Er saß auf den warmen Fliesen seines kleinen Balkons. Sein Oberkörper war nackt, wenn man bei einem so plakativ tätowierten Torso überhaupt von nackt reden konnte. Allerdings waren es keine schönen Tattoos, und wenn er aufstand, so doch eher gebückt — wie eine Frau, die ihren blanken Busen verstecken wollte. Sobald er wieder etwas Geld hätte, würde er da was unternehmen. Die Markise spendete wohltuenden Schatten und die Vögel zwitscherten laut. Der große Baum mit den dunkelroten, fast schwarzen Blättern rauschte so erhaben, wie er sich das Rauschen des Meeres vorstellte. Doch das Meer hatte er noch nie in echt erlebt. Er hatte große Sehnsucht danach und eigentlich hielt er es nur auf diesem Balkon aus, wenn ein Wind ging, er die Augen schließen und sich das Meer vorstellen konnte. Im Nachbarhaus vergnügte sich eine penetrant heitere Familie im Garten. Diese Idylle war ihm suspekt. Verbissen kaute er auf seiner Oberlippe. Es war später Nachmittag, und wenn diese spießige Geräusch-Kulisse gleich noch mit Grillgeruch gewürzt würde, könnte er nur noch reingehen und die Türe verrammeln. Der Geruch machte ihn immer noch gierig nach Fleisch, aber er wollte schon lange keine Tiere mehr essen, brachte das einfach nicht übers Herz. Wenn sie genauso hübsch eingeschweißt im Supermarkt liegen würden, würde er eher Menschen fressen. Die von der Sorte, die er ohnehin hasste und die ihn hassten. Wobei ihm bei dieser Idee gleich wieder der Appetit verging und er sich vor seinen eigenen Gedanken erschreckte. Trotzdem: Menschen, Nachbarn, Exfreunde ... Es schien, als hätten alle ein Leben — nur er nicht. Sexleben, Familienleben, Berufsleben, Privatleben. Er versuchte zumindest sein Ableben hinauszuzögern, indem er sich verkroch. Daher konnte er noch so hoch auf einem Balkon sitzen, sein Leben fand in einem Kellerloch statt. Er war verbannt und bei dem Gedanken daran, mal wieder geladen bis in die Haarspitzen. Hoch explosiv. Das war sein Stempel. Statt »Wir ernten was wir säen«, hätte er sich auch »Danger! Hochexplosiv« unter den Hals tätowieren lassen können. Was hatte er gesät, was erntete er dafür? Die Welt war ungerecht und die Sonne machte geil. Da half nur Bier. Noch schlimmer! Unter ihm das schwule Pärchen kam auch Mal wieder aus ihrem Versteck und rückte die Stühle zurecht.
»Hach, wie herrlich heute. Bobbelchen bringst du mir ne Limo mit raus?«
Bobbelchen und Limo. Wenn die beiden wüssten, dass über ihnen ein einsamer Mann saß ... wenn sie wüssten, dass der gerade versuchte sich seine Sommer-Feelings flach zu saufen ... hätten sie wohl etwas Rücksicht genommen. Aber für sie war er ja nur ein asoziales Subjekt. Wahrscheinlich hielten sie ihn sogar für einen Schwulenhasser.
»Nenn mich nicht Bobbelchen, Fritz. Ich kann dieses tuckige Getue von dir nicht mal im Spaß ertragen. Wie oft soll ich dich noch darum bitten?«
Richtig so! Wehr dich, Ulli Seifert, lautete still die Parole der vermeintlichen Krawallbürste über ihnen, der übrigens Samson hieß. Ja, so wie das dicke Flauschteil aus der Sesamstraße. Und ein bisschen sah er auch so aus, besonders, wenn er denn mal gute Laune hatte. Doch das war mehr als eine Seltenheit. Er war fast zwei Meter groß, recht breit und muskulös. Auf seiner Ex-Glatze kämpften inzwischen orangerote Locken wild um ihren Platz. Er war eine optische Mischung aus Hulligan und Hippie. Seine Muskeln pumpte er in seiner Wohnung auf. Das wusste auch der Typ unter ihm. Wer mal unter jemandem gewohnt hat, der mit anderen Kalibern als 5 Kilo-Hanteln arbeitete, der weiß, wovon hier die Rede ist. Aber ein Studio konnte sich Samson nicht mehr leisten. Erstens war er Hartz 4 und zweitens hatte er Feinde. Jede Menge Feinde. Er fühlte sich wie ein Geächteter, ein Leprakranker oder ein Perverser oder alles zusammen. Und das alles nur, weil der Kompass in seinen Eiern in eine andere Richtung zeigte, als erwartet, gewünscht, eingedrillt. Aber so war das, wenn man im falschen Milieu groß wurde. Er wurde als Junge in einen Sumpf voller Ignoranten gezogen und als geschlechtsreifer Antikörper wieder ausgespuckt. Lange bevor er sich darüber klar werden konnte, dass er das, was seine Vertrauten am liebsten jagten, unausweichlich begehrte.
Seine Mutter war Säuferin und verdiente sich ihr Geld als Hure, nachdem der Alte von einer Fernfahrertour nicht zurückgekommen war. Du machst mich nicht mehr an. Sorg gut für den Jungen! So stand es auf einer Postkarte aus Italien. Samson hatte sie in einen Schuhkarton gesteckt, als er 13 war. Zusammen mit seinen Comics von Flash Gordon. Ob es gut oder schlecht war, dass die Mutter nicht auf den Straßen-Strich ging, sondern ihre Freier in der Wohnung empfing? Für die Mutter war es vielleicht besser. Für Samson nicht. Er wurde immer wieder weggeschickt und manchmal kam er zu früh wieder nach Hause. Das war für ihn oft sehr unappetitlich. Die Gang im Plattenbau war sein einziger Halt und sein zartes Gemüt wurde mit den Jahren abgehärtet. Dachten sie. Samson hatte aber einfach nur keine andere Wahl. So wuchs er in seine Schläger-Rolle rein und haute ordentlich drüber in einem Tonus, der zumindest dafür sorgte, dass er nicht aufflog. Denn er hasste das gemeinsame Aufheizen auf Feindbilder, das Mut ansaufen und die Verfolgung von Minderheiten. Weil er genau wusste, dass die hoffnungslose Wut damit nur größer wurde und weil Flash Groden niemals so gewesen ist. Flash Gordon hätte eher ihn und seine Freunde bekämpft. Vielleicht hätte er sie auch um ein Lagerfeuer versammelt — mit einer Laser-Gitarre — und ihnen erklärt, dass sie allen Grund haben frustriert zu sein, aber dass es ganz andere Wege gab zum Glück. Doch dann hätten seine Freunde Flash Gordon zusammengetreten und blutig im Dreck liegen lassen. Also machte er einfach mit und steckte seinen Kummer — Abend für Abend — in den Schuhkarton unterm Bett. Als seine Mutter an einer Alkoholvergiftung starb, war Samson 21 Jahre alt. Er hatte endlich seine Lehre als Schlosser durchgezogen und der Onkel einer seiner Kumpels stellte ihm einen Schichtdienst in Aussicht. Das Trauern um seine Mutter hatte er schon Jahre zuvor begonnen. Den Vater brauchte er nicht ausfindig zu machen, um ihm vom Tod seiner Exfrau zu berichten. Samson schmiss die Wohnung einfach komplett auf den Sperrmüll und suchte sich ein kleines Apartment. Das, in dem er an diesem strahlenden Sonnentag auf dem Balkon kauerte. Zwei Jahre später: Kein Job, keine Freunde, keine Familie, keine Liebe. Und tatsächlich drang zu allem Übel der Geruch von Spiritus in seine Nase. Der böse Vorbote des gegrillten Nackensteak-Dufts.
»Och nö, ich hasse den Geruch von Spiritus, Ulli.«»Was soll ich machen? Soll ich den Nachbarn das Zeug über den Kopf spritzen und anzünden?«»Ulli! In letzter Zeit bist du so aufbrausend. Was ist eigentlich los?«»Nichts ist los. Ich mache mir nur Gedanken über den Typen über mir. Ich glaube, er ist anders, als wir denken.«»Was interessiert mich diese Kante? Was interessiert er überhaupt dich? Der gehört zu der Sorte, die du nicht zum falschen Zeitpunkt treffen darfst, weil er dir dann ein Ohr abbeißt, dich bespuckt und Schwuchtel nennt!«»Warte, ich zeig dir was.«
Samson war über ihnen ganz still geworden. Ulli Seifert sprach über ihn. Wahrgenommen zu werden, war ein echtes Ereignis! Er musste reingegangen sein, um was zu holen. Dann kam er wieder raus und raschelte mit Papier.
»Sieh mal dieses Foto vom CSD letztes Jahr. Hier unten mittig, der Bär.«»Stimmt, sieht aus wie dein Nachbar. Die Statur, die Haare. Aber ich sehe keine asozialen Arschloch-Tatoos. Warum trägt er diese Bären-Maske? Ich habs! Dieses Schwein. Er bespitzelt uns als Opfer!«
»Denk doch mal nach, Fritz. Er will sie verdecken. Kein Mensch würde an so einem heißen Tag mit einem Rollkragenpullover rumlaufen. Und guck dir das Plakat an, dass er über den Kopf hält. Malt sich eine Hasskappe so ein Herzchen-Motiv? Außerdem, der geht fast nie raus und bekommt nie Besuch. Diese dunklen Gestalten haben sich vor anderthalb Jahren hier das letzte Mal versammelt, als der Typ noch ne Glatze hatte und mit Muskle-Shirt rumlief. Dann bin ich ihm noch zweimal im Flur mit Krücken und schweren Verletzungen am Kopf begegnet. Seitdem habe ich nur noch seinen Schatten gesehen. Für mich sieht das eher nach Ex-Banden-Mitglied aus, der sich für die Rechte von Homosexuellen einsetzt.«
»Naja ... ist eben etwas kindlich gemalt. Läuft doch alles übers Netz. Vielleicht stinkt er. Ist mir egal. Halt dich einfach von ihm fern.«
»Willst du mir jetzt mein Leben vorschreiben?«
»Und willst du mir den herrlichen Nachmittag verderben?«
»Geht´s dir eigentlich nur ums Poppen und heile Welt?«
»Weißt du was? Mir reicht´s. Ich geh zu Martin. Die grillen im Garten. Du kannst ja weiter Sozialstudien betreiben.«
Es rumpelte und raschelte. Dann knallte eine Tür. Und dann war Ruhe. Samson hielt noch immer die Luft an. Konnte man ihn tatsächlich erkennen? Das war nicht gut ... überhaupt gar nicht. Es war doch gerade so viel Ruhe eingekehrt, dass er wieder einkaufen gehen konnte, wenngleich er um 6.55 schon vor Aldi wartete, weil zu der Zeit die Gefahr noch ihren Rausch ausschlief. Er blätterte die Stadtanzeiger aus seinem Papiermüll durch und klickte sich dann durch die lokalen Online-Zeitungen. Nichts. Und selbst wenn: Er könnte den Abdruck kaum ungeschehen machen. Es war normal, dass für den bevorstehenden CSD mit Bildern vom Vorjahr geworben wurde.
Der Wurstgeruch machte sich wie Giftgas bemerkbar und Samson verriegelte Fenster und Türen. Sein Müll in der Küche roch aber auch unangenehm. Er zog sich einen Rollkargen über und schlüpfte in die Adiletten. Die hatte er schon lange. Das Geheimnis waren Spaxschrauben an der Lasche. Er ging mit seinem Müll in den Keller. Dass er sich beobachtet fühlte, war wohl nur eine Erinnerung, die wieder wach wurde. Er huschte die Treppe wieder hoch. Vor Ullis Tür blieb er kurz stehen und schaute auf den Klingelknopf. Ulli war ein netter Typ. Ja, auch als Mann. Auch auf seine andere Art Männer zu betrachten. Aber er schämte sich so sehr für seine Tätowierungen, seine Narben, seine Vergangenheit und seine Gegenwart, dass er sich an niemanden herantraute. Dass er damals in seinen eigenen Kreisen die erste Romanze erlebt hatte, grenzte ohnehin an ein Wunder. Nein! Es grenzte an Selbstmord. Er ging weiter hoch, schloss seine Türe auf und hörte im selben Moment, wie unter ihm die Tür aufging. Erst blieb er wie angewurzelt stehen, dann huschte er schneller als sein Schatten in seine Diele und machte so leise wie möglich die Türe zu. Sein Herz klopfte und er guckte durch den Spion. Aber niemand kam. Ulli hatte auch nur kurz überlegt, hochzugehen und diesen Samson-Bären offen anzusprechen. Aber er konnte sich nicht überwinden. Vielleicht hatte Fritz ja doch recht und der Typ stank und war gewalttätig. Ein Schläfer! Er setzte sich auf sein Sofa und schaute das Bild im Veranstaltungskalender nochmal an.
Samson legte sich eine Etage darüber auf sein Bett und dachte nach. Er hatte im Leben nicht viel gewonnen. Und von dem bisschen, was er hatte, verlor er alles, nachdem er sich das erste und letzte Mal in einen Kumpel verliebt hatte und die Kontrolle über diese Macht an Erregung abgab. Nie wieder sollte das passieren, nie wieder. Er war krank, er war ein kaputtes Subjekt. Wäre er anders groß geworden, hätte er das Recht auf Glück, selbst auf sein schwul sein! Aber so? Keine Chance. Ja, Ulli war ein toller Typ und hatte nett über ihn gesprochen. Das langt dann aber auch als Gedankenspirale. Er erinnerte sich knapp zwei Jahre zurück. Vor dieser halben Ewigkeit hatte er gerade den Schichtdienst angefangen und diese Wohnung bezogen. Wenn er Zeit hatte, zog er weiter mit den Jungs rum, obwohl er gar nicht mehr wollte. Doch immerhin hatte der Anführer ihm den Job über seinen Onkel verschafft. Dann gab es diesen Neuzugang. Er war zugezogen und versuchte sich krampfhaft in die Gang zu integrieren, machte auf ultrahart und stand bei Herausforderungen immer ganz vorne in der Menge. Sein Name war Victor und er war wie Samson, 21 Jahre alt. Einen Abend hieß es mal wieder »Schwulenjagd«. Samson hatte aktive Angriffe bei dieser Hetze immer umgehen können. Er sammelte seine Punkte an anderen Randgruppen. Zuzugucken, war für ihn schon schlimm genug gewesen. Die Beschimpfungen mit anzuhören: Eine Qual, die sich einbrannte und seine wahren Sehnsüchte versengte. Bis ihm auffiel, dass dieser Victor hier auch mit Zurückhaltung glänzte. Er mochte also auch keine Schwulenjagd. Und so trafen sich in jener Nacht ihre Blicke und die sagten alles. Von da ab fieberten sie den Treffen nur für ihre brüderliche Umarmung entgegen, um eng beieinanderzustehen und gleichzeitig nach einer Bierdose zu greifen. Sie wagten keinen weiteren Schritt und schon gar keine private Treffen. Zu groß war die Anziehungskraft, zu eisern die Angst, entdeckt zu werden. So hungerten sie einander aus und schmachteten sich mit stahlharten Blicken an. In der Gruppe kam es so gut wie nie zu Missverständnissen. Darum war es mehr als merkwürdig, dass an einem Abend um 20.00 Uhr, nur Samson und Victor vor der alten lehrstehenden Halle aufeinandertrafen. »Verstehst du das?« »Nein, das sind auch die Treffpunkt-Angaben in meiner Mail.«
Wenn nur nicht das allein beieinander Stehen ihre Gehirnzellen außer Gefecht gesetzt hätte. Es dauerte keine zehn Minuten, bis sie sich abknutschten, auf dem verdreckten Boden ihre Gelenke aufschürften und sich gegenseitig ihre knallhart gewordenen Weichteile aus den Hosen gruben. Liebevolle, ausgehungerte Leidenschaft, eine brutale Jagd nach den gegenseitigen Orgasmen, Keuchen und Stöhnen am Grund einer 500-qm-Halle. Dass alle um sie rumstanden? Das bemerkten sie erst, als beinahe 50 Taschenlampen auf sie gerichtet wurden. Genau in dem Moment, als sie gemeinsam abspritzten. Sie hatten alle von Anfang an zugeschaut und sich Zeit gelassen. Wahrscheinlich fanden sie es sogar geil. Samson und Victor kauerten sich entblößt zusammen und hielten sich mit glitschigen Händen im Arm, während die Lichtkegel immer näher rückten. Trotz ihrer Bärenkräfte, konnte keiner den anderen schützen, vor dem was dann geschah.
Samson sprang atemlos von seinem Bett, präparierte seine Hände und schlug so heftig auf seinen Boxsack ein, dass bei Ulli die Lampe über dem Küchentisch vibrierte. Der trank sich auch schon ein Bier, weil Fritz sein Ding mal wieder durchgezogen hatte. Wahrscheinlich würde er sich bei Martin bereits mit einem anderen knutschen. Fritz war ne Bitch. Aber Ulli war trotzdem traurig und jetzt auch noch genervt von dem Getrampel und Gerumpel über seinem Kopf. Er schlüpfte in seine Jeans, warf sich nur ein Hemd über und nahm jeweils zwei Stufen auf einmal. Dann hämmerte er gegen Samsons Tür. Dem rutschte das Herz in die Hose. Das Bild, der Bär, die ewige Rache!!! Es geht wieder los! Er streifte die Boxhandschuhe ab, schnappte sich seinen Baseballschläger und ging zur Tür. Dann erkannte er durch das Guckloch den schwarzen Nerd-Scheitel von Ulli Seifert. Er stellte den Baseballschläger an die Wand, wischte sich das nasse Gesicht mit den bandagierten Handrücken ab und öffnete zaghaft.
»Guten Abend, ich wohne unter dir und ich nehme an, du boxt gerade. Es ist nur etwas unangenehm für mich, weil ich heute einfach einen schlechten Tag habe, verstehst du das? Ich meine, ich bin nicht so ein ewig nörgelnder Nachbar oder so und ich mache ja selber auch die Musik laut und manchmal kreischen da auch meine ...«
Er hielt sich schnell den Mund zu.
»Sorry, wie gesagt, nicht mein Tag.«
»Tut mir leid, ich wollte nicht nerven. Willst du reinkommen? Ich könnte uns einen Bananen-Shake machen. Zuviel Bier.« Rülps
Samson hatte einen sehr lieben Gesichtsausdruck, wenn man einmal kurz den Mut hatte, durch die Fassade hindurch zu gucken. Ulli steckte die Hände in die Hosentasche, schaute wortlos an seinem geöffneten Hemd herunter und tapste von einem Bein auf das andere, als wenn ihm kalt wäre.
»Gut, dann nicht. Ich ... ich wollte dich nicht bedrängen. Ich boxe nur noch ganz leise jetzt o. k.? Oder anders, ich war eh gerade fertig.«
Damit wollte Samson die Türe wieder langsam schließen, als ihm der Baseballschläger umfiel und seine nackten Füße traf.
»Autsch, das zieht«, sagte er und grinste Ulli verlegen an.
»Hast du vor jemanden Angst?«, platze es Ulli heraus. Und er schaute wirklich besorgt.
Samson fror ein.
»O.K. Jetzt will ich auch einen Shake!«
Der geschwitzte Hobby-Boxer machte die Türe weiter auf, trat einen Schritt zurück und machte eine einladende Bewegung. Er hatte es gemütlich, fand Ulli. Die verbotenen Poster und Fahnen, die sein Äußeres zu Anteilen noch vermuten ließ, waren hier nirgends zu sehen. Stattdessen schimmerte an jeder Wand das Panorama von Sonne, Strand und Meer. Der letzte Mensch, der seine Wohnung betreten hatte, war ein Sozialberater gewesen. Samson hatte zwei Wochen im Krankenhaus verbracht und genau wie Victor von einer Anzeige abgesehen. Natürlich kamen da ein paar Leute ins Spiel, die sich schützend und belehrend anbieten wollten. Aber die waren so nützlich wie ein Kropf. Victor ist fortgezogen, sobald er wieder laufen konnte. Samson wollte sich nicht vertreiben lassen und er hatte mehr Angst vor einer fremden Stadt, als davor, umgebracht zu werden oder eine weitere Tortur durch seine Feinde zu erleben, die einst seine Familie und sein ganzer Halt gewesen waren. Der fristlosen Kündigung aus dem Schichtdienst hatte er auch nicht widersprochen. Zahlreiche Versuche in anderen Firmen unterzukommen, waren vergeblich. Es musste eine Art Steckbrief von ihm in Umlauf gebracht worden sein. Doch er fasste den Entschluss: Wenn er eines Tages diese Stadt verlassen würde, dann entweder mausetot oder mit einem Koffer voller Badehosen.
»Die Bananen haben die richtige Reife«, sagte Samson und kam sich mit der gebogenen Frucht in der Hand kurz wie ein kranker Psychopath vor. Er war verlegen, weil ihm sein Untermieter gefiel und weil er nette Sachen über ihn gesagt hatte. Doch das durfte der ja nicht wissen. Aber wie das nunmal ist, wenn ein zurückgezogener Mensch nach langer Zeit das erste Mal wieder lächelt, da gehen Endorphine in die Luft. Aber Ulli dachte sich schon seinen Teil und knöpfte aus Respekt sein Hemd zu.
»Gemütlich hier. Ich habe auch Sehnsucht nach der Insel. Ich würde den Shake jetzt wirklich gerne mit dir unter dem Schatten einer Palme trinken, Samson. Samson ist doch richtig oder?«
»Ja, Samson. Und du bist Ulli. Hab ich auf dem Briefkasten gelesen.«
Samson war ein Name, der sehr gut zu ihm passte. Er war ein wirklich gewaltiger Mann. Seine Bewegungen, wie er da so in der engen Küche hantierte, hatten dennoch was tollpatschig Weiches. Mit solchen Pranken eine Banane zu schälen war gar nicht so leicht. Sie auszudrücken, schien eine Alternative zu sein. Ulli lächelte und fühlte sich wohl in seiner Nähe. Er blickte ins Wohnzimmer rüber, und als er im Regal die Bärenmaske sah, fühlte er sich gleich noch ein wenig wohler. Er hatte also Recht gehabt.
»Hier probier mal. Ist noch ein Klacks Honig mit drin.«
Sie setzten sich an den Tisch im Wohnraum, schlürften und grinsten. Jeder wusste vom anderen etwas, das er nicht wusste. Dachten sie zumindest.
»Wie gesagt, ich bin echt kein nerviger Nachbar, der wegen jedem Husten anklopft. Nur heute war echt ein doofer Tag. Ich hatte Streit mit meinem Freund.«
»Dein Bester?« Obwohl Samson es genau wusste, wollte er es hören.
»Ich bin ... ich meine ... wahr ... also ich bin in ihn verliebt. Aber er nicht in mich, darum höre ich damit jetzt auch auf.«
»Ach so. Ja, Gegenseitigkeit ist schon wichtig. Sonst schenkt einem so eine Liebe gar keine Kraft, sie raubt sie einem.«
»Das hast du gut gesagt.« Ulli war erstaunt. Nicht weil man Muskelprotzen keine Romantik oder Sinn für die Liebe zutraute oder etwa doch? Er war jedenfalls angenehm überrascht. Samson schaute ihn wohlwollend an. »Wir wohnen jetzt fast zwei Jahre hier und sind uns nur ganz selten begegnet. Ich hätte nie gedacht, dass ein Sechs-Parteien-Haus so anonym sein kann. Ich bin in den Häusern am Hafen groß geworden. Da kannte jeder jeden. Verrückt.«
»Nun, du scheinst nicht oft rauszugehen ... und ich hatte Vorurteile!«, platzte es aus Ulli heraus. »Ich weiß, die hat jeder mir gegenüber und weißt du was? Die habe ich alleine zu verantworten. Das alles ist noch gar nicht so lange her und ich werde gerade mal erwachsen. Das ist die Wahrheit. Aber was soll ich tun? An jede Haustüre klopfen und sagen: Bitte sehen sie in mir nicht meine Jugendsünden, sondern den verträumten Jungen von nebenan? Die Welt ist ein verschissener Ort und die Liebe gibts nicht geschenkt und vielleicht gibt es sie auch nur für ganz wenige, elitäre Leute, die sie sich beim Universum-Versandhaus bestellen können. Ich hab nichtmal ne Kreditkarte für den Club. Ich hab mich über deinen Besuch gefreut, echt. Aber mehr als einen Milchshake hab ich wohl nicht zu bieten.«
Samson zitterte. Er sprach wütend aber nicht unkontrolliert. Ulli schüchterte das nicht ein. Er tat, was sein Bauch ihm riet, weil er das immer tat. Und deshalb legte er in dem Moment auch seine Hand auf Samsons vibrierenden Unterarm. Er zuckte nicht weg, machte aber ein Geräusch, als würde er gerade gebrandmarkt. Wie lange ist dieser Mensch nicht liebevoll berührt worden? Ulli konnte nicht loslassen und bewegte den Daumen auf und ab. Samson beobachtete, wie er gestreichelt wurde, als würde er in einen tiefen See blicken. Seine Zunge benetzte seine kräftigen Lippen. Er schluckte. Dann zog er seinen Arm unter Ullis Hand weg, indem er aufstand. Er zeigte auf das Poster mit dem kleinen Fischerboot am Strand. »Da will ich hin! Da will ich einen Neuanfang. Das ist ein kleines Fischerdorf auf der Insel Mallorca. Kaum Tourismus hab ich gelesen.« Ulli lächelte und verstand, worauf er hinaus wollte. Nicht jetzt, nicht hier, aber gerne. Sehr gerne. Er mochte ihn. Sie mochten sich gegenseitig. Es war trotzdem Zeit zu gehen. Er stand auch auf. »Samson hat mich sehr gefreut und wenn du mal was brauchst, Honig oder eine Banane, dann klingel einfach.«
»Äh, ja. Sehr gerne.« Eine Banane? Und die Gedanken fuhren Karussell. Samson ging auf Ulli zu, breitete seine Arme aus und schaute erwartungsvoll. Etwas so niedliches Großes hatte Ulli noch nie gesehen und er hüpfte leicht auf die Zehnspitzen, um diese annähernde Geste der Umarmung zu vollenden. Samson klopfte ihm auf den Rücken. Mag es auch noch so zaghaft gemeint gewesen sein, so führte es doch bei Ulli zu einem Hustenreiz. »Oh, entschuldige, ich wollte nur ...« Aber Ulli klopfte einfach so feste es ging zurück und lachte herzlich. Alles in Butter. Eine kleine im Raum-Zeit-Kontinuum verschluckte Ewigkeit später lösten sie sich voneinander und die Türe fiel ins Schloss. Und Samson stand da mitten im Raum. Sein Herz und das Innere seiner Hose pochten ganz sacht. Er konnte unmöglich weiter boxen. Er wollte einen Kuchen backen — in Herzform — und ihn seinem Nachbarn vor die Türe stellen. Aber er hatte gar keine Backform und er hatte auch noch nie Kuchen gebacken. War das jetzt der Moment, wo er onanieren sollte? Vielleicht würde er so ein Gefühl nie wieder erleben? Er zögerte. Er war so gerührt, dass ihm Sex jetzt irgendwie unpassend erschien. Er legte sich versuchsweise auf sein Bett und legte erstmal nur eine Hand auf sein Herz und tastete mit der anderen die Verhärtung ab. Sie war ganz schön massiv. Gerade als er seine Hand unter die Jogginghose schieben wollte, klingelte es. Er sprang auf und die Panik löste alle anderen Emotionen schlagartig ab. Jetzt! Jetzt hatten sie ihn! Der Baseballschläger stand noch da. Er drückte auf. Er war kein Feigling. Doch nichts rührte sich im Flur. Dann klopfte es direkt in sein an die Tür gedrücktes Ohr. Er schaute durch den Spion.
»Ulli?«
»Ja, Mann. Mir ist was Bescheuertes passiert.«
Samson öffnete die Türe und Ulli kam rein, als wäre er schon 1000-mal in diese Wohnung gekommen.
»Ich hab eben den Schlüssel in der Eile drin gelassen und Fritz meldet sich nicht. Der hat einen. Wenigstens hab ich mein Handy eingesteckt.«
»Oh«, sagte Samson. »Dann warte hier. Er wird sich schon melden und dann bald kommen. Ein Zettel! Ein Zettel an deiner Türe, dass du hier oben bist. Das wäre doch zusätzlich gut.« Er war froh, dass er keine Latte mehr an sich fühlte und helfen konnte.
»Gute Idee! Das mache ich. Hast du ein Post-it oder so?« Ulli stellte sich die unbehagliche Frage, was Fritz wohl davon halten würde, dass er bei dem stinkenden, homophoben Hulligan verweilte. Aber er eilte schnell herunter und klebte den Zettel an seine Türe. Bin bei meinem Nachbarn oben!
Samson war etwas nervös. Wie könnten sie sich jetzt die Zeit vertreiben? »Hast du Hunger?«, fragte er. »Ach ich mache Bratkartoffeln. Wollte ich ohnehin. Setz dich, leg dich, mach, was du willst. Fühl dich wie bei einem guten, alten Freund.«
Ulli war einfach nur beeindruckt von Samson. Es war schon erstaunlich, dass manche Menschen ein so einsames Dasein fristeten, obwohl sie supersympathisch und herzlich waren. Oder verstellte er sich nur gut? Was wenn ...? Nein! Er war kein Pessimist. Sein Ex — denn da war er sich schon sicher, dass Fritz nur noch sein Ex war — der war ein Pessimist und das hatte einfach nur abgefärbt. So ganz leicht war das mit dem gemütlich machen für Ulli trotzdem nicht, was offenbar mit dem nervösen Gepolter in der Küche zusammenhing. Er wollte lieber aufstehen und dem Bären zur Hand gehen. Die Küche war allerdings eine dieser schmalen Schläuche, wo man sich — in Anbetracht von Samsons gewaltigem Körper — regelrecht aneinander vorbei drücken musste.
»Ich will nur kurz spülen, das schiebe ich immer gerne vor mir her.«
»Lass mich das doch machen. Ich kann aber auch die Kartoffeln schneiden.«
»Ja, dann lieber die Kartoffeln, du sollst nicht in meinem dreckigen Geschirr ... du weißt schon.«
Ulli stellte sich vor die Schüssel mit gekochten, handwarmen Kartoffeln und zupfte die Schale ab. Der Bär ohne Maske ließ warmes Wasser ein und quetschte seine Finger in gelbe Gummihandschuhe. Der Kartoffel-Schäler beobachtete das aus dem linken Augenwinkel und schmunzelte gerührt.
»Willst du gleich lieber Würfel oder Scheiben?«, fragte Ulli.
»Och, Scheiben ... dünne Scheiben. Dann braten wir die schön kross.«
Samson drehte sich zu Ulli und seine Mundwinkel schoben sich fast bis zu den Ohrläppchen. Das war nicht irgendein Lächeln. Es war deutlich zu sehen, dass er gerade überglücklich war. Und er fühlte sich tatsächlich wie ein Soldat, der nach vielen, langen Jahren der Entbehrung, Grausamkeit und Kälte an den warmen Herd zurückgekommen war. Und sein Nachbar verkörperte in dem Moment alles, was er sich an Familie, Nähe und Zusammenhalt zu einem Sud aufkochte, der ihn heilte und verzauberte. Er hätte da auch nur rumstehen und ihn beobachten können. Dieses Gefühl war so viel stärker als jeder Gedanke daran, dass es unpassend sein könnte, peinlich, lächerlich oder dumm. Ihm wurde klar, während er mit der Bürste schwungvolle Kreise über seine eingetrockneten Teller drehte, dass er sich verändert hatte, dass er frei geworden war, von dem hart und stark sein müssen. Und auch wenn er vor wenigen Stunden noch den ganzen Häuserblock mit seinen idyllischen Vorgärten in die Luft sprengen hätte können: Jetzt kitzelten die Schaumblasen seines Spülwasser seine feuchten Augen. Wie schön das wäre, wenn er einen Partner hätte, der mit ihm in der Küche stand. Nicht immer. Er hätte Lust seinen Freund zu bekochen, während er zockt oder Fernsehen guckt oder duschen geht. Er fühlte in sich die erfüllende Rolle des Kümmerers. Er war kein Macho. Er sah nur verdammte Scheiße nochmal so aus.
Als er alles abgeschrubbt hatte, trocknete er auch gleich ab und musste dann an Ulli vorbei, um das Geschirr in die Schränke zu räumen. Er hielt den ersten Tellerstapel hoch in die Luft und drückte sich von hinten an ihm vorbei. Das war gut. Er kehrte um und drückte sich wieder vorbei. Ulli kicherte: »Entweder ist die Küche wirklich extrem schmal oder du bist so breit.«
»Oh ja, ich bin recht bullig. Die Küche ist Standard.«
»Macht ja nichts. Passt ja gerade so.«
Nun die Müslischalen. Sollte er sie stapeln? Ulli würde das wohl kaum auffallen, wenn er jede Schale einzeln an ihm vorbei trug. Beim vierten Mal streckte Ulli sein Gesäß nach hinten und simulierte Rückenschmerzen. Damit presste er Samson regelrecht an die Wand. Der erschrak, weil jetzt raus gekommen sein musste, dass er etwas erregt war. Hatte Ulli ihn durchschaut, wollte ihn testen und jetzt fuchsteufelswild werden?
Ulli fand diesen Kerl einfach nur entzückend. Ausgehungert nach Körperkontakt, benahm er sich beinahe wie Mister Bean. Und da er in letzter Zeit nur mit Wichsern zusammen gewesen war, sehnte er sich in gleichem Maße wie Samson nach Körper, nach Aufrichtigkeit und verspielter Lust. Er ist nicht sauer, dachte Samson. Warum nicht? Gefiel ihm das? Hatte er Interesse an ihm? Das konnte nicht sein. Nicht an ihm. Und was, wenn doch? Und wenn das Eine zum Anderen käme und dann das Bild ... und der Bär ... und die Bande! Schreckensbilder kamen in ihm auf, wie Ulli seinetwegen gefoltert wurde. »O.K. ich bin fertig mit spülen, den Rest schaffe ich alleine. Bitte geh, setz dich ins Wohnzimmer. Vielen Dank, ich meine ... ich kann dann doch besser alleine ... kochen. Dauert auch nicht lang!«
Ulli bemerkte, dass die Leichtigkeit aus dem Bären abgeflossen war, so wie der letzte Rest Wasser gluggernd vom Abfluss verschlungen wurde. Harsch hatte er das gesagt. Irgendwie explosiv. Das war ein unangenehmer Moment für beide. Ulli setzte sich auf die Couch, als würde er beim Zahnarzt im Wartezimmer Platz genommen haben. Die Brutzelgeräusche beruhigten ihn aber bald und er lehnte sich entspannt zurück. Er wusste, dass es dem Koch nicht gut ging. Jedenfalls nicht gut genug um Unbeschwertheit zu genießen, ohne von gelegentlicher Panik überrollt zu werden. Wenn er sich an die Typen erinnerte, die vor zwei Jahren hier noch ein und aus gingen ... das waren echt üble Burschen. Wenn solche Leute nach zwei Monaten von der Bildfläche verschwinden und man den Nachbarn nur zweimal mit Kopfverband und Hämatomen im Gesicht am Mülleimer trifft ... wer sollte es ihm verübeln? Anderthalbjahre sind keine lange Zeit. Er hatte tiefes Mitgefühl und wollte behutsam sein. Eines nur war ihm bewusst: Der Mann in der Küche verursachte ihm ein angenehmes Kribbeln im Bauch und tiefer. Samson biss sich inzwischen auch nicht mehr auf die Lippen und beschwichtigte seine Angst tief atmend. Er wünschte sich, dass der leckere Geruch der Bratkartoffeln seinem Gast den Mund wässrig machte. Er wünschte sich, er hätte den Mut, diesen feuchten Mund mit seiner Zunge zu erforschen. Er wünschte sich, er würde den ersten Schritt machen und ihn so entzünden, wie Victor ihn entzündet hatte, bevor sie alles um sich herum vergaßen. Er wünschte sich, Ulli säße nackt am Tisch, und dass er selber nur eine abstehende Schürze tragen würde und sie ein lustiges Spiel spielten.
»Scheiße, verdammt!«, fluchte Ulli. »Mein Akku ist leer und Fritz hat sich immer noch nicht gemeldet.«
»Aber du hast ja einen Zettel an der Türe. Jetzt essen wir erstmal. Alles cool.«
Samson trug die Pfanne zum Tisch. Nur Bratkartoffeln. Ein wenig dürftig schien ihm seine Gastfreundschaft schon. Aber Beilagen gabs bei ihm aus finanziellen Gründen wenn überhaupt nur sonntags.
»Toll! Ich hab jetzt richtig Bock auf deine Bratkartoffeln!«
Das war gut. Das war locker. Sie verputzten die Pfanne in Nullkommanix und grinsten sich an.
»Bier?«
»Erst den Abwasch! Den machen wir jetzt aber zusammen.«
Es dauerte nicht lange, da führte die gemeinsame Tätigkeit zu einem Gerangel in dem Küchenschlauch und sie hielten einfach inne, blieben einfach stehen. So ganz nah und ganz warm und ganz eng und ganz hart. Frontal. Auch ihre Blicke.
»Was passiert hier?«, staunte Samson zaghaft.»Ich passiere dir«, antwortete Ulli sanft.»Nein, das geht nicht, das geht einfach nicht.«»Warum nicht?«»Ich bin nicht schwul. Ich meine, ich lebe nicht schwul. Und außerdem hast du einen Freund.«»Ach ja, und wo ist der, wenn ich ihn brauche?«»Nicht da?«, fragte Samson und fand die Frage lächerlich und verschwörerisch. Wenn nur sein Puls endlich aufhören würde, weiter in Höhe zu brausen. Dann berührte Ulli mit der flachen Hand sein Herz.»Wir kennen uns kaum und sind doch schon so lange räumlich nicht weit getrennt. Ich habe ein süßes Gefühl. Warum nicht davon kosten?«»Du meinst, so wie den Honig im Bananenshake?«»Ja, so ähnlich. Küss mich endlich du Bär!«»Du weißt es?« Doch bevor er länger auf doof machte, griff er lieber mit seinen prankigen Händen Kiefer und Nacken von seinem Mensch gewordenem Milchshake und saugte genussvoll daran. »Du schmeckst gut!«, nuschelte er und ließ es sich gefallen, dass sein Kuss stürmisch erwidert wurde. Leicht wie eine Feder sprang Ulli hoch und schlang seine Beine um Samsons Lenden. »Trag mich aufs Sofa und zieh mich aus.« Samson tat es. Er tat es einfach. Dabei versuchte er, nicht den Kontakt zu Ullis Zunge zu verlieren. Das war an den engen Jeans an den Knöcheln gar nicht so einfach und so folgte jeder der Bewegung des anderen und beide schoben ihre Zungen ganz weit heraus, um ihre Verbindung nicht zu lösen. Samson über ihm: Das war wie unter einem großen Bären Schutz zu finden, der darauf achtete, nicht zu schwer zu werden und trotzdem jeden Zentimeter Haut durch seinen Rollkragenpullover und seine Jogginghose zu spüren. Ulli ließ unter dem schweren Stoff seine Hände den Rücken hochfahren und presste seinen Bären noch fester an sich. Er wusste, dass Samson seinen Rolli nicht ausziehen wollte, dass er Bilder auf seiner Brust und seinem Bauch trug, die ihm Schmerzen bereiteten, wenn man sie nur ansah. Dafür schob er gelenkig seine Füße hoch an den Hosenbund und mit der Hose wieder runter. Etwas Schweres, Warmes, Pulsierendes berührte seine Lust. Beherrscht hielten sie Abstand, um atemlos zu beobachten, wie zwischen ihren Lenden ein zuckender, mehr und mehr fordernder Tanz entstand. Samson wollte gar nicht mehr, als genau das und am besten für immer. Doch so langsam fingen seine Arme an zu zittern und es war angebracht, die Position zu wechseln. Er griff Ulli unter die Schulterblätter, zog ihn zu sich hoch und über ihn drüber. »Ich will so sehr deinen Honig«, sagte der Bär. Und weil das für Bären ja nichts Ungewöhnliches war, kletterte Ulli so zu seinem Gesicht hoch, dass er sich den Honig holen konnte. Die Pranken massierten dabei seine Pobacken und brachten sie in Schwingungen. Ulli bäumte sich auf und versuchte nach hinten zu greifen, doch seine Handgelenke wurden erfasst und seine Hände in die roten Locken geführt. Ulli schloss seine Augen und taumelte lusttrunken in einen Traum, wie er auf einem wilden Tier über eine weite, grüne Wiese ritt, bis er ... war das seine Stimme? ... er schrie und auch das zuckende Tier unter ihm schrie. Während er sich in das sanfte Maul ergoss, traf etwas Warmes seinen Rücken und rann hinab. »Du bist gekommen, ohne dass ich dich angefasst habe«, staunte Ulli, rutschte an Samson hinab, um ihn zu küssen und schmeckte sich selbst. Er blieb weich auf dem großen Körper liegen und vergrub seine Hände noch immer in den wilden Locken. Samson hielt ihn so fest, dass er nicht runterrollen konnte, denn sie waren dabei einzuschlummern.
Sie schliefen bis zum Morgengrauen. Dann riss wildes Klingeln sie aus dem Schlaf. Samson sprang auf, in die Jogginghose und warf Ulli eine Decke zu. Dann öffnete er die Türe. Fritz stand da.
»Was hast du mit ihm gemacht du dreckige Nazisau? Ich ruf die Bullen, ich ruf die Bullen!« Er eierte vor und zurück, hatte eine Alkohol-Fahne. »Hör mal gut zu mein schmaler Freund«, flüsterte Samson zischend. »Was hast DU gemacht? Wo warst du und warum antwortest du auf keine SMS? Hier war ein Notfall. Dein Freund schläft bei mir, weil er nicht zuhause reinkam. Und nenn mich nicht Nazi, kapiert?« »Ulli, Ulli, alles in Ordnung mit dir?«, rief Fritz an dem Türsteher vorbei ins Wohnzimmer. Ulli wickelte sich die Decke um den nackten Körper und kam ganz langsam zur Tür.»Fritz, gib mir meinen Schlüssel doch mal bitte.« Fritz gab ihm mit schielenden Augen ein Schlüsselbund. »Und jetzt geh nach Hause und schlaf deinen Rausch aus. Bei mir geht das nämlich nicht mehr, weil du nur noch mein Ex bist.« Fritz wollte wohl noch was sagen, doch er schaute zwischen dem Bären ohne Bärenmaske und seinem Ulli hin und her und wusste, das war nix mehr mit Ulli. Und an dem anderen da kam er nicht vorbei. Und so torkelte er davon.
»Geht das immer so einfach bei dir?«, staunte Samson. »Glaub mir Samson, der hat gestern einmal zu viel »Bobbelchen« zu mir gesagt.«»Und was machen wir jetzt?«»Wir machen Pläne, wie wir am besten auf die Insel kommen.«»Ich sehe meine Insel gerade in eine Decke gewickelt vor mir stehen.«»Dann leg mich wieder hin und wickel mich aus!«
Das ließ sich Samson nicht zweimal sagen.
Ulli stand erwartungsvoll vor ihm. In die beige Decke gehüllt, erinnerte er Samson an eine Sahnerolle aus Blätterteig mit großen, eingebackenen Zuckerstückchen. Er hätte sich am liebsten drauf gestürzt, alles ausgeschlürft und mit zwei Bissen verschlungen. Doch er bremste sich. Er konnte unmöglich seiner animalischen Gier auf diesen Leckerbissen die Führung überlassen. Sein mächtiger Brustkorb weitete sich mit jedem tiefen Atemzug. Hatte er je etwas vergleichbar Sinnliches erlebt? Nein. Er hatte sich in Schrauben, Scherben und Dreck gewälzt. Wie Tiere waren er und Victor damals übereinander hergefallen. Die Erinnerung war schon deshalb nicht schön, weil er sich selber so nicht mehr sehen mochte und ihn ein Typ wie Victor heute abstoßen würde. Sie waren eiskalte Beton-Fassaden, die sich aneinander aufbrechen und aufheizen wollten, weiter nichts. Ullis Hände fassten immer noch die Decke zusammen, wie einen kostbaren Pelzmantel. Er lächelte. Wenngleich sein erregter Atem von Ungeduld zeugte, so lag in seiner Präsenz keine Eile. Und so schmächtig, wie er vor Samson im ersten Moment wirkte, war er gar nicht. Er war drahtig und seine dünne Haut legte die Bahnen seiner gut durchbluteten Sehnen frei. Wie ein Hubschrauberflug über unberührte Landschaften, glitten Samsons Augen über seine Hände, die Ellen hoch, über die Schultern, durch die kleinen Täler am Hals, hinauf zu seinem friedfertigen Gesicht. Sein Blick klebte an den zarten Lippen, die immer noch so herzlich und breit lächelten, dass an der ein oder anderen Stelle das Weiß seiner Zähne hervor blitzte, mal hier mal da.
»Samson? Willst du mich nicht?«
»Ulli, ich bin wohl überwältigt.«
»So, so ... und du willst nichtmal nur spielen, stimmt´s?« Er lachte.
»Nun, ich weiß nicht, was du von mir erwartest, aber ich habe mir abgewöhnt, mehr zu sein, als ich bin. Und du ... du bist wohl erfahren und ... vielleicht denkst du, so ein großer Kerl wie ich ... es ist nur ... du erscheinst mir so kostbar. Ich kann doch nicht so tun, als wenn es kein Morgen gäbe.«
»Samson, du bist mir eine Seele. Bin ich dir zu schnell? Doch rechne mal die letzten zwei Jahre dazu. Ich habe dich schon immer gesehen. Ich meine, ich weiß, wann du schlafen gehst, weiß, wie oft du trainierst, kenne die aggressive Musik und auch die Balladen, die bei dir laufen. Ich weiß, dass du versucht hast Gitarre zu spielen, weiß, dass du mit den Rentnern einkaufen gehst, dass du bei jedem Wetter auf dem Balkon bist, solange nur ein kräftiger Wind weht. Ich finde deine Jailhouse Rock Interpretation unter der Dusche einfach fabelhaft und will damit sagen: Ich will nicht nur spielen. Mir ist es ernst mit uns.«
Samson blickte erstaunt zu Boden und dann wieder hoch zu seinem heimlichen Verehrer.
»Du weißt auch, dass ich manchmal heule?«
»Ja. Aber du weißt nicht, dass ich sehr oft lache.«
»Tja, also ... von oben nach unten scheint es jedenfalls hellhöriger zu sein als andersherum.«
Mit einem tiefen Seufzer ging er auf Ulli zu, nahm ihn wie eine Braut hoch und bettete ihn sanft auf seinen Teppich. Dann blieb auf seinen Knien neben ihm.
»Ich kann es kaum glauben. Du bist wie ein Geschenk, eine Flaschenpost, ein Segelboot, angespült an dieses andere Ufer hier.«
»Es ist, wie du vorher schon sagtest: Ich bin deine Insel. Aber ich mag deine Metaphern. Egal ob ich dein verwunschener Frosch, dein Ritter, deine Flaschenpost, dein Hausmeister oder dein Schmusehase bin ... Hauptsache kein Bobbelchen!« Er richtete sich mit erhobenen Zeigefinger auf, lachte breit und legte sich dann wieder entspannt zurück. »Erkunde mich doch einfach!«
Behutsam beugte Samson sich zu ihm herunter und bedeckte sein Gesicht mit Küssen. Ulli wusste so viel mehr über ihn. Er musste seine Defizite jetzt auch auffüllen! Doch es war nicht die Zeit für Fragen nach Hobbys, Arbeit, Kindheit und Vorlieben. Er wollte seine Insel unbedingt schweigend erkunden. Auch weil er Schiss hatte, dass falsche Worte wie ein ungebetener Gast in diesen Moment eindringen konnten und ihn zerstörten. Diese Nähe war so unwirklich. Sein ganzer Körper war angespannt und sein Herz schlug bis zum Hals. Er war handlungsunfähig. Ein bisschen peinlich. Doch Ulli, der lächelte einfach, fixierte weiter Samsons nervöse Augen, griff nach seiner rechten Hand und legte sie auf sein Herz. Dafür, dass es ebenso heftig klopfte, wirkte er so viel entspannter. Samson atmete tiefer und streckte sich neben Ulli aus. Er wollte sich einfach nur beruhigen und den Herzschlag wahrnehmen.
Nach einer Weile stützte er seinen Kopf auf den Ellenbogen und öffnete langsam die Decke zu beiden Seiten. Er betrachtete Ullis Körper wie ein staunendes Kind, bevor er mit seiner anderen Hand die Erkundungstour startete. Ulli genoss seine unbeholfen, zittrigen Berührungen und reagierte mit wohligen, feinen Bewegungen. Er fühlte seinen Körper wie einen heißen Stein, an dem Samson sich die Finger verglühte. Immer wieder löste er die Hand und legte sie wieder sanft auf.
»Dein Atem klingt wie das Rauschen des Meeres, Samson«, flüsterte er und griff nach seinen wilden Locken, um ihn zu einem Kuss heranzuziehen. Ein langer, intensiver Kuss, der ihr Blut aufkochte und die Morgendämmerung unter den geschlossenen Augen zum Erröten brachte. Kurz davor sich zu vergessen, endlich alles zu vergessen, drückte sich Samson aus der Umklammerung.
»Können wir uns Zeit lassen?«, fragte er trocken.
»Ja«, antwortete Ulli, zog die Decke unter seinem Körper hervor und bedeckte sie beide. »Ich denke wir haben Zeit.«
»Du hast einen sehr muskulösen Körper. Der ist aber nicht so aufgepumpt wie meiner. Was machst du denn für einen Sport?«, fragte Samson fast schon beiläufig.
Ulli begriff, dass Samson anscheinend erstmal ein wenig Realität brauchte, und konnte das gut verstehen.
»Ich bin Taekwondo-Lehrer. Meister klingt so aufgesetzt. Stimmt aber auch.«
»Wow! Das ist ja spannend. Ich muss gestehen, ich hatte keine Vorstellung. Du wirkst ein wenig wie ein ewiger Student.«
»Das auch«, sagte Ulli und lächelte stolz. »Buddhistisches und Südasiatisches philosophisches Zeugs.«
»Verstehe! So Weisheiten wie ›Den Zornigen besiege durch Sanftmut‹? Hab ich mich auch schon mit beschäftigt. Früher war mir diese Idee nur als Faust in der Tasche machen bekannt. Leider war das in meinen Kreisen keine populäre Lösung. Aber da ist viel Gutes dran. Also, mir hat das sehr geholfen. Später dann ...«
Ulli hätte jetzt das heikle Thema aufgreifen können. Aber sein herzlicher Verstand riet ihm, zu schweigen. Sie hatten wirklich Zeit und er wusste, dass Samson noch hinterm Ofen hervorkommen würde, wenn er es nur langsam anginge mit ihm. Vielleicht war es aber auch gar nicht nötig, großartig in der Vergangenheit herumzuwühlen. Er wollte sein Geliebter sein, nicht sein Psychiater, nicht sein Richter, nicht seine Amme. Nur diese Rollkragen, die sollte er irgendwann einmal ablegen, dachte Ulli noch. Und dann erzählte er Samson einfach etwas von sich selbst. Dass er in der Schule immer als Streber gehänselt wurde und seine Eltern wenig Aufmerksamkeit für ihn aufbrachten. Sie wollten ihn zum Golfer machen, damit sie mehr Zeit gemeinsam verbringen könnten. Da er das nicht wollte, sollte er sich auch nicht beklagen. Schließlich wäre der Golfsport für die Eltern auch ein wichtiger geschäftlicher Aspekt plus Natur, plus Bewegung. Außerdem sei der Golfclub der ideale Ort um ein passendes, ehrenwertes Mädchen zu finden. Aber er wollte viel lieber lernen, sich zu verteidigen und seinen Storchenkörper mit asiatischer Kampfkunst trainieren. Er hatte jeden Abend gebetet noch über 160 Zentimeter hinaus zu wachsen und seinen letzten Strich bei 174 an dem Türrahmen seines Kinderzimmers gezogen. Dann ist er in ein Studentenwohnheim gezogen und noch weitere fünf Zentimeter gewachsen. Mit 18 verbrachte er widerwillig den letzten gemeinsamen Urlaub mit seinen Eltern und ließ sich vor ihren Augen am Strand von einem Mädchen abknutschen. So missbilligend, wie die Mutter das zur Kenntnis genommen hatte, traf er den Entschluss keinen weiteren Hehl mehr daraus zu machen, dass ihn der Animateur der elitären Hotelanlage viel mehr reizte. Seine Mutter offenbar auch. Mit dem Vater lief da schon lange nichts mehr.
»Und dann? Haben sie euch erwischt?«
»Nein, aber ich sie. Meine Alten wissen bis heute nicht, dass ich schwul bin. Sie denken wahrscheinlich ich sei ein Asket, dem es genügt, sich selbst auf die strammen Oberarme zu küssen.«
Sie lachten.
»Und? Machst du sowas?«
Ulli grinste und knutschte keuchend seinen angespannten Bizeps ab.
»Ohhhh, ihr macht mich rasend eifersüchtig!«, brummte Samson und riss Mund und Arm auseinander, um seine eigenen auf Ullis Lippen zu pressen.
»Sind wir hungrig?«, fragte Samson.
»Hmmm ... auf diese Frage hätte ich zwei Antworten. Du scheinst aber am Essen mehr Interesse zu haben als an Sex.«
»Nein, das ist es nicht. Es ist nur ... also hast du jetzt Hunger oder nicht?«
»Pssst ...!« Ulli drückte seinem Bären zwei Finger auf die Lippen. »Alles cool. Ja und ja. Gewöhn dich einfach an mich. Ich weiß nämlich, wo du wohnst!«
Samson schnellte hoch. Der letzte Satz löste in ihm eine Kettenreaktion aus. Das Foto, der Bär, die ewige Rache und jetzt Ulli, der Taekwondo-Meister. Ein ungutes Gefühl drang von den Zehnspitzen in seinen Geist und aktivierte alle Muskeln zum Sprung.
»Überbackenes Käsetoast und Kaffee?«
»Ja, sehr gerne.« Ulli bemerkte die Wesensveränderung von Samson und stand ebenfalls auf, um sich seine Sachen anzuziehen. »Ich helfe dir.«
»Nicht nötig. Willst du duschen?«
»Nein. Ich gucke mir die Poster an und träume von deinen Inseln.«
Ob er sich das wirklich antun sollte mit Samson? Das sah nach einem harten Stück Arbeit und jeder Menge Ärger aus. Manchmal war es vielleicht auch gut, Menschen in ihrer Zurückgezogenheit zu belassen. Er hätte Samson gerne gefragt, was ihm genau passiert ist und wovor er wirklich Angst hatte. Sein frisch ›geexter‹ Freund hatte ihm ein Helfersyndrom attestiert. Aber das war total überzogen. Nur weil er sich von den Höhen und Tiefen der Menschen, angezogener fühlte, als von aalglatten Existenzen, hieß das noch lange nicht, dass er ein Trottel war. Er wollte nur wissen, ob Samson psychologisch betreut würde, was eine total bescheuerte Frage wäre, denn er war ja nicht ... Nein! Das dürfte er nicht fragen. Er wollte doch sein Freund sein. Er musste nur damit klarkommen, dass er sich sexuell von diesem Bären so stark angezogen fühlte, dass er inzwischen schon einen leichten Schmerz im Schritt verspürte. Sein Bär war leider wie eine Maus, die jeden Moment in ihr Mauseloch zurück huschen und den Eingang mit Baseballschlägern verbarrikadieren könnte. ›Mausebär‹, dachte Ulli. Das war ja fast so schlimm wie Bobbelchen. Der Duft von Schmelzkäse wehte in seine Nase und rettete ihn vor weiteren Gedanken in die falsche Richtung.
Mit zwei Frühstückstellern, die in den Händen aussahen wie die Unterteller von Kaffeetassen, zeigte Samson in Ullis Richtung.
»Wir können auf dem Sofa essen. Warte! Kaffee folgt!« Er hatte sich wieder gesammelt. Sich zu kümmern war sein Ding. »Hab auch ein bisschen Tomatenmark draufgeschmiert«, säuselte er aus der Küche. Ach, das tat gut, einen lieben Gast zu verwöhnen. Milchschaum ... er hatte doch so ein Quirlding irgendwo ... Mist! Batterien leer.
»Zucker?«
»Ja, gerne einen Löffel!«, rief Ulli ihm in die Küche.
Sie kauten, schlürften und dachten nach. Jeder für sich. Jeder was Ähnliches. Es war zu früh. Sie hatten zu früh vom Honig genascht. Ulli war stärker als er aussah und Samson wesentlich schwächer. Wenn sie nicht beide bewusst die Entscheidung füreinander treffen würden, kämen sie keinen Schritt weiter. Doch so lange ein einziger Satz wie »Ich weiß, wo du wohnst«, die gesamte Leichtigkeit vertreiben konnte ... das wussten sie beide ... mussten sie loslassen.
»Gehst du denn mit mir zum CSD übernächstes Wochenende?«, fragte Ulli waghalsig.
»Ulli, woher weißt du eigentlich von meiner Bärenmaske?«, fragte er und schämte sich dafür, dass er nicht dazu stehen konnte, ihn belauscht zu haben.
»Naja du bist in dem aktuellen Flyer zum CSD. Der liegt überall in der Stadt aus. Und ich war mir nicht sicher, aber da im Regal ist die Maske und so ...«
»Schon gut, schon gut. In der ganzen Stadt sagtest du?« Samson wuschelte sich durch die Haare und rieb sich die Krümel vom Mund.
»Ja, so an Tankstellen, in Kneipen, im Rathaus ...«
»Ulli, hör zu. Ich weiß, dass du meine Vergangenheit erahnst und ich würde dir auch bei Zeiten alles erzählen ... es ist nur ... ich glaube es wäre besser, wenn du jetzt wieder in deine Wohnung gehst. Ich mag dich wirklich sehr. Doch ich hätte es wohl nicht so weit kommen lassen dürfen.«
»Aber Samson, ich weiß schon, dass du aus Kreisen kommst, die mich hassen und verfolgt haben. Ich weiß aber auch, dass du genau so bist wie ich und nicht wie die. Lass uns eine Lösung finden! Komm aus deinem Versteck! Gib dich nicht auf, ich ...«
»Still!«, brüllte Samson spuckend und schlug mit beiden Händen auf den Tisch. »Bitte geh!«
Sein Gesicht war rot angelaufen und sah für einen Moment sehr hässlich aus. Ulli erschrak zwar mächtig, blieb aber gelassen. Er stand langsam auf und ging zur Tür.
»Danke für deine Gastfreundschaft.«
Die Tür klackte sachte ins Schloss. Samson bandagierte seine Hände. Diesmal saß Ulli an seinem Küchentisch und beobachtete ohne Mucken seine vibrierende Lampe. Jeder Sprung und jeder Schlag fuhr ihm in die Magengrube. Aber nicht so, als wäre es sein Magen. Er fühlte Samsons Schmerz und er fühlte sich hilflos. Er sah sogar Tränen durch die Zimmerdecke und spürte, dass sie beide Angst um den anderen hatten und nur deshalb auseinandergingen. Wut kam in ihm auf. Wut auf diese Gefahr, ausgehend von Menschen, die sie nicht sein lassen konnten, wie sie waren. Er packte seine Sporttasche und machte sich auf den Weg in sein Trainings-Studio.
Nein Samson! Du bist nicht der Einzige, der sich gerne hinter fernöstlichen Lehren verstecken würde und in Wirklichkeit nicht weiß wohin mit dieser Wucht an Gefühlen. Verliebt zu sein und voller Wut ... das ist eine brutale Kraft!
Ulli trat in die Pedale seines Rennrads wie ein Verrückter und kämpfte gegen den Druck in seinen Augen an. Er bog um die Ecke und sah zwei kahlköpfige Gestalten mit Bomber-Blousons an die Hauswand gelehnt. Jetzt bloß keinen Verfolgungswahn entwickeln! Er musste dringend seinen Geist leer machen und das Gezeter in seinem Kopf zum Schweigen bringen.
Samson lag auf dem Teppich, als Ulli am späten Abend nach Hause kam. Er hatte sein Ohr an den Boden gedrückt. Als er hörte, wie von unten die Musik hämmerte, weitete sich sein Herz. Hauptsache er ist da, dachte er und schlief ein. Nach wilden Träumen erwachte er schweißgebadet in die Decke gedreht, die immer noch nach ihm roch. Es konnte also nicht nur ein Traum gewesen sein. Wie spät war es? Drei Uhr früh. Er sollte ins Bett rüber gehen und versuchen weiter zu schlafen. Ein großes Glas Milch ... Ulli ... hatte gestern auch aus diesem Glas getrunken. Er schlief sicher gerade unter ihm. Ganz nah. Er fühlte ihn, er roch ihn ... er hatte sich in ihn verliebt und hatte sich daneben benommen. Aber sein sechster Sinn kroch ihm unaufhörlich den Nacken hoch. Vielleicht wusste er nicht, wie man sich freundlich verabschiedete, vielleicht auch nicht, wie er über seine Gefühle sprach, aber er wusste, wenn die Gefahr im Anrollen war. Früher träumte er sich in solchen Momenten auf seine Inseln. Sah sich da immer nur alleine mit Schlappen durch den heißen Sand schlurfen. Jetzt kam ständig Ulli mit ins Bild und hielt ihm Sonnencreme hin. »Komm, creme mir den Rücken ein.« Samson lächelte. »Gib dich nicht auf!« ... wiederholte er in seinem Geist und schlief darüber noch mal ein. Um 6.00 Uhr ging sein Wecker. Er zog sich an, schlüpfte in seine Turnschuhe und lief durch strömenden Regen zum Discounter. Er kaufte mehr Bananen, mehr Milch und mehr Toast als üblich. Als er sich mit vollen Einkaufstaschen dem Haus näherte, blickte er hoch zu Ullis Küchenfenster und sah ein schwaches Licht den grauen Alltag erhellen. Er sah einen Krieger, der in Kampfposition eine Fackel hielt, dann blitzten wieder 50 Taschenlampen in seinen erschrockenen Geist. Doch es war nur eine dunkle Gestalt im Regenmantel auf einem Fahrrad, die so unachtsam durch eine Pfütze fuhr, dass seine Schuhe mit einem Schwall Regenwasser getränkt wurden. Er zog sie vor seiner Türe aus, ließ sie dort stehen und verriegelte sich von innen. Natürlich ist er vor Ullis Türe kurz stehen geblieben. Und natürlich hatte Ulli sein Ohr an die Tür gelegt. Immerhin waren die beiden mächtig ineinander verschossen. Doch genauso mächtig wehrten sie sich auch dagegen. Manchmal wussten sie gar nicht, warum und dann fanden sie beide wieder genug Gründe. So verging die erste Woche. Die Turnschuhe standen immer noch vor der Türe und die zwei letzten Bananen waren inzwischen fast schwarz. Samson musste am folgenden Morgen einkaufen gehen. Wo waren seine Turnschuhe? Mit nackten Füßen trat er auf seine Fußmatte und fühlte, wie sich etwas Glitschiges durch seine Zehen quetschte. Er tastete nach dem Licht im Hausflur und zog ein Papier von seiner Fußsohle, das mit dickflüssigem Glibber überströmt war. Er würgte und keuchte vor Schreck. Vom Ekel gepackt, als er Rotze und Sperma in dem Glibber erkannte, hüpfte er auf einem Bein in sein Bad, schmiss das Papier ins Waschbecken und duschte seinen Fuß in der Badewanne ab. Dreimal schäumte er ihn mit Kernseife ein und spülte, spülte, spülte. Verdammt! Hatte er etwa die Tür offen stehen lassen? Er sprang aus dem Bad, rutschte auf den nassen Füßen aus und knallte mit dem Kopf gegen den Türrahmen. Es fühlte sich für eine Sekunde so an, als hätte er mit dem Baseballschläger einen drüber bekommen. Dann wurde es von Weiß zu Schwarz.
Hände zerrten an ihm. Er glitt über das Mittelmeer und landete im Sand.
»Ich bin gestorben, ja als Jungfrau und habe meinen Ulli nie mit auf die Reise genommen. Ich habe ihn verscheucht ... ich Scheusal, werde immer ein Scheusal sein ... ich ...«
»Samson! Komm zu dir. Was redest du denn da? Ich bin hier. Ich hab ein Scheppern gehört und bin wach geworden. Rede mit mir!«
Samson erkannte Ullis Stimme.
»Bist du auch tot? Mach das Licht an! Ich will sehen, auf welcher Insel ...«
»Öffne einfach die Augen!«
So langsam berappelte er sich wieder und bemerkte, dass das keine Insel und kein Sand war, sondern sein Teppich. Und Ulli war da und tupfte mit einem blutigen Tuch seinen Hinterkopf.
»Ich bin wohl gestürzt ... da war was Ekelhaftes. Im Waschbecken. Du hast es doch nicht etwa angefasst oder?«
»Ich habe es gesehen Samson. Es ist der Flyer, auf dem du zu sehen bist. Ich habe es entsorgt und deine Spülhandschuhe gleich mit. Tut mir leid, ich hole dir Neue.«
»Ach, die waren eh zu eng«, lächelte er gequält. Ich hatte die Füße nass und bin ausgerutscht. Ich bin ein Idiot!«
»Samson«, eröffnete Ulli zaghaft. »Du hast eine Wunde am Hinterkopf, bist aber nach vorne gestürzt. Ich denke, zusammen mit dem besudelten Flyer ist klar, was hier vor sich geht, oder?«
Sie schwiegen und hielten sich im Arm.
»Und was nun?«, fragte Samson.
»Jetzt küss mich!«
Samson küsste Ulli. Wie heiße Prickelbrause sprudelte die ganze angestaute Liebe der vorangegangenen Tage über die Zungenspitze in seinen Rachen.
»Ich bin verliebt in dich du großer Idiot!«, hechelte Ulli zwischen dem nicht enden wollenden Kuss hindurch. Mit schmatzenden Geräuschen fuhr er fort: »Und ... wir ... werden ... da ... zusammen raus gehen.«
Samson ergab sich unter dem Körper, der sich mehr und mehr entblätterte und dann auch ihn und fast den Rollkragen, aber dann doch nicht ... noch nicht ... und trotzdem war er so nah, der Fremde Vertraute, der sich seiner Zuneigung und Sicherheit in so kurzer Zeit bemächtigt hatte, dass er sich ein Leben ohne ihn nicht mehr vorstellen konnte. Er wollte alle Angst überwinden und sich stellen, seiner Liebe, seiner Vergangenheit, seinen Fehlern und allem, was sich hier und jetzt endlich so unglaublich richtig anfühlte, und so lieb. Eng aneinander gepresst ergossen sie sich in ihre Visionen vom gemeinsamen Glück. Ulli war zum Kampf bereit. Samson fühlte den Mut zu seinem Aufbruch in die Freiheit.
»Wir haben Glück, dass du nicht genäht werden musst.« Ulli war in die Küche gegangen und kramte im Eisfach rum. »Hast du keine Eiswürfel?«
»Nö«
»Weißt du was? Pack alles, was du brauchst, um dich gut zu fühlen und komm mit mir runter!«
»Wie, jetzt?«
»Ja! Zahnbürste, Telefon, Musik, Gitarre, ein Poster, deine Maske, wenn es sein muss auch deine Rollkragensammlung aber bitte auch ein paar normale T-Shirts.«
»Meine Hanteln auch?«
»Alles, was du brauchst. Ich hab nur keinen Haken für den Boxsack. Reagierst du dich eben an mir ab. Ach und hast du eine Zeitschaltuhr?«
»Nö«
»Du packst! Ich bin gleich wieder da. Ich klopfe zweimal kurz, dann Pause und nochmal dreimal kurz!«
Samson fand, dass Ulli in dem Moment etwas von einem schwarzhaarigen Flash Gordon an sich hatte, und schmolz vor Begeisterung nur so dahin, als er ihm nachsah. Er rollte das Poster mit dem Fischerboot zusammen. Und schon klopfte es auch schon wieder in der geheimen Abfolge.
»Mehrfachsteckdosen?«
Samson holte eine Elektrokiste aus dem Abstellraum und Ulli verkabelte Lichter an zwei Zeitschaltuhren.
»So, geschafft. Bist du auch so weit?«
»Ja«
Dass Samson etwas wortkarg geworden war, amüsierte Ulli beinahe. Trotzdem schien die Situation zunächst einmal sehr ernst. Er griff seine große, warme Hand und zog ihn aus der Wohnung mit sich eine Etage tiefer.
»Warte! Mein Baseballschläger!«
Und dann stand Samson in einer neuen Welt. Er war in Asien angekommen. So schnell kann man reisen, dachte er verdutzt. Langsam stellte er seinen Überseesack ab und schaute sich um. Ulli hatte ein Faible für Buddhas, Fächer, Sonnenuntergänge, Räucherstäbchen, fernöstliche Möbel, Actionfiguren und DVDs. Die Bambus-Rollos hüllten den Raum in eine pudrig warme Dunkelheit. Auch von hier sah er noch die schwarzen Blätter seines Lieblingsbaums. Dieses Wohnzimmer wirkte viel geräumiger, weil die Hälfte mit Tatamimatten ausgelegt war. An der Wand hingen Urkunden und Kung-Fu-Säbel. Diese Ecke bescherte Samson ein Gefühl der Sicherheit. Er stellte seinen Baseballschläger an die Eingangstüre und trat zu Ulli, der gerade nach leichter Musik suchte. Als er den warmen Körper hinter sich fühlte, drehte er sich um und wurde dankbar und feste in die Arme genommen.
»So mein Lieber«, befreite sich diesmal Ulli aus der Umarmung. »Wir setzen uns jetzt da hin, ich koche uns grünen Tee und dann besprechen wir unseren Besuch des CSD. Du weißt ja, der findet nächstes Wochenende statt.«
Samson riss die Augen auf.
»Du hast doch nicht geglaubt, dass wir uns jetzt zusammen in meiner Wohnung verstecken?«
Samson schloss die Augen.
»O.k. gehen wir mal die Möglichkeiten durch. Deine Exfreunde ...«
»Es sind nie meine Freunde gewesen, ich bin nur mit ihnen groß geworden!«, unterbrach Samson.
»Jedenfalls die Jungs mit dem erhöhten Aggressionspotential gegenüber Randgruppen ... was glaubst du, haben sie noch vor? Ich meine, außer dir vor die Tür zu wichsen und dich von hinten niederzuschlagen?«
Samson wand sich. Es war klar, dass dieses Thema ihn gerade aus seiner Pustefix-Seifenblase stach. Aber Ulli meinte es sehr ernst mit ihm und keineswegs böse. Das war ihm sehr klar. Also riss er sich zusammen.
»Nun, sie werden davon ausgehen, dass ich jetzt klein beigebe und aus Angst nicht mehr die Parade unterstütze. Wenn ich also nicht teilnehme, sollten sie eigentlich Ruhe geben.«
»Und das willst du? Ich meine, wer bestimmt über dein Leben, Samson?«
»Manche kennen mich gut genug, um zu wissen, dass ich lieber stehend sterbe, als auf Knien zu leben. Darum werden sie sich versammeln und nach dem Bären Ausschau halten. Wobei die Maskerade ja nun hinfällig ist.«
»Weißt du noch, wo du die Maske herhast?«
»Karnevals-online-Shop oder so.«
»Such mir später mal bitte die Adresse raus. Du kannst übrigens meinen PC benutzen, wann immer du willst.«
»Ja, suche ich dir natürlich raus. Nur wozu?«
»Lass mich nur machen, Samson. Wie ist ihre Strategie? Hinterhalt oder frontaler Angriff? Bleiben sie ihren Outfits treu oder würden sie auch in zivil auftauchen?«
»Ich erkenne die sogar im Hasenkostüm, Ulli. Ich erkenne sie an ihrem Gang und ich kann sie auf 100 Meter wittern.«
»Das glaube ich dir blind. Samson vertraust du mir? Ich meine, würdest du mir voll und ganz vertrauen, wenn ich dir sage, dass ich einen Plan habe?«
Samson konnte nicht sofort antworten. Er wollte noch die Ausstrahlung seines Freundes beobachten. Steigerte er sich seinetwegen in eine waghalsige Überlegung hinein oder war er wirklich der stahlharte Krieger, der Flash Gordon, den er gerade wieder in ihm sah?
»Ja, ich werde dir vertrauen. Ich will einfach gerne mit dir auf die Insel. Und am liebsten mit zwei gesunden Armen und Beinen.«
»Gut. Dann lass mich machen. Und jetzt ... gibt es erstmal nur uns zwei. Ich schlage vor, wir starten mit einem schönen DVD Abend und gleichen mal unseren Filmgeschmack ab. Und dann kuscheln wir.«
Für Ulli war die Sache inzwischen klar. Er hatte einen angeschossenen Bären aus seiner verschütteten Höhle gerettet. Der war nun verstört und vielleicht sogar traumatisiert. Er musste erstmal wieder zu sich kommen und Vertrauen fassen. Ihm war auch klar, dass er wild werden könnte. Ja, insgeheim wünschte er sich das sogar sehnlichst. Doch fürs Erste war er hier und zahm und machte nicht den Eindruck, dass er ausbrechen wollte. Im Gegenteil. Und auch wenn Samson mit jeder Tasse, die Ulli aus der Küche holen wollte und mit jeder Bewegung sofort mit aufsprang und seine Hilfe anbot: Er musste nun erstmal lernen, dass sich jemand um ihn kümmerte. Früher hatte Samson für seine alkoholkranke Mutter gekocht. Jetzt kochte Ulli für ihn. Asiatisch und scharf.
Die nächsten Tage verloren sie kein Wort über den CSD und vermieden sowohl in ihren Gesprächen, als auch körperlich allzu sehr ans Eingemachte zu gehen. Ulli verließ immer mal für ein paar Stunden die Wohnung, um zur Uni zu fahren oder eine Trainerstunde zu geben. Sie aßen zusammen, räumten zusammen auf, weil sich Samson das nicht nehmen ließ, massierten sich, sprachen über Sportarten und Muskeln und feierten gemeinsam auf ihre Fantasy-Lieblingsfilme ab. Superhelden. Klar. Flash Gordon war zwar nicht so populär wie Ironman und Hulk, aber Samson hatte in seinem Leben schon immer einen Superhelden an seiner Seite. Allerdings lief dem gerade Ulli echt den Rang ab. Samson war hin und weg. Manchmal hatte er gehofft, das Thema CSD hätte sich inzwischen erledigt. Seine Wohnung würde er auch am liebsten auf den Sperrmüll werfen und für immer bei Ulli bleiben. Aber er spürte die Kraft in sich, dass er noch etwas erreichen wollte und nicht wie ein behinderter Mann zuhause sitzen, während sein Freund arbeiten ging.
»Morgen ist es so weit. Um 14.00 Uhr startet die Parade. Unser Wagen steht am Rathaus.«
»Unser Wagen?«
»Ja. Hast du geglaubt, wir gehen alleine dort hin? Wir schließen uns einer Gruppe an.«
Ulli lächelte vielversprechend und verschränkte die Arme vor der Brust wie Meister Propper.
»Welcher Gruppe?«
»Na, lass dich überraschen.« Er griff hinter das Sofa und holte die Maske hervor.
»Naja, die werde ich wohl nicht brauchen«, sagte Samson.
Ulli fummelte an der Maske und machte aus einer, zwei.
»Falsch! Wir werden beide eine tragen. Jetzt musst du mir nur noch einen Rollkragen leihen. Vielleicht den, den ich aus Versehen zu heiß gewaschen habe?«
Samson war sehr aufgeregt. Doch Ulli bedeckte ihn mit Küssen und bearbeitete ihn so lange mit seinem Mund, bis ihm die Sinne schwanden. Dann schliefen sie Arm in Arm dem nächsten Morgen entgegen.
Sie gönnten sich ein kräftiges Frühstück mit Rührei, Späßen und Leichtigkeit. Samson verschwendete keinen Gedanken daran, die liebevollen Bemühungen seines Helden mit Unsicherheit zu sabotieren.
Dann standen sie beide mit ihren Rollkragenpullovern und ihren Masken vor dem Spiegel. Dazu rückte Ulli noch zwei Regenbogen-Mützen heraus. Außer in der Statur, unterschieden sie sich nun nichtmehr. Samson hatte zwar keine Ahnung, worin der Sinn dieser Aktion lag, außer dass sie sich beide zur Zielscheibe machten, aber er hatte versprochen zu vertrauen und tief in seinem Herzen gab es keinen Hader. Da waren nur die Träume, Hand in Hand Eis essen zu gehen und in den Zoo und tanzen und eine Decke im Park auszubreiten.
Die Straßen waren schon gut gefüllt und alle Wagen waren geschmückt und postiert.
»Sieh nur! Da hinten!« Ulli sprintete wie ein kleiner Junge los und riss Samson hinter sich her.
Dessen Augen waren ganz verwirrt von den vielen Menschen, dass er erst in letzter Sekunde realisierte, dass der Taekwondo-Wagen voller Bären mit Regenbogenmützen und Rollkragen war. Jeder Dritte war ebenso eine Kante wie er. Die anderen strotzten auch nur so von Kraft und Entschlossenheit. Ein großes Banner versprach: »Deutschlands Taekwondo-Meister gegen Homophobie!« Ulli sah, wie unter der Maske seines Geliebten am Kinn Tränen der Rührung herunter tropften.
»Ich liebe dich, Samson. Ich will mit dir leben. Aber geküsst wird später und getrunken nur durch Strohhalme! Und jetzt rauf mit uns auf den Wagen!«
Die Musik wurde lauter, der Zug startete. Sie tanzten und rieben ihre Körper vor all den Menschen aneinander. Alle Bären feierten mit ihnen. Aus dem kleinen Winkel der Maske erhaschte Samson eine alt bekannte Gestalt mit einer Horde, die hinter ihm im Schatten stand und erstarrte. Er wollte sich über Ulli werfen und »In Deckung!« brüllen, doch sammelte sich schnell. Mit all den Bären hinter ihm, brauchte er wirklich keine Sorge haben. Wie verabredet, gab er Ulli ein entspanntes Zeichen. Das Zeichen wurde wie stille Post weitergegeben und der Wagen wurde gestoppt. Alle zeigten mit dem Finger auf die schwarzen Gestalten. Dann löste sich eine größere Traube aus der marschierenden Menge und näherte sich der nervösen Gruppe, der nichts Besseres einfiel, als davonzulaufen.
»Was um Himmels Willen passiert denn jetzt? Krieg?«
»Nein Samson, mit Sanftmut besiegen wir die Zornigen. Entspann dich. Deine voluminöse Gruppe hat sich im letzten Jahr schon von ganz alleine ausgedünnt, wie ich erfahren habe. Die Liebe siegt immer. Merk dir das schon mal.«
Sie rissen sich die Masken vom Gesicht und küssten sich. Und alle um sie herum gröhlten und klatschten. Der Wagen fuhr wieder an. Irgendwie hatte das Jubeln der Menge ein bisschen was von einem Meeresrauschen, das sich über die gesamte Stadt legte. Über die Stadt, die immer noch Samson gehörte und die er sich nun zurückerobern wollte. Zusammen mit seinem kleinen Bären. Samson schäumte über vor Glück und diesem neuen Gefühl von Freiheit und Sicherheit. Als Ulli ihn so losgelöst erlebte, wusste er, dass sein wildes Tier bei ihm bleiben und irgendwann seine Rollkragen ablegen würde.
Texte: Hugo Ross
Bildmaterialien: Hugo Ross
Tag der Veröffentlichung: 30.06.2015
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