell gelernt Ruhe zu bewahren. Da muss schon etwas mehr als ein schottischer Bergtroll wie Sie kommen.“ Anna legte ihre Hand auf seine Brust, und versuchte Adian beiseitezuschieben. Vergeblich. Seine Augen wanderten von ihrem Gesicht über die Hand auf seiner Brust, hinunter zu der Tüte in ihrer Hand. Sein Blick schoss empor.
„Das ist ja Warrior!“ stieß er heiser hervor.
„Ach, Sie kennen Ians Vogel?“
„Ja, ich habe Ian vor ein paar Wochen zufällig im Moor getroffen, als er mit dem Vogel auf der Jagd war.“
„Und wahrscheinlich dabei erkannt, dass Ian der bessere Falkner ist.“
„Was soll das denn heißen?“
„Ich habe vorhin gesehen, wie Sie mit dem Jungfalken umgegangen sind.“
Adian drängte sich näher an Anna. Er konnte ihren stockenden Atem in seinem Gesicht spüren. Der zarte Duft ihres Parfums, das sie immer trug, stieg ihm in die Nase.
„Willst du andeuten, dass ich etwas mit dem Tod des Vogels zu schaffen habe?“, fragte er mit heiserer Stimme.
„Jeder weiß, dass Ian der beste Falkner in der Gegend ist."
Adians Fäuste schlugen hart gegen den Kühlschrank. Annas Augen zogen sich bedrohlich zusammen. Adian legte seinen Kopf auf die Seite und musterte Anna eingehend. Er kannte diese Art von Blick. Verurteilt ohne Anhörung- für eine Tat, die er nicht begangen hatte. Wie kam Anna dazu, ihn für den Tod des Falken verantwortlich zu machen?
Langsam ließ er seine Arme sinken und fuhr sich durch die Haare.
„Was ist mit ihm passiert?“
„Was geht Sie das an? Sie können doch froh sein, dass der Vogel verreckt ist!“ Anna holte tief Luft. „Dann haben die McKenzies vielleicht Glück dieses Jahr die Beizjagd zu gewinnen!“ Adian stieß einen lauten gälischen Fluch aus, der Anna nach Luft schnappen und erröten ließ.
„Aber ich werde herausfinden, was passiert ist. Also gehen Sie mir aus dem Weg und lassen mich meine Arbeit machen!“
„Jetzt reicht es!“ Adian legte seine Hand auf Annas Schulter. „Du wirst dir jetzt die McKenzie Falken in der Voliere ansehen, und wenn du mir dann immer noch vorwerfen willst, das ich ...!“
„Nehmen Sie ihre Hand da weg!“, unterbrach Anna ihn mit ruhiger aber messerscharfer Stimme und schob seine Hand wie ein lästiges Insekt von ihrer Schulter. „Wagen Sie es nie, niemals wieder mich anzufassen oder Sie werden es bereuen.“
Adian senkte seinen Blick und grinste frech als Anna den Vogel auf der Anrichte neben sich ablegte.
„Wie willst du das verhindern? Dich bei Flora über mich beschweren, Zwerg? Oder mich in Grund und Boden quatschen?,“ säuselte Adian und legte seine Hand auf ihre Schulter.
Anna atmete tief ein und lächelte. Ein Lächeln, das sich ganz langsam in ihrem Gesicht ausbreitete. Einen Wimpernschlag lang erwiderte sie seinen selbstsicheren Blick. Noch ehe Adian ahnte, was dieses Lächeln bedeutete, hatte sie blitzschnell seinen Arm gepackt. Ihren Fuß hinter seine Wade geschoben. Mit einem gezielten Ruck warf sie ihn zu Boden und bohrte ihr Knie fest in seinen Rücken. Sein schmerzvolles Stöhnen entlockte ihr ein höhnisches Lachen, während sie seinen Arm hinter ihrem Rücken verkeilte.
„Ich habe Sie gewarnt! Wenn ich eines nicht mag, sind es Männer, die meinen, ihre Spielchen mit mir machen zu können.“ Ihre messerscharfe Stimme jagte einen Schauer durch Adians Körper.
„Anna, ich wollte nicht ..., Aua!“ Erfolglos versuchte Adian sich umzudrehen. Seinen Arm aus diesem Schraubstock zu befreien.
„Wagen Sie es nie, nie wieder mich anzufassen!“
Anna verstärkte ihren Griff und sah die Schweißperlen in seinem blassen Gesicht und den fassungslosen Ausdruck in seinen weit geöffneten Augen. Hörte seinen keuchenden Atem.
„Haben Sie mich verstanden?“
Adian schaffte es nur mühevoll zu nicken. Er glaubte sein Kopf würde zerbersten, wenn er auch nur einen Laut von sich gab.
„Haben Sie mich verstanden?“, wiederholte Anna ihre Frage mit lauter Stimme.
„Ja,“ stieß Adian hervor. Langsam, Stück für Stück, gab sie seinen Arm frei und erhob sich. Sie nahm die Tüte mit dem Kadaver von der Anrichte und schaute auf Adian herab, der sich seine geprellte Schulter haltend mit schmerzverzerrtem Gesicht bemühte aufzustehen.
„Ich werde mir jetzt die Falken ansehen. Und wenn ich auch nur den leisesten Verdacht habe, das etwas mit ihnen nicht stimmt sind Sie fällig!“

Adian war froh das seine Beine ihm nicht den Dienst verweigerten, während er Anna über die Wiese in den abgelegenen, ruhigeren Teil des Gartens folgte. Er massierte seine Schulter und überlegte immer noch, wie sie es geschafft hatte einen Mann von seiner Größe und Statur zu Boden zu werfen. Das stetige, schmerzhafte Pochen in seinem Arm und in seinem Kopf wurde langsam unerträglich. Er gesellte sich neben Anna vor die mannshohe hölzerne Voliere unter dem uralten Eichenbaum.
„Und, sehen diese Vögel vernachlässigt oder krank aus?“, fragte er und versuchte erst gar nicht seinen Groll zu verbergen. Wie konnte sie es nur wagen zu denken, er würde die Falken misshandeln. Schließlich war er von Roger selbst in die Falknerei eingeführt worden.
Anna musterte die beiden Wanderfalken in ihren Volieren, die auf ihren Ästen saßen. Ihr Blick wanderte weiter zu dem etwas ablegenden Vogelhaus.
„Ich fasse es nicht!“, stieß Anna ungläubig hervor.
Adian vergaß seinen Schmerz und seinen Groll. Er war sicher nie etwas Atemberaubendes gesehen zu haben wie in dem Augenblick, als der Gerfalke aufgeregt mit den Flügeln zu schlagen begann, einen lauten Schrei ausstieß und er Tränen in Annas Augen schimmern sah.
„Ich dachte ..., ich war der Meinung ..., Himmel, Flora hat nie erwähnt, dass sie noch lebt,“ flüsterte Anna ehrfürchtig.

Der schneeweiße Vogel mit seinen schwarzen Flügelspitzen hüpfte auf die vorderste Stange der Voliere und Adian traute seinen Augen nicht, als Anna ihre Handfläche an das Drahtgeflecht legte und das Falkenweibchen seinen Schnabel daran rieb.
„Horusia, a ghaoil!“, flüsterte Anna und streichelte mit ihrem Finger das Federkleid des Falken.„Wer arbeitet mit ihr?“
Adian schluckte und räusperte sich leise.
„Seit Rogers Tod lässt sie nur Flora an sich ran. Ich arbeite nur mit Ares und Ari.“
Annas kehliges, leises Lachen und ihre vor Freude tanzenden Augen erregten ihn mehr wie nie zuvor etwas in seinem Leben. Und er fragte sich, wie dieses kleine Persönchen es fertiggebracht hatte, innerhalb eines Tages seine Gefühle so auf den Kopf zu stellen.
„Ja meine Schöne, wer braucht schon die Männer!“, flüsterte Anna und drehte sich langsam herum. Sie sah Adian an und lächelte. Mit einem Lächeln, das eine eigentümliche Wirkung auf seinen Körper hatte.
„Danke, dass du dich um Rogers Vögel kümmerst, Adian. Sie haben ihm soviel bedeutet.“
Adian musste sich zwingen nicht wie ein Kind zu grinsen, dass gerade seine Geburtsgeschenke bekommen hatte. Sie hatte ihn das erste Mal mit seinem Namen angesprochen. Der Klang ihrer Stimme, mit dem sie seinen Namen ausgesprochen hatte, jagte ihm einen wohligen Schauer durch den Körper.
„Weißt du,“ flüsterte Anna, „woher sie ihren Namen hat?“ Adian schüttelte seinen Kopf und schaffte es nicht seinen Blick von Anna zu nehmen.
„Horus war ein Hauptgott in der ägyptischen Mythologie. Der große Gott des Himmels.“ Liebevoll streichelte Anna den Vogel. „Ich habe sie damals, mit Rogers Hilfe aufgezogen und trainiert. Er hat mich immer wegen des Namens geärgert. Aber wir haben es allen gezeigt!
„Nicht wahr meine Schöne?“ Horusia war die Königin der Lüfte!“
„Roger war der beste Falkner, den ich je kannte. Ich habe alles, was ich weiß von ihm gelernt. Aber, warum hast du sie nicht mitgenommen, als deine Arbeit hier beendet war?“
„Wir haben sehr strenge Gesetze in Deutschland, was die Haltung von Greifvögeln betrifft,“ erklärte Anna. „Und das ist auch gut so. Außerdem ich wollte nur das Beste für sie."
Adian hob seine Hand und wollte sie tröstend auf Annas Schulter legen. Aber er hielt inne und senkte seinen Arm. Er hatte ihre Warnung nicht vergessen.
„Verstehst du jetzt, warum ich wissen muss, was mit Warrior ist?“, flüsterte er.
Noch bevor, die letzte Silbe verklungen war, wusste Adian, das er den Zauber des Augenblickes verspielt hatte.
Anna straffte ihre Schultern und ihre Augen funkelten ihn böse an.
„Ich sagte schon einmal, dass es dich nichts angeht!“ Sie holte tief Luft und hob ihre Hand.
„Verdammt Anna! Ich will wissen, was hier los ist!“
„Ich auch. Und ich kann dir versichern, dass ich es ich es aufklären werde.“
„Wenn du Hilfe brauchst, dann könnte ich ...“
„Niemals!“, fiel ihm Anna rüde ins Wort und schnappte sich die Tüte mit Ians leblosen Falken. „Halte dich von mir und meiner Arbeit fern!“
„Ich habe ein Recht zu erfahren, was mit dem Falken geschehen ist. Schließlich bin derjenige, der hier verdächtigt wird.“
„Ich schwöre dir, sollte ich erfahren, dass du damit etwas zutun hast, wirst du am eigenem Leibe erfahren, was es heißt, sich mit mir anzulegen.


„Hör zu du schottischer Bergtroll, .....“
„Wenn du mich noch einmal so nennst, dann ...“
Flora schloss das Küchenfenster, lehnte sich an die Wand und lachte. Lachte wie seit langer Zeit schon nicht mehr. Seit einer halben Stunde stand sie schon hinter der Gardine des Küchenfensters und beobachtete ihren Neffen und Anna, die darüber stritten, wer die Getränkelieferung für Annas Willkommensparty ins Haus bringen sollte. Sie wunderte sich, dass die beiden nicht vor Wut geplatzt waren. Sie standen sich in nichts nach. Jeder wollte das letzte Wort haben. Flora kicherte bei dem Gedanken, dass die beiden sich mit der Routine eines alten Ehepaares stritten und dabei alles und jeden um sich herum vergaßen. Dabei kannten sie sich jetzt erst seit zwei Monaten. Schottischer Bergtroll- dachte Flora und grinste. Sie konnte nur hoffen, dass die zwei bald merken würden, wie gut sie zusammenpassten.
„Und ich sage dir, diese Kisten sind zu schwer. Du kannst nicht zwei auf einmal tragen.“ Adians tiefe wütende Stimme drang in die Küche.
„Warum?“
„Warum wohl? Du bist nur eine Frau!“
Flora zuckte zusammen. Sie konnte sich lebhaft vorstellen, was in diesem Augenblick in Anna vorging. Vorsichtig schob sie den Vorhang ein Stück zu Seite und spähte aus dem Fenster. Sie wurde nicht enttäuscht. Anna stand, mit hochrotem Kopf die Hände in die Hüften gestemmt vor Adian.
„Weil - ich - was - bin?“
Selbst aus dieser Entfernung konnte Flora deutlich sehen, wie mühsam es für Anna war nicht ihre Beherrschung zu verlieren. Sie verstand aber auch ihren Neffen, der Anna vor dieser schweren Arbeit bewahren wollte.
„Eine Frau, du Zwerg.“ Adian verschränkte seine muskulösen Arme vor der Brust und grinste frech auf Anna herab. Da Flora auch Annas Temperament gut in Erinnerung geblieben war, öffnete sie hastig die Tür.
„Stimmt etwas nicht mit der Lieferung?“
Erschrocken fuhren die beiden herum und starrten sie an. Flora schlenderte in den Garten und stellte sich grinsend zwischen die beiden.
„Die Lieferung ist Ok, aber ...“, brummte Adian.
„Aber dein überaus liebenswürdiger Neffe ist der Meinung, nur weil ich eine Frau bin, könnte ich die Getränkekisten nicht tragen.“
„Du wiegst kaum mehr als zwei dieser Dinger.“
„Ach ja?“ Anna drängte Flora zur Seite und machte einen Schritt auf Adian zu. „Nur weil du groß bist und soviel, wiegst wie ein Hochlandpony kannst du es besser?“
„Ja, kann ich!“
Adians Augen begannen böse zu funkeln, als Anna drohend ihre Hand hob. Ihr Blick fiel auf das Handteller große blassgelbe Hämatom auf seinen Oberarm.
„Ich werde dir zeigen, du Bergtroll was ich ...“
„Lasst euch nicht weiter stören, ich mache es lieber selber,“ sagte Flora ruhig. „In meinem Alter sollte das kein Problem sein.“ Sie bückte sich und griff nach einer der Bierkisten.
„NEIN!“, brüllten Adian und Anna gleichzeitig. Flora konnte nicht mehr an sich halten mehr und begann lauthals zu lachen.
„Dann schleppe die blöden Kisten, wenn du meinst,“, fauchte Anna und ging fluchend und mit hocherhobenem Kopf davon.
„Ich hätte nie gedacht, dass eine Frau so fluchen kann,“ sagte Adian lachend und schnappte sich einen der brauen Kästen und wuchtete ihn auf seine Schulter.
„Ja, als Team seit ihr wirklich unschlagbar.“
„Wie bitte?“ Adian hielt inne und blickte Flora fragend an.
„Ich denke, ihr würdet euch beide gut ergänzen.“
Adian setzte die Kiste ruckartig ab.
„Was soll das denn heißen?“
„Ihr beiden blüht ja förmlich unter euren ständigen Scharmützeln auf.“ Flora lächelte und fuhr fort: „Außerdem lässt du dir ja auch keine Gelegenheit entgehen sie zu reizen.“
„Ich reize sie nicht!“ Adian grinste keck und lachte.
„Ach nein? Und was war an dem Abend, an dem wir hier draußen gemeinsam gegrillt haben und du deine Witze gemacht hast, dass du nicht wüsstest, wie dein Essen duftet, weil es überall nach Schafstall riecht.“ Flora lächelte und hob einhaltgebietend ihre Hand als Adian lachend protestieren wollte. Oder aber der Nachmittag, als ihr euch laut und deutlich im Garten gestritten habt, weil sie meinen Kater kastriert hat.“
„Ja sieh ihn dir doch jetzt mal an!“, protestierte Adian mit einem Lächeln auf den Lippen. „Der Arme liegt nur noch faul rum. Das hat er nur Anna und dir zu verdanken. Früher war er wild, ruhelos. Streifte durch die Nacht. Ein einsamer Jäger. Immer seine Beute im Visier. Eben ein echter Kerl.“ Adians ließ theatralisch den Kopf sinken. „Und so etwas nennt sich Casanova.“
„Meine Güte ja, aber der halbe Nachwuchs im Dorf sieht mittlerweile aus wie er. Wir mussten etwas unternehmen!“
„Typisch Frau,“ murmelte Adian. „Schnipp schnapp –alles ab!“
Mühsam versuchte Flora, ihr Schmunzeln zu unterdrücken. Das Adian Partei für ihren Kater ergriff rührte sie. Sie wusste, wie sehr er es mochte, auch wenn er es niemals zugeben würde, das der Kater in sein Cottage kam und ihn besuchte. Einmal hatte sie Adian sogar dabei ertappt, wie er Casanova eine Stelle aus seinem Kapitel an dem er gerade schrieb vorlass.
„Jedenfalls fanden meine Damen vom Nähklub dieses Gespräch sehr unterhaltsam. Besonders Molly O`Grady.“
„Dann hatte die alte Klatschtante wenigstens mal etwas Interessantes zu erzählen.“ Adian stellte einen Fuß auf eine der Bierkisten, holte aus der hinteren Tasche seiner schwarzen Jeans ein kariertes Halstuch und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Die gewitterschwere Luft, die seit dem Nachmittag vom Hochland heraufzog, wurde langsam unerträglich.
„Tante Flora, alles ok?“ Adian musterte eingehend seine Tante. Ihre plötzliche Blässe konnte nie und nimmer etwas mit seiner Bemerkung über Molly O`Grady oder dem Kater zu tun haben.
„Ach Adian, wenn ich ehrlich sein soll, mache ich mir in den letzten Wochen in wenig Sorgen um Anna.“
„Warum? Auch, wenn ich es ungern zugebe, die Praxis läuft doch gut!“
„Aus diesem Grund möchte ich auch dieses Ceilidh morgen Abend für sie geben. Die Leute stehen ja förmlich Schlange, um einen Termin in der Praxis zu bekommen. Vor allem seit sie erfahren haben, dass Anna herausgefunden hat, dass Ians Falke an einer Pockeninfektion gestorben ist.“
„Ein Fest auf Falcon Hall war schon immer ein gesellschaftlicher Höhepunkt. Da werden alle für ein paar Tage ihre Sorgen und Nöte hoffentlich vergessen.“
„Dein Wort in Gottes Ohr, Neffe. Anna sieht in letzter Zeit aus als würde sie kaum schlafen. Vergangenen Donnerstag habe ich vergeblich versucht sie zu erreichen, weil Casanova fürchterlich erbrochen hat. Keine Spur von ihr. Die ganze Nacht nicht!!!
Adian runzelte die Stirn.
„Wenn ich ehrlich sein soll, ich habe sie in der letzten Zeit kaum gesehen.“ Worüber ich froh bin, dachte er, denn so stört sie mich nicht bei der Arbeit. Alleine der Gedanke daran, wie er Anna eines Morgens in seinem Wohnzimmer beim Begutachten seiner Fotos ertappt hatte, schürte seine Empörung von Neuem. Offensichtlich hatte er sie auf der Suche nach Indizien überrascht, die sie gegen ihn verwenden konnte, um ihn die Schuld am Tod von Ians Falken anzukreiden. Keine Spur von Reue! Im Gegenteil.
Akribisch genau hatte sie wissen wollen, was es mit diesen Fotos über seinem Schreibtisch auf sich hatte. Selbst als er ihr zwei seiner weltweiten Bestseller erbost vor die Füße geworfen hatte, um ihr klarzumachen, dass die Bilder rein seiner Inspiration und Recherche dienten, hatte sie nur gelacht und gefragt, ob sich wirklich jemand für so einen Schund interessieren würde. Diese Frau brachte es innerhalb von Sekunden fertig, ihn an den Rand seiner Beherrschung zu katapultieren.
„Sie ist entweder nebenan in der Praxis, oder seitdem ihr Wagen aus Deutschland überführt, wurde ständig unterwegs.“
„Ich dachte, mich trifft der Schlag, als ich dieses Ungetüm sah,“ erklärte Flora kopfschüttelnd.
„Als ich das letzte Mal einen Hummer gesehen habe, war ich bei einem forensischen Vortrag in Las Vegas. Wie kommt sie nur an so einen Wagen?“
„Das war eines der wenigen Dinge, dir ihr Exmann bei der Scheidung nicht für sich beanspruchen konnte. Sie hatte den Wagen von dem Geld gekauft, das vom Verkauf ihres Elternhauses übrig geblieben ist.“
„Wie war ihr Mann?“
„Stelle dir eine Kombination der Schurken aus deinen Büchern vor und würze es mit einer großen Prise Brutalität. Dann kennst du Stephan von Barring. Dieses Schwein hat sie belogen, betrogen und entsorgt wie einen dreckigen Lappen.“ Flora hakte sich bei Adian unter und führte ihn in die Küche.
„Aber lasse uns bei einer Tasse Tee über Annas Party morgen Abend reden.“ Adrian kannte seine Tante gut genug, um zu wissen, dass sie dieses Thema nur zu gerne vor ihm verheimlicht hätte.
„Übrigens, bevor ich es vergesse. Ich wollte mich auch noch bei dir bedanken.“
„Wofür?“
„Ach Adian, mache mir nichts vor! Ich habe dich durchschaut. Du bist gar nicht so ungehobelt und stur, wie du dich immer gibst,“ sagte Flora und kicherte. „Ich finde es sehr nobel von dir, das du für Anna immer mitkochst. Vor allem, weil du sie in den ersten Tagen erst gar nicht in deine Küche lassen wolltest.“
Adian schaffte es gerade noch den bissigen Kommentar, der ihm auf den Lippen lag, zu schlucken und seine Gesichtszüge in Zaum zu halten. Er legte den Arm um seine Tante und grinste.
„Ach Flörchen, du kennst mich doch! Wenn es darauf ankommt, bin ich hilfsbereit in allen Lebenslagen. Außerdem isst sie wie ein Spatz, da kommt es auf eine Portion mehr oder weniger doch nicht an.“
Flora öffnete die Tür des Küchenschrankes und holte zwei Teebecher heraus und erklärte beiläufig: „Ich freue mich wirklich, dass ihr euch langsam besser versteht.“
„Oh ja, wir geben uns viel Mühe. Sehr viel sogar!“
Flora sah nicht das diabolische Grinsen, das sich in diesem Augenblick in Adians Gesicht spiegelte.


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Die Haustür flog auf und schlug mit einem Knall gegen die Wand.
„ Anna!“, brüllte Adian. „Anna!“
Dieser Frau würde er persönlich die Koffer für die Heimreise packen! Niemand tischte Tante Flora ungestraft derartige Lügengeschichten auf und benutzte ihn dabei als Alibi! Nicht einmal diese Anna!
Aber noch, während er die Hand nach dem Lichtschalter ausstreckte, spürte er, dass niemand im Haus war. Ein leeres Haus strahlte eine besondere Art von Stille aus. Genauso war es hier. Keinerlei menschliche Schwingungen. Nur Stille. Anna war nicht da.
Einerseits war ihm danach, sie zu packen und kräftig durchzuschütteln, bis sie wieder bei Verstand war, andererseits war er beinahe erleichtert, dass sie sich gerade jetzt nicht im Haus aufhielt. Er war sich seiner Reaktion auf sie nämlich keineswegs sicher. Sein Körper hatte ihn schon einmal betrogen. Sie konnte ihn dazu bringen, dass er die Kontrolle verlor. Gott bewahre, dass er dann vielleicht so etwas Idiotisches tat, wie sie zu küssen, bis ihr die Luft wegblieb …
Reiß dich zusammen, Adian!
Er verzichtete darauf Licht zu machen und polterte im Dunkeln die Treppe hoch. Wenn sie doch da war, würde sie ihn hören und sicher nach der Ursache des Lärms sehen.
Aber nichts rührte sich.
Ein Moment lang plagte ihn ein schlechtes Gewissen und er kam sich wie ein Eindringling vor. Aber dann schob er alle Bedenken beiseite. Schließlich hatte sie die Regeln gemacht, indem sie Tante Flora belogen hatte. Er öffnete ihre Schlafzimmertür und trat ein.
Ein schwacher Hauch ihres Parfüms hing in der Luft. Der Mond schien durch das Fenster und überzog das unberührte Bett mit kaltem Licht. Adian trat näher und fluchte, weil sein Fuß mit diesem Ungetüm von Metallkoffer kollidiert war, dass sie immer mit sich herumschleppte, wenn sie zu einem Notfall gerufen wurde. Warum gab sie sich mit einem derart unhandlichen Ding ab? Oft genug hatte er sie nachts die Treppe hinunter hasten hören, den Koffer hinter sich herschleppend, wobei das Ungetüm bei jedem Schritt gegen die Stufen schlug.
Dong dong dong. Ein Geräusch, das ihn zielsicher aus dem Schlaf riss und ihm den Schweiß auf die Stirn trieb, weil es ihn an die Nacht erinnerte in der Sara gar nicht schnell genug in Dougals Arme hatte flüchten können.
Reiß dich zusammen Adian. Nicht daran denken. Nicht jetzt. Nicht hier.
Er ging zum Bett und knipste die Nachttischlampe an. Annas Koffer war noch da und er erinnerte sich, dass auch ihr Wagen vor dem Haus gestanden hatte. Sie war also nicht zu einem Notfall gerufen worden. Wo war sie dann? Zu Fuß konnte sie sich nicht sehr weit entfernt haben, folglich blieb ihm nicht sehr viel Zeit. Nachdenklich runzelte er die Stirn. Wo würde eine Frau wie Anna wohl ihre Geheimnisse verbergen?
Er durchquerte den Raum und öffnete den Kleiderschrank, der aber nichts enthielt, außer ihren scheußlichen, konservativen Blusen, Röcken und Hosen. Wo war das sexy Kostüm, in dem sie hier angekommen war? Trug sie es vielleicht gerade? Und wenn ja, dann konnte er sich nur einen Anlass dafür vorstellen. Sie hatte ein Rendezvous.
Er wusste nicht einmal, warum, aber der Gedanke daran störte, ihn. Störte ihn so sehr, dass er die Schranktür mit mehr Schwung zuwarf, als nötig gewesen wäre.
Eine Postkarte, die im Rahmen ihres Spiegels klemmte, erregte seine Aufmerksamkeit. Er zog sie heraus und sah nach dem Absender. Ruben. Der Name sagte ihm nichts. Die Postkarte trug einen Absenderstempel, den er als Tokio entzifferte. Folglich konnte dieser Ruben nicht der Mann sein, mit dem sie sich traf.
Sorgfältig steckte er die Postkarte wieder in den Rahmen zurück und wandte sich ihrer Kommode zu. Er zog die erste Schublade auf. Schals, Handschuhe, dicke Socken.
Zweite Schublade. Strumpfhosen und Nachthemden, die nicht das geringste bisschen Haut sehen ließen. Enttäuscht schüttelte Adian den Kopf. Der konservative Geschmack dieser Frau ließ sich ja wohl kaum noch überbieten. Beinahe hätte er die dritte Schublade nicht mehr geöffnet. Aber dann tat er es doch. Und spürte, wie ihm die Knie weich wurden. Annas Unterwäsche. Aber nicht die simplen weißen Baumwollsachen, die er erwartet hatte. Er ging vor der Schublade in die Hocke und zog eine Handvoll der hauchzarten Gebilde heraus. Büstenhalter aus azurblauer Seide und Spitze mit passenden Slips, die aus nicht mehr als einem Hauch von Stoff bestanden. Seidenstrümpfe, die im Lampenlicht verführerisch glänzten. Herr im Himmel! Er würde Anna nie mehr ansehen können, ohne sich vorzustellen, was sie unter ihrer langweiligen Kleidung trug und … Plötzlich saß seine Jeans ungemütlich eng.
Himmel, jetzt brauchte er dringend einen Whisky.
Adian schloss die Schublade und atmete ein paar Mal tief ein und aus. Wie in Trance stand er auf, vergewisserte sich das alles so war, wie er es vorgefunden hatte, löschte das Licht und verließ Annas Schlafzimmer.
Er lief die Treppe hinunter, betrat sein Arbeitszimmer, öffnete den antiken Globus, entnahm ihm eine Flasche Whisky und ein Glas, schenkte sich einen ordentlichen Schluck ein und stürzte ihn hinunter. Der zehn Jahre alte Whisky brannte in seiner Kehle, aber das war ihm nur recht. Er schenkte sich zum zweiten Mal ein, aber diesmal nahm er sein Glas mit zu seinem Lieblingssessel. Er ließ sich hineinsinken, während er versuchte, seine Pulsrate und seine Atmung wieder zu normalisieren und mit diesem unbekannten, schmerzhaften Sehnen in seinem Körper fertig zu werden.
Auch wenn Anna es noch nicht wusste: Sie steckte in Schwierigkeiten. In großen Schwierigkeiten. Sie hatte etwas ins Rollen gebracht, womit sie vermutlich nicht gerechnet hatte. Aber er würde es nicht aufhalten, selbst wenn es noch möglich wäre. Sicher gefiel es ihr nicht, beim Wort genommen zu werden. Aber genau das hatte er vor. Er würde sie beim Wort nehmen und sie dazu zwingen, sich zu verhalten, als seien sie die besten Freunde. Mit allem, was dazugehörte. Und die Willkommensparty war genau der richtige Anlass, um mit seinem kleinen Rachefeldzug zu beginnen. Ein Grinsen breitete sich über sein Gesicht aus.
Wenn er sich nicht komplett irrte, würde er ziemlich viel Spaß dabei haben, ihr das Leben auf Falcon Hall verdammt schwer zu machen.

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Anna fluchte ausgiebig und massierte ihren rechten Knöchel. Wenn sie noch einmal auf dem Weg zu Ians Hof auf diesem durchweichten Waldboden ausrutschte, würde sie morgen mit blauen Flecken übersät sein. Und wenn sie dann morgen Abend in ihren lavendelfarbenem Etuikleid auf dem Fest erschiene, würden sich alle fragen, ob sie in eine Rauferei geraten war. Ihre Mundwinkel zuckten verächtlich, als sie an Floras Eröffnungsparty dachte. So etwas konnte auch nur Flora in den Sinn kommen. Hatte Flora denn vergessen wie sehr sie es, hasste im Mittelpunkt zu stehen? Alleine diese vielen Menschen, die Flora mit soviel Freunde und Stolz eingeladen hatte verursachten ihr Herzklopfen. Die gute Flora! Sie will nur das Beste für mich dachte Anna traurig . Und ich tische ihr dafür nichts als Lügenmärchen auf! Sie hoffte inständig, bald eine Lösung für Ians Problem zu finden.
Viel länger würden der McGregor und sie mit dem Schlafmangel und der täglichen Arbeitslast nicht mehr zurechtkommen.
Es wurde Zeit, das sie endlich die Kerle schnappen würden, die versuchten Ian an den Rand des Ruins zu treiben.
Anna schlang ihre Haare zusammen, drapierte sie unter ihrem braunen Hut, der ihr bei dem Sturz über die Baumwurzel vom Kopf gefallen war, und zog ihn tief ins Gesicht. Sie tastete den Waldboden nach ihrer Taschenlampe ab, die ihr aus der Hand gefallen war. Erleichtert entdeckte sie die Lampe unweit der Wurzel, über die sie gestolpert war. Langsam rappelte sie sich auf und klopfte sich die Tannennadeln und die Blätter von der Hose. Ihr Kopf fuhr ruckartig empor, als ein Gewehrschuss die Stille der Nacht durchbrach.
„Ian!“
Vergessen war der Schmerz in ihrem Knöchel. Anna schnappte sich die Taschenlampe und lief in die Richtung, aus der sie den Schuss gehört hatte.
„Lieber Gott, bitte lasse Ian keine Dummheiten machen,“ flehte Anna inbrünstig, während sie über die kleine Steinbrücke rannte. Den Gedanken, dass der Schuss ihrem lieben Freund gegolten haben mochte verdrängte sie energisch. Sie war gerade an der Remise vorbei gelaufen, als ein weiterer Schuss sie erstarren ließ. Sie drückte sich an die Wand der Scheune, steckte die Taschenlampe in ihre Jackentasche um keine Aufmerksamkeit zu erregen und schloss die Augen. Verdammt, was spielte sich auf den oberen Weiden nur ab?
Sie öffnete die Augen und blickte zum Wohnhaus herüber. Alle Fenster lagen im Dunkeln. Camilla und ihr Sohn schienen einen festen Schlaf zu haben. Vorsichtig tastete sie sich an der Wand entlang und wunderte sich, warum der Hund nicht angeschlagen hatte. Wahrscheinlich schlummerte der Riese schön brav neben Ronnies Bett.
Anna duckte sich, als sie die Scheune umrundet hatte und kroch auf allen Vieren in den Schatten der Steinmauer, die die Weiden trennte. Sie drückte sich an die kalten nassen Steine und versuchte ihr klopfendes Herz und ihren keuchenden Atem zu beruhigen. Vergeblich wartete sie auf ein Zeichen, einen Ruf von Ian. Aber sie hörte nur den Regen, der auf sie niederprasselte.
„Verdammt du schottischer Dickschädel! Wo steckst du?“ Ihre Hand glitt in die Jackentasche und sie umklammerte ihr Handy. Fieberhaft überlegte, was sie machen könnte. Wenn sie jetzt die Polizei riefe, würde ihr Ian das niemals verzeihen. Wäre es, wie in den vergangenen vier Nächten ruhig und Ian nur einen Fuchs oder einen Hasen erlegt hätte, würde sie sich bei der Polizei ordentlich blamieren. Anna kniete sich hin, schob ihren Hut höher und blickte vorsichtig über den Rand der Mauer. Schemenhaft erkannte sie nur die massigen dunkeln Schatten der Rinder, die sich zusammengestellt hatten und vereinzelt muhten.
Ihr Atem hatte sich weitgehend beruhigt und Anna kroch weiter die Mauer entlang. Sie spürte die Nässe, die sich langsam ihren Weg durch ihre Kleidung bahnte und erschauderte. Einen Vorteil hat dieses Wetter,dachte sie, dann fällt Morgen die Party wenigsten ins Wasser! Getrieben von dem erfreulichen Gedanken schlich sie weiter zu der Stelle, an der sie und Ian sich in den vergangenen Wochen regelmäßig getroffen hatten.
„Ian?“, rief sie leise und lehnte sich atemlos an den weißen Stamm der Birke. Ein Lächeln breitete sich in ihrem Gesicht aus und sie sprang auf, als sie das gälische Wort für Idiot und die schweren Schritte ihres Freundes hörte.
„Ian! Du lebst!“ Augenblicklich wurde Anna bewusst, was alles hätte passieren können und sie warf sich an die Brust des völlig durchnässten Mannes und küsste ihn herzhaft auf die Wange.
„Verdammt Mädchen! Wo hast du denn die ganze Zeit gesteckt? Hier ist der Teufel los.“
Ian nahm seine Jagdflinte in die andere Hand, umfasste Annas Handgelenk und zerrte sie hinter sich her.
Fieberhaft versuchte Anna mit ihm Schritt zuhalten, stolperte, aber schaffte es gerade noch, die Balance zu halten.
„Himmel Ian, was ist hier los, Ian? Wer hat geschossen?“
„Ich!“
„Um Gottes willen warum?“
„Der Stier,“, stieß Ian schwer atmend hervor. „Kaltblütig aufgeschlitzt!“
„Wo?“
„Auf der anderen, der östlichen Weide. Beeil dich!“
Anna wusste nur zu gut was der Verlust des Tieres für ihn und seinen Hof bedeutete und beschleunigte ihre Schritte. Sie folgte ihrem Freund, der mit großen Schritten durch den strömenden Regen in die mondlose Nacht vorausrannte.
Keuchend kletterte sie über den Lattenzaun und sah schon von Weitem den schweren, massigen Körper im Gras liegen. Sie rannte, rutschte aus und robbte die letzten Meter bäuchlings im Schein ihrer Taschenlampe auf das Tier zu.
„Mist, ich brauche mehr Licht!“, schrie sie und riss sich den Rucksack von den Schultern. Ian legte seine Flinte in das nasse Gras holte seine Taschenlampe aus der Jackentasche und leuchtete über den zitternden Tierkörper.
Anna brauchte nicht erst in die glasigen Augen des Bullen zu sehen. Die Blutlache, in der sie kniete und die klaffende Wunde am Hals reichten aus zu erkennen, dass sie zu spät gekommen waren. Sie hob den Kopf und im Schein des Blitzes, der über den Bergen niederging, schimmerten Tränen in ihren Augen.
„Es tut mir so leid, Ian!“
„Nein Mädchen!“, schrie Ian auf.
„Ich weiß was der Verlust für dich bedeutet. Aber selbst, wenn ich meine gesamte Ausrüstung hier hätte, könnte ich nichts mehr ausrichten.“
„Dir ist doch egal, was aus mir und dem Hof wird! Verdammt Anna, der Stier ist meine letzte Rettung.“
„Scheiße Ian, mir sind weder du noch dein Hof egal! Hast du vergessen was ich in den letzten Wochen für dich und deinen Hof auf mich genommen habe?“
„Rette ihn! Ich weiß du kannst es. Bitte!“
Anna streichelte ein letztes Mal über das zottelige braune Fell und stand langsam auf.
Sie hob das Gewehr auf und entsicherte es. Ian sprang auf Anna zu. Der gälischer Fluch, den er ausstieß, verhallte im Donnerschlag. Anna schaffte es gerade noch den Gewehrkolben anzuheben, und ihn ihrem Freund unter das Kinn zu schlagen.
Der präzise, erlösende Schuss durchbrach die Stille. Anna ließ das Gewehr sinken, atmete tief durch und drehte sich zu Ian, der benommen vor ihr im Schlamm hockte um.
„Auch, wenn du dich jetzt immer noch weigerst, mit der Polizei zu reden, als hiesige Veterinärin bin ich dazu verpflichtet einen Stier, dem man die Kehle aufgeschnitten hat, zu melden!“


Impressum

Tag der Veröffentlichung: 03.09.2011

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Für die wichtigsten Männer in meinem Leben: tha thu bhuam,Papa tha gràdh mòr agam ort, Michael

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