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Im Tanztheater (irgendwo auf dieser Welt)

 
»Santos, Santos, mein Lieber! Komm mal schnell zu mir runter, ich muss wirklich dringend mit dir reden!«

 


Der Ballett-Intendant legte Wert darauf, jeden Satz zu einer Operette zu formen. Das war der gelebte Teil seiner aristokratischen Eleganz. Dazu gehörten noch feinster Zwirn, gerne im Karomuster, Hals- und Brusttaschentuch, handgenähte Schuhe, schwere Siegel-Ringe und Pomade im Haar. Santos fand, dass eine schlichtere Kleidung besser zu ihm passen würde, denn er hatte optisch was von dem guten, alten Cary Grant. Aber das sprach er nicht aus. Sie kannten sich lange genug, dass er sich an den Rittmeister-Stil gewöhnt hatte und wusste, dass Paul Komplimente nur unnötig zu Kopf stiegen. Er löste sich aus seiner Dehnung und sprang von der Bühne zu ihm herunter.

 
»Was gibt´s denn, Paul?«

 
»Das neue Stück! Es ist abgenommen. Abgenommen! Stell dir nur vor, wir können uns an die Umsetzung machen. Ist das nicht fabelhaft, mein lieber Santos? Herrgott, heute sind deine Haare aber wieder besonders zottelig.«

 
Ringklimpernde, frisch manikürte Finger fuhren über die schwarzbraune Löwenmähne des Tänzers. Diese mütterliche Art nervte ihn noch mehr, als diese dumme Angewohnheit, ständig Wörter doppelt und dreifach zu betonen. Er zog den Kopf nach hinten weg.

 
»Wieso eigentlich wir? Ich bin doch nur der Tänzer. Du bist der Intendant und sicher auch wieder der Chef-Choreograf. Oder habe ich irgendwas verpasst? Du hast doch nicht am Ende eingesehen, dass ich der bessere Dramaturg bin, oder?«

 
»Lass den Quatsch. Benimm dich einfach wie ein großer Junge, ja? Nun, ich habe dir ja erzählt, dass mir die Umsetzung von ›Draußen vor der Tür‹ von Borchert als Vorlage dient. Dieses Nachkriegswerk, wo der Heimkehrer Beckmann ständig vor der Tür bleiben muss, seinen Lebenswillen verliert und der sogenannte Andere ihm das Leben wieder als lebenswert erklären möchte. Naja ... du weißt auch, dass ich dich gerne in den Hauptrollen platziere. Jedoch ist es diesmal anders. Du bist stark und deine Stärke ist schwer zu überspielen mit Kraftlosigkeit, Lebensunmut ... das ganze Drama ... du weißt schon«, stotterte Paul etwas hilflos. Er hatte entweder keine Ahnung, wer sein erster Solo-Tänzer wirklich war oder er wollte bewusst nicht sein ganzes Potenzial ausschöpfen. Santos fühlte sich gefangen in einem rappeligen Schuhkarton. Degradiert zur ewigen Stärke, als wolle der Intendant ihm seine verletzliche und weiche Seite komplett ausrotten.


»Verstehe, ich bin quasi der Bud Spencer in deiner Truppe und einmal Haudegen, immer Haudegen, richtig?« In Santos Lächeln lag etwas Verächtliches, das Paul noch nervöser machte. Und wenn Paul nervös wurde, wurde er oft ein wenig fies.

 
»Du kannst jetzt die Diva raushängen lassen wie du willst. Ich darf dich aber auch erinnern, wem du deinen Erfolg zu verdanken hast.«

 
»Meinem masochistischem Training?«

 
»Papperlapapp. Wir reden ein andermal weiter. Was ich eigentlich sagen wollte, war, dass ich dich diesmal in die Auswahl deines Tanzpartners involviere. Du hast also ein Bestimmungsrecht. So dachte ich. Doch wenn du so rum zickst, vergeht mir die Lust an meiner Großzügigkeit gewaltig.«

 
»Partner?«

 
»Wir suchen einen Beckmann. Du wirst der Andere sein. Das Gewissen, der Überlebenstrieb ... hier ... lies das nochmal.«

 
Paul warf Santos ein Reclam-Heftchen entgegen. Dann richtete er sein Halstuch und marschierte auf seinen feinen Ledersohlen aus dem Saal. Draußen vor der Tür hatte Santos in der Schule das letzte Mal gelesen. War auch irgendwie haften geblieben die Story. Noch drei Stunden trainieren und dann ein paar Hausaufgaben machen. Er hatte kein Lust wie blöd vor Paul dazustehen. Immer schon hatte er sich mit den lyrischen Grundlagen seiner Figuren intensiv befasst. Und Paul tyrannisierte ihn mit seinen kleinen Nickeligkeiten schon genug. Am liebsten war es Santos, wenn er ihm ab und zu auch fachlich den Wind aus den Segeln nehmen konnte. Und manchmal wollte er nur noch weg und sogar auf diese Karriere pfeiffen, die in zwei Jahren ohnehin auslaufen würde. Dann wäre er 30. Der Begriff Midlife-Crisis wurde in der Tanzszene geboren, da war er sich sicher.

 

 

300 Kilometer entfernt schnitt Nicky seine Tomaten für das Mittagessen in kleine Würfel und sortierte die winzigen Kerne aus. Er mochte keine Kerne. Weder in Salatgurken, noch in Weintrauben, noch in Melonen und somit auch nicht in Tomaten. Sein Exfreund hatte immer gesagt, das sei doch manischer Quatsch, weil die Tomatenkerne von soviel Glibber ummantelt seien, dass sie einfach runterrutschten. Dass es eher schwierig wäre, einen Tomatenkern zu zerbeissen. Aber mit solchen Diskussionen musste er sich längst nicht mehr aufhalten. Ihm sagte keiner mehr, dass es keinen Grund gab, nach einem gelungenem Auftritt drei Tage in eine tiefe, unerklärliche Traurigkeit zu fallen. Keiner war mehr da, der sich persönlich herabgesetzt fühlte, weil er dieses Tal der Tränen nicht mit Sand aufschütten konnte. Dass man gefälligst maximal einen Tag niedergeschlagen sein und ansonsten doch bitteschön einfach nur froh sein dürfte. Andersfalls wäre er vielleicht krank und bedürfe ärztlicher Behandlung. Aber sein Exfreund war kein Kunstschaffender, sondern Manager. Seither hatte sich Nicky aus Überzeugung auf gar keine Beziehung mehr eingelassen. Künstler wie er waren einfach nicht dazu fähig, ihre tief verwurzelte Leidenschaft zu ihren Ausdrucksformen für einen nichtsdestotrotz nahestehenden Menschen zurückzustellen. Und wenn er fünf oder sogar sieben Tage nach einem Einzelauftritt oder einer Ensemble-Episode in sein Loch kriechen und Kerne aus seiner Nahrung sortieren wollte ... und wenn er nicht mehr nur acht, sondern zwölf Stunden trainieren wollte: Er liebte seine Beziehung zu sich selber, die so gnadenlos wie auch erfüllend war. Sein Körper erschien ihm wie losgelöst. Etwas das schöner und anmutiger war, als er. Etwas, das Schmerz besser ertragen konnte, als er. Er war er, sein Körper war sein Körper. Und sie standen füreinander ein, in guten wie in schlechten Zeiten. Das ging jetzt zwei Jahre so und er spürte nicht die geringsten Ambitionen, daran jemals wieder etwas zu ändern. Er musste nur noch lernen, sich mit seiner Sehnsucht zu arrangieren.

 

Drei Tage später. Santos saß mit Paul beim Italiener zum Mittagessen zusammen. »Santos, Santos, mein Lieber, ich freue mich auf nächste Woche. Dann wird das erste Vortanzen stattfinden. Ich habe dir das Manuskript meiner Inszenierung mitgebracht und möchte, dass du dich in erster Linie mit der Figur des Beckmann beschäftigst, damit du deine Wahl fundiert treffen kannst. Ich sehe einen Beckmann, der zart ist und zugleich geschunden. Äußerlich rebellisch und doch hat sein Innerstes längst den Kampf aufgegeben. Ich brauche für das Stück nicht nur eure bebenden Körper, ich brauche auch eure Gesichter, Tränen, Wahnsinn, will eure Leidenschaft, den ganzen Schmerz in Mark und Bein spüren. Und du, du musst für ihn einstehen können, für deinen Beckmann, musst ihn dir einverleiben, als sei er ein Teil von dir. Und du ein Teil von ihm. Eben — der Andere

 
Paul hatte diese Ausführungen wieder wie eine Oper runtergeträllert und sich dabei seinen Körper geknetet und betatscht. Santos versuchte ihm ein Spiegel zu sein. Wenn er auch nur einen Moment gelangweilt oder abwesend wirkte, ging Paul sofort in die Luft. Dabei schien der Intendant mit einem imaginären Spiegel vor der Nase auf die Welt gekommen zu sein. Manchmal glaubte Santos, er sei nur ein Statist in dessen Leben. Eine nickende Pappfigur hätte es wohl auch getan. Doch er wischte den Gedanken immer wieder weg. Da man als Tänzer nichtmal in der Oberklasse wirklich reich werden konnte, war Paul für ihn wichtig. Dass er sogar in geringen Anteilen einen Vater-Ersatz darstellte, behielt er für sich. Paul war mit seinen 55 Jahren ein knackiger Mann und wirkte in jeder Lebenslage sehr attraktiv und frisch. Ein wenig hysterisch und affektiert. Aber Santos ließ sich gerne von ihm ausführen und hatte gelernt, mit den Besonderheiten seines Gegenübers diplomatisch umzugehen. Paul hingegen schmückte sich regelrecht mit Santos. Darum kleidete er ihn auch ein. Ein verwegener Surfer-Look, das passte zu seiner wilden Mähne auf dem Kopf. Denn von der wollte er sich trotz ständigem Genörgel und Gefummel nicht trennen. Seine Haare waren der Vorbote für ein Leben in den Bergen. Egal wo. Hauptsache Ruhe und Feuerholz hacken. Noch zwei Jahre, dann sah er dem Ausstieg aus dem Tanzgeschäft ins Auge. Dann würde es keine karierten Anzüge und Seidentücher mehr geben, keine Zickereien, keine Manipulation, keine Vorhaltungen, dass er nur war, der er war, weil Paul ihn als Mentor nach oben gebracht hatte. Diesen Plan behielt er ebenso für sich, wie die übrigen 80 Prozent seiner Gedanken, die nur für Unruhe in ihrer Beziehung zueinander gesorgt hätten.

 
»Paul, ich werde mich schon bemühen, die richtige Wahl zu treffen. Das letzte Wort hast doch sowieso du«, nuschelte Santos.

 
»Na, na, na, nicht so bescheiden mein junger Freund. Wenn ich sage, ich überlasse dir die Wahl, dann meine ich das ganz genau so, wie ich das sage. Ganz genau so. Verstehst du? Ich wünsche mir, dass du mich diesmal beim Wort nimmst. Komm doch heute Abend noch zu mir. Kannst ja mal wieder eine Runde schwimmen und das Manuskript dann gemütlich vor meinem Kamin lesen«, bestimmte Paul.

 
»Ja. Ich komme nach dem Training hoch.«

 

 

Nicky trainierte auch an diesem Nachmittag. Er hatte von seinem Agenten die Einladung zum Vortanzen des Beckmanns erhalten und bereitete sich intensiv auf seine kleine Choreografie vor. Einzige Vorgabe war, dass der Andere bei ihm stehen würde, während er seinen Lebensunmut und seine Ablehnung gegenüber diesem Überlebenstrieb heraus tanzte. Ganz im Gefühl versunken und seinen Körper nur gelegentlich im Spiegel wahrnehmend, verausgabte er sich, bis er auf seinen eigenen Schweißtropfen ausrutschte. Sein tiefstes Wesen und sein Körper trennten sich voneinander und wurden wieder eins. Draußen vor der Tür war ein dramatisches Stück. Er fühlte diese Kraft der Sinnlosigkeit des traumatisierten Kriegsopfers Beckmann, das heimkehrt und immer wieder vor die Tür geschickt wird, dem nichtmal die Elbe ein Plätzchen zum pennen anbot und ihn wieder an Land schwemmte. Der verlacht wurde, wegen seiner Gasmaskenbrille, aber kein Geld hatte für eine normale Brille, geschweige denn für etwas zu Essen oder eine Unterkunft. Diese Zerrissenheit zwischen Kampf und Aufgabe, Einsamkeit und dem Wunsch bei einem anderen Menschen anzukommen. Überhaupt wieder an das Gute im Menschen zu glauben. Der Tänzer sollte die Kunst der inneren Tränen beherrschen. Auf der Bühne rinnen die, genau wie der Schweiß, unter der Haut im Körper hinab. Wie unsichtbar, wie trocken. Vielleicht ist das auch der Grund, warum die wahren Gefühle nach Außen drängen, sobald der Vorhang gefallen ist. Je mächtiger die Emotion in der Kunst und vor dem Publikum, um so unerklärlicher der Zusammenbruch, wenn er alleine mit sich zurückbleibt. Wenn der Applaus verstummt ist und die Rosen getrocknet sind. Tänzer sind sensibel und masochistisch, sonst wären sie keine Tänzer, bestärkte sich Nicky.

 

Santos hatte vor dem Kamin das Manuskript studiert. Er lag splitterfasernackt auf einem kostbaren Fell — was ihm als Veganer Unbehagen bereitete — und Paul beobachtete ihn süffisant vom Sofa aus. Santos mochte auch den Geruch von seinen Zigarillos nicht besonders und konzentrierte sich auf den angenehmen Duft des knisternden Holzes. Dann setzte er sich breitbeinig auf und schlang seine Arme lässig um die Knie. »Paul das gefällt mir. Besonders die multimediale Inszenierung im Background dürfte ein richtiger Knaller werden. Du gehst wie immer mit der Zeit. Und ein Happy End ... naja vermeintlich«, referierte Santos und fixierte Paul mit seinen großen Augen. Mit dem Feuer hinter ihm, schimmerten die wie zwei schwarze Lackknöpfe und er übte auf Paul damit den Reiz eines Dämons aus, den er zu bezwingen hatte.

 
»Ich wusste, dass es dir gefällt, mein Lieber. Wie viel Wert ich auf ein Happy End lege, ist dir ja mehr als bekannt.« Er öffnete seinen Hausmantel und fuhr sich über seine Erregung, als würde er ein Gewehr durchladen. Scharf bewaffnet stand er auf und näherte sich mit strengen Schritten seinem Teufel auf dem flauschigen Fell. »Auf die Knie, du Satansbraten!«, zischte er und schlug mit der flachen Hand auf Santos holzharten Po, der sich vor der Feuerwand mächtig aufgeheizt hatte. Die Hand wirkte so kalt wie Eis auf heißem Basaltstein und schien sich dennoch in die Haut zu fressen wie ein glühendes Brandeisen: »Du bist Mein!« Die Sehnsucht nach Zärtlichkeit hatte Santos im Griff. Als Gegengewicht zu der seelischen Pein und Abhängigkeit von Paul erleichterte ihn die körperlich rüde Behandlungsweise geradezu. Es hatte durchaus romantisch mit ihnen begonnen, sich dann aber schnell zu einer Hassliebe verselbständigt, die nicht weiter thematisiert wurde. Vermutlich ertrug der Intendant seine sexuelle Abhängigkeit von Santos nur, indem er einfach alles verdrehte. Jeder aufgenommene Stoß wurde für den dunkelhaarigen Dämon zu nicht mehr als einer sportlichen Herausforderung. Er ließ sich nicht bezwingen und fühlte sich nichtmal benutzt. Mit jedem neuen hilflosen Aufbegehren von Paul, blieb dieser doch nur in seiner Leere zurück. Alles was er tun konnte, war Santos auf existenzieller Ebene an sich binden. Auf nichts Tieferes verstand er sich. Was Santos beinahe schon mitleidig mit ihm werden ließ. Dass er dabei noch den großen Gönner raushängen ließ, war so gesehen eher belustigend. Was er sich nehmen ließ und dafür bekam, sortierte er pragmatisch als ausgleichende Gerechtigkeit ein. Und das gängige Ritual zwischen ihnen war absehbar. Er wurde beritten vom Rittmeister, Teufel wurden ausgetrieben und bohrten sich dabei einzig und alleine tiefer in das armselige Herz des Bezwingers. Dann verlor der selbst ernannte Held die Kontrolle und ergoss sich in seinen Sieger-Gedanken. Keuchend, benommen und kraftlos sah er bloß noch zu, wie Santos ihn zum Abschluss bespritzte. Eigentlich war es mehr ein verächtliches anspucken. Danach ging Santos meist sehr schnell nach unten in seine Einliegerwohnung. Nur einmal gestand Paul: »Santos, Santos, Santos, mein Lieber. Ich fürchte ich liebe dich abgöttisch.« Die Antwort darauf lautete: »Wenn ich noch wüsste wie das geht, würde ich es sicher erwidern.«

 

Nicky packte seine Tasche mit dem Nötigsten. Er hatte sich noch keine Unterkunft gebucht, wollte sich sofort im Tanztheater einfinden und später schauen, wo er ein Hotel findet. Manchmal ergab sich auch eine Schlafgelegenheit unter den Vortänzern. Allerdings wollte er sich auf kein Abenteuer einlassen. In der Nacht zuvor musste er von seinem Exfreund geträumt haben. Vielleicht hatte seine Choreografie da was ausgegraben. Immerhin war er bei seinem Tanz regelrecht in Trance geraten. Es ist ein großer Unterschied, nach einer Vorgabe zu tanzen oder ganz frei Gefühle zu interpretieren. So viele Bewegungen sind ihm durch den Kopf gegangen und in die Beine und Arme gefahren, während er sich auf die intensivsten Abgründe des menschlichen Daseins konzentriert hatte. Dieser Zwiespalt, das Leben zu geniessen und alles so frei und wild zu nehmen wie es kommt, oder der asketische Künstler zu sein, der sich für die Einsamkeit als notwendige Konsequenz zur Wahrheit entschieden hatte. Irgendwie lag in beidem gleichermaßen ungelebtes Leben, wie untoter Tod. So unähnlich war er dem Beckmann also gar nicht. Dieser Traum war so intensiv gewesen, dass ihm nach dem Erwachen Kaffeegeruch in die Nase zog und er darauf wartete, dass sein ehemaliger Lebenspartner fröhlich lächelnd mit zwei Tassen ins Schlafzimmer kam. Da war sie, die Sehnsucht nach einem Menschen, der einfach nur da ist, der ebenso gut tut, wie auch nervt. Sei es drum. Keiner tat gut und keiner nervte. Außer die Sehnsucht selbst, die nichtmal irgendwem anzuhaften brauchte, die manchmal wie ein schwarzer Fleck an den Wänden entlang wanderte. Man konnte diesen Fleck nicht wegwischen. Er machte bloß das Zimmer ungemütlich. Da war auch das mit sich alleine sein, das streckenweise so wunderbar war. Doch spätestens wenn er sich innerlich auf die Schulter klopfte und sich sagte: »Ach, wie schön du doch mit dir alleine sein kannst!«, war klar, dass die Sehnsucht mal wieder gewonnen hatte. Derartige Gedanken hatten ihn zum Bahnhof begleitet, aber als er im Zug saß, ließ er sie zurück. Sein Magen kribbelte. Jedes Vortanzen war ein kleiner Kick. Jede Reise war ein Abenteuer. Das liebte er an seinem Beruf, dass er rum kam in der Welt und der schwarze Fleck es offenbar nicht schaffte, ihm durch jede Hoteldrehtür zu folgen. Nicky war sich mit seinen 28 Jahren wie jeder halbwegs gescheite Profitänzer darüber im Klaren, dass seine Ballettschuhe in nicht allzu ferner Zukunft an einem Haken hingen. Er genoss die Zugfahrt mit Musik im Ohr, stieg nach drei Stunden aus und nahm sich ein Taxi zum Tanztheater.

 
»Und, mein lieber, lieber Santos? Wie läuft es bis jetzt?«
Paul hatte ihm tatsächlich eine Assistentin für die Organisation und die Musik an die Seite gestellt und ihn ansonsten mit dem Casting alleine gelassen. Doch dann war er da.

 
»Ich habe schon zehn Kandidaten durch. Nichts dabei, was mich berührt hat«, sagte er.

 
Paul schaute auf die Sitzreihe jener, die bereits dran waren und derer, die noch warteten.

 
»Naja, es werden in den nächsten Minuten noch ein paar Tänzer eintreffen. Wenn diesmal nichts dabei ist, werden wir einen weiteren Aufruf starten. Ich setze mich da hinten ganz mucksmäuschenstill in die Ecke.«

 
»Wie du meinst«, sagte Santos. Er klatschte in die Hände. »Der Nächste bitte!«

 
Santos selbst stand als der Andere auf der Bühne und die Musik startete. Ein junger Mann mit Glatze und kugeligen Muskeln überragte ihn fast um einen Kopf. »Stop - Stop - Stop!«, schrie Paul aus seiner wohl doch nicht ganz so stillen Ecke. »Das hat keinen Sinn! Hast du nicht gelesen, dass die Grenze der Körpergröße bei 187 Zentimetern liegt, du Riesenbaby? Beckmann darf den Anderen nicht so überragen. Sorry, aber das bist du ja nu selbst schuld. Danke. Der Nächste, hopp hopp!«

 
Santos biss sich auf die Lippen. »Sorry Alter«, hauchte er dem Glatzköpfigen nach. Ihm war die Situation sichtlich peinlich. Man könnte vielleicht wenigstens gucken, ob der Typ nicht für eine passendere Rolle...

 
Doch da stand ihm auch schon Nicky gegenüber. Nicky hatte ganz leichte asiatische Züge, die im ersten Moment konträr zur Rolle standen. Seine Augen waren dunkelblau und zogen Santos auf den Grund eines erfrischenden Bergsees. Vielleicht blieb ihm deshalb die Luft weg und seine Haut überzog sich mit kleinsten Noppen. Das Wasser war recht kalt und Schwindel erregend tief. Er vergaß darin, das Zeichen für den Beginn der Musik zu geben. Glitt stattdessen mit seinen Augen über den vernarbten Oberkörper des Tänzers. Narben wie ein hautfarben schillernder Ölteppich, der eine Schatzkarte auf seinen Torso gemalt hatte. Wie eine Tonfigur von Adonis, an der der Künstler noch die Feinheiten vornehmen musste. Reizvoll. Der Mann schien so formvollendet, dass ihn nichts entstellen konnte. Paul räusperte sich laut und affektiert. Santos kam wieder zu sich und gab endlich das erwartete Zeichen. Er blieb als der Andere in seiner passiven aber festen Position und hörte durch die sphärischen Klänge hindurch sein Herz klopfen. Und Nicky bewegte sich als geknickter Beckmann um ihn herum, versuchte den Anderen verzweifelt wegzustoßen, glitt an dem starken Körper ab, sank in sich zusammen, raffte sich wieder auf, setze zu einem Sprung an, drehte sich und fiel dann zu seinen Füßen. Als wäre er durch die Knöchel des Anderen in ihn eingedrungen, kroch er mit den Armen seinen Körper hoch, umfasste dessen Kopf und schlüpfte durch seine Augen in sein Hirn. Tilt! Santos konnte sich in Nickys Atem verbeißen. Ihre Augen prallten wie Planeten aufeinander und der Knall dehnte eine Schallwelle in ihre Lenden aus. Ob alle diesen Knall gehört haben? Santos, drehte sich benommen zu Paul und presste Nicky ein blechernes »Danke« zu. Seinen Hals umspannte ein eng geschnürtes Korsett. »Danke auch«, entgegnete der Tänzer, der noch recht gut in der Puste war und reichte Santos förmlich seine zitternde Hand.


»Das war wirklich ganz, ganz, ganz toll, aber deine Optik passt hinten und vorne nicht ins Projekt, sorry! Und die nicht übersehbaren Hautschäden werden in deiner Kartei nicht aufgeführt! Das bedarf sicher einer Datenaktualisierung. Vielleicht mal hübsch der Agentur ausrichten, junger Mann?«

 
Der mucksmäuschenstille Nager war in seiner Ecke verdammt laut geworden und zur Fledermaus mutiert, so wie er mit den Armen im Saal rumfuchtelte. Santos lief vor Wut und Scham rot an. Bestimmungsrecht! Pah! Das war typisch für Paul. Er hasste ihn in genau solchen Momenten immer wieder aufs Neue. Er wollte Nicky. Er war der perfekte Beckmann, wenn man auch nur ein wenig Sinn für einen multikulturellen Aspekt in der Kunst hatte. Und da Paul den eigentlich hatte, gab es hier offenbar ein privates Problem. Er schaute an sich herab. Dieser spezielle Tänzer-Sackschoner konnte einiges verbergen, offenbar aber keine so ausgeprägte und sogar der Wut standhaltende Erektion. Das würde eine Diskussion geben. Santos zog das Casting mit den verbliebenen fünf Kandidaten durch und stand dabei wie ein toter Baum auf der Bühne. Er wollte definitiv und unumstößlich diesen Nicky. Immer wieder drängte es ihn, zu ihm in die wartende Reihe runterzuschauen, doch er zügelte sich. Paul war ein arroganter und besitzansprüchlicher Idiot. Nicky war einfach nur perfekt. Daran gab es überhaupt keinen Zweifel. Santos nahm seinen Block und verkündete: »Vielen Dank allen Teilnehmern. In der engeren Wahl sind Nicky, Timo und Jonatan. Wir sehen uns morgen gegen neun Uhr wieder hier. Allen Übrigen eine gute Heimreise und nichts für ungut. Vielleicht klappt es nächstes Mal.« Da er davon ausging, dass Paul aus seiner Fledermaus-Ecke nicht die Namensschilder auf der Brust gelesen hatte, bewahrte er mit dieser Aktion Nicky zunächst davor, wieder abzureisen und konnte später die Sache mit dem zickigen Intendanten klären.

 

 
»Glaubst du, ich hätte deinen knallharten Ständer nicht gesehen? Und glaubst du, mir wäre entgangen, wie du alles um dich herum vergessen hast? Du bist eine miese Nutte, Santos! Das entstellte Schlitzauge kommt mir nicht auf die Bühne!« Paul spuckte und trampelte durch sein pompöses Wohnzimmer. Santos wusste, wenn er so dermaßen an der Unterkante argumentierte, hatte er einen Anfall der Stufe sechs. Und da half nur eins: er ging ganz nah an ihn ran, griff seine Hoden und presste seine Lippen auf seinen nassen, wütenden Mund. Dann keuchte er in sein Ohr: »Ich werde rattenscharf, wenn du eifersüchtig bist, und zwar so richtig rattenscharf, verstehst du? R-a-t-t-e-n-s-c-h-a-r-f!« Damit löste er meist eine Kettenreaktion aus. 1.) Die Wut war weg. 2.) Die Erregung war da. 3.) Das Hirn schaltete ab. 4.) Er wollte nur noch Santos bewältigen. 5.) Er bewältigte ihn 6.) Er lag am Boden und rang nach Luft. Santos mochte diese Reißleine nicht gerne ziehen. Das hatte nichts mit Lust zu tun. Er setzte seinen Grips ein und nutzte seinen Körper als Werkzeug. Als ein Mittel, das den Zweck heiligen sollte. Nachdem Paul langsam wieder ruhig atmete, legte er sachte seine Hand auf dessen Herz und sprach zu ihm wie ein Psychologe, der einen Lebensmüden von der Brücke locken wollte: »Hast du nicht gesehen, wie er getanzt hat? Hat er dir nicht auch das Blut in die Weichteile getrieben? Ist diese Macht an Gefühlen nicht genau das, wonach du verlangt hast? Komm schon, sei nicht so schwach. Zweifel doch nicht an meiner Zuneigung, nur weil mich eine künstlerische Leistung so berührt hat, dass ich eine Latte davon bekommen habe. Ist es nicht vielmehr das eindeutige Zeichen, mit Nicky auf den Richtigen zu setzen?«

 
»Du hast ja Recht. Es tut mir leid. Aber nun ist er ja weg.« Er adaptierte Santos Sanftheit in der Stimme.

 
»Nein. Er kommt morgen um neun Uhr.«

 
Paul wollte gerade wieder wütend werden, da erreichte wohl das Echo von ›sei nicht so schwach‹ sein stolzes Hirn.

 
»Meinetwegen. Wenn er dein Beckmann ist, ist er eben dein Beckmann. Ich habe schon gestaunt. Er strahlt so viel Schmerz bei gleichzeitiger Kraft aus und diese Narben ... es sieht nach Brandnarben aus. Eigentlich ist er ein perfekter Heimkehrer-Soldat. Gerade so von Messers Schneide gesprungen. Womöglich halten die Zuschauer seinen entstellten Oberkörper für eine herausragende Leistung unserer Maskenbildner! Ich wusste, dass ich mich auf dich verlassen kann. Aber lass die Finger von ihm! Du gehörst mir alleine! Und damit du das nicht vergisst ... «

 
Santos ließ noch einen schnöden Ritt über sich ergehen und träumte sich dabei in den Bergsee. Während Paul seine Mitnahme-Quantität unter Beweis stellte, fühlte er nochmal Nickys Hände an seinen Beinen hochrutschen, so sanft und gefühlvoll, zittrig, voll von unbändiger, aufgegebener Kraft. Wie alleine er mit Paul schon die ganze Zeit gewesen ist. Wie wenig er darauf bedacht war ihn wirklich glücklich zu sehen. Das erste Mal, seit ihr Ritual sie so kalt verband, schämte sich Santos dafür, seine Hure zu sein. Es gelang ihm plötzlich nicht mehr, darüber zu stehen. Es war auch nicht mehr möglich, sich einzureden, dass er der Gewinner in diesem trostlosen Spiel war. Es erschien sonderbar. Nickys Tanz hatte ihn so tief berührt, als wäre damit seine doppelte Schutzhaut wie Bienenwachs geschmolzen und in die Fugen der Bretter gelaufen, die ihm die Welt bedeuteten. Er war verletzlich und es tat ihm weh, genommen zu werden. Er spürte nur noch, wie ein kaltes, keuchendes Monster sich abmühte, ihn von innen mit seinem Giftstachel zu zersetzen. Santos zog sich ernüchtert an, als das Ding für Paul gelaufen war. Er lief in die Stadt. Wollte noch was trinken. Nicht viel. Aber zwei Bier bestimmt. Die Straßen wirkten wie die einer ausgestorbenen Stadt. Und obwohl der Nachthimmel bereits sehr dunkel war, erschien er ihm merkwürdig strahlend blau. Santos sog die kühle Luft in seine Lunge. Warum war nichts mehr, wie es noch vor einigen Stunden war? Als er den Pub erreichte, in dem unter der Woche nie viel los war, erkannte er Nicky sofort wieder, wie er da so alleine an der Bar saß und Wasser trank. Er ging auf ihn zu und legte eine Hand auf seine Schulter.


»Hey! Was für ein Zufall! Du hast mich heute schwer beeindruckt.«


»Hallo, oh ... entschuldige, dein Name ist mir untergegangen. Ich kann dich ja schlecht den Anderen nennen«, lachte Nicky.


»Auch nicht schlecht. Aber ich hatte mich wohl gar nicht vorgestellt. Ich bin Santos.«


Er reichte ihm seine Hand und sie drückten gleich fester zu, in der Hoffnung, dass das heftige Kribbeln dadurch nachlassen würde. Pustekuchen. Zwischen ihnen funkte es so gewaltig, dass an einen technischen Trick zu glauben war. Beide versuchten, damit möglichst unspektakulär umzugehen und sich nicht anmerken zu lassen, dass sich in ihren Körpern Lauffeuer ausbreiteten. Fachliche Gespräche schafften etwas Abhilfe.

 
»Santos, der Intendant wollte mich doch nicht. Warum hast du mich aufgerufen?«, fragte Nicky.

 
»Ach, der hat manchmal eine schlechte Minute. Das Thema ist schon geklärt. Er freut sich, dich morgen nochmal tanzen zu sehen. Und ich sowieso. Das mit den Narben tut mir leid, er trifft auch oft nicht den richtigen Ton. Ist ein spezieller Mensch, der Herr Intendant.«


»Mein Pullover hat Feuer gefangen, als ich 15 war. War leider sehr synthetisches Material. Ich bin froh, dass mein Gesicht verschont blieb. Die meisten Arrangements sind kostümiert. Der Beckmann trägt ja normal einen Soldatenmantel ... sind eigentlich schon Kostüme entworfen?«


»Also wenn du das Rennen machst, bin ich für deinen nackten Oberkörper. Genau so, wie heute. Ich gehe davon aus, dass du da keine Probleme mit hast, sonst hättest du ja ein Trikot getragen, oder?«


»Ich hatte eins dabei. Ich habe dich gesehen und dachte, wenn der Andere einen nackten Oberkörper hat, dann sollte ich auch einen haben. Also hab ich es nicht angezogen.«

 
Santos grinste.

 
»Du bist mir mal ein kluger und auch mutiger Mann!«


Bei dem Wort Mann durchzuckte es Nicky. Ging es nur ihm so, dass er sich vom Sprudelwasser besoffen fühlte? Santos hatte sich auch kein Bier, sondern stilles Wasser bestellt, weil er neben Nicky Achterbahn fuhr.

 


»Kennst du den Intendanten näher, wenn ich fragen darf?«

 


»Nun, wir sind seit 5 Jahren sowas wie Freunde. Letztendlich ist er mein Boss, genau wie eventuell ab Morgen auch deiner.« Santos rieb sich mit der Hand den Nacken. Das tat er immer, wenn er jemanden anschwindeln musste, zu dem er eigentlich lieber ehrlich sein wollte. Doch er steckte in dem Thema mittendrin. Er hätte nur wirres Zeug gefaselt.

 
»Und, wo pennst du heute?«

 
»Oh, ich habe ein günstiges Hotel gleich um die Ecke gefunden. Ist ganz nett. Ich bin relativ bescheiden.«

 
»Relativ? Und wo gönnst du dir Luxus?«

 
»In meinen Träumen. Ausschließlich dort. Im Leben geniesse ich den Minimalismus. Du weißt selber, dass unsere Zeit als Tänzer auf der Uhr des Lebens einen Extrazeiger hat. Dieser Zeiger läuft nicht nur schneller, er ist auch zerbrechlicher als ein normaler Zeiger. Hast du schon einen Plan B?«

 
Santos träumte sich durch Nickys melancholischen Blick wieder tief in den kühlen Bergsee und sah sich zusammen mit diesem vernarbten Feinfühler auftauchen und lachen.

 
»Santos?«

 
»Oh ja. Ich ... ich will weg. Ich will in eine Hütte in den Bergen, glaube ich. Dass da ein See sein muss, wusste ich bis heute Morgen noch nicht. Sieht so aus, als würden sich meine Träume gerade neu zusammensetzen.«

 
»Das klingt spannend. Ich habe ebenfalls die Natur im Visier. Ich bin aber auch pragmatisch. Also überlege ich, wie ich da, wo es mir gefallen könnte, auch Geld zum Leben verdiene. Ich würde sogar als Animateur oder Tanzlehrer arbeiten. Ich könnte genauso gut Omis und Opis zum Tanztee anmoderieren. Ich meine mit meinen Träumen etwas, das es im Außen nicht gibt. Ich träume von innerer Ruhe. Ich träume davon, dass ich meine Tanzjahre niemals bereue und nicht am Ende meiner Karriere in ein tiefes Loch falle, aus dem ich dann nicht mehr rauskomme. Davor habe ich ehrlich gesagt große Angst. Ich lebe schon eine Weile alleine. Dieses Kunstblut in unseren Adern ... es ist nicht besonders kompatibel. So eine Art Rhesusfaktor positiv.«

 
Santos hätte Nicky stundenlang zuhören können. Er fand sich in seinen Worten so stark wieder, dass er gar nichts zu erwidern hatte. Alles, was ihm als Antwort einfiel, war körperlich. Ein Kuss, eine Umarmung, ein spontaner Tanz im Pub mit nackten Füßen. Es ging von Nicky wirklich eine Gefahr aus, dass er sich vom Leibeigenen des Intendanten zum Aussteiger entwickelte. Seine eigene pragmatische Zukunftsplanung hatte er bislang immer nach hinten geschoben. Jetzt blieben ihm noch diese zwei Jahre, nebenbei etwas auf die Beine zu stellen und gegebenenfalls finanzieren zu lassen. Wenn er in diesen zwei Jahren aus der Gunst von Paul fiele, ginge ihm der Arsch auf Grundeis. Zur Not waren seine Zottelhaare und sein freier Spirit auch eine Garantie, in irgendeiner Kommune untertauchen zu können. Paul wollte ihn so oft zum Friseur schleppen ... das wäre einer Kastration gleichgekommen. Nicky fragte und sagte nichts mehr. Er beachtete still, wie verbissen Santos Kiefer war und dass er möglicherweise etwas mit dieser Anspannung zu tun haben könnte. Das wollte er nicht. Er rief den Barmann und zahlte beide Wasser.

 
»Es war schön, dich heute Abend zufällig getroffen zu haben. Ich gehe jetzt schlafen. Ich möchte morgen einen guten Eindruck hinterlassen.«

 
»Ja, hat mich auch sehr gefreut. Du wirst das morgen doch locker hinbekommen. Warte, ich komme mit raus. Ich will auch nach Hause.«

 
Sie standen auf der Lichtpfütze unter der Laterne und überlegten, was sie noch zueinander sagen konnten. Vielleicht taten sie auch nur so, weil sie so leichter den Mut aufbrachten, ihre Augen nochmal wie Planeten kollidieren zu lassen. Eine Welt in die andere. Und diesmal hörten sie den Urknall noch deutlicher, der sich in das Grollen eines Gewitters verflüchtigte und ihre inneren Organe massierte. Sie liessen diesen Moment wie einen Film in ihrem gemeinsamen Parralleluniversum ablaufen, in einem Lichtspielhaus, für das sie nur leider keine Eintrittskarten hatten. Warum auch immer. Das war im Grunde unbedeutend. So ging jeder in seine eigene Richtung auf der Straße, die im Vergleich zu diesem Moment so verdammt real unter ihren Schritten knirschte. Keiner der beiden war sich sicher, ob er nicht nur einem Hirngespinst erlag.


Santos wäre gerne mit ihm in die gleiche Richtung gegangen. Er hatte das unbändige Bedürfnis mit den Händen über seine Narben zu gleiten, wie mit einem Schlauchboot durch kniehohes Wasser. Ansonsten einfach nur neben ihm zu liegen. Unschuldig die Nähe eines Menschen genießen, in dem der gleiche zerbrechliche und flüchtige Zeiger tickte. Sie könnten sich gegenseitig ihre stoßfeste Schaumstoffkiste sein. Das breite Gesicht von Nicky gefiel Santos. Vielleicht war es manchen Menschen im normalen Alltag zu markant. Für die Bühne und für sein Blickfeld war es wie gemalt. Es war vielleicht Liebe auf den ersten Blick und auf all die vorangegangenen Tanzschritte.

 

Nickys Weg war nicht weit und er lag bereits mit seinen Gedanken auf dem Zimmer. Santos hatte an den Stellen geschwiegen, wo er ihn auch ohne Worte verstand. Eine merkwürdige Übereinkunft. Ein Mann der Sicherheit und Durchsetzungskraft ausstrahlte, der aber nicht wirklich glücklich und frei zu sein schien. Aber was sollte das Grübeln? Er wollte doch nur tanzen. Er hatte sich geschworen, sich auf kein Abenteuer und schon gar nicht auf die große Liebe einzulassen, die er tatsächlich in dem Moment nochmal für möglich hielt. Kein schwarzer Fleck war an der Wand. Verdammt! Er sollte besser nur glücklich sein, es in die engere Wahl geschafft zu haben. Warum wollte er seine Sehnsucht herausfordern? Selbst wenn sie im gleichen Takt tickten, sie waren beide Kunstblüter. Wahrscheinlich zeichneten sich in solchen Konstellationen am Ende auch nur Dramen ab. Dann schlief er ein. Und Santos zur gleichen Zeit, mit einem vertrauten Kissen im Arm, wie er es lange nicht gehalten hatte.

 


Am nächsten Morgen klopfte Paul um viertel nach Acht an Santos Türe.


»Santos, Santos, Santos mein Lieber! Der Kaffee ist fertig.«


Er öffnete noch etwas verknittert, weil er liegen geblieben war, um sich den Vortag ins Gedächtnis zurückzurufen. Sein Rittmeister stand da gestriegelt in voller Montur und war sich nicht darüber klar, dass er für Santos nur noch ein störender Eindringling war.

 
»Ja nun aber Hopp Hopp mein Junge. Deine Beckmänner stehen gleich vor der Theatertüre.«


»Ist ja gut. Was sind das denn für neue Allüren? Du hast Kaffee dabei?«

 
»Mit Milch und Zucker. Ich wollte mich auch entschuldigen. Wegen gestern. Ich hätte nicht an deiner Loyalität zweifeln sollen. Ich weiß, dass ich mich auf dich verlassen kann und dass du der Mensch bist, auf den ich mein Leben lang gewartet habe, weil du mich niemals betrügen oder hintergehen würdest.« Er leierte diese Oper runter und drückte sich ein paar Tränen dabei heraus. Santos nahm ihm einen Kaffeebecher ab und bemerkte nüchtern:


»Schon gut, alter Mann. Jeder hat mal seine Tage.«

 
»Komm! Sag nicht immer alter Mann zu mir. Das ist zu garstig«, bettelte der Intendant, der offenbar ein Differenzbild seiner Selbst geworden war und zu allem Überfluss Santos noch einen Kuss auf die Stirn drückte.

 
»Paul, krieg dich wieder ein. Alles easy.« Er kippte sich den Kaffee runter, sprang unter die Dusche und zog sich was Leichtes an. Dann fuhren sie zusammen zum Theater.

 
Die drei jungen Tänzer standen schon vor der Türe und gaben ihre freundliche Begrüßung zum Besten.

 
»Also, dann fangen wir mal an. Jonatan leg dich noch ein bisschen mehr ins Zeug.« Jonatan gab alles und erreichte trotz einer ausdrucksstarken Darbietung nicht annähernd Nickys Auftritt vom Vortag. 


»Timo darf ich bitten?« Und auch Timo war wirklich fabelhaft. Für Santos war er trotzdem kein Beckmann.


»Nicky! Und nun bitte noch einmal du!« Nicky stellte sich vor Santos auf und der wollte gerade ein Zeichen zur Musik geben, da sprang Paul auf die Bühne.


»Wartet! Ich möchte der Andere sein für diese Vorführung!««

 
Er streichelte Santos ganz zärtlich vom Hals den Arm herunter und schob ihn damit gleichzeitig beiseite. Nicky und Santos tauschten kurze, sehr intime, aber quälende Blicke aus. Es war ihnen anzumerken, dass sie sich aufeinander gefreut hatten. Und nun stand da ein karierter Rittmeister zwischen ihnen und machte deutlich, dass er diese Position für sich verteidigen würde. Doch Nicky sammelte sich schneller als der Zurückgedrängte und verkündete:


»Ich bin mehr als bereit und es ist mir eine Ehre Herr Intendant.«

 
»Wie charmant! Wunderbar, wunderbar, wunderbar! Dann: Musik!«


Mit gespreizten Fingern klatschte er in die Hände und versuchte der Andere zu sein. Und Nicky versuchte den Anderen in ihm zu sehen. Jeder Tänzer hatte die Fähigkeit zur Imagination, gerade wenn es um unliebsame Tanzpartner ging, mit denen die Chemie nicht so stimmte. Die Musik begann und Nicky kauerte sich als Beckmann auf den Boden und verdrehte sich wie ein Korkenzieher in dem Schmerz, dass seine aufgeflammte Leidenschaft für Santos nur eine Sackgasse war. Er drückte sich gegen den inneren Widerstand, aufzustehen, wäre gerne liegen geblieben, hätte geweint und sich in die Arme gebissen, dass es wieder einmal sinnlos gewesen war, seinen Prinzipien untreu zu werden und sogar von gleich tickenden Uhrwerken zu träumen. Er stürzte sich auf den Anderen, als seinen größten Feind, glitt an ihm herab, spürte dabei die leichte Erektion des Intendanten, schoss mit einem wütenden Sprung in die Luft, drehte sich mehrfach um die eigene Achse, kreiste dann wie verirrt um ihn herum, erhaschte noch den niedergeschlagenen Blick von Santos, schmiss sich dem falschen Anderen vor die Füße, glitt an ihm hoch und verzerrte beim Blick in dessen kalte Augen den Mund ekelerregt. Er drang in sein Gehirn ein und schrie nur für Santos hörbar: Ich will, dass der Andere verschwindet!

 
»Bravo, bravo, bravo!«, jubelte Paul und spitzte seine Lippen verzückt. Er drehte sich zu Santos um. »Hast du das gesehen? Hast du es gespürt? Was für eine authentische Leistung! Im Übrigen bin ich sehr verwundert. Deine eigene Choreografie, kommt der aus meinem Manuskript noch am nächsten, Nicky. Nicky war der Name, nicht wahr?«

 
»Ja, ... Nicky«, keuchte er und drückte seine Hände auf die Knie.

 
Dass das mit der Ähnlichkeit der Tanzfiguren eine glatte Lüge war, wusste Santos, der das Manuskript gut kannte. Doch an einem Rohgerüst wurde ohnehin auf der Bühne noch ordentlich geschraubt und es war nicht unüblich, dass der individuelle Ausdruck eines Tänzers, Einfluss auf die Choreografie nahm. Das war bei Schauspielern und Musikern nicht anders. Sogar Protagonisten in einem Buch bestimmen zum Teil das, was der Schriftsteller zusammenschreibt. Was sollte er sich aufregen? Es drehte sich gerade um etwas viel Bedeutenderes, nämlich um Kunstblut, wie Santos es nannte und Nicky auch. Ein erfundenes Wort aus zwei Geistern, die hunderte von Kilometern getrennt mit der gleichen Sehnsucht gekämpft hatten und in denen pure Hoffnung aufgeflackert war. Verdonnert waren sie dazu, sich auf der Bühne im Tanz zu vereinigen und nirgendwo sonst. An diesem Abend krochen sie unter ihre Decken, jeder für sich ... wie auch sonst ... und wollten keinen sehen oder hören. Dabei hätte Paul so gerne den Beckmann mit Santos gefeiert.

 

Sie sahen sich in den folgenden drei Wochen jeden Tag zu den Proben, schwiegen ihre geknickten Gefühle jedoch aus und versuchten, ein gesundes Gleichgewicht in ihre elektrisierenden Berührungen zu bringen. Die Nebendarsteller der Crew gingen zusammen mit Nicky manchmal ins Pub, doch Santos blieb nur, nackt vor Pauls Kamin zu liegen und ihm sein Tor zur Hölle zu öffnen. Würde er es endlich mal schaffen, wirklich den Dämon in ihm zu bezwingen, der ihn zu dem degradierte, der er vermutlich nie sein wollte aber irgendwie geworden war. Das Schöne und zugleich Zerreißende war für ihn, dass er jeden Tag mit Nicky tanzen und seine Hingabe an das Stück — vielleicht sogar an ihn — einsaugen konnte. Als würde er Nacht für Nacht an einer Rauchvergiftung ersticken und von den Streifzügen seines nahem Atems wiederbelebt. In einer kleinen Verschnaufpause fragte Santos ihn:


»Kennst du das Phänomen, dass Menschen viel mehr auf dich abfahren, wenn du in jemand ganz anderen verliebt bist?«


»In jemand anderen ... ja ... bist du verliebt?«, fragte Nicky beinahe unterkühlt. Und da rief auch schon der Intendant:


»Hopp, hopp, hopp! Wo seid ihr denn alle? Draußen vor der Tür? Hahahaha.«


Ach, er konnte so sehr über seine eigenen doofen Witze lachen, dass er schon wieder komisch war. Das erste Mal sahen sich Nicky und Santos sehr versöhnlich an und prusteten los. Dann rannten sie todernst auf die Bühne. Nicky hatte schon verstanden. Er wollte Santos nur nicht in Versuchung führen. Er müsste schon von alleine seine Entscheidung treffen. Dass er in dieser Bindung zum Intendanten nicht glücklich war, das wusste er. Und auch wenn Santos sich dafür schämte, ein Opportunist zu sein, warf Nicky ihm das nicht vor. Die Konstellation der Sterne hatte sich verhakt. Das war schade. Doch es gab Wege es schlimmer zu machen oder sich mit der Liebe in Geduld zu üben. Je mehr sie im Tanz lernten mit ihren Emotionen umzugehen, um so tiefer grub sich ihre Zuneigung füreinander ein, eben weil sie mit Vorsicht und größtem Respekt voreinander handelten. Weil keiner seinem Geliebten vorzeitig den Uhrzeiger abbrechen wollte. Und Paul, der konnte das Spiel zwar beobachten, war aber gar nicht imstande zu erkennen, was wirklich vor sich ging, weil es so zartfühlend und feinstofflich war. Er war dafür viel zu verroht, ordnete die überschwappende Emotion der Hingabe an das Stück zu, mit der seine Tänzer genau das zum Ausdruck brachten, was er transportieren wollte. Diesen kleinen Freiraum bemerkten die beiden bald und wagten sich wieder aufeinander zu, erlaubten ihren Planetenaugen wieder den Aufschlag und ergossen sich in der Explosion ihrer Universen. Still und heimlich. Hier und da. Santos war auf der einen Seite froh, dass sein Rittmeister die Sporen abgelegt hatte und es mal wieder mit Kuscheln versuchen wollte. Die Wahrheit, die keiner wissen sollte, war allerdings, dass die Gedanken nicht da waren, wo sie angenommen wurden, zu sein. Das war der Beginn des Betrugs. Wäre da nicht die Erkenntnis des Leids, das er unter der egoistischen Herrschaft ertragen hatte. Nicht die Abscheu, begründet auf dem geheuchelten Interesse am gegenseitigen Glück. Die Verachtung des Besitzanspruchs und der immer stärker an sich selbst wahrnehmbare Gestank einer verlogenen Hure. Santos ahnte, dass er keinen Deut besser war als Paul. Trotzdem hielten all diese Erkenntnisse nun als Rechtfertigung dafür her, dass er mit dem Herzen bei Nicky war und niemals mehr zurückkehren würde in dieses lieblose Ritual.

 

Obwohl Santos und Nicky kaum ein Wort wechselten und außerhalb der Proben beinahe wie Rivalen wirkten, so sprachen sie in ihrem Tanz über alles, was sie täglich bewegte. Sie konnten es an ihrem gegenseitig gehaltenem Körpergewicht fühlen, an der Zartheit oder Knöchrigkeit der Hände, an der Haltung ihrer Köpfe, am Schwung ihrer Drehungen. Nicky wusste, dass Santos bei ihm war, dass er erkannte, nur noch erduldete und sich zu ihm hin flüchtete. Er spürte das sogar, wenn er mehrere hundert Meter entfernt in seinem Hotelzimmer auf dem Bett lag. Wie sein Herzschlag zunahm, wenn Santos seine Hände bei Paul ins Laken drehte und sich vorstellte, dass es Nicky war, der in ihn eindrang. Dass diese Vorstellung zwar schon perfektioniert war, aber eine reale Gegenprobe ersehnte, wie nichts Vergleichbares auf der Welt. Er spürte, wie Santos Hände in Wirklichkeit nach ihm griffen, ihn an der Lust packten, um sie sich einzuverleiben. Und standen sie am nächsten Morgen auf der Bühne voreinander, tauschten sie diesen wissenden Blick aus, imaginär den Abend zuvor gemeinsam verbracht zu haben.

 

Die erste Woche Pause stand an und Nicky fuhr wieder nach Hause. Paul nahm seinen Santos mit in die Toscana, verstand aber gar nicht, warum dieser so launisch und undankbar war. Es kam ihm vor, als wäre Santos aus diesem schönen Körper ausgezogen, im Theater geblieben oder sonst wo.

 
»Santos, Santos, Santos, mein Lieber, das ist doch herrlich hier oder?« Er streichelte ihm sanft über die Haare und lächelte. Santos erwiderte seinen Blick nicht und sagte nur:


»Ja, ja.«

 
»So abwesend, so abwesend, so abwesend bist du. Ist denn alles in Ordnung? Die Pause tut dir gar nicht gut oder? Das ist sehr bedauerlich. Ich wollte dir eine Freude machen. Heute Abend kommen übrigens die Knutzens. Ich hab dir ein wunderschönes Seidenhemd aus der Stadt mitgebracht.« Er formte seine Finger vor dem Mund zu einer Art Pinzette und demonstrierte einen schmatzenden Kuss in die Luft.

 
»Ja, ja.«

 
»Bist du eigentlich wirklich zufrieden mit deiner Wahl des Beckmann? Ihr seid kurz vor der Perfektion meiner Idee. Ich bin jedenfalls sehr begeistert. Aber ihr redet ja kaum ein Wort. Die Chemie stimmt wohl nur auf der Bühne, was? Na mir soll´s Recht sein. Und ich dachte schon, na du weißt ja ...«

 
»Was, Paul? Dass ich mit einem Mann in meinem Alter glücklicher sein könnte? Mit einem Mann, der zart, emphatisch und sensibel ist? Dem das gleiche Kunstblut durch die Adern fließt wie mir? In dem die Uhr des Lebens mit meiner synchronisiert ist?«

 
»Äh, naja, naja, naja ...«

 
»Unsinn! Ich gehöre doch dir. Na los! Nimm dir deinen Besitz! Zünd mich an wie eine Feuerwerksrakete und fick mich hoch zu dem verfluchten Mond, der sich so wunderschön im Meer spiegelt! Und wenn du fertig bist, verstreu meine kümmerliche Asche im Salzwasser!« Er sprang auf, riss sich das T-Shirt und den Slip vom Leib und stellte sich mit einladender Haltung an das Geländer der Veranda. Und Paul, der immer noch nichts verstand, fickte ihn einfach und war ganz begeistert von der Sentimentalität in Santos Aufschrei. Er sah nicht die Tränen, die von den warmen Sand-Steinen unter ihren Füßen aufgesaugt wurden. Lange hielt Santos das alles nicht mehr aus.

 

Nicky nutzte die Zeit, um eine ganz persönliche Choreografie für seinen heimlichen Geliebten einzustudieren. Hätte er das nicht getan, wäre er verrückt geworden. Da war schon kein schwarzer Fleck mehr auf der Tapete, der ganze Raum hatte sich geschwärzt. Wenn man liebt, sollte man nicht nur auf die Erfüllung dieser Liebe warten und auch nicht auf ihre Erwiderung, man musste sie leben, die Liebe. Etwas musizieren, schreiben, malen oder tanzen für das Herz, nach dessen Wohlgefühl man sich verzehrte, als ginge es um das eigene.

 

Endlich war die Woche rum und sie flogen wieder nach Hause. Paul hatte sich eine Sommergrippe zugezogen und lag erstmal mit Fieber im Bett. Darum fuhr Santos schon früh ohne ihn zum Theater. Er wollte die erste ungestörte Stunde nutzen, um sich auf die Proben vorzubereiten. Die multimediale Show, die homogen zu der Aufführung auf die große Leinwand im Background projiziert wurde war fantastisch, nur war Santos technisch nicht besonders begabt und musste das irgendwie ans Laufen bringen, bevor die Tanzcrew eintrudelte. Als er am Tanztheater ankam, saß Nicky mit einem Kaffee im Pappbecher vor dem Hintereingang und lehnte sich in seiner Anmut gegen die Türe.


»Nicky! Was machst du denn so früh hier?«

 
»Ich konnte es wohl nicht abwarten. Wo ist Paul?«

 
»Krank, im Bett. Komm wir gehen rein.« Santos verriegelte die Tür hinter ihnen.

 
Hinter der Tür schien sich ein magnetisches Feld im Boden zu verbergen und ihre Turnschuhe hatten offenbar Metallsohlen. Sie standen voreinander, unfähig sich zu rühren. Die Türe war hinter ihnen verriegelt, das Theater war leer. Sie hatten sich sieben Tage nicht gesehen. In dieser Zeit haben sie realisiert, dass sie sich in den Wochen zuvor unter ständiger Beobachtung auf ihre Art vereint hatten. Jetzt waren sie alleine. Ungestört. Und ihre Augen fanden sich und die Planeten prallten aufeinander. Sie lächelten nicht. Das Einzige, was in Bewegung geriet, waren Puls und Atmung. Ganz langsam führte Santos seine linke Hand nach vorne, fast wie in einem Slow-Motion-Tanz, griff er nach Nickys Hand und legte sie behutsam auf sein pochendes Herz. Die rechte Hand führte er in der gleichen Langsamkeit zwischen die Schulterblätter und drückte Nicky an sich heran. Brustkorb an Brustkorb. Rippe an Rippe. Geschlecht an Geschlecht. Wange an Wange. Immer noch versucht den ersten Kuss abzuwenden, den sie sich seit jenem Vortanzen auf und in die Münder schmeicheln wollten. Die Köpfe hatten ihr Eigenleben, genau wie die Blutbahn, die sich selbst in die Lenden lenkte, als würde es dort was umsonst geben. Sie pressten ihre Köpfe stärker zusammen, um die Bewegung aufzuhalten. Es gelang ihnen nicht. Die Bartstoppeln kratzen übereinander, bis die Nasenflügel sich berührten, der heiße Atem aus Nase und Mund sich vermischte und einen Sog bildete. Bebende Lippen berührten sich an der äußersten Empfindungsschicht, zuckten zurück, wollten immer noch beherrscht werden. Doch es gab kein Halten ... bis an der Türklinke gerappelt und gegen das Tor gehämmert wurde.

 
»Santos, Santos, Santos mein Lieber, so öffne doch!«

 
Wie in Trance drehte Santos den Schlüssel im Schloss und Paul preschte durch die sinnliche Wolke hindurch, die zwischen den beiden Tänzern im Raum zu flimmern schien. Er war aufgebracht, verschnupft und glotzte aus blutunterlaufenen Augenhöhlen.

 
»Bist du bescheuert?«, fauchte Santos ihn an und hielt sich schnell die Sporttasche vor den Hosenbund.

 
»Ich ziehe mich dann mal um«, sagte Nicky und wandte sich ab, um seine Erektion zu verbergen. Manchmal wäre es diplomatischer eine Frau zu sein, dachte er.

 
»Aber ich kann dich einfach nicht alleine lassen mit den Proben. Egal wie, egal wie, egal wie, ich muss das mit dir durchstehen. Ich habe mir in der Apotheke so ein Mittel besorgt, damit geht es gleich schon. Süß, dass du dich so sorgst um mich.«


Er küsste Santos auf die Stirn und hinterließ einen Rotzfaden, den er sich angeekelt mit dem Hemdsärmel abwischte. Paul machte einen beinahe wahnsinnigen Eindruck. Ausgegossen mit flüssiger Lava, über die sich eine gewaltige Eiszeit gelegt hatte, steckte Santos immer noch auf dem Magnetfeld fest. Alles knirschte, zischte und war zum Bersten gespannt.


»Na, was ist? Willst du da Wurzeln schlagen? Ich bin da! Alles super, bestens und fein, fein, fein.«

 
Die Proben verliefen grässlich. Die Energien in den Körpern der Künstler hatten sich komplett durcheinandergewirbelt. Nichts floss in die gewünschte Richtung, überall Blockaden und Dämme, die ja nicht brechen durften. Und Paul untermalte den Irrsinn mit lautem Schnäutzen und Husten.

 
»Kinder, Kinder, Kinder, so wird ... hust ... das nichts. Was ist denn bloß los? Hat euch die Pause nicht gut getan? Fangen wir etwa bei null an? Eine Katastrophe! Eine wahrhaftige Katastrophe!«

 
»Ich habe eine Idee!«, rief Nicky aus. »Ich habe eine eigene Choreografie einstudiert, die könnte ich zur Auflockerung vorführen«, erklärte er weiter und flüsterte dann unbemerkt zu Santos: »Ist für dich allein.«

 
»Gut, Gut, Gut. So mach denn. Wenn es was nutzt. Santos, Santos, setz dich doch bitte zu mir.«

 
»Entschuldigung, das geht leider nicht, denn ich brauche ihn für die Endszene. Er muss mich auffangen.«

 
»So, so, so. Na denn.«

 
Dieser Sprung in Pauls sprachlicher Schall-Platte, wog an diesem Morgen besonders schwer. Santos schämte sich für ihn. Nicky legte eine CD in den Player ein und verschwand kurz in der Garderobe. Mit einem weißen, weich fallendem Hemd kam er auf die Bühne zurück. Nicky bewegte sich, als erzählte er ihrer beider Geschichte. Wie er sich alleine zuhause gefühlt hatte, wie er auf die Reise ging, wie er auf Santos traf, auf den Rittmeister, der sich wie eine Mauer vor ihnen auftat, die Trennung und wie sie sich wieder begegneten. Man konnte in seinem Bewegungen lesen, dass er lieber sterben wollte, als diese Liebe aufzugeben. Nach gefühlten zehn Minuten inbrünstiger Tanzfiguren, prallte er mit seinem Körper so fest gegen Santos, dass dieser taumelte und unter Nicky zu Boden fiel. Regungslos blieb Nicky auf ihm liegen, stellte sogar das Atmen ein. Santos spürte etwas feuchtes auf seiner Brust, drückte sich und Nicky hoch und hielt ihn in den Armen. Auf ihren Oberkörpern schimmerte jeweils ein großer Blutfleck. Nicky lag weiterhin regungslos und schlapp in Santos Armen, der ihn erst nur sicher hielt und dann leicht schüttelte.


»Nicky, bitte! Mach keinen Scheiß!« Eine Träne tropfte auf sein leblos gestelltes Gesicht. Er öffnete die Augen.


»Das war es, was ich dir sagen wollte«, flüsterte er.

 
»Das ist Kunstblut oder?«, fragte Santos besorgt.


»Ja, das ist es. Das ist unser Kunstblut. Das ist unsere Bruderschaft.«

 
Die Tür fiel ins Schloss. Paul war gegangen. Sie schauten sich an.


»Er hat sich wohl selbst erkannt«, bemerkte Santos.

 
»Es tut mir leid. Das war vielleicht der größte Fehler meines Lebens«, flüsterte Nicky.

 
»Nein, die Wahrheit nicht zu tanzen, das wäre der größere Fehler gewesen. Ich will keine Hure mehr sein. Ich hätte es nicht mehr lange ausgehalten. Weder das, noch, dich nicht küssen zu dürfen.«

 
Weltvergessen krochen sie über ihre feuchten Lippen ineinander hinein. Kunstblut an den Händen, im Gesicht, im Haar und schließlich am ganzen Körper. Auch die Nebendarsteller des Balletts verzogen sich unauffällig. Was sie die ganze Zeit für Rivalität unter den beiden halten sollten, hatte sich als tiefe Zuneigung entpuppt. Die Kunstblüter liebten sich auf der Bühne. Ganze vier Stunden. Ein Liebestanz. Zu fantastisch, um ihn mit dem Publikum zu teilen. Nachdem sie brav alles sauber gewischt hatten, machten sie sich auf den Weg zu Pauls Haus. Sie hielten die zerknüllten Eintrittskarten in ihr Lichtspielhaus fest umschlossen in ihren Fäusten.

 

Als der Intendant die Türe öffnete und die beiden Hand in Hand vor ihm standen — die freie Hand zur Faust geballt — konnte er sich nicht entscheiden, ob er die Tür zuschlagen, oder die beiden höflich hineinbitten sollte. Der Augenblick fror ein. Die Tänzer sahen, dass Paul geweint hatte, sahen eine Kraftlosigkeit, die nichts mit der Grippe zu tun hatte. Und Paul sah die Entschlossenheit, die das Glück der beiden ummantelte.

 
»Gut. Reden wir. Kommt rein.« Er geleitete sie ins Wohnzimmer. Der Geruch von kalter Asche erfüllte den Raum.

 
»Können wir alleine reden?«, fragte Paul.

 
»Nein, Paul. Was ich dir zu sagen habe, soll auch Nicky verstehen.«

 
»Na, dann.«

 
Nicky und Santos nahmen im Zweisitzer Platz. Paul blieb der Sessel.


»Paul, wir blicken auf viele gemeinsame Jahre zurück, persönlich, wie auch geschäftlich. Ich habe dich immer sehr geschätzt. Von Liebe habe ich nie gesprochen. Ich hatte mich innerlich sogar von meiner Liebesfähigkeit verabschiedet. Du hast in mir immer den starken Santos gesehen. Im Sex und auch auf der Bühne. Ich habe wirklich alles getan, um dieser Rolle gerecht zu werden. Niemand hat mich gefragt, wie es mir wirklich geht, wer ich wirklich bin. Was mir durch den Kopf geht, wenn ich da unten in deiner Einliegerwohnung gegen die Decke starrte. Ich habe sogar aufgehört, mich selber danach zu fragen. Du weißt, dass ich sonst niemanden habe. Ich will dir nicht unterstellen, dass du meine Situation ausgenutzt hast. Ich bin nur an den Punkt gekommen, wo ich mir selber darüber klar wurde, dass ich dich benutze, um mir selber weh zu tun. Und wenn du ganz ehrlich sein kannst, dann hat sich mit Nickys Tanz nicht nur für mich einiges geändert. Deine zunehmend verschmuste Art ... du sehnst dich doch auch nach Liebe. Nur wir beide sind den Weg in diese Richtung gegangen und können das Blatt nicht mehr wenden. Schon gar nicht, weil ich diesen Mann hier neben mir tatsächlich liebe. Es ist mir egal — es ist uns beiden egal —, wenn du uns vor die Tür setzt.«

 
Alle drei weinten. Santos und Nicky drückten sich mit den Händen das Blut darin ab. Paul krallte sich in die üppigen Armlehnen seines edlen Sessels. Schweigen.

 
»Du stellst mich also vor die Wahl: Kunst oder Liebe?«, fragte Paul und versank wieder in Gedanken.

 
Er musste sich entscheiden zwischen der perfekten Inszenierung seines Stücks und seiner verletzten Eitelkeit. Wie mickrig ihm sein gekränkter Stolz in dem Moment vorkam. Tatsächlich hatte er in der Choreografie von Nicky das erste Mal nach vielen Jahren wieder das wahre Wesen der Liebe aufleuchten sehen. Seine kalte Kruste hatte einen Riss davongetragen. Sein Herz war zwar klein, aber zumindest lauwarm. Er hatte gehofft, das würde für einen Neuanfang mit seinem Schützling reichen. Dass Liebe auch loslassen bedeuten konnte, war nur eine unbequeme Ahnung. Es war nicht leicht für ihn, sich einzugestehen, dass er nicht wirklich eine Wahl hatte. Als er das soweit durchdacht hatte, stand er auf und ging auf die beiden zu. Nicky reichte er seine Hand.

 
»Nicky du bist für mich ein Ausnahmetalent. Dass du den Mann liebst, den ich offenbar längst verloren oder nie wirklich ganz gewonnen habe, kann ich dir nicht nachtragen. Ich freue mich auf eine angenehme Zusammenarbeit.«

 
Dann fiel er vor Santos ohne jede Theatralik auf die Knie und legte eine Hand auf sein Bein.

 
»Ich bin wirklich ein alter Mann. Und ich bin auch eine olle Schrulle. Ich mag mich so nicht mehr. Bitte bleib im Ensemble. Sei der Andere, damit auch ich ein anderer Mensch werden kann. Ich wünsche euch Glück. Ich wünsche uns allen Glück.«

 
Santos nahm Paul in die Arme und drückte ihm einen Kuss auf die Stirn.

 
»Ruh dich etwas aus. Kurier deine Grippe. Wir trommeln jetzt die Mannschaft wieder zusammen und proben weiter.«

 
Das Ballett erwies sich als herausragender Erfolg mit einer sechsmonatigen Spielzeit. Worüber sich alle am meisten wunderten, war, dass der Intendant seine Sätze nicht mehr mit Wiederholungen begann und auch die Oper war aus seiner Erzählweise verschwunden. Er wirkte jünger und cooler, trug nur noch schwarze Anzüge. Ob er damit seine Trauer über den Verlust von Santos ausdrücken wollte, blieb unklar. Jedenfalls fuhren einige Tänzer plötzlich auf ihn ab, tuschelten in der Garderobe, dass er aussehen würde wie Cary Grant in seinen besten Tagen.


Für Santos und Nicky tickten die filigranen Zeiger weiter im doppelten Tempo. Keine zwei Jahre mehr. Sie werden vergangen sein, wie im Flug.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Impressum

Texte: Hugo Ross
Bildmaterialien: Hugo Ross
Tag der Veröffentlichung: 11.07.2015

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
einem Tanzpartner

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