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EINLEITUNG

 Ich bin Hugo. Hugo Ross. 71er Baujahr. Ich fühle mich zu Mannsbildern und manchmal auch zu androgynen "non binarys" hingezogen, also zu Wesen, die sich in keine Schublade setzen wollen. Man könnte mich als schwul bezeichnen. Denn egal, welches Gender in meinem eigenen Dasein jeweils am Start ist, überwiegt bei mir meistens das Maskuline und das reizt mich sowohl körperlich als auch charakterlich an einem Gegenüber. Bin ich deswegen frauenfeindlich? Nein, das bin ich nicht. Im Gegenteil. Doch dazu an anderer Stelle mehr. Jedenfalls genieße ich es, meine Leidenschaft so zu beschreiben, als wäre sie das Normalste von der Welt. Nur in der Welt ist das mit der Akzeptanz wohl noch nicht so ganz in allen Ecken angekommen. Da ich nicht besonders pornografisch lebe, schreibe ich auch nicht pornografisch. Also eher "trocken", um nicht zu sagen "entsaftet". Um so besser, denn meist wird andersartige Erotik als die Hetero-Sexualität völlig übersext betrachtet, wenn sie verurteilt wird. Fetische übrigens auch. Wer trotzdem Lust auf gut geschriebene und auch mal feucht beküsste Gay-Romance hat, der möge sich in meinen Favoriten bei Bookrix umsehen und seine Vorurteile bei der Garderobenfrau abgeben. Die hat übrigens längst meinen Mantel des einschränkenden Egos versetzt. Ich habe es nie bereut, die Wertmarke verschluckt zu haben.

Ich erwähne das alles bloß, damit mir hier kein Leser blind in ein Wespenest rennt und womöglich noch allergisch auf Stiche reagiert und kollabiert. Ein leichtes Kribbeln sollte an der ein oder anderen Stelle keinen Grund zur Beunruhigung liefern. Dass in uns Menschen nicht immer gleich drin ist was drauf steht, sollte zumindest Beachtung finden. Ob also eine Frau sich als Mann fühlt und nur Schwule lieben kann oder ein Mann sich als Frau fühlt, wenn er eine Frau oder einen Mann oder einen Transgender liebt: Wenn juckt das? Ob ein Mensch sich weder zu dem einen, noch dem anderen Geschlecht dauerhaft bekennen kann oder sogar eine fließende Dynamik in sich aufspürt: Um so besser! Das muss doch einen Haken haben? Ja! Die Pronomen. Wer also weiterlesen möchte, der wird feststellen, dass ich um Emo Le Scope z.B. ständig einen Bogen machen muss, was Pronomen angeht. 


Wie ich zum Schreiben kam: Ich bin nach dem fünften Zusammenbruch aus meinem alten Beruf ausgestiegen und habe kaum noch das Haus verlassen. Ich war Kriminologe und meistens landeten die besonders bizarren Fälle auf meinem Tisch. Fetisch, SM, Transsexualität, Rotlicht-Milleu, schizophrene Doppelleben: All so was. Schrill und bunt. Doch dann, mit einem Mal, traf ich in meinen 2 Zimmern, Wohn-Küche, Diele, Bad, Balkon, auf mich selbst, in der dunkelgrauen Jogginghose. Klar, eigentlich brauchen wir alle im Jahre 2015 nur einen Internetzugang und ein wenig Fantasie, um jedes noch so bizarre Begehren zu füttern und am Leben zu halten. Der Gefahr, wegen meines eigenen Hüftschwungs schräg angeguckt oder sogar zusammengeschlagen zu werden, konnte ich jedenfalls ein paar Jahre aus dem Weg gehen. Was für ein Wermutstropfen! Wenn ich zwischendurch versuchsweise jemanden aus Fleisch und Blut an mich ran gelassen habe, konnte ich mich meist an nichts mehr erinnern, was dem ersten, zart schmelzenden Kuss folgte. "Sie dissoziieren!", hatte mein Psychiater gesagt. Mein gut bezahlter, faszinierender Job hatte mich offenbar traumatisiert. Auf der Schwelle zwischen einem wohl temperiertem, ruhigen Leben und dem Tor zur heißen Hölle standen meine Filzpantoffeln. Ich hatte gar keine andere Wahl, als alles auf "null" zu setzen. Das Gelbe vom Ei war das folgende Jahr definitiv nicht. Zuviel Input, zu wenig Output. Zum aktiven Ausgleich hab ich dann in der persönlich gestalteten Knast-Zelle meines Lebens angefangen, Gay-Romance zu schreiben und mich mit zwei ersten Kurzgeschichten völlig übereilt an eine kleinere Öffentlichkeit gewagt. Unter Pseudonym. Sicher war sicher. Aber in der einen war ich mir zu lasch, in der anderen zu "pornös". Konnte einfach meinen Flow nicht sofort finden. Aufgeben? Kam nicht in Frage! Ich hab also zur Abwechslung noch mal scharf nachgedacht und festgestellt, dass ich wohl der Tatsache gerecht werden musste, dass mir in meinem Leben zu viele Gender-Fluids begegnet sind. 


Die größte Liebe ist die, die sich nie erfüllt. Die zarteste Berührung, die angedeutete. Damit bin ich übrigens gut bedient. Von meiner größten unerfüllten Liebe werde ich den Leser nicht verschonen können. Er ist längst ein Teil von mir. Darum widme ich diese Aufzeichnungen Mic.

1.) EMO UND DER MALER

Ich hatte mein neues Schreibkonzept noch nicht bis in alle Einzelheiten durchdacht, als sich eine Unbekannte bei mir meldete. Und obwohl ich mir nur den Kopf darüber zerbrechen sollte, wie ich dem Motto des nächsten Schreib-Wettbewerbs gerecht werden könnte, wollte ich mehr über das merkwürdiges Anliegen wissen, das sich hinter der Nachricht verbarg, die mich über meine Facebook-Seite erreichte:

Sehr geehrter Herr Ross,

ich bin auf der dringenden Suche nach einem Ghostwriter, der Feingefühl für Gender-Themen aufbringt und einen ausgeprägten Sinn für Surreales hat. Dazu kommt, dass ich Sie unerhört attraktiv finde, aber davon ausgehen kann, dass Sie schwul sind. Beste Voraussetzungen. Denn das Projekt, das ich mit mir rumtrage, ist keine leicht verdauliche Kost. Mich damit einem möglichen Ghostwriter zu öffnen, stellt eine höchst prekäre Angelegenheit für mich dar. Dadurch, dass Sie noch dazu sexuell aufgeschlossen auf mich wirken, bringen Sie sicher auch Verständnis dafür auf, dass ich mich von körperlichen Vereinigungen grundsätzlich distanziere. Sie haben ja keine Ahnung, wie schwer es heutzutage sogar asexuelle Menschen haben. Ich würde mich über ein Feedback freuen.

Mit freundlichem Gruß
Frau Stone 
(weiter möchte ich meinen Namen übrigens nicht preisgeben) 

 

Ich war wirklich neugierig geworden, hatte aber keinen Bock auf Missverständnisse. Diese Frau Stone schaffte gleich klare Verhältnisse. Das gefiel mir. Ich musste mich oft genug gegen Frauen wehren, die mich für das hielten, für das sie mich gerne halten wollten, ich aber nicht war. Und den Spruch "Freundlichkeit wird mit flirten verwechselt" hat doch jeder schon mal am eigenen Leibe erlebt. Kurzum, ich lud diese Frau zu mir, in mein Eremiten-Refugium, ein. Zwei Wochen später machte ich ihr und ihrer telefonisch in letzter Minute angekündigten Begleitung zum ersten Mal meine Wohnungstüre auf. Frau Stone erinnerte mich auf den ersten Blick an eine geschrumpfte Misch-Version aus Anni Lennox und der Roxette-Sängerin Marie Fredriksson. Stolz, natürlich, herzlich und kühl zugleich. Ihre Begleitung war ein insgesamt etwas schwieriger einzuschätzendes Wesen und zurechtgemacht, als wenn er?, sie?, es? gerade vom German-Fetisch-Ball käme. Die Latex-Maske über dem Gesicht irritierte mich schon etwas. Es war doch erst Mittag. Und ich war immerhin auf dem besten Wege, ein Spießer zu werden. Frau Stone stellte mir ihre maskierte Begleitung so vor:

"Das hier ist mein Trauma, Emo Le Scope. Sie dürfen Emo oder LeScope zu ihm sagen, Personalpronomen Neutrum bitte, solange dafür nichts anderes im Wörterbuch steht. Aber "x" geht auch."

"Einfach nur "x" stört aber gewaltig den Lesefluss, das können wir uns gleich aus dem Kopf schlagen!", hab ich da sofort fachlich versiert klar gestellt. Worüber ich mir im weiteren Verlauf allerdings auch nicht mehr so sicher war. Gewollt oder ungewollt: mein Eremiten-Dasein hatte erstmal ein Ende. Die beiden schrägen Vögel flogen nach zwei Wochen bereits bei mir ein und aus und zwitscherten mir wahnwitziges Zeugs zu. Aber ich trug zumindest wieder Turnschuhe in der Wohnung.

"Ob´s mir gut geht? Ihr platzt hier rein in mein Leben, in meine Wohnung, sitzt auf meinem Sofa, esst von meinen Tellerchen, trinkt aus meinen Becherchen, pinkelt vermutlich im Stehen oder meinetwegen im Sitzen in mein Klo und wollt, dass ich euch helfe. Und das mach ich ja auch. Ich muss aber auch diesen Text irgendwie fertig stellen, damit ich am nächsten "Gay Kiss"-Wettbewerb teilnehmen kann."

Ich wurschtelte mir erstmal durch die Haare und lief im Wohn-Zimmer auf und ab, weil ich das immer mache, wenn ich in Rage gerate. Egal, ob ich alleine bin oder komischen Besuch habe. LeScope kochte uns derweil italienischen Espresso auf, kannte sich ja bereits bestens in meiner Küchenzeile aus. Ohne sich umzudrehen, murmelte "x" in das Zischen der Gasflamme: 


"Reg dich ab, Hugo. Wie ist denn das Motto?"

"Die Vorgabe lautet: Ich habe kein Privatleben und daher alle Zeit der Welt, dir deins zur Hölle zu machen ... und jetzt halt die Klappe!"

"Hmmm ... Das ist das Motto? Na, dann nimm doch meine Erfahrung mit dem Promi-Künstler für diesen Wettbewerb. Der hatte ja auch kein Privatleben. Das war doch unsere erste Aufzeichnung. Erinnere Dich! Als du wissen wolltest, seit wann ich mit Stone zu tun habe." 


"Ja klar!", rief ich aus. "Der etwas ältere Künstler, den du quasi "umgekrempelt" hast. Ich hab sogar schon die Aufnahme runter getippt. Wartet mal." 

Ich setzte mich an meinen Schreibtisch und suchte im Laptop nach dem Dokument. 

"Da ist es ja! Soll ich es mal vorlesen?" 

Ich schaute Frau Stone — die ich mittlerweile einfach nur Stone nennen durfte — suchend in die bernsteinfarbenen Augen. Sie hatte doch mehr was von Sigourney Weaver mit halber Glatze und der schwedischen Sängerin Robyn. Diese visuelle Metamorphose schüttelte aber vehement den Kopf. Als wenn sie darin die Kugeln der Lottozahlen aufmischen wollte.

"Jetzt nicht Hugo, bitte."
"Emo, du?"
"Nein, ich hab´s dir ja erst vorletzte Woche aufs Band gelabert. Liest du eben nur für dich."

LeScope sprang mit Anlauf zu Stone auf das Sofa und stülpte ihr die knallrot gelackten Kopfhörer über den Kopf. Dann zog sie nochmal das linke Ohr ein Stück frei und grölte in diesen akustischen Zwischenraum:

"Mein neuer Track, gestern fertig geworden, noch nicht gemastert, Synthesizer noch zu schrill! Aber hör mal! Ich sing von dir und dieser unerfüllten Liebe deines Lebens."

"Die ist nicht unerfüllt! Das versteht nur keiner ... ", maulte Stone zurück.
 
Ich hab wohl etwas erstaunt zu den beiden rüber gegafft. Sie guckten mich an, als hätte ich sie beim popeln erwischt. Erinnerte mich kurz an Autofahrer, die sich so benehmen, als wären ihre Scheiben auch vorne getönt.


Also wandte ich mich schnell dem geöffneten Text zu, der mir sowohl beim ersten Zuhören, als auch bei der Niederschrift einige Rätsel aufgegeben hatte. Irgendwas an diesem Gummi-Tier ließ sich von mir nur bis zu einem gewissen Punkt logisch verabeiten. Mich wunderte auch, dass Stone immer die Kopfhörer aufgesetzt bekam, wenn LeScope mir aus der Vergangenheit berichtete. Sie mussten Abmachungen untereinander haben. All das Grübeln half mir nichts. Ich brauchte die Geschichte in erster Linie für den Wettbewerb und ich kam wohl nicht drum herum, das Emo in diesem Gespann zu analysieren. In der Hinsicht hatte der Text einen hohen psychologischen Nährwert.


<< 1. Mai 2015: Aufzeichnung / Erzählung von Emo Le Scope, dem Trauma von Frau Stone:

 

Also, als ich das erste Mal für Frau Stone aktiv wurde, war das ... ich muss überlegen ... ja, ich glaube mein Einsatz begann bei dem großen Maler. Eigentlich hatte er kein Privatleben, der Künstler Leander. Nachname ist ja nicht wichtig, oder? Ähnlichkeiten rein zufällig und so, stimmst? Der tat mir jedenfalls ein wenig leid, neben der Faszination, die er auf mich ausübte. Er hat mehr die Erwartungen erfüllt, die andere von ihm hatten. Irgendwie kam er mir vor, als hätte er seine Seele an die Kunst, die Medien und an diese verdammte Modestadt verkauft. Weil er da zum Kunst-Promi wurde, nachdem sich seine Werke sogar weltweit verkauften. Ach ja, das liebe Geld, der Ruhm. Verlieh ihm ja auch Macht. Und ein Macho war der schon. Das war wohl ein Sog.

 

Ihm eilte der Ruf eines Exzentrikers voraus, der sich mit den schönsten Huren der Stadt umgab. Bis er der Gesellschaft zu alt dafür wurde und seine PR Beraterin meinte, es wäre besser, die schwangere Nutte zu heiraten. Die ersten Jahre waren dann wohl O.K. und er erkannte sogar etwas Warmes an ihr. Sie war auch keine schlechte Mutter für den gemeinsamen Sohn. Irgendwann wusste sie mit seinem Geld aber nichts weiter anzufangen, als von Taschen- und Schuhkäufen auf kleinere Schönheits-OP´s und Botox-Sessions umzusteigen. So nahm sie wohl immer mehr die Optik eines zur Frau modellierten Mannes an. Trotzdem lief zwischen den Beiden nicht viel mehr, als der Austausch von Kohle. Sie saugte an seinen finanziellen Möglichkeiten, wie an der frischen Mango-Scheibe, in die ihre Haushälterin jeden Morgen ein "umstülpbares" Karomuster schneiden sollte. Da sie damit sehr glücklich war und Leander ihr nichts weiter zu bieten hatte, war also im Grunde alles in Ordnung zwischen ihm und ... ach, wie hieß die noch, seine Frau? Ist ja auch egal. Vor der Presse wurde sie jedenfalls als Designerin verkauft. Er hat mir später erzählt, sie brabbelte ihm jeden Morgen ihren Shopping- und Kosmetik-Terminkalender vor. Der arme Kerl hat dann immer versucht, an den langen Mangofäden zwischen ihren Zähnen vorbei zu gucken. Vom Timing her interessierten ihn eher die Lücken, wo sie ihm nicht in die Quere kommen würde. Er hatte sich nämlich in seinem fremd bestimmten Leben ein Geheimnis bewahren können. Es war sein kleines, süßes Relikt aus vergangenen Tagen. Und das stand eng mit mir in Verbindung.

 

Ich begegnete Leander in der Zeit davor, als er noch solo war und die leichten Mädels in Scharen um sich versammelte. Eigentlich betrachtete er immer nur ihr Spiel. `Der geile, alte Bock´, für den ihn später bloß niemand halten sollte, war er im Grunde auch nie gewesen. Er hatte nur nicht den Mut, sich einzugestehen, dass ihm das alles gar keine Erfüllung brachte. Irgendwann trudelte ich also über meine Escort-Agentur bei ihm ein. Eine Kollegin hatte damals einen Engpass und ich bin eingesprungen. Ja, so war´s. So klein und so androgyn, dass ich unmöglich als reine Frau zu bestimmen war, habe ich wohl sehr außergewöhnlich auf ihn gewirkt, inmitten dieser "gepimpten" Weiber. Aber als Frau war ich gebucht und als Frau stellte ich mich auch vor. Der Mann interessierte mich als Person sofort weit mehr, als dass ich für die Nachtpauschale nur eine eine gute Show hinlegen wollte. Also konnte ich es mir nicht verkneifen, mal wieder meiner Intuition zu folgen. Ich bin mit den anderen Mädels ein bisschen wie ein Kerl umgegangen und beobachtete dabei seine Art, uns zu beobachten. Ich glaube, ihm schwante an diesem ersten gemeinsamen Abend, dass es da eine Energie gab, die seine Lust wirklich aus der Reserve lockte. Eine Lust, die so fein und so zart war, dass er fast kichern musste. Und dann kicherte er. Und ich blickte ihn in diesem Moment in die wachen Augen und kicherte auch. Eine freundschaftliche und zugleich geheimnisvolle Verbundenheit erwachte. In seinem verschmitzten Grinsen lag bald die Gewissheit, dass jahrezehntelang bei ihm was völlig falsch gelaufen war. Und ich hatte richtig Bock ihm zu zeigen, wonach er sich wirklich sehnte. Ich wollte, dass es "Klick" macht. Er bestellte mich dann jede Woche zu seinen "Musen-Orgien". Bald ließ er mir sogar freie Hand, die komplette Regie der Abende zu führen.

 

Als ich anfing, ihn mit Kleinigkeiten — wie einem Lippenstift und einer Federboa — zu feminisieren und ihn vor den Huren ein ganz klein wenig der Lächerlichkeit preiszugeben, konnte er sich trotz des inneren Widerstands nicht wehren. Seine Neugier auf dieses angekitzelte Gefühl war einfach zu groß. Er sollte sich aber nicht direkt wie eine Frau fühlen. Ich wollte ihm in seiner Position als chauvinistischer Voyeur nur mal eine andere Sichtweise ermöglichen. Wollte ihm vor Augen halten, dass diese Frauen-Schauspiele in seinem stylishen — und überwiegend rosa eingefärbten — Schlafzimmer möglicherweise fehl am Platze waren. Dass er sich sein Feingefühl mit diesem Überangebot an stellenweise schon monströs weiblichen Attributen versaute. Offenbar hatte ich da ins Schwarze getroffen.

 

Er schlug mir vor, das nächste Mal alleine oder mit maximal einer Person zu erscheinen. Darüber war ich kaum überrascht und versicherte, dass ich mich schon um alles kümmern würde. Seine Tage bis zum nächsten Treffen wurden von nervös prickelnder Vorfreude begleitet, gestand er mir später. Als ob ich das nicht wußte! Er erinnerte sich auch noch gut an den Moment, als er dann endlich das Klopfen an seiner Schlafzimmertüre hörte und ich mit streng zurück gekämmten Haaren, hochgezogenen Kniestrümpfen, einem hellblauen Hemd mit Krawatte und in einer gemusterten Herrenunterhose, den Raum betrat. An der Hand hielt ich eine asiatische junge Frau mit fester Zahnspange, die genau wie ich zurechtgemacht war. Ich beschallte den Raum mit sphärischer Electro-Musik und lieferte ihm mit meinem "Asiaboy" eine Show, die ihn vergessen lassen sollte, dass es sich bei den kunstvollen Akteuren um zwei Frauen handeln könnte. Und siehe da, endlich bewegte sich was unter seinem Bademantel. Das war das erste Mal, dass ich eine Regung bei ihm sah. Keine Ahnung wie viel tausend Euros er für Prostituierte auf den Kopf gehauen hatte, die ihm mit ihren sündhaft teuren Spitzen-Dessous und Kunstmöpsen doch nur ein müdes "ja, weiter so" beim Zuschauen entlockt hatten. Und jetzt, mit ein paar billigen Artikeln aus der Herren-Abteilung von C&A, bei der angedeuteten Vorstellung, dass Männlichkeit sich an Männlichkeit erfreut, erwachte die Sinnlichkeit, nach der er sich die ganze Zeit blind verzehrt hatte. Er behielt seine Gedanken noch für sich und bedankte sich aufrichtig, als die Show vorbei war. Den nächsten Morgen hatte er auch nie vergessen, als er mit der gleichen, großen Sinnlichkeit erwachte, mit der er eingeschlafen war. Mit diesem tiefen, erleichtertem Atem und einem Schmunzeln im Gesicht.

 

Wir waren irgendwie Seelenverwandte. Ich fühlte mich wie sein beauftragter Erotik-Engel, der ihn sanft aber bestimmt darauf stoßen sollte, dass er frei war wie ein Vogel und sich hingezogen fühlen konnte, wo immer er sich hingezogen fühlte. Aber ich sah auch seine Angst. Er fragte sich, wie es weitergehen sollte. Huren als Musen zu buchen, war ihm offenbar in der Zwischenzeit zuwidergelaufen. Vielleicht auch, weil er wusste, dass ich keine mehr bei ihm sehen wollte. Dadurch machte sich allerdings eine unausgesprochene Abhängigkeit und Hilflosigkeit mir gegenüber breit. Was ihm gar nicht passte. Erst recht nicht, bei Tageslicht betrachtet. Was hatte ich als Nächstes vor? Er zögerte, mir weiter freie Hand zu lassen. Das habe ich gemerkt. Darum setzte er zwei Wochen aus, flog erst geschäftlich nach Mexiko und dann auf eine Kanarische Insel. Bei unserem späteren Treffen, lange Jahre, nachdem das alles geschehen war, gestand er mir, dass er mit jedem Sonnenaufgang der Einzige am Strand war und im spiegelglatten Meer die kleinen, silbernen Fische begrüßt hat. Er brauchte Zeit zum Nachdenken. Die alten Muster hatten ja auch so was Vertrautes, dass er von ihnen nur ungern ablassen wollte. Er überlegte, dass es das Beste sein würde, wenn er die Erfahrungen mit mir als Ausnahme betrachte und mich gar nicht mehr buchte. Je mehr er darüber nachdachte, desto mehr Angst kam in ihm auf. Bis er schließlich einen Rückzieher machen wollte. Nachdem er den Fischen zum sechsten Male "Guten Morgen" gewünscht hatte, fiel ihm noch dazu auf, dass er in der ganzen Woche nur auf Typen geachtet hatte. Auf den durchtrainierten, lustigen Liftboy, den untersetzten Chefkoch mit dem breiten Lachen, auf den eleganten Rezeptionisten und die Alleinreisenden im Speisesaal. Es gab gar kein Zurück! Er spürte Wut in sich aufkommen. Wut auf mich: Dieses androgyne Wesen, das die Frechheit besessen hatte, mehr als eine gebuchte Künstlerin zu sein. Mit der Unverfrorenheit, ihm die Lippen anzumalen und ihm dann den Kosmetikspiegel vor das Gesicht zu halten. Das war mehr als ein Kosmetikspiegel. Das war der Spiegel seines Daseins, in dem er sich so sah, wie er niemals sein durfte. Und um den Spiegel herum tat sich damit eine Hölle auf, die gar nicht mehr zu ihm gehörte und die ihn nicht glücklich machte. In der Hoffnung, sich sein Kartenhaus mit gezinkten Damen wieder aufbauen zu können, hatte er seine Badetasche geschnappt und war schnurstracks auf sein Zimmer geeilt, um in Deutschland meine vermittelnde Agentur anzurufen. Er wollte sich über mich beschweren und verfügen, dass ich nie wieder zu ihm kommen sollte, weil er sonst echt mal stinksauer wäre. Es piepte in der Leitung und mit jedem Piep spürte er, wie sich ihm die Eingeweide zusammenzogen. "Hallo, ich bin es, der Künstler ... könnten Sie bitte Emo Le Scope kommenden Samstag zu mir schicken?" Als er mir das Jahre später beichtete, drückte er seine eigenen nachgeahmten Worte gebrochen aus sich raus und er meinte noch, sein Herzschlag hätte sich heftig beschleunigt, als er aufgelegt hatte. Er wusste genau, dass ich meine Mission nun weiterverfolgen würde. Er ahnte, dass ich bereits etwas arrangiert hatte, das alles für immer verändern sollte.

 

 

Als es so weit war, wird er sich wie immer in seinem Whirlpool entspannt haben. Bevor er es sich, im Bademantel mit Pyjama drunter, in seinem Bett gemütlich gemacht hatte. Ich klingelte gegen 20.00 Uhr und er drückte auf. Er hatte Vertrauen zu mir, dem "bizarren Boten des Neulands" und brauchte sich nicht die Mühe machen, zur Türe zu laufen. Ich kannte den Weg. Da ich nicht alleine war, besprach ich noch ein paar Dinge mit meiner Begleitung im Gästezimmer. Leander musste sich also ganz schön gedulden, bis ich endlich im Türrahmen stand. Sachlichschwarz gekleidet und wie immer mit einem zuckersüßem Lächeln im Gesicht. Das hatte ich drauf. Ich spürte, dass meine Augen durch den Schalk in meinem Nacken blitzten, als ich langsam auf ihn zuging und mich zu seinem Ohr herunter beugte. "Ich habe dir jemanden mitgebracht, Leander", flüsterte ich. Zeitgleich machten sich schwere Stöckelschuh-Geräusche bemerkbar, die sich ohne jede Hast der Türe näherten. Hochgewachsen, drahtig, schmales Gesicht, feine, dezent schimmernde Lippen, naturblondes, in Wellen zurückgelegtes Haar und große aber sehr gepflegte Hände, die den Kragen eines pelzigen Mantels über der flachen Brust zusammenhielten: Der große Künstler schien bei diesem Anblick zu schmelzen und starrte geistesabwesend von den langen Beinen, hoch in die smaragdgrünen Augen unter schwarzen Wimpern. "Darf ich vorstellen: "Cherine". Ich rückte ein Stück zur Seite und zog meine Begleitung zu mir. So saßen wir beide auf seiner Bettkante. Ich glaube, keine von uns wollte Leander runterschubsen. Und doch verblasste ich in diesem Moment und spürte einen Stich in meinem Herzen.

 

Die Szene war so anders, als ich sie mir ausgemalt hatte. Sie hatte etwas so intimes und unbedarftes, dass mir unweigerlich klar wurde, wie viel ich wirklich für Leander empfand. Dass es nicht nur eine Mission war. Nicht nur ein gottverdammter Job. Doch ich hatte ihm nichts anzubieten, das in seine Sehnsucht passte. Ich war nur ein Schatten meiner selbst, eine Vertraute vielleicht. Aber nur für gewisse Stunden. Mich machte das mit einem Mal ganz schön traurig. Null Ahnung, wie lange dieser Moment eingefroren war und ich mich in mir selbst verloren oder besser gesagt, gefunden hatte. Doch ich war ja professionell und hatte gelernt, meinen Rahmen einzuhalten. So füllte ich unsere Gläser auf und plauderte in einer Fantasie-Geschichte, wo meine Freundin Cherine herkam und dass sie auf der Durchreise war und ich gedacht hätte, es wäre doch schöner für sie hier zu sein, als alleine im Hotel zu sitzen, ... jetzt, wo sie schonmal in der Stadt war und man sich ja auch so selten sah ... Der Künstler hörte mir wohl noch zu, doch alles was er sah, war das charmante Lächeln von diesem Mann in Frauenkleidern und dessen amüsiert bestätigendes Nicken zu meinen Ausführungen. Manchmal lachte Cherine kurz auf und brachte mit ihrer sonoren Stimme die Matratze zum vibrieren. Leander schien aufzufallen, dass sich an ihrem Haaransatz Schweißperlen bildeten. Er fragte, ob sie nicht ihren Mantel ablegen wolle. Dabei lächelte er etwas unbeholfen und nur ganz kurz zu mir herüber. Ihm wurde wohl — genau wie mir — bewusst, dass diese Situation auf ihre Art sehr authentisch war. Mit echten Menschen, deren Geschlecht wie im Hitzeflimmern vor den Augen der Betrachter verschwamm. Es wäre eigentlich gar nicht nötig gewesen, zu irgendeiner Aktion überzugehen. Aber ich nahm wieder Leanders Lust in den Fokus, weil wir dafür ja auch bezahlt wurden und verdammt noch mal nicht zum eigenen Vergnügen hier waren. Er wurde nervös. Vielleicht weil ich nervös geworden war? Oder weil er die kräftigen Schultern von Cherine sah, als der Mantel zu Boden glitt? Wegen der Laufmasche, die er an ihrer Strumpfhose entdeckte? Es ging um viel weniger als Begierde und reine Fleischeslust. Gerade deshalb brannte die Luft. Ich weiß nicht, wie ich es beschreiben soll. Ultrafeine Sinnlichkeit? Irgendetwas erhob sich über uns und wickelte uns ein, alle zusammen und jeden für sich. Als sich wohlige Behaglichkeit über schaurige Nervosität gelegt hatte, war das mein Zeichen. Meine nächste Handlung würde alles verändern und mich noch weiter verblassen lassen. Das war meine Aufgabe. Es fiel mir nur so unendlich schwer. Trotzdem dirigierte ich diesen einen Moment, in dem der Künstler etwas in seinem Mund aufnehmen sollte, was er dort zuvor weder gefühlt, noch geschmeckt hatte. Seine Sinne schwanden. Und Cherine spielte uns nichts vor. Ihr schien diese unschuldige Annäherung gut zu tun. Ich stand daneben. Neben allem irgendwie und neben mir sowieso. Ja, ich kam mir eigenartig überflüssig vor. Wir verließen Leander dann abrupt, auf meine recht ungehaltene Anweisung hin, gleich nach diesem einschneidenden Höhepunkt des Abends. Auch wenn es mir schwerfiel, Leander in seinem paralysierten Zustand alleine zu lassen. Mir jedenfalls, wuchs da was gewaltig über den Kopf und ich hatte auch schon einige Anrufe von Frau Stone auf dem Handy. Mich quälte das bekannte Gefühl, mir meine eigene, liebevoll hergerichtete Sandburg eingetreten zu haben.

 

Ungewöhnlich war für Leander, dass ich mich am nächsten Vormittag gegen 11.00 Uhr an der Gegensprechanlage meldete. Er war bereits in seiner Malerkluft und etwas genervt. "Ich wollte wissen, wie es dir geht und mich verabschieden" "Warum?", fragte er. "Weil ich gestern zu weit gegangen bin. Ich hätte dir das nicht zumuten sollen. Ich habe etwas in deinen Augen gesehen. Da ist eine tiefe, bizarre Welt. Die kann ich auf Dauer nicht bedienen. Meine Zeit hier ist damit wohl abgelaufen", hab ich gestammelt. Ich hatte eine große Sonnenbrille an. Ich glaube er hat gesehen, dass an der Schläfe meine Haut bläulich geschimmert hat. Aber da er mich noch nie bei Tageslicht gesehen hatte, hat er das sicher für nichts Unnormales gehalten. Er nahm mir das verpackte Stück Kuchen aus den Händen, das ich ihm vor die Brust hielt. Keine Ahnung, warum ich ihm Erdbeerkuchen mitgebracht hatte. "Leb wohl!", hab ich noch gesagt. Dann bin ich davon gerannt. Frau Stone hat im Auto auf mich gewartet.

 

Das war hart für ihn, wie er später erzählte. Er konnte nichts mehr sagen und wollte mir auch nichts hinterher schreien. Der Lieferant seiner geheimsten Wünsche war einfach abgedackelt. So hatte ihn noch keiner vor die Wand gefahren. Irgendwie hat er wohl geglaubt, dass ich mich für immer um seine intimsten Belange kümmern würde. Ich hatte doch auch sehr gut verdient. Zum ersten Mal hatte er sich dann gefragt, ob ich mich in ihn verliebt haben könnte. Für einen kurzen Moment kam es ihm tatsächlich so vor. Ich hatte ihm einmal erzählt, dass ich auch malte und Musik machte. Künstler sind schon oft sehr schräg und leidensfähig. Und er hat im Erwachen seiner Begierde für das gleiche Geschlecht, immer nur einen neutralen Erfüllungsgehilfen in dem scheinbar doch sehr zartfühlenden Wesen gesehen. Jetzt war er also auf sich gestellt. Das waren so seine letzten Gedanken in meine Richtung, bevor er mich verdrängte. Für mich war die erste Zeit auch heftig. Ich habe eine Woche kein Wort mit Frau Stone gesprochen. Sie war es ja, die mich mit so Verliebtheits-Ideen nervös gemacht hatte. Sie wusste ganz genau, was passiert, wenn ich meinen Willen nicht bekomme ... egal. Das Ding war gelaufen.

 

Die nächsten Wochen verfiel Leander dann trotz seiner zahlreichen Ausstellungen und einem Auftritt in einer Talk-Show in eine anhaltend wehmütige Verfassung. Ich hatte echt alles in Unordnung gebracht und mich dann aus dem Staub gemacht. Seine alten Gewohnheiten wollte er nicht wieder aufnehmen. Er erkundigte sich zwar nach der Möglichkeit Callboys oder Transsexuelle zu sich zu bestellen, doch alles was er schon am Telefon hörte klang so unpersönlich und fremd. Dazu fiel ihm immer nur der Schweiß auf Cherines Stirn ein und die Frage, ob der Mann mit der Laufmasche wirklich Genuss empfunden hatte, als ihm ein in die Jahre gekommener Künstler so nah gekommen war. Gekaufte Liebe konnte einfach keine Lösung mehr sein. Doch wie sollte eine Person des öffentlichen Lebens an einen Mann kommen, der den Ruf eines Weiberhelden hatte? Den Gedanken konnte er gar nicht weiter denken.

 

Nach drei Monaten gab er auf und kehrte zurück in alte Konstrukte. Eine von den Edelhuren, die das genaue Gegenteil von mir war, nämlich groß, blond, mit einer üppigen Oberweite, naja, eine Tusse eben, bestellte er dann auch öfter zu sich und versuchte mit ihr eine Vertrauensbasis zu schaffen. Ich hab später auch zu ihm gesagt: "Was hast du dir dabei nur gedacht?" Aber er wusste es nicht. Er wusste nur, diese Basis reichte zwar nicht aus, ihr seine wirklichen Wünsche mitzuteilen, aber um nach einer Weile aus der Erregung an die Erinnerung mit ihr zu schlafen und in weiteren Erinnerungen danach zu suchen, was er sich wirklich von seinem restlichen Leben versprach. Und wenn diese Frau keine Zeit hatte, umgab er sich auch in der Öffentlichkeit wieder mit 3-4 Huren, um seinem gewohnten Ruf damit gerecht zu werden. Glaubte er. Seine PR-Beraterin belehrte ihn eines Nachmittags eines Besseren. Sagte ihm, dass man ihn mit seinen 55 für eine geilen, alten Bock halten würde. Dass schon getuschelt würde und Paparazzi nicht lange auf sich warten ließen. Und noch am selben Abend wurde ihm von seiner Stammhure eröffnet, dass er Vater würde. Am darauf folgenden Tag wurde zusammen mit der PR Beraterin beschlossen, dass geheiratet wird. Damit war das Drama perfekt und das gekaufte, dürftige Privatleben wurde zu einem Zwangs-Privatleben ohne Hinterausgang. Als er mir das alles Jahre später erzählte, hab ich mich schon gefragt, ob es nur die Sehnsucht nach meiner "Anleitung zum Glücklichsein" war, die ihm fehlte, oder ob er auch an mir gehangen hatte. Ob er mich vermisst hatte. Ich habe ihn das aber nicht gefragt.

 

Jedenfalls war Leander erst mal weitere 5 Jahre damit beschäftigt, sich an diese neue Rolle zu gewöhnen und von Abenteuern zu verabschieden, bis er sich langsam berappelte. Er wollte etwas daran ändern, kein selbstbestimmtes Privatleben mehr zu haben. Wenn er nicht malte, fühlte er sich abgestorben. Künstlerisch hatte er eine gigantische Phase, die seinen Wunsch nach Befreiung deutlich spiegelte. Er malte zunehmend figürlich und man erkannte oft zwei bis drei Gesichter, Geschlechter und Welten in atemberaubenden Farben und mit heftigen, ineinandergreifenden Kontrasten. Natürlich hab ich seinen Werdegang die ganzen Jahre still verfolgt. Und auch wenn die Liebe zu seinem Sohn vieles aufgefangen hat: Seine damals erwachte Sehnsucht, das Mitgefühl für eine Laufmasche in den Nylons eines Mannes, der sich für ihn schön gemacht hatte, blieb. Genauso, wie der Geschmack eines einzigen Kusses auf seinen Lippen und das sonore, versteckte Keuchen in seinem Gehör. Das zarte, leicht verlegene Lächeln. Ach, es war der schönste Moment in seiner Erinnerung, der nach all den Jahren mit einem leise wimmernden Schmerz behaftet war, dass er ihn sich nur selten vergegenwärtigte, weil er dann sofort Tränen der Rührung nahe war. Als er mir das erzählte, haben wir übrigens beide Pipi in den Augen gehabt. Und das, obwohl wir bekennend "nicht sentimental" waren. Tja, wie ging es weiter?

 

Sein Fahrer und auch so eine Art Leibwächter war eine richtige "Kante". Leander dachte einmal, als er auf dessen Stiernacken blickte: "Wenn der wüßte ... niemals dürfte er das erfahren ... wobei? ... war er nicht eigentlich sein engster Vertrauter? Kannte er nicht jeden Schritt, den er machte und überwachte er nicht auch jeden seiner Frau, die mittlerweile zur menschlichen Elster mutiert war?" 

"Sag mal...", hat er ihn dann während einer Fahrt zu einer Austellungseröffnung gefragt, 
"wo gehen eigentlich so Schwule aus?" 

Relativ unbeeindruckt richtete sein Fahrer den Spiegel in Blickkontakt und antwortete: 
"So Schwule? Na, ins Glamour!"

"Aha?"

"Jawoll. Da sind zumindest nicht nur Jüngelchen."

"Verstehe."

"Und die Musik ist gut."

Leonard sagte, er war etwas verblüfft über die selbstverständliche Antwort, und dass er sich vorgenommen hatte, an der Stelle des Gesprächs nochmal anzusetzen. Auf dem Rückweg, am Besten.

 

Der Fahrer, der hieß Johnny. Geiler Name oder? Jedenfalls bedauerte der glaub ich das einsame Dasein seines Brötchengebers schon länger. Er wusste damals auch, dass diese ganze Huren-Nummer hohl und schal war. Möchte gar nicht wissen, was er von der Konsum-Braut hielt. Aber er war absolut loyal. Mich hat er auch oft gefahren damals und wir waren diskret ins Gespräch gekommen. Wenn Johnny also Leander nicht den richtigen Club empfohlen und noch weiter beraten hätte, wie er sich da so am besten anstellen würde, wären wir uns wohl kaum wieder begegnet. Ich war aus dieser käuflichen Erotik-Branche nach mehreren Versuchen endlich ausgestiegen, hab angefangen Musik zu machen und vor ausgewähltem Publikum aufzulegen. Ich traute meinen Augen in jener Nacht kaum, als ich Leander etwas hilflos an der Bar stehen sah. Fünf Jahre waren vergangen! Klar, stach er mit fast Ende 60 vom Alter her aus der Menge heraus. Aber er sah richtig attraktiv und vorallem interessant aus. Hatte sich ganz schwarz gekleidet. Ein schlichter Anzug. Gute Wahl. Er sah mich nicht. Keine Ahnung, ob er überhaupt etwas sah, außer den Cocktailmixer, der sich bemühte, seinen unbeholfenen Gast bei Laune zu halten. Mein DJ-Set sollte noch eine weitere Stunde andauern. Ich war froh, dass Leander diese Stunde durchgehalten hatte. Zugegeben, ich hatte ihm meinen Kollegen auf den Hals gehetzt. Die beiden unterhielten sich prächtig, bis er mich an den Turntables ablösen musste. Mir blieben zehn Minuten bis zur Bar und der möglichen Entscheidung von Leander, unverrichteter Dinge den Club zu verlassen. Sein Glas war aber noch voll. Dann stand ich neben ihm. Er war perplex. Aber ich fiel ihm einfach um den Hals. Und dann hat er mir das alles erzählt. So, jetzt sind wir wieder bei den Mangofäden in den Zähnen seiner Frau. Hugo, können wir ein andermal weitermachen? Ich bin für heute echt durch.<< ENDE DER AUFZEICHNUNG

 

Ende der Aufzeichnungen? Ich klappte mein Laptop zu, atmete erstmal durch und schaute, was in meiner Wohnung sonst noch so los war. Stone hörte immer noch Musik und ihr "Trauma" war inzwischen eingeschlafen. Welche Rolle spielte Stone hier eigentlich? Sie hatte Nachrichten geschickt, im Auto gewartet und war Schuld? Nein. Ich traute dem schwarzen Kautschuk-Braten nicht. Ich hatte den Verdacht, dass diese Aufzeichnungen nochmal sehr wichtig werden würden. Entweder verarschten die mich beide oder sie führten sich gegenseitig an der Nase herum. Mein Kopf sagte immer noch: "Hugo, lass die Finger von dem Projekt und kümmer dich um deinen eigenen Kram!" Mein Bauch sagte: "Das will ich wissen!" Ich kochte einen besonders kräftigen Espresso auf und rüttelte LeScope wach.

"Emo, die Geschichte passt möglicherweise wirklich in den Wettbewerb. Aber wir haben sie nicht bis zum Ende erfasst. Glaub, du warst wieder müde. Ich würde jetzt gerne wissen, wie sie weiter ging. Muss doch das Motto auch noch unterbringen."

"Was heißt hier `wieder müde´?" LeScope gähnte unverschämt und streckte sich gelangweilt. Ich stellte ihr den Espresso hin und schnitt dazu ein Stück Marmorkuchen ab. Das war aber dann auch das Äußerste meiner Mutter-Vater-Kind Gefühle.

"Tja, wie ging es weiter?", fing sie langsam an, schlürfte die mit drei Löffeln Zucker gesüßte Tasse Espresso aus und lehnte sich zurück. "Wo waren wir denn stehen geblieben?"

"Du hast den Künstler in dem Club wieder getroffen und er hat dir alles erzählt was passiert war. Dann hast du noch erwähnt, dass seine Frau Fäden in den Zähnen hatte. So fing deine Schilderung an. Jeden Morgen, wenn sie ihre Mango umgestülpt und ihren Terminkalender vorgelesen hat, schaute Leander nach Lücken für sich und ein kleines, süßes Geheimnis. Was ist das für ein Geheimnis?"

"Jajaja...weiß wieder. Ich hatte ja inzwischen zu einer ganz anderen Identität gefunden und hatte in der Phase, genau wie unsere Frau Stone hier, mit aktivem Sex nichts mehr am Hut. Aber ich mochte Leander immer noch und es tat mir leid, dass er das, was ich einst angestoßen hatte, nicht vollendet hatte. Ich konnte ihm zwar nicht versprechen, dass er noch seine große Liebe finden würde, aber ich kannte einige große Jungs, die damit umgehen konnten, dass er kein Privatleben hatte und die jede Menge Zeit hatten, ihm seins zur süßen Hölle zu machen. Und das Beste war: sie würden auf jeden Fall die Klappe halten." LeScope lachte ordinär. "Super oder? Da ist sogar dein Satz für das Motto des Wettbewerbs."


Ich kam mir ein bisschen verarscht vor und machte das mit einem möglichst hässlichem Lächeln deutlich. 

"Ich werde es damit versuchen, erzähl einfach weiter. Bitte."

"Nein, im Ernst: Verschwiegenheit war wichtig. Leander war gesundheitlich angeschlagen. Ein unglückliches, unerfülltes Leben, hält nicht unbedingt fit. Ich wollte ihm helfen und gleichzeitig Diskretion garantieren. Und ich hatte da schon jemandem im Auge, von dem ich wusste, dass er auf innere Werte stand und noch dazu ein Liebhaber von Leanders Kunstwerken war. Ob es funken würde zwischen den beiden? Konnte ich nicht voraussehen. Da war ja auch ein Altersunterschied von fast 30 Jahren. Dass es Leander inzwischen nicht mehr nur um ein schrilles Abenteuer für Zwischendurch ging, war ja auch klar. Er wollte diese männliche Energie spüren. Er brauchte das und es war ihm egal, warum. Und von meinem geistreichen Kumpel wußte ich, dass er gerne eine Muse sein wollte. Er hatte ein Apartment in der Stadt. Ich arrangierte ein Treffen für die zwei und begleitete Leander da hin. Auf der Fußmatte stand "Welcome to Hell". Ich sagte zu Leander. "Hier ist Zeit für dich!" Er sagte: "Ich habe kein Privatleben." Ich sagte: "Und ich habe alle Zeit der Welt, dir deins zu Hölle zu machen!", dabei zeigte ich auf die Fußmatte und fügte hinzu: "wenn du da jetzt nicht rein gehst."

 
"Emo, das erfindest du doch nur!" LeScope hatte irgendwie einen an der Klatsche.


"Doch, so war es!"


Ich schwieg.

 
"Er hat mich angeguckt wie ein kleiner ausgesetzter Hund. Ich hab dann noch gesagt, dass er jetzt einfach die Klappe halten soll, hab für ihn geklingelt und bin gegangen. Mit den beiden das läuft jetzt schon 3 Jahre und in jeder freien Minute ist Leander bei ihm. That´s it. Und die Alte frisst immer noch fröhlich Mangos. Und Leander ist ein ausgeglichener Künstler, stolzer Papa und sogar gesundheitlich wieder besser dran. Was genau hinter der Tür zur Hölle abgeht, weiß ich nicht. Es scheint aber erstmal nicht verkehrt zu sein. Vielleicht hat er bald sogar die Kraft für sein `Coming out´?"

 
Le Scope steckte sich ein Kaugummi in den Mund, stupste Stone an und nahm ihr die Kopfhörer ab. Da war eine Vertrautheit zwischen ihnen, die mich daran erinnerte wie Unverschämtheit auf Hilflosigkeit trifft.

 
"Ich geh Musik machen!"

Stone lächelte ihr schmerzbefreit hinterher.

"Schöner Track, hab ihn in Endlosschleife gehört."

Naja, die Musik von LeScope schien ihr zumindest gut zu tun, dachte ich. Vielleicht ist da ja die Verbindung zu finden. Dann schaute sie mich durch meine Gedanken hindurch an und fragte:

"Soll ich uns schnell eine einfache Pasta kochen, bevor ich nach Hause fahre?"

 
Das gefiel mir gar nicht. Aber ich hatte Hunger und den Schreibtisch voll mit kreativen Aufgaben. 

 

2.) STEIN IM BRETT

 Wir drehten noch eine Weile schweigend Nudeln auf unsere Gabeln und waren dabei in Gedanken versunken. Ich hatte kein Problem damit, mit einer Frau zu Abend zu essen. Zugegeben, in meiner Küche, an meinem Esstisch ... skurril war das schon, obwohl sie so androgyn und insgesamt sehr unaufdringlich war. Vielleicht kam mein leichtes Unbehagen aber auch daher, dass ich ein Eremit geworden war. Von einer grundsätzlichen Muschi-Allergie konnte bei mir nicht die Rede sein. Ich hatte mit Stone mal über Frauen gesprochen. Im Grunde gab es eine Sorte von Tusse, die wir beide nicht so gerne um uns hatten. Sie und LeScope haben auf einem Konzert mal zwei solcher aufgebrezelten Tanten weggekickt. Die wollten sich frech und dreist mit hoch erhobenen Handys an ihnen vorbei nach vorne tanzen. Konnte ich gut verstehen. Arschloch zu sein hatte für mich aber nichts mit Geschlecht, Orientierung oder Herkunft zu tun. Arschlöcher gab´s überall in jeder Form und Geschmacksrichtung. Mich überkam eine große Müdigkeit. Die beiden waren die letzte Zeit fast jeden Tag bei mir gewesen oder Bestandteil meiner Gedanken. 

 

"Stone", schmatzte ich, als das Ende des letzten Spaghetti-Knäuels in meinen Kussmund geflutscht war. "Ich habe die nächsten Tage einiges aufzuarbeiten und glaube, dass ich uns für das Ghostwriter-Projekt ein Konzept machen sollte. Weißt du, wenn du alleine erzählen würdest, wäre das alles einfacher. Mir ist jetzt zumindest klar, dass du und Emo Le Scope, naja ihr zwei eben, dass ihr in der Geschichte miteinander verknotet seid. Die letzten Wochen waren also sehr wichtig, damit ich mir ein erstes Bild von dem Wirrwarr machen konnte. Was ich jetzt brauche, sind wenigstens zwei rote Fäden. Ich werde mich sofort melden, wenn ich so weit bin."

 

Stone lächelte. Sie lächelte oft und sparte sich damit jedes Wort. Dabei lag in ihrem Gesicht immer wieder ein anderer dezenter Hinweis auf ihre Gemütsverfassung. Eigentlich war sie wie ein offenes Buch, wenn man sie nur zu lesen verstand. Aber sie forderte damit eine Menge an Einfühlungsvermögen ein. Ich konnte mir vorstellen, dass die meisten Menschen damit überfordert waren. In jenem Lächeln, diesmal mit einem kleinen, grünen Pesto-Rest am linken Schneidezahn, lag Einvernehmen. Sie begutachtete den Tisch. Offenbar dachte sie noch kurz über die "und wer macht jetzt den Abwasch"-Frage nach. Sie hat sich dann aber erhoben, ihre Serviette auf den Teller fallen lassen, ihre bunte Lederjacke angezogen und ist gegangen.

 

Drei Tage war ich erstmal platt wie eine zertretene Chiquita. Ich hatte diese Pause von dem Projekt wirklich bitter nötig. Diese 'Emo und der Maler' -Geschichte wurde von mir trotzdem noch zum Wettbewerb eingereicht. Doch es gab nur eine Handvoll Lesern, die mit der Story was anfangen konnten und mir das so charmant zum Ausdruck brachten, dass ich keine weitere Frage daran verschwendete, ob ich überhaupt weiterschreiben sollte. Ich stellte allerdings fest, dass ich mich im Genre verirrt hatte und zukünftig nicht mehr an spezifischen Wettbewerben teilnehmen sollte. Ich war zwar schwul, aber mein Sexleben war in der Gegenwart nicht sehr ausgeprägt und damit konnte ich manche Erwartungen wohl nicht erfüllen. Da las ich lieber bei den anderen Autoren mit, was ich in meinem Leben verpasste.

Am vierten Tag schrieb ich endlich mal wieder für meine eigene geplante Reihe und konnte gar nicht mehr aufhören. Dazu spulte ich das verknitterte Band meiner Lebens-Kassette zurück zu dem armen Baxter, den ich letztendlich falsch eingeschätzt hatte und dem Stecher, der mir damals den Oberarm verhunzt hatte. Diese Geschichte war noch nicht vorbei und die Erinnerung an "den Fall mit der Gummipuppe" wollte als nächstes Zahnrad in die Fortsetzung greifen. Doch dieser Jahre zurückliegende Fall erinnerte mich auf sonderbare Art und Weise an Emo Le Scope. Vielleicht übermannte mich deswegen eine böse Schreib-Lähmung? Ich hatte plötzlich große Schwierigkeiten, mich aufs Schreiben zu konzentrieren. Diverse Ablenkungen waren hingegen kein Problem. Wie zum Beispiel stumpfsinniges Facebooken. Dann bastelte ich an der längst überfälligen Internetseite für einen Kumpel, der mal Bodyguard von einem mehrfachen Puffbesitzer gewesen war. Er wollte einfach was "Anständiges" auf die Beine stellen und stieg in den Baustoffhandel ein. Außerdem entdeckte ich meine Leidenschaft am Lesen eines genialen Gay-Fortsetzungs-Romans, für den ich alles stehen und liegen ließ, sobald neue Kapitel angekündigt wurden. Als wenn das noch nicht genug Prokrastination gewesen wäre, verlor ich mich im Gestalten von Collagen mit Stone, LeScope und mir. Letzteres sortierte zumindest weiter meine Gedanken zum Ghostwriter-Projekt. Dauerhaft brennende Augen und quälende Rückenschmerzen in jeder Position: Gründe genug, mich weiter vor dem zweiten Kapitel meiner Reihe zu drücken. Bis ich mir eingestand, dass ich als Einsiedlerkrebs nicht im Sand, sondern in anziehendem Beton feststeckte. Die beiden Freaks fehlten mir schlicht und ergreifend. Es war einfach zu ruhig in meiner Bude, roch nur nach Kaffeebohnen, wenn ich selber in der Küche stand, kein Klopapier fehlte im entscheidenden Moment und ich konnte nicht unauffällig analysieren, wie die zwei Wesen zueinanderstanden, die zwar sehr merkwürdig miteinander umgingen, sich aber doch so vertraut waren. Ich vermutete, dass sie getrennt voneinander offenbar gar nicht hätten überleben können. Aber warum nicht? Wenige Tage zuvor war LeScope zumindest eine Stunde vor Stone aus meiner Wohnung gegangen. Wobei die Schweigsamkeit beim Essen auch damit im Zusammenhang stehen konnte, dass … sie hatte wirklich beim Essen kein einziges Wort mehr gesagt!

 

Ich rief bei Stone an.

 

"Stone, hier ist Hugo. Ich würde gerne mit euch weiter arbeiten. Um zu verstehen, wohin die Reise überhaupt geht und wo wir einen Startschuss setzen, möchte ich am liebsten schon morgen mit dir reden. Aber unter vier Augen. Vielleicht kann LeScope sich Musik-Equipment mitbringen, damit wir etwas Ruhe haben? Ich will niemanden ausklammern, darum geht es nicht. Vielleicht kannst du das im Vorfeld entsprechend klären."

 

Stone freute sich, dass es weiterging und ihre Angst unbegründet war, dass ich schon auf den ersten Metern aussteigen würde. Sie wollte am nächsten Tag gegen 9.00 Uhr frische Brötchen auftischen. Diese Frau hatte schon was Mütterliches, wie sie immer an unsere Verpflegung dachte. Dabei war sie gar nicht übermäßig dick. Dadurch, dass sie recht klein war, wirkte sie einfach nur kraftvoll. Aber auch weich. Nicht schwabbelig. Am Bauch etwas. Ob sie schon Kinder zur Welt gebracht hatte? Ich wollte sie das nicht fragen. Ich musste sehr behutsam mit ihr umgehen, damit LeScope nicht wieder dazwischen ging. Das vermeintliche Trauma von Stone konnte noch so konzentriert in das Aufkochen von Kaffee oder das Polieren der eigenen schwarzen Latexhaut vertieft sein: Wenn Stone nervös wurde, griff LeScope sofort ein und gab lautstark irgendwas von sich. Und ich meine wirklich "irgendwas", wie zum Beispiel:

 
"Ein Mann, 3 Jahre verheiratet, auf der Cocktailparty, mit seiner Frau. Sagt er zu dem Gastgeber: Darf ich vorstellen? Meine Frau. Nach 7 Jahren sagt er: Können Sie sich das vorstellen? Meine Frau. Und nach 25 Jahren sagt er: Können Sie sich mal davor stellen? Meine Frau."

 
Stone und ich: fragende Blicke, zuckende Mundwinkel. Lachen, konnten wir nicht. LeScope lachte aber genauso wenig. Ob das ein Witz oder Drama gewesen sein sollte, zeichnete sich auch in den folgenden Schweigeminuten nicht ab. Die falsche Frage, die ich zuvor gestellt haben musste, war aber vergessen. Es ging einzig darum, mir einen Knüppel zwischen die Beine zu werfen. Ich musste irgendwie näher ran, an meine Aufraggeberin. In Hard Boiled Wonderland gab der Traumleser seinen Schatten beim Pförtner ab. Einen Pförtner müsste ich haben, dachte ich.

 

Den vorläufig letzten einsamen Abend verbrachte ich mit inniger Schönheitspflege. Zum Auftakt gab es Bier in der Badewanne. Ja, es war schon gut, dass ich mir mal wieder ein Bier trinken konnte, ohne direkt einen halben Kasten zu leeren. Das Aufstoßen war am Biertrinken immer noch das Aufregendste. Nach der Wanne kam mein elektrisches Maniküre/Pediküre-Set vom Drogeriemarkt zum Einsatz. Das war echt der Hammer. Ich hatte mir dazu sogar Akku-Batterien und ein Ladegerät gekauft. Olivenöl war mein Geheimrezept für weiche Haut. Damit eine Fuß-Reflex-Zonen-Massage? Wunderbar. Wozu brauchte ich einen realen Partner? Ich machte mir die Playlist "Mic_04" an und entspannte im Bademantel auf dem Sofa. Meine Gedanken durften machen, was sie wollten und sie wollten, wie immer, zu der größten unerfüllten Liebe meines Lebens: Mic. Was er wohl grad machte? Ich sah sein Gesicht aus der dunkelsten Ecke des Raumes auf mich zu schweben, wie Alladin aus der Wunderlampe, bis er scharf gezeichnet, in Lebensgröße über mir schwebte und grinste, vielmehr verwegen schmunzelte. Er schmunzelte immer. Dass ich ihn immer noch liebte, nach fünf gegeißelten Jahren, das fand er offenbar amüsant. Doch wenn man liebt, dann ist einem jedes Lächeln im Gesicht des Angebeteten recht. Selbst belächelt zu werden, hätte mir nichts ausgemacht. In der Hinsicht hatte ich mein Ego — samt gekränktem Stolz — zum richtigen Zeitpunkt wie einen schweren Mantel an einer Garderobe abgegeben. Die rosa Marke hatte ich runtergeschluckt. Damals wäre ich daran am liebsten erstickt. Inzwischen ist zumindest diese Marke ordentlich verdaut.

 

Ich verstand mich in meiner Not bald auf die Kunst der Berührung, die von den Regeln der Zeit, des Raums und somit von realen Körpern losgelöst war. Also zeichnete ich seine Schultern mit meinen glühenden Fingerspitzen nach. Die Oberarme blendete ich aus. Das hätte mich nur unnötig in Rage gebracht. Ich fuhr ihm über die markanten Gesichtsknochen, fühlte die weiche, reife Haut, roch seine frische Rasur, fuhr weiter über die Sehnen und Kuhlen am Hals und wieder zu den Schultern runter. Ich lächelte wie ein Idiot. Aber wen störte das? Dann strich ich über seine Stirn, durch seine Haare, tiefer in den Nacken und ließ meine Hände an seinen Schulterblättern ruhen. Ich konnte seine Gänsehaut fühlen und ich wusste, selbst wenn er gerade irgendwo Hunderte von Kilometern entfernt in jemand anderen eindrang: Diese Gänsehaut überfiel ihn und sie kam aus erster Hand! Von mir! Mich überfiel gelegentlich auch das ein oder andere, für das ich keine andere Erklärung hatte, als dass er mich noch begehrte oder zumindest menschlich schätzte. Es gab etwas, das ich keinem erzählen sollte, wenn ich nicht für verrückt erklärt werden wollte. Mitten in der Nacht. Fight Club lief inzwischen im TV und Mic verkroch sich auf kürzestem Wege in meine Olivenölflasche. Ich ging fremd mit Edward Norton und Brad Pitt. 'In allem was schön ist, sehe ich dich', hat Söllner mal geschrieben. Wobei die Alte in dem Film auch scharf war. Sie gehörte zu der Sorte Frau, die ich als "Neutrum" empfand, weil sie brutal frech daherkam. Ich wette, wenn ich Helena Bonham Carter zum Armdrücken aufgefordert hätte, wäre sie sofort dabei gewesen und ich hätte sie nicht gewinnen lassen. Oder verloren. Das erinnerte mich wieder an diesen Baxter. Keine Ahnung warum. Völlig aus der Luft gegriffen. Das Thema war für mich längst abgeschlossen. Aber manchmal ist Erinnerung nur ein Bild. Baxter war aus dem Dia-Rondell noch nicht aussortiert. Das war alles. Mini-Bilder in Rahmen oder portioniertes Leben — wie auch immer: Fight Club lief schließlich auch nicht jeden Tag.

 

Obwohl ich ja grundsätzlich nur bei wirklich langweiligen Filmen einpenne: Im Abspann dieser Spätvorstellung kassierte ich ein unerwartetes "Knock out". Ich mochte das gar nicht, auf dem Sofa einzuschlafen. Hatte gerade noch meine weich geölten Füße unter den Bademantel ziehen können. So fand ich mich jedenfalls wieder, als es am nächsten Morgen klingelte und mir das Frühstücksfernsehen noch peinlicher war, als der kleine Fußnagelhaufen auf dem Couchtisch.

 

LeScope blitzte mich mit dämonischen Augen noch dämonischer an als sonst. Manchmal hatte ich Angst, mir bei der nächsten Bewegung einen Bodycheck einzufangen. Die Kopfhörer saßen stramm auf dem maskierten Kopf. Ob das eine Spezial-Anfertigung war? Meines Erachtens nach konnte man durch 2,5er Latex kaum was hören. LeScope sagte keinen Ton. Aber ich ließ es, ihn, sie, x — weiß der Teufel, was — einfach schmollen. Dass ich mir angewöhnen musste, meine Stellung als Hausherr zu verteidigen, ging mir mächtig auf den Sack. Aber ich brauchte endlich Informationen von Stone und nicht nur von ihrem penetrantem Emo.

 

Die werte Frau Stone hatte gute Laune und an diesem Morgen ein besonders breites Lächeln hinter der duftenden Brötchentüte. In meine muffige Bude wurde damit wieder frisches Leben eingehaucht. Egal wie pervers, beängstigend, skurril, dumm, wirr oder abgefuckt ihre Geschichte sein würde ... mein Slogan war "eine asexuelle Frau im Haus, sorgt stets für entspannte Behaglichkeit". Ich schlüpfte ohne Unterhose in Jeans und T-Shirt und fühlte mich dabei gar nicht mal so unangenehm beobachtet.

 
"Hugo hast du Butter?"
"Butter?"
"Ja, Butter."
"Nein, tut mir leid, ich hab nur Olivenöl."

 
Stone ließ die Marmelade im Kühlschrank.

 
"Warum stellst du den Fruchtaufstrich nicht auf den Tisch?"

 
LeScope brüllte: "Sie kann süße Brötchen ohne Butter nicht ab!" Hatte uns nur taub beobachten können und wusste trotzdem genau, worum es ging. Ich erinnerte mich, dass es auch Latexmasken mit an- und abknöpfbarem Sichtschutz gab.

 

Stone ließ sich meinen Parmaschinken auf einem Chiabatta-Brötchen mit Olivenöl als Geschmacksträger munden. Ihr Emo hat gar nichts gegessen, dafür die ganze Zeit für rabenschwarzen Kaffee gesorgt. Warum nicht gleich eine feine Linie Espresso-Pulver durch die kleinen Atemlöcher an der Maske inhalieren? Dann stellte ich erleichtert fest, dass Stone nicht die Cherry-Tomaten essen wollte, die schon zwei Monate im Gemüsefach lagen. Die sahen nämlich noch immer aus wie am ersten Tag und waren Teil eines sehr persönlichen Experiments: Wenn diese Tomaten nach weiteren zwei Monaten nicht endlich Schimmel ansetzten und auch nicht so schrumpelten, wie ich es von ihnen erwartete, würde ich mal versuchsweise eine entzünden und dabei eine Schutzbrille tragen.

 
Obwohl sie noch hungrig kaute, stellte ich Stone die für mich an diesem Punkt wichtigste Frage.


"Warum schreibst du dein Buch nicht selbst?"

 
"Ich kann nicht richtig schreiben ... zu wenig Schule ... mache viele Fehler ... Unsicherheit. Bekomme Streit mit Emo ... Emo meint, ein großer Teil der Geschichte befände sich außerhalb meiner Wahrnehmung ... und dass ich zu feige oder zu labil bin, genauer hinzugucken. Keine Ahnung, manchmal stimme ich dem zu. Manchmal glaube ich, mein Emo spinnt."

 
Sie hatte aufgegessen und spuckte weiter aus:

 
"Wenn Du so willst, brauche ich dich nicht nur als Schriftsteller, sondern auch als Ermittler, Psychologe und Mediator."

 
"Hmmm ... hat was von Bombenentschärfer!" Ich nickte zu LeScope rüber, hielt abwehrend die Hände vor meine Brust und ließ inhalierend die Luft durch meine Zähne zischen. Langsam wurde mir klar, dass die Sache mit dem Ghostwriting was ganz anderes werden würde als ein Diktat zwischen Herrn Melzer und Fräulein Dinkel in 'wohlgemerkt' vertauschten Rollen.

 
"Hugo", hauchte Stone mir zu. Ihr Atem traf mich wie ein warmer Föhn mit einem frischen Kaffeepad im Ventilator. Ich hatte in meinem Staubsauger auch so ein Deo-Pad. Das roch aber nach Klostein. "So schlimm ist es gar nicht", vervollständigte sie, schaltete den Föhn wieder ab und rückte mit dem Stuhl etwas von mir ab. Emphatisch war sie, ohnegleichen.

 

So schlimm sollte es also nicht sein. Warum aber bebte dann die Hand, die sie mir beschwichtigend auf den Unterarm legte? Ich bemerkte kein Zittern, es war eher die gerade noch so erträgliche Vibration eines Elektroschockers, dem gleich der Saft ausging. Ob sie mit diesen Händen besondere Fähigkeiten hatte? Ich musste an die Empfindsamkeit meiner Brustwarzen denken. Und warum war LeScope von oben bis unten "gummiert"? Ich sah zwei überdimensionale Elektrokabel vor mir tanzen. Das eine lag bloß, das andere war sauber ummantelt. Meine Wohnung stand mächtig unter Strom. Ein Loch in der Decke, eine überlaufende Badewanne, ein Stockwerk drüber und wir würden alle drauf gehen. Worauf hatte ich mich nur eingelassen? Zwei wildfremde Psychopaten und ein Sozialphobiker auf 50 Quadratmetern verschlossener Offenheit. Liebe ... wenn ich selber schon flach atmete half nur der Gedanke an Liebe.

 
"Willst du nicht weiterfragen, Hugo?"

 
"Nein. Erzähl. Erzähl einfach."

Ich schaltete das Diktiergerät ein. Nach dreißig Schweigeminuten spulte ich zurück. Aber nicht ganz. Ich wollte später in 10 Minuten Raumrauschen nach möglichen Geräuschen von "Außerirdischen" forschen. Dann schaltete ich wieder ein und blickte Stone an. Sie schien gar nicht zu bemerken, wie die Zeit verrann. Sie hatte übrigens nichts, aber auch gar nichts Affektiertes an sich. Damit meine ich in erster Linie: Keine Anzeichen von Hysterie oder übertriebenem Geltungsdrang. Sie saß da, wie ein cooler Roboter. Und wenn ich später kein "nach Hause telefonieren" auf dem Band belauschen könnte, so sollten da zumindest Geräusche von der "Defragmentierung" der Festplatte in Stones formschönem Schädel zu hören sein. Außerdem mochte ich ihren Turnschuhgeschmack. Schön bunt, schön Skater-Style. Sie stand auf und ging wortlos zur Toilette. Trug wie immer eine Hose, die ihre runden Arschbacken nur erahnen ließ. Komisch ... von hinten sah sie aus, wie ein Typ nach meinem Geschmack, nur in viel zu klein.

 
Sie brauchte nicht lange und trug das Geräusch der Klospülung mit an den Tisch.

"Können wir uns aufs Sofa setzen, Hugo?"


"Guck mal, da schläft LeScope. Schlafzimmer?"


Dem erschrockenem Blick, folgte wohl sofort die Erinnerung an mein schwul sein und dass ich, selbst wenn ich nicht der Männlichkeit verfallen gewesen wäre, Respekt vor ihrem Verzicht auf Körperlichkeit hatte. Ich konnte mir aber kaum vorstellen, dass sie das immer schon so gelebt hatte.

 
"Nur weil ich keine Körpersäfte mehr mit anderen austausche, heißt das noch lange nicht, dass ich keine ausgeprägte Fantasie habe, Hugo", fing sie meine Beobachtung ab und streckte mir eine spitze, stramme Zunge raus. Sie hatte aber keine Ahnung, dass es mir eigentlich gerade nicht viel anders erging und diese Zunge mich kurz aus dem Konzept brachte. Aber nur ganz kurz.

 
Das hatten wir also geklärt, zogen unsere Turnschuhe aus und legten uns auf mein Bett, französischer Breite. Ich platzierte das Aufnahmegerät auf meinen Bauch, sie ihre kleine, fleischige Hand auf ihrem sichtbar wummerndem Herz.

 
"Ich war ganz gut in der Schule“, begann sie etwas unbeholfen. „Nur in Mathe nicht so. Aber Kunst und Deutsch glatte eins und alles andere befriedigend. Das wollte ich aber noch verbessern. Ich wollte ja mal Kunstkritikerin werden. Oder Journalistin, Reporter, vielleicht sogar Schornsteinfeger, wie mein Lieblingskostüm zu Karneval. Mit Zylinder und Schnäuzer."

 
Ich schwieg mal. Trugen Schornsteinfeger nicht nur zu Silvester Zylinder, wenn sie in vierblättrig mit Glück überzüchtetem Klee steckten?

 
"Wenn wir einen Aufsatz über maximal fünf Seiten schreiben sollten, schrieb ich meistens doppelt bis dreimal so viel und durfte trotzdem oft vorlesen. Fast alle mochten meine Geschichten. Manche machten sich aber auch lustig. Eigentlich waren meine Mitschüler es von mir gewohnt, dass ich ihnen versaute Wörter wie Pimmel und Sackgesicht beibrachte. In meinen Geschichten zeigte ich da wohl eine ganz andere Seite von mir. Kann mich aber nicht an eine Einzige erinnern."

 
Ich schwieg weiter und wünschte mir ein Mikrofon, das imstande war, nicht nur das Grundrauschen der Twilightzone, sondern auch Gedanken aufzunehmen. Warum haderte sie nach jedem Absatz? Warum beruhigte sich ihr Herzschlag nicht?

 
"Meine Eltern waren sehr reich. Doch etwas passierte da, als ich ungefähr 11 wurde. Dinge gingen vor sich. Leider habe ich nie viel mit meinen Eltern gesprochen. Sie waren irgendwie überlastet. Daher konnte ich nur ahnen, dass etwas nicht stimmte. Der Grund, warum ich mitten im siebten Schuljahr raus musste aus der Schule, mit ins Ausland kommen ... ich kenne ihn bis heute nicht."

 
LeScope hustete laut und schob brutal den Couchtisch mit den High Heels vom Sofa weg. Das quietschte und krächzte so laut, dass Stone zusammenzuckte. Meine Fußnägel hatten sich bei dieser Vibration sicher auf der ganzen Tischplatte verteilt.

 
"Leute wo seid ihr?", schallte es über die Lautstärke der Kopfhörer. "Keiner mehr da? Habt ihr mich verlassen? Arschlöcher!"

 
Ich stand auf und ging zu LeScope rüber. Rote, geschwollene Augen drückten sich durch die Gucklöcher der Maske.

 
"Hast Du schlecht geträumt?", fragte ich mit untermalender Zeichensprache. Dann wischte ich den Tisch mit einem feuchten Küchentuch ab. "Wir wollten dich nicht aufwecken, sind im Schlafzimmer und zeichnen auf."

 
"Hat sie dir schon erzählt, dass sie keinen richtigen Schulabschluss hat?", fauchte LeScope mich an. "Hat sie dir auch schon gesagt, dass ich alles war, worauf sie sich verlassen konnte? Immer! Bis heute und bis ans Ende ihrer verkorksten Tage."

 
"Stopp mal!", brummte ich wie ein ausgewachsener Bär. "Wird das hier so eine Art Zickenkrieg? Was bist du? Bist du ihr Lover, ihre beste Freundin oder ihre geschlechtslose Barbie im Peitschenland? Kein Schwein weiß, was du bist und wozu du wirklich nutze bist. Sonst würdet ihr euch nicht hier mit mir einmauern. Und jetzt halt dich gefälligst zurück, bis ich mir mein eigenes Bild von ihrer Seite machen kann. Dich knöpf ich mir danach vor."

 
Ich ging wieder zu Stone rüber, griff rechts in meinem Wäscheregal nach zwei großen Handtüchern und pfefferte sie LeScope entgegen. "Und wenn du schon mit deiner Dauerschweiß-Kautschuk-Haut auf meinem Sofa rum lümmelst, leg wenigstens Handtücher drunter! Mann, Mann, Mann." Ich musste wirklich den Kopf schütteln, aber mehr über meine eigene Blödheit, mir zwei Irre eingefangen zu haben. Als ob meine Arbeitsunfähigkeit und mein Liebeskummer nicht schon schlimm genug gewesen wären. Fünf Jahre Sehnsucht, kultiviert zu bedingungsloser Liebe. Ich hätte dieses Jubiläum feiern sollen. Liebe ist immer da ... ist, wie eine Blume ... kann sie zerpflücken ... liebt mich ... liebt mich nicht ... kann sie mit Wurzeln umtopfen ... kann sie mir abknicken, mich daran eine Zeit ergötzen und sie dann kompostieren ... trocknen ... rahmen ... kann sie übersehen und drauf treten ... kann analysieren ... zum Botaniker werden ... kann Angst vor ihr haben ... Fingerhut ... egal wie ... sie ist da. Um mich herum und in mir drin. Ich war zum Bersten gefüllt mit Liebe. Rüdes Verhalten und impulsives Gelaber ging mir gegen die Hutschnur. Das schien sogar LeScope in dem Moment begriffen zu haben. Es streckte mir den Hochglanz-Hintern entgegen und breitete sorgsam die Handtücher aus. Ich scannte den Raum zwischen den reflektierenden Beinen nach einer Wölbung ab. Konnte aber nur einen kurzen Blick erhaschen, dann streckte "x" sich wieder lang und schaute offenbar die Stoffstruktur der Rückenlehne meines Sofas genauer an.

 
Ich legte mich auch wieder hin, neben Stone.

 
"O.K. Du hast also keine abgeschlossene Schulausbildung. Schreibst aber gern. Warum tust du es nicht einfach? Glaubst du gar nicht an dich? Hast du mal einen Text von dir?"

 
"Hab alles gelöscht. Das war nicht wenig. Ungefähr 500 Anfänge bis kurz vor dem zweiten Kapitel. Immer anders. Einen ganz kleinen Text hab ich noch behalten … hab´s hier auf dem Handy, warte."

 
Sie scrollte rum. Dann reichte sie mir das Handy mit einem Text:

 

In dunklen Ecken versteckt sich das größte Projekt meines Lebens und wächst seit Jahren, wie der Schimmel auf einer alten Sonntags-Semmel im Plastikbeutel. Der Titel projiziert sich Nacht für Nacht an meine Zimmerdecke. Ein stumm geschalteter Laserwecker. Nur, wenn ich nicht hinschaue, blinkt er und macht die Wände nervös. Unendlich viele Worte, geformt zu Sätzen, gebündelt zu einer alles aufwühlenden und schließlich heilenden Geschichte. Sie ist zum Greifen nah, liegt mir auf der Zunge, sitzt mir im Nacken. Doch dann rutscht sie mir den Buckel runter und wird mit dem ersten Kaffee fortgespült. So geht das, Tag ein, Tag aus. Ich kann solange etwas anderes machen. Malen oder Musizieren. Aufräumen oder die Haare bleichen. Der Zeitpunkt wird von ganz alleine kommen, nicht wahr? Der Zeitpunkt. Ich stelle fest, ich bin 43. Und ich muss raus. Ungestörte Zeit am Strang gibt's geschenkt. Nur der Zeitpunkt. Wo hab ich ihn hingelegt? War der nicht da? Jetzt gerade. Zu dumm, verpasst. Ich hänge ihm noch eine Weile nach. Mein Magen knurrt mich an, weil ich kein genießbares Brot im Haus habe. Ich werde ins Pub runter gehen. Bunte Turnschuhe, zerknautschtes T-Shirt und Jogginghose reichen vollkommen, um bekleidet zu wirken. Ich fahre mir durch die kurzen Haare, als würde ich überprüfen, ob der Rasen über Nacht gewachsen ist. Ein bisschen Maskara, dann sieht keiner, wie müde ich bin.

 
Ich reichte ihr das Handy wieder rüber.

 
"Du wohnst über einem Pub? In Köln?"


"Ja, warum?"


"Nichts. Ist doch toll!"

 
Die Glocke an dem Hals der Kuh in meinem Hirn läutete Alarm. Ja, ich hatte einen weiblichen Anteil in mir, den ich Kuh nannte. Dieser Anteil machte mich manchmal treudoof bis naiv, manchmal aber weckte er einfach meinen 7. Sinn. Aber ich war auch Hugo. Hugo Ross. Und der hatte kokette Impulsivität im Griff. Sie war unnütz. Ich stoppte jeden weiteren zusammenhängenden Gedanken an den Fall mit der Gummipuppe. Der lag ohnehin als offenes Schreib-Projekt auf meinem Schreibtisch. Stone schien keine Kritik und kein Lob bezüglich ihres Textes zu erwarten und meine auffällige Frage nach dem Pub, schien sich für sie nicht von einer Frage nach ihrer Schuhgröße zu unterscheiden. Ich konnte mich auch irren, überlastet, unterfordert oder einfach zu lange nicht gefickt worden sein. Also nahm ich Bezug zum Augenblick.


"Ich finde deinen Text gut. Du hast eine simple und wunderbar verwobene Bildsprache, die didaktisch keinen Hinweis auf ein fehlendes Studium bietet. Selbst wenn dein Können nur Zufall ist oder die Unverdorbenheit in Bezug auf Fachwissen: Du solltest es einfach tun. Schreiben meine ich. Wenn du nicht über dich oder dein Emo schreiben willst, schreib doch Krimis oder ACE-Liebesromane. Ich fälsche dir auch deinen Doctor, wenn es mir gefällt."

 
"Würdest du mich wirklich gerne lesen?", fragte sie skeptisch.

"Wenn ihr mir Zeit dazu lasst. Stone ... hör mal, ich bin mir nicht sicher, ob ich euch helfen kann. Mir ist der Stoff etwas zu trocken und irgendeine beängstigende Dramatik haftet dem Ganzen hier an. Ich will jetzt gar nicht weiter in die Tiefe gehen, bevor ich nicht weiß, wer verdammt nochmal Emo Le Scope ist."

 

"Ja, verstehe. Also ich kann es ja mal versuchen. Damals, als ich weg wollte von der Insel. Ich hab da nen Filmriss für ein Jahr zwischen 14 und 15. Ich kann mich aber daran erinnern, dass ich kurz vor meinem 15ten Lebensjahr angefangen habe, mich in die Küche zu schleichen. Immer nachts, wenn meine Eltern schliefen. Bald wurde ich regelmäßig wach und fand mich dann in diesem typisch mallorquinischen Haus vor dem Brunnen wieder, der in der Küche war. Eine Holzklappe verschloss ihn locker. Darüber war eine Rolle an der Decke angebracht mit einem Eimer an einer Kette. Ich öffnete wie in Trance die Klappe ganz langsam, damit die Zeit das Quietschen der Scharniere absorbieren konnte. Dann blickte ich hinein. Ich wusste, dass der Brunnen sehr tief war. Die Wasseroberfläche schimmerte wie dickflüssiges Erdöl. Anziehend und abstoßend zugleich hatten diese glänzenden Reflexionen etwas Magisches, Bildhaftes, bestückt mit Botschaften, die ich aber nicht so genau deuten konnte. Gefühlte zehn Meter ließ ich den Eimer hinab, holte eine Füllung hinauf und goss sie in ein sehr großes Glas. Dann trank ich, ohne abzusetzen, bis mir die Luft wegblieb. Das Wasser war so kalt, dass meine Speiseröhre zu krampfen schien. Die Schmerzen bissen mich irgendwie wach. Ich fühlte mich, erkannte mich in einer Situation, die mir bedrohlicher und gruseliger vorkam als dieser schauderhafte Blick in den blauschwarzen, schimmernden Brunnen und die kalten Schatten, die meine Nackenhärchen streiften. Das flüssige Pech gab mir seltsamerweise Kraft. So kalt es war, es durchströmte mich wie Lava. Als wenn mein Inneres zeitgleich vereist und verödet würde. Naja ... wenn ich mir Emo so ansehe, ihre Latexhaut, ihre Stärke. So bin ich mir sicher, dass ich sie dort in mich aufgenommen hatte. Sie war aber nicht immer so da. Ich meine als Körper. Sie lief eher wie ein Programm im Hintergrund ab. Viele, lange Jahre. In sofern stimmt es wohl, dass sie ihr endgültiges "Coming-out" bei dem Maler hatte.

 

Ich atmete laut ein und aus, um Stone zu animieren, mir das nachzumachen, denn sie war etwas blass von der flachen Atmung, in der sie mir diese Worte zum Ausdruck gebracht hatte. Am liebsten hätte ich ihr eine Papiertüte an den Mund gepresst und sie angefeuert "Hecheln - Hecheln - Hecheln!" Aber ich wollte möglichst gelassen wirken. Was mir schwerfiel. Denn was sie da von sich gab und wie sie es von sich gab, machte mir eine Gänsehaut und es gab keinen Zweifel daran, dass dies sehr scharfe Bilder aus ihrer Erinnerung wahren. Ich drückte an meinem Aufnahmegerät auf "Stopp" und behauptete, zur Toilette zu müssen. Da war auch ein Impuls, ihr meine Hand auf die Brust zu legen. Manchmal nervten diese Titten an coolen Frauen einfach nur. Ich hatte jedenfalls extremen Durst. Ich wusste, dass sie erst recht einen trockenen Mund hatte. Ich vermutete aber auch, dass ich ihr in dem Moment kein Wasser anbieten sollte. Heimlich trank ich im Bad über dem Waschbecken die Leitung leer und fragte meine grasende Kuh im Spiegelbild: "Kann ein junger Mensch so etwas ertragen und trotzdem so lebensfroh lächeln? War ihr Lächeln am Ende nur Schmerz? Konnte ein Lächeln, an dem man sich die kalten Finger wärmen konnte, nur das Zähnefletschen eines schutzlosen Welpen sein? Was war dem vorausgegangen? Wie sollten wir das überhaupt herausfinden, wenn sie ein Blackout von einem Jahr hatte. War Emo LeScope ein Schutzengel oder eine Art Catwoman, die ihr zugerufen hat: "Spring nicht in den Brunnen, jetzt fängt der Spaß doch erst richtig an!" Eines war klar: Ich schrieb gerne Satire. Aber das hier war ne andere Hausnummer als meine Fälle von damals und wirkte gerade eher so, als wenn ich mich mit Ironie eher schwer tun würde. Ich hatte das spontane Bedürfnis, kurz ab zu kotzen oder aus dem Fenster zu klettern. Ich war jedenfalls schon zu lange in diesem Bad, sollte rauskommen und so tun, als hätte ich ein größeres Geschäft erledigt.

 
"Boa, zu viel Kaffee für meinen zarten Magen heute Morgen", grinste ich Stone an und fühlte Rillen auf meiner Stirn. Aber sie sprang energiegeladen vom Bett und meinte gelassen zu mir: "Gute Idee! Ich kann noch einen brauchen!" Sie lächelte mich an. "Ich weiß, Hugo. Das klingt grad alles sehr langweilig und nüchtern. Aber ich verspreche dir, es wird noch richtig lustig. Das sind nur die dicken Felsen über den bunten Kieselsteinen. Nicht umsonst heiße ich Stone. Frau Stone."

 
Ich konnte mir nicht helfen, diese Frau hatte bei mir einen "Stein im Brett" und LeScope schnarchte, als wenn sie zum ersten Mal Ruhe gefunden hätte.

 
"Hast du einen Spielekoffer, Hugo?"


"Ja, in der Abstellkammer", fiel mir ein.


"Komm! Wir spielen zur Entspannung 'Mensch ärgere Dich nicht'.


Das gefiel mir erstmal gar nicht. Aber eine Pause war wohl nötig.

 

Ich spielte also ein Brettspiel mit Stone. Ich gewann und verlor und gewann und verlor. Stone redete kein Wort, lächelte aber manchmal. Genauer gesagt immer, wenn sie die Verliererin war. LeScope stand auf und kochte wie immer Kaffee. Wie konnte man nur so viele Espressi am Tag trinken? Das Gummiwesen wanderte durch mein Wohnzimmer wie ein schwerer Schatten durch ein Museum. An meinem Schreibtisch blieb der Schatten stehen. Was gab es da zu sehen? Ich hatte meine Einkaufsliste erstellt, einige Mindmaps, meine Liquides standen dort und Zubehör lag rum, um mit Silikatschnur und Draht eigene Verdampferköpfe für meine E-Zigaretten zu bauen. Der Schatten rührte sich nicht. Was war so interessant, dass der kochende Kaffee vergessen wurde? Da fiel mir ein, dass Teile der Akte zu dem Fall mit der Gummipuppe offen lagen. Keine offiziellen Ermittlungs-Dokumente, aber das, was ich damals für meine eigenen Recherchen erstellt hatte. War eine von der anderen Gummipuppe so fasziniert, als würden sich Geschwister wiedersehen?


"Brauchst du was, LeScope?", rief ich meinem Schreibtisch zu. Der Schatten zuckte und bemerkte, dass der Espresso längst kochte. Im Türrahmen sprach sie uns an. Das Tässchen mit abgespreiztem Gummi-Finger in der Hand.

"Wollt ihr auch einen?"
"Lieber ein Glas Wasser", sagte Stone


Ich schüttelte nur den Kopf und blickte LeScope in die nervösen Augen, die im absolutem Kontrast zu ihrer Haltung als Straßenschwalbe standen.


"Wasser kannst du dir selber holen, ich schenke nur Espresso aus", sagte sie zu Stone und klang dabei sehr patzig. "Was wird das hier eigentlich? Spielen wir Mutter-Vater-Kind und das Kind wird missachtet? Das führt zu schweren Störungen, wie zum Beispiel dem Borderlinesyndrom, schon vergessen Frau Stone?"


Stone vollzog den nächsten Zug bedächtig, ohne aufzusehen. Doch ihre Hand fing plötzlich an zu zucken und die Spielfigur verfehlte das kleine, runde Spielfeld.

"Ohhhh, nicht böse sein!" LeScope ging mit langsamen Schritten auf Stone zu. Ich fand den Gang übertrieben anmutig, um nicht zu sagen extrem affektiert. "X" beugte sich zu ihr herunter, drückte das Gesäß nach hinten heraus und presste die Oberschenkel zusammen. Dann strich das Neutrum mit einem hexenartig gekrümmten Finger über ihre linke Wange, griff in das struppige Büschel gebleichter Haare und presste ihr die blutroten Lippen auf den schmerzverzerrten Mund. Dazwischen entstand ein ekel erregtes Geräusch, das aus Stone kam. Ich war wie gelähmt. War das ihre Verbindung? Eine fucking SM-Beziehung? Dann hatte ich Stone falsch eingeschätzt. Sie sank in meiner Achtung. Ich weiß nicht warum. Doch ich hielt sie immer noch für stark genug, dass ich nicht einschreiten musste. Mein Blick fiel auf den Schritt von LeScope. Zornerfüllt blickte ER mich an, als ER meinen Blick entdeckte. Ab jetzt würde ich keine Probleme mehr haben, mit Pronomen umzugehen. Das war also "der" Emo, weil er einen Schwanz hatte und er war "das" LeScope, weil es ein Arschloch war.

Stone wischte sich langsam den Lippenstift mit dem Handrücken ab. Ihre Augen schimmerten. Ob sie wütend, erschrocken, traurig oder erregt war, konnte ich nicht deuten. LeScope, dieser hochtrabende Porno-Name ging mir sowieso schon längst auf den Zeiger. Es war nur noch "das Emo-Arschloch" für mich, Punkt, Ende, aus. Und das stolzierte zurück zum Sofa und faltete seine Handtücher zusammen. Ich kann gar nicht beschreiben, wie angeekelt ich in dem Moment von ihm und dem Schweiß auf meiner Wäsche war. Aber ich hatte mich eingefroren. Mich, den Moment, das Gestern und das Morgen. Stone anscheinend auch. Plötzlich würfelte sie einfach und lächelte mich an.

 


"Du bist dran, Hugo!"
"Nein, Stone", sagte ich leise. "Du hast gewonnen. Ich weiß, du verlierst lieber. Aber du hast gewonnen."
"Was soll das heißen?"
"Wenn ich das wüsste. Ich möchte euch bitten, jetzt meine Wohnung zu verlassen."
"Und das Projekt?"
"Läuft aus dem Ruder?", fragte ich wissend.


Stone packte das Spielebrett, die Figuren und Würfel ordentlich in den Karton, schlüpfte in ihre Turnschuhe und blieb von mir abgewandt stehen. Ihr Oberkörper bewegte sich unter der tiefen Atmung.


"Es ist nicht, wie du vielleicht denkst. Genau deswegen brauche ich deine Hilfe. Doch wahrscheinlich ist das einfach zuviel verlangt."

"Stone, ich habe nicht gesagt, dass ich gar nicht weitermache. Ich muss nur ... ich brauche jetzt meine Ruhe."

Der schwarze Unhold stand bereits an der Tür und hatte seinen Musik-Krempel unterm Arm. Stone drehte sich nicht mehr um. Als die Tür ins Schloss fiel, bemerkte ich, dass meine Wohnung unter Starkstrom stand und riss alle Fenster auf. Es stürmte und der Durchzug wehte die Blätter von meinem Schreibtisch. Das war mir so was von scheißegal. Ich schnappte mir die Espresso-Tasse mit dem Lippenstiftabdruck einer Lüge von "ich-du-er-sie-es" und donnerte sie so feste gegen meine Wohnungstüre, dass sie in zwei saubere Hälften zerbrach. Haare raufend lief ich im Zimmer auf und ab. Der Tag war so unwirklich. Meine Gefühle undefinierbar. Ich hatte in meinem Leben schon so viele Transgender gesehen und manche von ihnen waren mir richtig ans Herz gewachsen, faszinierten mich. Auch mit SM-Praktiken hatte ich keine Berührungsängste. Was hatte ich bloß? Ich fühlte mich von der vorausgegangen Szene abgestoßen und angezogen zugleich. Waren das nicht auch die Gefühle von Stone, als sie im Teenageralter in diesen verteufelten Latex-Brunnen geschaut hatte? Aber da war auch ein starkes Gefühl von Peinlichkeit mir selbst gegenüber und Fremdscham für die beiden Protagonisten einer Geschichte, die immer mehr wie ein verstreutes Puzzle aus 20.000 Teilen wirkte. Wie oft hatte ich mich schon gefragt, worauf ich mich da überhaupt einlasse? Wie konnte ich die Sache überhaupt ernst nehmen? Das mysteriöse Wesen war aus Fleisch und Blut und das nicht zu knapp. Durch einen Brunnen. Pah! Versteckte Kamera? Rache? Ich bekam immer schlechter Luft.

Deshalb zog ich mich einfach um, machte meine Haare und suchte nach meinem Autoschlüssel. Ich wollte raus. Das erste Mal nach elf Monaten, wollte ich wieder raus. Meine Haare hätten dringend einen frischen Haarschnitt gebraucht und meine Augenbrauen und mein Bart waren auch nicht bester Form. Aber ich brauchte einen "Whisky Sour", eine Cocktailbar und Fahrstuhlmusik. Wo war mein Schlüssel? In der Schublade, wo ich meine Schlüssel aufbewahrte, war er nicht. Der Haustürschlüssel war da ebenso wenig. Aber ich hatte keinen Nerv auf Sucherei und nahm einfach die Schlüssel aus der Kiste mit den Ersatzschlüsseln. Die Blätter ließ ich auf dem Boden liegen, verschloss nur die Fenster. Es könnte spät werden bei mir, das ahnte ich.

 

Fortsetzung folgt ... 

 

 

 

3.) WHISKEY SOUR

 Wie im Film: Als ich den ersten Fuß auf den Bürgersteig gesetzt hatte, fuhr tatsächlich ein Taxi die Straße entlang. Ich winkte und sein Fahrer reagierte prompt. Mit dem Auto zu fahren, war in Anbetracht meiner melancholisch-aggressiven Stimmung ohnehin eine Schnapsidee. Ich wusste ja auch gar nicht, ob mein Mustang überhaupt noch ansprang. Der Wagen hätte mich höchstens vor die Wahl gestellt: 'Mechanikerabend' oder 'Cocktailbar'. Wenigstens war er sicher aufbewahrt in der angemieteten Garage, zwei Straßen weiter. Es dämmerte schon in der letzten Nuance vor Nachtblau, war immer noch stürmisch, aber recht warm. Endzeit-Stimmung für einen unschuldig inhaftierten Vollidioten.

 

"Guten Abend, einmal zur Silk-Cocktail-Bar, bitte."

 

Ich kurbelte das Fenster einen Spalt herunter und nahm eine Nase Stadtluft. Ein wenig wie ein Außerirdischer fühlte ich mich, der das Leben nur von einem Bildschirm her kannte. Gebannt verfolgte ich Lichtpunkte und wild tanzende Bäume am Straßenrand. "Nein Hugo, jetzt nicht daran denken, Angst zu bekommen, gar nicht daran denken, dann ist es schon zu spät ... auch nicht denken, nicht zu denken, dass ich Angst haben könnte hier draußen ... einfach gar nichts denken, atmen, tief atmen ... ", redete ich mir zu. Der Taxifahrer fragte, ob alles in Ordnung sei und fuhr etwas langsamer. Kritisch schaute er mich durch den Rückspiegel an. Hatte ich mich angehört, als wenn ich kollabierte oder vielleicht sogar onanierte?

 

"Schon gut, alles in Ordnung, hab nur Kreislauf, brauch nur Luft." Er öffente das Schiebedach einen Spalt weit.

 

Diese verdammten Sex-Gedanken: Kaum war ich hier draußen, waren sie auch schon wieder da. In meiner Zurückgezogenheit war alles immer so schön unschuldig und frei davon gewesen. Frei von Angst und frei von Gedanken an animalischen Sex, Übergriffe und spontane Lustbefriedigung. Die beiden Irren hatten mich aus meiner wohl behütenden Wohnung getrieben. Hinaus, in diese kaputte, durchtriebene und verlogene Welt. Ich hasste sie dafür. Mein REWE-Lieferservice, mein Langhaarschneider, mein Nagelpflegeset, meine Musik und meine Technik. Mehr brauchte ich doch gar nicht. Und jetzt saß ich in diesem Taxi und dachte an Sex. Ich schaute mir den Taxifahrer auf eine Art und Weise an, die mir gar nicht gefiel. Dachte darüber nach, dass meine Atemtechnik gegen Panik-Attacken ihn heißgemacht haben könnte, er in die nächste dunkle Straße abbog und zu mir auf den Rücksitz krabbelte. Neben der Taxi-Uhr klebte ein Bilderrahmen aus Plexiglas mit dem Foto einer sympathischen Frau und einem pummeligen Kind. Das musste nichts heißen. Ich beobachtete genau, wo er herfuhr und erinnerte mich erstaunlich gut an die Straßen, die zu meiner Lieblings-Cocktail-Bar führten. Mein Hemd musste ich dringend ein Stück aufknöpften und bemerkte dabei, dass ich herb nach Angst-Schweiß roch. Das musste eine Überreaktion in meinen Drüsen sein. Roch aber nicht schlecht und nahm mir etwas die Angst, die sich immer noch über mein Hecheln hinwegsetzte und den Nacken hochschleichen wollte. Endlich näherten wir uns dem Zielort und ich war tatsächlich um einen wilden Ritt auf der Rückbank dieses Wagens herumgekommen.

 

"Vierundzwanzigsechzig, bitte!"

"Dreißig, stimmt so."

 

Seit einem Jahr besaß ich 500 Euro Bargeld in meiner Wohnung. Das hatte ich kein einziges Mal angerührt, zahlte nämlich alles mit Karte über Online-Bestellservices. Ich hatte mir an diesem Abend die ganze Kohle in die Innentasche meiner Lederjacke gestopft und es fühlte sich komisch an, etwas davon aus der Hand zu geben. Da stand ich also und schaute auf die Leuchtreklame, an der ein Ende unter Lichtzuckungen litt. Ich nahm noch einen ordentlichen Zug aus meiner linken Achselhöhle und schritt lässig die Treppe in den Gewölbekeller runter. Hätte meinen Herzschlag hören können, klimperte mir der Pianist nicht bereits die gewünschte Fahrstuhl-Musik entgegen. Den Barkeeper Johnny, den kannte ich gut. Er war da und war sogar um ein Jahr gealtert. Jedenfalls hatte er so stark zugenommen, wie man nur in einem Jahr zunehmen konnte.

 
"Hugo! Das ist ja mal eine nette Überraschung!", rief er mir so laut zu, dass der Piano-Spieler kurz seinen Anschlag besänftigte.

 
"Johnny! Ja, bestimmt ein Jahr war ich nicht hier. Wie läuft es denn?"

 
Wir begrüßten uns brüderlich.

 
"Immer dieselbe Scheiße", flüsterte er mir ins Ohr, während seine fleischige Hand meinen Rücken abklopfte. Dann nahm er Abstand, hielt mich an den Oberarmen fest und betrachtete mich grinsend.

 
"Du siehst scheußlich aus, aber geil! Whiskey Sour?"

 
Er führte mich an den heiß begehrten Platz neben dem Bareingang und versteckte das Reserviert-Schild hinter dem Rücken.

 
"Ich hab einen sagenhaften Bourbon für dich! Come in and find out, darling!"

 

Ich schob meinen Hintern brav auf die Lederpolster des Stehplatzes und versuchte mir nicht anmerken zu lassen, dass es ganz furchtbar für mich war, dass Johnny so tat, als sei ich gestern erst da gewesen. Wo war das letzte Jahr denn geblieben? Hatte ich so hart an mir gearbeitet und mich vergraben und in Enthaltsamkeit geübt, dass ich hier aufschlagen konnte und diese ganze Zeit nur ein Sandkorn in der Urzeit darstellte? Ich knöpfte mein Hemd noch weiter auf, ohne sofort zu merken, dass inzwischen nur noch 3 Knöpfe zum Hosenbund übrig geblieben waren. Ein junger Typ fixierte mich an der Brust, sonst wäre mir das gar nicht aufgefallen. Ich rieb mir mit der linken Hand das rechte Ohrläppchen. Doch mein verlegener Versuch mich zu bedecken, entlockte dem Typen nur ein Grinsen. Ich war aus der Übung und mir ging das alles zu schnell. Der Whiskey Sour kam aber keine Minute zu früh und Johnny verwickelte mich in ein Gespräch. Er war schlimmer als mein Friseur, der mich sicher für tod hielt. Der war auch so ein Sprecher ohne Punkt und Komma: Der hat das gemacht ... und die ... und dann ... stell dir mal vor ... also ich ... ich würde ja .... und überhaupt: Ist das nicht furchtbar? Ich konnte Johnny beim besten Willen nicht folgen. Manche Namen riefen zwar Erinnerungen an Gesichter wach, mehr aber auch nicht. Es war mir scheißegal was in dieser Stadt passierte, in dieser Szene, ja sogar in dieser Bar, die mal mein zweites Zuhause war. Johnnys Geplapper bestand doch zu 20 Prozent aus der Begeisterung, sich selbst Reden zu hören, dachte ich frustriert. Der Whiskey Sour schmeckte hingegen besser denn je und Johnny winkte mir bei seinem smarten Kollegen gleich noch einen zweiten heran und laberte weiter.

 

Meine Gedanken wanderten zurück in meine Wohnung. Da die Räume gerade verlassen waren und nur Papier auf dem Boden herumlag, das seine eigene Sprache sprach, war da auch niemand. Ungewohntes Bild. Ich malte mir die Wohnung von Frau Stone aus, die ich nicht kannte. Ob sie da mit dem Gummi-Mann lebte? Ob er da auch den ganzen Tag nur Espresso kochte und sie Schnittchen mit Tomate, Gurke und Schnittlauch für ihn anrichtete? Ob sich Emo überhaupt jemals aus seiner Gummihaut pellte und seine aufgequollene Haut unter einem Pyjama mit Teddybären trocknete? Ich hatte ja schon Fälle von Latex-Fetischisten erlebt, die sogar in Latex schliefen. Eine Frau — sie war Domina — war sogar mal einer toxischen Vergiftung durch die Weichmacher erlegen. Ist durchgedreht. Wollte aus dem Hotelzimmer springen. Eigentlich wünschte ich mir, dass dieses Emo auch abkratzte. Vielleicht an Herz-Infarkt, ausgelöst durch eine Überdosis italienischem Espresso. Ich hatte den Eindruck, dass es nicht die Rettung für Stone bedeutete, sondern seit jeher ihren Untergang forcierte. Und dann hörte ich wieder dieses angeekelte Geräusch aus Stone, als die Lippen sie so rüde geküsst hatten. Das war kein Kuss. Das war eine Warnung, ihr das nächste Mal das hübsche Gesicht zu zerbeißen, wenn sie wieder mit "Papa" Mensch-Ärgere-Dich-nicht spielte. Oder war ich am Spinnen? Ja, ich mochte Stone. Sie war so ausgeglichen. Sie hatte so was Schutzloses an sich, das keinerlei Schutz von außen benötigte. Sie lebte ihre Schutzosigkeit selbstbewusst. Ich fühlte, dass sie genauso einsam war wie ich. Ja, das war es. Sie war stark und schwach zugleich. Keine Ahnung. Für einen Moment fand ich sie atemberaubend. Ich kippte diesen Impuls mit dem Getränk runter, das ich für gewöhnlich nur in gleichmäßigen Abständen leer nippte.

 
"Mach mir noch einen!", unterbrach ich die Selbstdarstellung von Johnny in einem herrischen Ton.

 
"Schon gut, ganz ruhig Brauner!" Jetzt hatte ich ihn prompt beleidigt und er verließ mit einer schnippigen Drehung das Blickfeld zwischen mir und dem Typen, der mich immer noch fixierte. Eine Sekunde später ergriff der die Gelegenheit und kam auf mich zu.

 
"Darf ich?", fragte er unerwartet charmant, deutete einen Platz für sein Longdrinkglas an und sah dabei einfach gut aus. Ich kam mir sogar richtig vor wie eine Wurst, so wortkarg und frustriert, wie ich den Abend bislang verlebt hatte. Er war aber in seiner Perfektion nichts Besonderes, weil ich 'einfach nur schöne Jungs' gar nicht so anziehend fand. Ich liebte charismatische Wesen mit irgendeinem Makel. Ich liebte vor allem die, die nichts von mir wissen wollten. War wohl so ein Tick von mir. Und wenn ich dann mal die Nacht mit einem Topmodel verbrachte, reichten zerzauste Haare vom Rutschen in den Kissen, damit dieses Gleichgewicht wieder stimmte. Doch solche Experimente waren ja nun lange genug her.

 
"Ja, setz dich ruhig zu mir", sagte ich endlich. Mehr sagte ich aber nicht. Ich wusste gar nicht, was ich davon halten sollte. War irgendwie in einer 'rutscht-mir-doch-alle-den-Buckel-runter-Stimmung'.

 
"Erwartest du noch jemanden? Ich bin übrigens Tom". Tom hielt mir seine Hand hin. Ich schüttelte sie wie eine Fernbedienung, bei der die Batterien den Kontakt verloren hatten.

 
"Hugo. Ich bin Hugo."

 
Er musterte mich. Vielleicht sah er, dass ich lange nicht beim Friseur war.

 
"Willst du mich ficken?", flüsterte er in mein Ohr.

 
Ich dachte nach.

 
"Weiß nicht. Sexmäßig ist bei mir nicht mehr viel los."

 
"Du fickst nicht? Ist die Keule schon müde, Höhlenmann? Das wäre aber schade."

 
"Nein, ich will nur nicht mehr. Wenn´s in meiner Hose nur um Müdigkeit ginge, wäre vieles einfacher. Für dich scheint Sex ja zu sein, wie Zigaretten anbieten."

 
"Ich wollte dich nur nicht mit Small Talk nerven, weil reden tust du ja auch nicht gerne, da dachte ich ..."

 
"Ist schon gut Tom, ich war auch mal jung."

 
"Ich mag reife Männer!"

 
"So alt bin ich nun auch wieder nicht. Bleib einfach bei mir. Wenn du leichtere Beute entdeckst, zieh weiter, ansonsten ... keine Ahnung."

 
Er guckte mich erstaunt an. Dafür, dass ich nicht interessiert war, wirkte ich weder schockiert noch genervt. Ich fand das auch in Ordnung. Wenn er sich mir anbot, nahm ich das erst mal als Kompliment. Aber ich hatte mein Leben schon genug aus den Angeln gehoben für einen so jungen Abend.

 

In dem Gedanken betrat ein sehr großer Mann den schummrigen Laden und erinnerte mich total an Mic. Das traf mich wie ein Schlag und dieser Schlag lockerte meine Kiefer. Tom sah, dass ich auch einen ganz anderen Blick draufhaben konnte. Er schien ein wenig enttäuscht, dass er nicht die gleiche Wirkung auf mich hatte. Ich musste aber da hingucken! Nein, es war nicht Mic. Es war nur ein anderer großer Mann, neben dem ich wie ein Zwerg ausgesehen hätte. Er war auch ca 15 Jahre älter als ich und wirkte charismatisch. Aber nicht bis unter die Haarspitzen, nicht wie Mic. Er war auch supergeil angezogen, reichte mit seinen Klamotten aber lange nicht an die Extravaganz von Mic. Der würde nicht hier hereinkommen. Das wäre entweder so, wie 5 Richtige im Lotto zu gewinnen oder auf meiner eigenen Beerdigung zu Gast zu sein, wenn ich mich so anschaute. Tom wurde nervös, weil er während meiner Vergleicherei so ins Abseits geriet, dass er sich dämlich vorkommen musste. Ich ergriff mal die Initiative, bevor er ohne ein Wort abhaute.

 
"Tom, wenn du den Typen da aufreißt und ich euch, bei was auch immer zugucken kann ... das wäre mal ne Aktion. Ich wette 200 Euro, dass du das nicht geregelt bekommst."

 
Tom hielt seinen Blick fest auf mich fixiert.

 
"Bist du total irre, kranker Mann?"

 
Dann reichte er mir wieder die Hand.

 
"Wette gilt! Du bist ein Freak. Gefällt mir, Hugo. Wenn es nicht klappt, darfst du mir auch gerne beim Zähneputzen zusehen."

 
Er nahm sein Glas, klopfte auf den Tisch und wanderte in Richtung des Mic-Doubles ab. Ich schaute in meinen Humpen und betrachtete die Reflexionen der großen Eiskugel, die aus dem Schaum des geschüttelten Bourbon ragte und mit der eingelegten Kirsche kuschelte.

 

Mic, der war das Grundrauschen in meinen Gedanken und in meinem Lebensgefühl. Er floss durch mein Blut, saß in meinen Eingeweiden und krallte sich in mein Fleisch. Ich pinkelte ihn mit dem Mittelstrahl in die Morgentoilette und verleibte ihn mir mit dem ersten Glas Milch wieder ein. Ich atmete ihn beim Sport aus und schnarchte ihn in der Nacht wieder ein, immer nur ein, niemals ganz aus. Nicht ein einziges Mal ist es mir gelungen, ihn zu hassen. Wenigstens dafür, dass er ein halbes Jahr ständig mit seiner Musik da war und dann ohne eine richtige Erklärung weg blieb. Ich habe trotzdem oft gebetet ihn zu vergessen, so wie ich jede andere Liebelei vergessen hatte, ohne mich dafür überhaupt anzustrengen. Was nicht war, war auch nicht. So einfach ist das immer gewesen. Ich war viel zu rational, um Dingen oder Menschen nachzuhängen, die nicht kompatibel waren. In Sachen Mic habe ich sowohl aufgegeben mich dagegen zu wehren, als auch darum zu kämpfen. Die letzte persönliche Nachricht an ihn war gute drei Jahre her. "Ich kann das nicht mehr ertragen, ich muss dich entfreunden." "Lösen, löst gar nix", war seine schlichte Antwort. Ob ich so versessen auf ihn war, weil er mir die Musik der ganzen Welt zugespielt hatte? Er wusste, was das in mir auslösen konnte, denn er war selber so ein Musiknarr. Jeder Song, den er mir jemals als Youtube-Link über eine PN in Facebook geschickt hatte, gab mir das Gefühl, er würde für mich singen. Er hatte somit nicht nur die Stimme von Lou Reed, sondern auch die von David Bowie, Robert Palmer, Brian Ferry und sogar die Stimme von Toni Braxton. Und auch jetzt und genau hier in der Fahrstuhlmusik, die der Piano-Spieler zu mir herüber wehte, war er. Denn er hatte sich auch mit jedem Beat, jedem Klang, jeder Melodie und jeder Harmonie verwoben, die mein Herz berührte. Warum hat er das nur getan? Ein einziges Mal haben wir telefoniert. Da hat er auch gesagt: "Mit Musik spielt man nicht!" Er wusste genau um die Macht. Ich konnte also rein logisch gar nicht anders, als davon ausgehen, dass er mich bewusst an die "Plattennadel" bringen wollte. Um mich dann Stück für Stück am langen, ausgestrecktem Arm verhungern zu lassen? Nein, da musste noch was kommen. Ein Wunder. Eine von langer Hand geplante Überraschung. Ich hatte doch nur diese eine wundersame Nacht von ihm bekommen, in der ich vom Kiffen kotzen musste und in der klar wurde, dass ich fast zwei Köpfe kleiner war als er. Danach mied er mich wie die Pest. Meinte nur, dass ich wohl einige Dinge in meinem Leben in Ordnung bringen müsste. Damit lag er nicht verkehrt. Ich hätte ihm nicht von meinem Job erzählen sollen. Doch ich hatte alles getan, um meine Dinge in Ordnung zu bringen. Sogar meinen kranken Job aufgegeben. Lange dachte ich, ich tue das für ihn irgendwie. Doch ich änderte die Dinge nur für mich. Vielleicht war das alles ein riesen Fehler. Angefangen mit meiner Geburt. Was dachte ich da? "Stopp!", herrschte ich mich innerlich an. Diese Gedanken waren so durchgekaut wie ein zähes Stück Rindfleisch, das ich doch niemals runtergeschluckt bekam.

 

"Johnny, machst du mir noch einen?"

 
Ich rechnete mal. Hier würde ich locker 100 Euro latzen, bei der Schlagzahl. Dann noch 200, falls ich die Wette verlor und ein Taxi nach Hause, 30 Euro. Vielleicht noch ein Club-Sandwich, wenn sich mir weiter alles drehte. Johnny war nicht mehr beleidigt, weil ich ihm nicht richtig zugehört hatte, und stellte mir zum Zeichen zusätzlich eine kleine Flasche Wasser auf den Tisch.

 

"Willst du reden? Ich hab ne halbe Stunde Pause."

 

"Isst du auch was?", fragte ich.

 

"Ja, ich hab zwei Club-Sandwich bestellt."

 

Er zwinkerte mir zu. Er war ne gute Seele. Immer schon gewesen. Und so oberflächlich sein Gelaber auch vorhin noch von mir abgetan wurde, es beruhte zu 80 Prozent auf seiner emphatischen Beobachtungsgabe. Selbst wenn es wie Getratsche rüber kam: Seine Schilderungen waren eine Filterung von dem, was seine Gäste versuchten darzustellen und dem, was sie tatsächlich waren. Und er hatte nichts Anderes. Er lebte für diesen mehrfach ausgezeichneten "Keller". Johnny wusste, dass ich mich beschissen fühlte, mich aber damit abgefunden hatte. Johnny wusste auch, dass die Leute, die selbst das Jammern oder Posen aufgegeben hatten, meistens wirklich arme Säue waren. Und genau darin lag sein Respekt vor mir. Ich brauchte Menschen um mich, die genauso waren wie ich, genauso kämpften und genauso fühlten. Aber immer nur für Augenblicke. Menschen wie wir ziehen sich langfristig nur gegenseitig die Abgründe runter. Da können wir uns noch so anstrengen, genau das zu vermeiden. Es ist einfach nur eine Frage, wie stark wir schwach sein können. Los Johnny, frag mich was und unterbrich unseren seelischen Fick. Ich halte das nicht mehr aus.

 
"Erzähl mal Hugo, wo warst du das letzte Jahr?"

"Ach Johnny, wenn du so lange im Job warst und dann aussteigst, das lässt dich nicht einfach los. Für mich gab es da am Ende nur das Einigeln."

 
"Hab ich mir gedacht, dass es damit zusammenhängt. Und? Was ist aus deinem Typen geworden, ich meine aus dem, der dich so geknickt hat."

 
"Geknickt?" Ja, geknickt. Das hat er mich. "Ich hab mich wieder aufgerichtet, vermute ich. Aber da ist ne Sollbruchstelle geblieben. Bin vorsichtig."

 
"Also nix draus geworden? Schade. Wenn du mich so lieben würdest wie den, ich würde alles für dich tun."

 
"Ach, Johnny. Er wusste genau, dass nur in der Verweigerung seiner Liebe, wahre Liebe für mich enthalten sein kann. Guck sie dir doch an, die Jungs. Für nen Abspritzer sind sie ganz schnell bei der Sache. Du weißt, dass ich ne sensible Seele bin. Ich hatte nur nicht gewusst, wie sensibel ich tatsächlich bin. Ich liebe bedingungslos. Alles andere ist doch Latte."

 
"Naja, klingt verdammt nach Märtyrer. Aber unseren Tom hier, den würde ich nicht einfach so vom Platz weg schicken. Der macht echt Spaß. Du bist doch noch schwul, oder?"

 
"Was´n das für ne Frage?"

 
"Du wirkst so ... anders."

 
Die Sandwiches kamen und ich beobachtete kauend meinen Wett-Partner, der sich prächtig mit der Kopie von Mic unterhielt. Die Ähnlichkeit war einfach verblüffend und brachte meinen Stoffwechsel in Gang. Genussvoll verschlang ich das Essen. Mayonnaise kitzelte mich am Kinn und Johnny wischte mir mit einer Serviette den wilden Bart sauber. Offenbar stand ich hier immer noch hoch im Kurs. Vielleicht wirkte ich auch nur senil oder wie ein Typ mit Vollschaden.

 
"Wenn du willst, lasse ich meine Kontakte spielen und mach was Unverbindliches für dich klar, Hugo. Oder du kommst nach Ladenschluss zu mir und wir gucken friedlich in mein Aquarium. Ich habe einen neuen Wels, der ist prachtvoll!"

 
"Lieb von dir, aber die Sache hier läuft schon." Ich nickte in die Richtung, die ich gerade beobachtete.

 
"Aber du hast ihn weggehen lassen."

 
"Ja und nein."

 
"Du wirst mir immer ein Rätsel bleiben. Sag mal, was machst du denn jetzt? Beruflich meine ich."

 
"Ich schreibe."

 
"Oh, das ist ja grandios und gibt es schon Bücher von dir?"

 
"Nö."

 
"Und wovon lebst du?"

 
"Vom Gesparten. Ist aber in einem Jahr aufgebraucht. Spätestens."

 
"Tja, was soll ich sagen? Habe einen guten Kunden in dir verloren und einen unsichtbaren Freund gewonnen."

 
Irgendwie merkte ich, dass ich nicht so richtig ins Gespräch fand. Johnny borte auch nicht weiter nach. Es war eben, wie es war. Gespräche führte ich inzwischen wohl lieber mit meinem Therapeuten am Telefon. Mein Barmann machte sich wieder an die Arbeit und Tom verstärkte im Gespräch — drei Meter entfernt an der Bar — seinen Körpereinsatz, indem er lachend seine Hand auf die Lenden meines fanatisch geliebten Doppelgängers legte. Ich hörte meinen Therapeuten sagen: "Wissen Sie, mit der unerwiderten Liebe zu diesem Mann, schaffen Sie sich letztendlich viele Feiräume und vermeiden Konflikt und Körperlichkeit! Das ist Ihre Wahl, vergessen Sie das nicht."

 

Etwas im Magen zu haben tat gut und ich leerte noch einen weiteren Whiskey Sour. Während sich Tom weiter ans Fummeln "light" machte und offenbar sehr bemüht war, unsere Wette zu gewinnen, erinnerte mich genau diese Szene an Emo und Stone. Was hatte ich mich eigentlich so aufgeregt? Ich konnte doch unmöglich davon ausgehen, dass die Gummipuppe ein Neutrum war. Mit irgendeinem Geschlecht sind wir schließlich alle ausgestattet. Ich war außerdem derjenige, der mit den Augen bei Emo im Schritt rumgewühlt hatte. Erst war es schlimm für mich ein Weib im Haus zu haben, dann war es schlimm für mich, einen Typen im Haus zu haben. Frau Stone hatte mich angeschrieben, weil sie mich für tolerant in Bezug auf Gender-Fluids hielt und ich war ausgeflippt, wie eine Zicke, weil ein mickriger Penis aufgezuckt ist. Das war ein Auftrag. Mein erster Auftrag als Indie-Autor, für den sich kaum jemand interessierte und ich sollte mal von meinem hohen Ross runter kommen. Vielleicht war die Geschichte ja interessanter als ich dachte. Hugo. Hugo auf dem hohen Ross. Ich predige Toleranz und lebe Ignoranz. Kann ich sonst noch was für Sie tun? ... Lächerlich! Ich sollte mich entschuldigen. Ich sollte jetzt nach Hause fahren, aufräumen, schlafen und morgen was Leckeres für die beiden kochen. Auf dem besten Wege zurück zur gedanklichen Normalität, näherte sich mir mein Wettgespann.

 
"Hugo, du bist ja noch da. Darf ich euch bekannt machen? Florian, das ist Hugo, Hugo das ist Florian."

 
Florian hatte auch so stahlblaue Augen wie Mic. Aber sein Blick war enttäuschenderweise nur zu einem Drittel so tiefsinnig und glasklar, wie der von Mic. Dennoch er hatte die gewisse Reife, leichte Hängelieder, Falten um die Augen und am hageren Hals etwas schrumpelige Haut. Das gefiel mir einfach. Vielleicht gefiel mir das nicht grundsätzlich, aber ich liebte Mic mit diesen Anzeichen menschlicher Vergänglichkeit und alles was ich jetzt wollte, war ein Hauch von Mic. Auch wenn ich mich dafür selbst bescheißen musste. Ich schätzte ab. Doch! Die Illusion würde funktionieren. Also legte ich mich mal ein wenig ins Zeug.

 
"Hey, sehr erfreut. Setzt euch doch zu mir."

 
"Du, wir wollten an die frische Luft und später noch bei mir chillen. Kommst du mit?"

 
"Ja, ich komme gerne mit. Lasst mich kurz zahlen."

 
Als der frische Nachtwind meine Nase kitzelte, war ich froh, nicht alleine durch die Straßen zu laufen. Ich war echt ein stiller Mensch geworden und lief als drittes, rauscharmes Rad am Wagen einfach so mit. Die beiden machten Späße und hingen thematisch in einer Werbe-Fuzzi Dauerschleife. Offenbar hatte Tom da an einer Gemeinsamkeit angeknüpft. Ob er diesen Florian wirklich scharf fand, wusste ich nicht. Vielleicht lieferte er diese gelungene Show auch nur für mich ab. Wir kamen nach zwanzig Minuten in Toms Wohnung an. Er war ein hygienefanatischer Pedant, aber es war gemütlich. Keine Fußnägel auf dem Tisch, dafür frische Blumen und Schokoladen-Pralinen.

 
"Macht es euch gemütlich. Ich hole uns was zu trinken. Hugo, geht auch Whiskey Cola?"

 
"Für mich nur Cola. Hab genug intus, danke!"


Ich musterte Florian und versuchte mir alles, was nicht passte, passend zu denken. Aber mehr zu saufen war jetzt echt keine gute Idee. Die Sache war mir zu ernst, als dass ich noch einem spontanen Würgreiz erliegen wollte, wie damals vor guten vier Jahren bei Mic im Landhaus. Meinem ersten und einzigem Besuch. Kann sein, dass ich so doll war an jenem Abend, dass ich versucht habe ihn mit meiner sauren Fahne zu küssen. Wahrscheinlich war er einfach nur angeekelt von mir und schätzte mich als Mensch mit Fehlern, während ich noch immer davon ausging, dass ich eines Tages seiner würdig wäre. Leider wurde mir in diesem — sonst so eifrig verdrängtem — Gedankengut speiübel. Erkenntnis ist wie Finger klemmen.

 
"Tom, die Toilette ... wo?"

 
Das schöne Sandwich. Ich war erledigt. Nicht nur jetzt und hier, reiernd über dem Klo. Ich war immer schon erledigt. Als ich wieder raus kam, waren die beiden peinlich berührt. Ich hatte die prickelnde Stimmung versaut. Aber hey! Mir ging's gleich viel besser. Ich musste reden, sie zum Lachen bringen, irgendwas. Aber ich war wie eine hohle Nuss voller Watte. Vielleicht noch so ein Segelchen drauf, wie es in Waldorfschulen gern gebastelt wird.

 
"Hört mal, lasst euch nicht stören von mir, ich setz mich da hinten in den Sessel, ja?"

 
Die beiden Turteltäubchen gehorchten aufs Wort und reagierten nichtmal auf meine Ankündigung. Sie plauderten weiter. Die entspannende Musik war so laut, dass ich nicht hören konnte, was sie sagten. Und dann saß ich da in der dunkelsten Ecke und musste schmunzeln, weil ich an den Film "True Lies" dachte, in dem Schwarzenegger mit einem Tonband den Striptease seiner Frau anleitete. In der nächsten Minute stellte sich Florian vor Tom auf und ließ die Hose runter. Sein flacher Po erinnerte mich auch an Mic. Die Vorstellung, dass ein fremder Mund sich an seinem Schwanz gütlich tat, kochte meine Magensäure wieder auf und explodierte wie eine kleine Giftgas-Bombe in meinem Herzen. Sein Becken bewegte sich in langsamen Stößen dem frischen Genuss entgegen. Zufrieden streichelte er über Toms Kopf und streckte seinen eigenen über den Nacken. Die Beiden waren wegen nichts Anderem hier. Und ich ja eigentlich auch nicht. Ich, Wurst im Sessel. Ich konnte Tom nicht sehen und stellte mir vor, ich betrachtete mich selbst vor Mic sitzend und ihn mit festen Lippen umfasst. Wie ich meine Augen zum ihm hochdrehte und versuchte ihm mit dieser Geste des Blasens all meine Liebe zu schenken, ihn zu verzaubern und gleichzeitig für immer an mich zu fesseln. Aber ich hielt diese Vorstellung nicht durch. Inzwischen hatte ich erkannt, dass es töricht ist, jemanden mit Lust hörig zu machen, genauso wie mit Musik. Während die beiden realen Männer die Musik leiser stöhnten, wurde mir klar, dass diverse Gründe dagegen sprachen, dass ich jemals diese Rolle vor Mic einnehmen würde, obwohl ich immer mal wieder davon träumte. Eigentlich wollte ich nur seine Hand halten. Irgendwie reichte mir diese Liebe ohne Körper. Was sollte dieses innere Gezeter?

 
Die beiden drehten sich seitlich zu mir. Tom kniete sich auf den Boden und machte weiter, als würde er nie wieder aufhören wollen. Meine Mic Imitation machte den Eindruck, als hätte sie sich dabei gut unter Kontrolle. Es blieb bei der Säure und dem Brennen in meinem Inneren, auch wenn ich nun wieder komplett aus der Tom-Rolle ausgetreten war und zusah, wie ein anderer Sex hatte mit ihm, mit Mic, der mich verschmähte. Knapp an seiner Explosions-Grenze drückten sie sich auseinander. Wer auch immer den Impuls dazu geliefert hatte. Ich fragte mich, ob Mics Lust im selben Augenblick auch so tänzeln würde und er dagegen angehen, einen Schluck trinken und sich runter atmen würde. Ein verdammt gutes Team die beiden. Wäre ich Porno-Regisseur geworden, ich hätte sie jetzt angewiesen, es auf dem Teppich zu treiben. Aber ich hörte mich was anderes sagen:

 
"Könnt ihr bitte mal zu mir rüber kommen?"

 
Toms Jeans war noch verschlossen aber mächtig spack im Schritt. Schmerzverzerrt presste er seine Hand auf die Erregung. Florian war zum Greifen nah. Einen echten Schwanz hatte ich nun seit einem Jahr weder berührt, noch so nah vor mir prangern sehen. Ich schluckte. Ich schluckte den Schmerz runter, dass ich reserviert und einsam war und ein Sklave meiner Prinzipien.

 
"Ich habe einen Wunsch", sagte ich so dumpf, dass ich beinahe an meinen Worten erstickt wäre.
"Könntet ihr euch vor mir küssen? Einfach nur innig küssen?"

 
Sie lächelten mich an. Ich weiß nicht, was für eine Figur ich da abgab im Sessel. Vielleicht hatten sie einen Wichser erwartet, aber ich war einfach nur voller Sehnsucht und wollte mehr im Herzen fühlen, als in der Hose. So war ich nun mal geworden. Sie küssten sich erst spielerisch und dann so, wie ich es mir erhofft hatte, sinnlich, innig und weltvergessen. Ihre Augen waren zu und hätte ich dieses Bild nicht so sehr gebraucht, hätte ich meine Augen auch verschlossen. Ich beobachtete ihre Hände, wie sie sich hielten, streiften, griffen, packten. Die Zungen, wie sie sich mal weicher und mal härter umspielten. Sie erregten sich gegenseitig so stark mit ihren Küssen, dass beide an Toms Jeans rumfummelten, um sie zu öffnen. Das brachte mich raus. War aber nicht schlimm. Ich erstickte ja eh beinahe an meiner eigenen Erinnerung und dem Versuch, einen Filmstreifen über die Realität zu legen.

 
"Geht ins Schlafzimmer und fickt euch die Seele aus dem Leib!", rief ich aus.

 
Da ich bereits fette Tränen in den Augen stehen hatte, wussten sie wohl genau, wie ich das meinte. Sicherlich hätten sie mich gerne aufgemuntert und ließen die Schlafzimmertüre deswegen offen stehen. So sah ich ihre Schatten und hörte heiße Geräusche über die Musik hinweg zu mir vordringen. Ich hab geheult wie ein Schlosshund. Statt Sperma hatte ich die Hände voller Rotze. Aber mein Herz war getränkt mit dem Saft der Treue und der Sehnsucht und der Hoffnung, die ich noch lange nicht bereit war, aufzugeben. So schlief ich auch bald ein.

 

Ich fand mich am Morgen in dem Sessel wieder. Mein Nacken war verspannt und ich blinzelte ins Tageslicht. Ich roch Kaffee und hörte ein fröhliches Pfeifen. Emo hatte noch nie gepfiffen ... trotzdem war mein Gehirn dabei Kaffeegeruch und Emo zu verknüpfen, dabei war es Tom, der mir grad einen großen Becher vor die Nase hielt.

 
"Du bist mir ein komischer Kauz, Hugo. Aber was soll ich sagen, außer Danke für die schöne Nacht? Gehts dir gut?"

 
Ich drückte mich in den Polstern hoch und knetete mir die oberen Halswirbel durch.

 
"Ja, alles in Butter. Ich habe zu danken. Bin schon übler abgestürzt, das kannst du mir glauben. Ist Mic schon weg?"

 
"Welcher Mic?"

 
"Ach, schon gut. Vertan, sprach der Hahn und sprang von der Ente."

 
"Flo musste schon früh los, der hat einen Lauftreff oder so. Mit 56 so fit zu sein, da muss man schon was für tun", schwelgte Tom.

 
"Sehr ihr euch wieder?"

 
"Man munkelt so was." Tom wirkte verklärt. Er erinnerte mich an meine verliebte Phase, als ich noch Alles für möglich gehalten hatte.

 
"Kann ich bei dir duschen? Ich fühle mich klebrig."

 
"Klar. Aber genieß erst mal den Kaffee. Es ist doch erst 8.00 Uhr."

 
Ich trank den Kaffee, duschte mich, benutzte die Einmal-Zahnbürste und legte 200 EUR unter den Zahnputzbecher.

 
"Du wohnst hier sehr zentral, wenn ich mich richtig erinnere?"

 
"Ja, die Fußgängerpassage ist fünf Gehminuten von hier entfernt. Willst du nicht noch bleiben? Ich habe heute frei und könnte deinen Rücken massieren."

 
"Lieb von dir, aber du hast schon genug für mich getan, auch wenn das nicht danach aussieht."

 

Ich zog meine Lederjacke über, klappte den Kragen hoch und ging raus. Bei der nächsten Bank zog ich mir 500 Euro. Mir war klar, dass das hier ein einmaliger Ausrutscher war und ich wollte alles wieder so herstellen, wie ich es mir im letzten Jahr zurechtgelegt hatte. Das Überleben. Beim erstbesten Bäcker kaufte ich mir eine süße Semmel und einen Kakao. Dann setzte ich mich in einen Park, den ich ein paar Hundert Meter entfernt entdeckte. Es war schönes Wetter und ich beobachtete die Menschen von einer Parkbank aus. Unwirklich. Sauerstoff hatte ich auch am geöffneten Fenster. Menschen sah ich von da aus auch. Sie betrachteten dann aber wenigstens nicht mich. Ich betrachtete sie. Hier suchten Blicke in Blicken und Fremdheit gesellte sich zu Fremdheit. Zeit nach Hause zu gehen. Oder ein paar neue Pantoffeln zu kaufen und zum Friseur zu gehen. Ich entschied mich, den Freigang tatsächlich noch etwas auszudehnen. Mein Hair-Stylist war vor Freude rumgesprungen. Fünf Stunden saß ich bei ihm fest und wurde befummelt wie ein Königspudel.

 

Dann war ich endlich wieder zu Hause und verriegelte die Tür. Erst mal bei Facebook schauen, ob es was neues bei Mic auf der Seite gab. Aber er war sehr inaktiv geworden und ich erwartete eher nichts. Trotzdem war da ein Bild von einer Kirche und ein Song von Echo and the Bunnymen: The Killing Moon. Ich bezog das nicht auf mich ... und was wenn doch? Nein. Dann ein paar Mitteilungen. "Wohin die Liebe fällt ..." Hä? Zu welchem Post gehörte das denn? Ich rieb mir die Augen. Ich hatte geschrieben, dass ich verliebt in Stone sei??? Nein! Das war ich nicht! Das Ebook mit meinen Aufzeichnungen zum Projekt war auch off und gelöscht. Plötzlich fühlte ich etwas Nasses unter meiner Hand. Dieses gottverdammte Emo Arschloch!!! Schweiß aus seinem Anzug auf meiner Schreibtischplatte. Dumm war es also auch noch. Ich schaute auf mein Handy. 12 Anrufe in Abwesenheit von Stone, die das auch lesen konnte. Das war wirklich peinlich und würde unsere Arbeit belasten. Und das, wo ich dem Ganzen gerade wieder eine Chance geben wollte. Ich war stinksauer und hilflos. Noch am Vorabend hatte ich mir schließlich diese Frage gestellt, ob ich mehr für sie empfand, als eine Auftraggeberin, besonders mehr, als ich überhaupt für Frauen empfinden konnte. Aber hey, das waren lockere Gedanken. Ich war eben ein sehr stark selbstreflektierter Mensch.

 

Emo wollte das Projekt sabotieren. Warum? Ich hatte jetzt nur zwei Möglichkeiten: Entweder ich fror wirklich alles ein und ließ das Emo gewinnen oder ich zog die Sache gnadenlos durch. Dann müsste ich aber zuvor den Fall mit der Gummipuppe unter die Lupe nehmen und brauchte eine Strategie, das Emo zurück ins Boot zu holen, ohne dass es weiter Ärger machte. Ich machte mir Sorgen. Um Stone.

Impressum

Texte: Hugo Ross
Bildmaterialien: Garnet Steiner
Tag der Veröffentlichung: 01.06.2015

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Weil ich nichts wertvolleres hinterlassen kann, als eine bunt angemalte Schwärze.

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