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Sternenflitzer

 

 

Es war ein Tanz mit den Sternen und Planeten.

Der Raumflitzer sauste unter einem gasförmigen Planeten hindurch, der in allen Regenbogenfarben schimmerte. Schließlich verschwand er hinter einer riesigen Sonne, die gewaltige Gaswolken ins All schleuderte, und tauchte Sekunden später wieder auf, wobei er eine Drehung um die eigene Achse vollführte. Die Sterne leuchteten wie Diamanten in der Nacht. Und da es im Weltall keine Schwerkraft gibt, kein ‚Unten‘ und kein ‚Oben‘, spürte der Pilot nichts von den schnellen Manövern, die er mit seinem Flitzer ausführte.

Oskar erfüllte sich einen Traum. Der Flitzer war ein Geschenk seiner Freunde zum 150. Geburtstag und endlich, endlich konnte auch er auf Spritztour gehen. Wie er sie alle beneidet hatte, Wassili und Tenkow, die bereits vor drei Jahren ihren Raumflitzer bekommen hatten. Nicht zu vergessen Maschakow, die schon mit erstaunlich jungen 110 Jahren eine Flugerlaubnis erhalten hatte. Maschakows Vater war ein hohes Tier in der Weltraum-Verkehrsgesellschaft. Natürlich hatte sie da ihre Beziehungen.

Oskar riss den Flitzer um 180 Grad herum und sauste auf ein angrenzendes Sonnensystem zu, das als System 770007 auf der Anzeige ausgewiesen wurde. Ein Blick auf den Zeitmesser verriet ihm, dass er sich bald auf den Weg nach Hause machen musste. Morgen hieß es: Früh aufstehen – und er war schließlich ein halbes Dutzend Galaxien von zu Hause entfernt.

Sein zehntes und letztes Lehrjahr als Raumschifftechniker in einem Weltraumdock hatte vor kurzem begonnen. In den zurückliegenden Jahren hatte Oskar sich schon genug Schnitzer erlaubt, vor allem, weil er morgens nicht aus dem Bett kam. Jetzt musste er wenigstens das eine Jahr bis zur Abschlussprüfung noch durchhalten und durfte nicht mehr unangenehm auffallen.

Um diese eine Sonne im System 770007 wollte er noch herumflitzen, dann würde er sich auf den Heimweg machen. Er durchquerte mit Höchstgeschwindigkeit den fast leeren Raum zwischen den Sternensystemen und tauchte schließlich in das Sternensystem 770007 ein. Die Sonne dieses Systems war überraschend klein. Oskar steuerte sie an. Der Heliumball raste mit einer Geschwindigkeit auf ihn zu, die atemberaubend war. Das Thermometer stieg. Die rote Barriere, die eine Überhitzung des Raumflitzers anzeigte, war fast schon erreicht. Oskar schien mitten in das brennende Inferno hineinzurasen. Er quietschte vor Vergnügen, dann riss er mit einem Schrei die Handsteuerung nach rechts, umkreiste die Sonne und hielt auf einen der kleineren Planeten des fremden Sonnensystems zu. Es war der, von der Sonne aus gerechnet, dritte Planet des Sonnensystems, weshalb er, laut Anzeige im Flitzer, die Bezeichnung 770007 -3 trug. Außerdem hatte er den Beinamen 'Blauer Planet'. Der Planet war wirklich blau, herrlich blau, und an vielen Stellen mit einer weißen Wolkenschicht überzogen. Oskar fand, dass es einer der schönsten Planeten war, die er auf seiner Spritztour bisher gesehen hatte. Allerdings war Solar 770007 -3 einer der verbotenen Planeten. Er musste also auf Distanz bleiben, zumal er primitive Satelliten verschiedener Größe sichtete, die davon zeugten, dass die Bewohner dieses Planeten mit der Raumfahrt begonnen hatten.

Der Reiz diesen Blauen Planeten einmal zu umrunden war allerdings stärker als alle Bedenken. Was sollte schon passieren? Eine kleine Ehrenrunde - und dann ab nach Hause, nach Oronoko. Oskar wollte eben beschleunigen, als ein Brummen einsetzte. Es klang wie ein Vibrieren, als wären alle Schrauben des Flitzers locker. Ein solches Geräusch hatte er in seinem Raumflitzer noch nie gehört. Mit jeder Sekunde wurde es lauter. Die Armatur begann verrückt zu spielen. Überall blinkte es plötzlich, als hätte jemand einen der Lichtwerfer in Gang gesetzt, die seit einiger Zeit bei Geburtstagspartys auf Oronoko der letzte Renner waren. Der Flitzer verlor an Geschwindigkeit. Einige Leuchtanzeigen fielen aus. Andere blinkten wie wild. Oskars Augen blieben an der Energieanzeige des Raumflitzers hängen. Energieverlust. Nur gut, dass auf den Flitzer noch Garantie war. Diese Ausfälle waren schließlich nicht seine Schuld. Oskar schob den irren Gedanken zur Seite. Die Frage, ob das hier ein Garantiefall war, war im Augenblick völlig unerheblich. Es ging um Leben und Tod. Und zwar um sein Leben. Und um seinen Tod.

Der Geschwindigkeitsrausch, in dem Oskar sich noch vor wenigen Sekunden befunden hatte, war verflogen. Sterben. Der Gedanke schnürte ihm den Hals zu. Er wollte zurück. Unbedingt. Zurück nach Oronoko. Zu seinen Freunden. In das Weltraumdock. Alles war ihm recht, nur nicht sterben. Die hellen Borsten auf seinem Kopf hatten sich aufgerichtet.

Hatte er sich zu Tode amüsiert?

Das Brummen hörte mit einem Schlag auf. Das leise Summen der Antriebsdüsen war plötzlich das einzige Geräusch, das die Pilotenkabine noch erfüllte. Es klang, als würde der Raumflitzer sein Leben aushauchen. Das Summen schlich sich in jeden Winkel und flüsterte Oskar ins Ohr: Aus. Vorbei. Garantie oder nicht – das war's.

Die Energieanzeige sackte weiter ab. Sie ging gegen Null. 10 – 9 – 8 - Der Kommunikator. Die Standortbestimmung. Das Erste, was sie im Flugunterricht gelernt hatten, war, an die Standortbestimmung zu denken. Vergessen. Alles vergessen. Er hatte keine Standortbestimmung durchgeführt. 7 – 6 – 5 – 4 - Oskar betätigte ein paar Schalter für den Autopiler, um seinen Standort noch schnell nach Oronoko zu funken.

Zu wenig freie Energie.

Der Blaue Planet entfaltete sich vor ihm in seiner ganzen Pracht. Der Anblick dieser Schönheit würde das Letzte sein, das er je zu sehen bekam. Kurskorrektur. 3 – 2 – 1. Oskars Finger gaben blitzschnell die Daten ein. Das Raumschiff nahm die Korrektur vor. Es waren die allerletzten Energiereserven. Dann verstummten die Antriebsdüsen, und der Flitzer bewegte sich geräuschlos auf den fremden Planeten zu, nur noch angetrieben durch die verbleibende Schubkraft. Er hatte sein kleines Raumschiff direkt auf den verbotenen Planeten ausgerichtet, in der Hoffnung, von der Anziehungskraft erfasst zu werden. Oskar starrte auf den Monitor. Die Schubkraft musste ausreichen! Sie musste ausreichen! Sonst würde er im Weltraum treiben, bis er verhungert war. Oder vertrocknet. Wahrscheinlich würde er als erstes vertrocknen und dann verhungern. Vom Verhungern würde er dann nicht mehr viel spüren. Die Notbeleuchtung war nur mit halber Kraft angesprungen, sodass die Pilotenkabine im Halbdunkel lag. Der Flitzer wurde langsamer, während er sich dem Planeten näherte. Zu langsam?

„Ein kleines Stückchen noch“, flüsterte Oskar, ganz leise, so als könnte er seinen Raumflitzer erschrecken, wenn er zu laut sprach. „Ein kleines Stückchen. Lass mich nicht im Stich.“

Oskar glaubte zu schweben vor Angst. Dann trat der Flitzer in die Exosphäre ein, in die äußerste Schicht der Atmosphäre des Blauen Planeten. Den Eintrittswinkel hatte die Elektronik des Flitzers bereits automatisch berechnet, als noch Energie dafür vorhanden war. Die Geschwindigkeit reichte aus. Das Raumschiff wurde schließlich von der Anziehungskraft des Planeten erfasst.

Geschafft! Leben. Überleben. Oskar schrie seine Anspannung hinaus und trommelte mit seinen Fäusten auf die Armatur des Flitzers. Gerettet! Nicht eingesperrt in sein kleines Raumschiff, draußen im All. Der Flitzer gewann an Geschwindigkeit. Abbremsen. Oskar hatte keine Energie zum Abbremsen. Der Raumflitzer fiel wie ein Stein. Gleitflug! Alles vergessen. Alles. Jeder Flitzer hatte Gleitfächer. Diese Fächer wurden mit einer eigenen Batterie betrieben.

Oskar fuhr die Gleitfächer aus und versuchte, den Flitzer mit der Handsteuerung gerade zu halten.

Er hatte zu spät reagiert.

Das Raumschiff stand beim Ausfahren der Gleitfächer beinahe Kopf, sodass einer der Fächer einen Riss bekam. Der Flitzer schaukelte, als wäre er in einen Sturm geraten. Die fremde Welt raste auf Oskar zu. Wälder, Wiesen. Der Flitzer jagte durch graue Wolken. Regenwolken. Auf Oronoko waren sie eine Seltenheit, aber Oskar konnte im Augenblick keinen Gedanken an die herrlichen Wolken verschwenden. Es gelang ihm, trotz des beschädigten Fächers, den Flitzer in eine halbwegs vernünftige Landeposition zu bringen. Der Aufprall stand kurz bevor. Breite, helle Bänder durchzogen die Landschaft, Bänder, auf denen sich Fahrzeuge bewegten, die von Sekunde zu Sekunde größer wurden. Oskar zog das Steuer weiter zu sich heran, um den Winkel, mit dem er sich der Oberfläche näherte, so flach wie möglich zu halten. Ein Wald kam ins Blickfeld, fremd und bedrohlich. Es knallte, als hätte jemand eine Blechdose in Oskars Gehirn zerquetscht. Dann kam der Flitzer abrupt zum Stehen. Oskars Brust wurde zusammengepresst. Er gab ein dumpfes Keuchen von sich, als der Gurt ihm die Luft abschnürte. Der Druck ließ nach, und Oskar sank zurück in seinen Pilotensessel. Der Monitor fiel aus, auch die Notbeleuchtung gab nach einem kurzen Flackern auf. Oskar saß in absoluter Dunkelheit und Stille.

Vorsichtig begann er zu atmen. Seine Brust schmerzte und sein Herz hämmerte so heftig, dass er genau spürte, wo es sich im Augenblick auf der Reise durch seinen Körper befand. Oskar schnallte sich ab um tief einatmen zu können. Dann fuhr er sich mit einer Hand durch die vor Aufregung aufgerichteten Borsten auf seinem Kopf. Ruhig. Er schloss die Augen und besann sich auf seine Atemübungen. Ganz ruhig. Oskar legte die Spitzen seiner vier Finger aneinander und berührte mit den beiden Zeigefingern seine winzige, kaum sichtbare Nase, die nicht mehr war als ein kleiner Vorsprung im Gesicht. Er atmete tief ein und aus. Der Notkoffer. Wo war der Notkoffer? Unter dem Sitz. Wo sonst?

Als sein Herzschlag sich einigermaßen beruhigt hatte, kramte Oskar blind unter dem Pilotensitz herum, schließlich hatte er den vertrauten Griff des Koffers in der Hand. Er zog den Notkoffer heraus, tastete nach den Verschlüssen und öffnete den Deckel. Kurz darauf spürte er die Formen der Handlampe zwischen seinen Fingern.

Die Pilotenkabine wirkte fremd im Schein der Lampe. Die Energieversorgung. Er musste sie wieder in Gang setzen. Irgendwie. Der Monitor verfügte ebenso über eine eigene Energieversorgung wie die Gleitfächer. Weshalb funktionierte er trotzdem nicht? Oskar öffnete den Batterieschacht des Monitors. Ein Kabel hatte sich gelöst. Mit einigen Handgriffen stellte er den Kontakt wieder her. Kurz darauf tauchte ein Bild auf. Oskar kniff die Augen zusammen und starrte auf einen Wald, dessen Bäume reichlich merkwürdig aussahen. Anders als die Bäume auf Oronoko waren sie erstaunlich schmal und drängten sich mit ihren Ästen wie Neugierige an seinen Flitzer. Außerdem hatten sie keine Blätter, sondern waren mit grünen Stiften bestückt, die in alle Richtungen abstanden. Wie Stacheln. Wie die Borsten auf seinem Kopf. Das hätte witzig sein können, wenn die Lage nicht so ernst gewesen wäre. Eine bizarre Welt war das, in die er da geraten war.

Die Batterien der Gleitfächer mussten ebenfalls noch Energie haben. Sie waren stark genug, um damit den Kommunikator zu betreiben. Mit Ersatzkabeln stellte Oskar eine Verbindung her. Kurz darauf leuchtete das grüne Lämpchen am Kommunikator auf. Er konnte seine Freunde anfunken.

Alpha drei. Dieser Codename war ihm offiziell zugeteilt worden.

Oskar nahm den Kommunikator aus der Verankerung und drückte den Knopf, mit dem das Gerät aktiviert wurde.

„Alpha drei an Oronoko 14. Alpha drei an Oronoko 14“, krächzte er.

Außer einem Rauschen war nichts zu hören.

„Hier Alpha drei“, rief er. „Bin notgelandet.“ Oskar schwieg für ein paar Sekunden, dann gestand er: „Auf einem der verbotenen Planeten. Solar 770007 –3.“ Er wartete. Keine Antwort. Er wiederholte seinen Notruf - wieder ohne eine Bestätigung zu erhalten. Dann wurde das Rauschen leiser und hörte schließlich ganz auf. Der Kommunikator lag stumm wie ein Stein in seiner Hand. Die Elektronik des Kommunikators musste etwas abbekommen haben, als der Flitzer auf dem Planeten aufgeschlagen war. Der wahre Horror. Der absolute Albtraum. Er konnte niemandem Bescheid geben. Jetzt war er ganz alleine auf sich gestellt.

Eine kalte Hand schien seinen Nacken zu berühren. Das Gefühl überkam ihn in dem Moment, in dem er sah, dass die Batterien der Gleitfächer Energie verloren. Sie verfügten plötzlich nur noch über ein Minimum ihrer Leistung. Auch sie hatten also die Notlandung nicht ohne Beschädigung überstanden. Das war das Ende. Die Energieversorgung des Monitors konnte er für den Kommunikator nicht nutzen, die Technik war dafür nicht ausgerichtet. Von den Gleitfächern hätte er Energie abzapfen können. Doch diese Möglichkeit war nun auch nicht mehr vorhanden. Das bedeutete: Keine Energie. Keine Verbindung. Selbst, wenn er den Kommunikator wieder instandsetzen konnte.

Er war von Galaxie zu Galaxie gerast, ohne auch nur einen Gedanken an den Autopiler zu verschwenden. Hätte er ihn beim Start angeschaltet, wäre seine Position alle paar Sekunden automatisch an eine Empfangsstation auf Oronoko gesendet worden. So aber wusste niemand, wo er war. Niemandem hatte er gesagt, wohin er flog. Er hatte es ja am Anfang seines Ausflugs selbst noch nicht gewusst. Eine Spritztour wollte er machen. Das war alles, was seine Freunde wussten.

„Alpha drei an Oronoko 14“, wiederholte Oskar heiser. Er hielt den Kommunikator noch immer fest mit seiner Hand umklammert. Schließlich gab er auf und steckte das Gerät zurück in die Halterung.

Nie hatte Okar sich so einsam gefühlt. Nie so elend. Die Welt um ihn herum war fremd, höchstwahrscheinlich sogar gefährlich. Er versuchte, sich an Einzelheiten über Solar 770007 –3 zu erinnern. Aber viel war es nicht, was ihm einfiel. Er hatte sich immer nur für Technik interessiert. Für Fächer wie AL (Außerirdisches Leben) hatte er nie besonders viel Zeit aufgewendet. ’Niedrige Zivilisationsstufe‘, das war das Einzige, was ihm über den Blauen Planeten in Erinnerung geblieben war. Er war also auf einem Planeten mit ’niedriger Zivilisationsstufe‘.

Das bedeutete jedenfalls nichts Gutes.

Ohne ausreichend Energie gab es keine Möglichkeit, die Sensoren des Flitzers für eine Analyse der Atmosphäre einzusetzen. Er konnte also nicht einmal feststellen, wie die Atmosphäre sich zusammensetzte. Gab es auf diesem Planeten Sauerstoff? Solange er das nicht wusste, konnte er sein Raumschiff nicht verlassen. Er war also letztlich doch ein Gefangener.

Das Mobag!

Fast hätte er auch das noch vergessen. Es gab ein mobiles Analysegrät im Notfallkoffer. Einer der älteren Kollegen im Weltraumdock hatte Oskar einmal gezeigt, wie man so ein tragbares Analysegeräte an die Technik eines Flitzers anschloss. Man musste das Mobag nur mit der Hauptleitung verbinden, die zu den Außensensoren führte. Das mobile Analysegerät war dann in der Lage, die Außensensoren für eine Analyse zu verwenden. Eine knifflige Sache. Sofort machte Oskar sich an die Arbeit. Im Schein der Lampe öffnete er die Zentralschaltung der Außensensoren, um das Mobag an die Verbindungen anzuschließen. Die Angelegenheit gestaltete sich zwar schwieriger als er gedacht hatte, aber nach drei Wutanfällen, in denen er zweimal in die Handsteuerung gebissen und einmal mit der Faust gegen das Armaturenbrett geschlagen hatte, war es endlich geschafft: Das Gerät lieferte eine Analyse. Was Oskar an Werten sah, war großartig. Keine giftigen Stoffe in der Luft, abgesehen von einem etwas erhöhten Wert an Kohlendioxid Aber, und das war das Wichtigste, es war ausreichend Sauerstoff vorhanden. Man konnte also leben auf dem Planeten. Leben. Aber auch überleben? Oskar hatte keine Waffe dabei. Nichts. Nur das Werkzeug. Zum Beispiel den Schraubenzieher. Wie sollte er sich etwas zu essen besorgen? Sollte er mit dem Schraubenzieher außerirdische Lebewesen jagen? Waren die überhaupt genießbar?

Oskar dachte an die einsamen Tage und Nächte, die auf ihn warteten. Er sehnte sich nach seinen Freunden. Besonders nach Mjira. Wahrscheinlich würde er keinen von ihnen je wiedersehen. Er wischte sich mit dem Handrücken Tränen von den Wangen. Nicht heulen. Er musste ins Freie. Er musste eine Möglichkeit finden an Energie zu kommen. Energie für den Kommunikator. Das war alles. Die Schäden am Kommunikator würde er vielleicht in den Griff bekommen. Aber nur vielleicht. Doch wenn die Verbindung erst stand, wenn er seinen Freunden mitteilen konnte, wo er war, würden sie kommen.

Mit einem Ruck öffnete Oskar die Ausstiegsluke und kletterte ins Freie. Langsam ließ er sich von seinem Flitzer herabgleiten. Der Boden war weich und mit den braunen, spitzen Teilen bedeckt, die auch an den dünnen Ästen hingen. Die Bäume waren nicht sehr kräftig, standen aber dicht beisammen. Der Flitzer hatte einige der kleineren Gewächse ziemlich beschädigt und war schließlich an dem kräftigen Wurzelgeflecht eines umgestürzten Baumes hängen geblieben.

Oskar schwang sich wieder auf seinen Flitzer und sah sich um. Der überwiegend aus jungen Bäumen bestehende Teil des Waldes, in dem sein Flitzer notgelandet war, wurde halbkreisförmig von weitaus größeren Bäumen eingegrenzt, die schon mehr Ähnlichkeit mit denen auf Oronoko hatten, da einige von ihnen ausladende Äste aufwiesen, an denen richtige Blätter hingen. Die offene Seite des Waldes gab den Blick frei auf eine grüne Wiese, über der graue Wolken hingen. Ein herrlicher Anblick. Auf Oronoko gab es nur sehr wenige fruchtbare Gegenden. Diese Gegenden waren natürlich beliebte Wohn- und Urlaubsorte. Dunkel erinnerte Oskar sich nun auch wieder an einige Fakten, die er über den Blauen Planeten gehört hatte: Gut zwei Drittel Wasser, Salzwasser allerdings. Viele verschiedene Klimazonen. Nie hätte er gedacht, dass er diesen Theorieschrott aus dem AL-Unterricht einmal brauchen könnte.

Oskar besah sich die Gleitfächer. Der Riss in einem der Fächer war ziemlich groß, aber man konnte ihn wieder zusammenflicken. Die Mechanik selbst schien nicht beschädigt zu sein. Für einen Start würde er die Fächer ohnehin nicht gebrauchen. Oskar spürte eine tiefe Müdigkeit, die seinen ganzen Körper erfasst hatte. Genau genommen war es eher eine Mischung aus Müdigkeit und Hoffnungslosigkeit. Vielleicht sollte er schlafen und später, wenn er ausgeruht war, die Umgebung erkunden. Sofern man von Ausruhen überhaupt sprechen konnte. Der Flitzer war nicht für längere Reisen eingerichtet, und so erwarteten Oskar ziemlich ungemütliche Nächte.

Er kletterte zurück in die Kabine und verschloss die Ein- und Ausstiegsluke wieder. Was sollte er tun? Aus einem kleinen Funken Hoffnung heraus, der noch in ihm glühte, versuchte er, den Raumflitzer zu starten, aber das leise Summen, das aufflammte, verstummte bald wieder. Der Gedanke an sein rundes Bett in dem Haus am Felshang, das er mit seinen Freunden bewohnte, an den herrlichen Ausblick durch die riesigen Fenster, ließ Oskar eine unendliche Traurigkeit verspüren. Schweren Herzens dachte er daran, was seine Freunde  durchmachen würden, sobald sie versuchten ein Lebenszeichen von ihm zu bekommen.

Oskar kletterte erneut aus dem Flitzer. Seine nackten Füße strichen über den Waldboden. Die spitzigen Dinger, die überall lagen, fühlten sich kitzlig an. Zum Schlafen hatte er keine Ruhe. Doch was sollte er tun? In einem fremden Wald, auf einem fremden Planeten, in einer fremden Galaxie?

Ein Knacken. Nicht weit hinter ihm. Oskar vergaß zu atmen. Jemand war in der Nähe. Was immer es war, es starrte ihn an. Oskar spürte es mit jeder Faser seines Körpers. Dieses Etwas beobachtete ihn. Seine Borsten standen wieder aufrecht. Er drehte sich vorsichtig um. Sehr vorsichtig. Was er sah, lähmte ihn vor Schreck. Es war grauenhaft. Ein Wesen, grauenhafter als alles, was er bisher in seinem Leben gesehen hatte.

Oskar schrie vor Entsetzen.

 

Heribert Raffze



Franziska glaubte ihren Augen nicht zu trauen.

„Da ist Heribert“, sagte sie.

Moritz, der gerade damit beschäftigt war eine Kartoffel mit einem Stock aus dem Lagerfeuer zu holen, sah überrascht auf.

„Heribert?“, raunzte er.

Er stand langsam auf und glotzte mit Franziska hinüber zum Zaun. Dort stand er. Tatsächlich. Heribert. Brav wartete er vor dem Tor, an dem der Briefkasten und die Klingel mit der Aufschrift ‚Fam. Thomas‘ befestigt waren. Der Briefkasten hing etwas schief, aber das störte schon lange niemanden mehr.

„Was will der hier?“

Franziska zuckte mit den Schultern.

„Fragen wir ihn“, sagte sie und ging tapfer auf den wartenden Heribert zu. Moritz wischte sich die schmutzigen Hände an der Hose ab und folgte ihr. Auf Besuch waren sie wahrlich nicht vorbereitet. Franziska, die ein kleines Stück vor ihm ging, trug ihre Latzhose mit den großen roten Flicken auf den Knien und ein weißes Hemd, das aussah, als hätte man es aus einer Lumpensammlung geholt. Moritz trug eine Jeans, die oben herum für seinen kräftigen Bauch zu eng und unten zu weit war. Sein rotes Hemd, ein altes Stück seines Stiefvaters, hatte er nachlässig in die Hose gestopft.

Vielleicht war Heribert nur gekommen, um die Aussätzigen zu begaffen, die in einer Ansammlung alter Zirkuswagen auf einem verrotteten Grundstück hausten. Am Rande des Dorfes. Die Schmuddelstiefkinder des ehemaligen Zirkusdirektors Thomas. Vielleicht reichte es Heribert nicht mehr, sich in der Schule über sie zu amüsieren. Vielleicht brauchte er die nötige Droge Fun schon in den Ferien und kam deshalb auf ein paar Lacher vorbei.

„Was willst du?“, fragte Franziska abweisend, und Moritz unterstrich den Tonfall seiner Schwester durch ein grimmiges Gesicht.

„Ich war gerade mit dem Rad unterwegs“, meinte Heribert. „Und da hab ich mir gedacht, ich schau mal vorbei. Habt ihr was dagegen?“

„Ist deine Sache“, meinte Franziska und wandte sich schon zum gehen.

„Warte“, Heribert kratzte sich etwas unsicher am Kopf. „Ich dachte mir, lass die anderen reden. Schau einfach mal bei Franziska und Moritz vorbei. Vielleicht sind sie ja gar nicht so doof wie immer gesagt wird.“

Franziska und Moritz warfen sich einen skeptischen Blick zu.

„Und was erwartest du jetzt?“, fragte Franziska.

„Vielleicht zeigt ihr mir einfach, wie ihr wohnt und wir quatschen ein bisschen.“

Franziska öffnete etwas ruppig das Tor, das aus einem einfachen Holzgestell bestand, das mit einem Maschendraht bespannt war. Moritz gab ein unwilliges Grunzen von sich. Wenn es nach ihm gegangen wäre, hätten sie Heribert Wurzeln schlagen lassen. Es war noch nicht so lange her, da hatte Heribert ein paar Regenwürmer in Moritz' Federmäppchen versteckt.

Heribert Raffze kam herein und schloss das Tor hinter sich, dann folgte er Franziska und Moritz, die zurück zum Lagerfeuer gingen.

„Ihr dürft hier einfach Feuer machen?“, fragte er.

„Das ist unser Grundstück“, sagte Franziska nicht ohne Stolz. „Hier dürfen wir alles. Wir müssen nur aufpassen, dass nichts abbrennt.“

Sie setzten sich auf die Obstkisten, die um das Feuer standen. Das Holz knackte in den Flammen.

„Willst du eine gebratenen Kartoffel?“, fragte Moritz.

Er fand langsam Gefallen daran, einem wie Heribert Raffze zu zeigen wie er und Franziska lebten. Vielleicht kam bei Heribert sogar ein bisschen Neid auf. Schließlich hatten sie ein riesiges Grundstück, auf dem jede Menge Platz war. Und die große Musikmaschine. Außerdem ein Pony, eine streunende Katze und Hühner. Nicht zu vergessen die alten Zirkuswagen, in denen sie wohnten. Einen Schlafwagen für Ehrenfried und einen mit zwei Zimmern für ihn und Franziska. Außerdem einen Wagen, der als Bad und Wohnküche genutzt wurde, und den sie den ‚Wohnwagen‘ nannten. Jeder der ehemaligen Zirkuswagen war gut isoliert und hatte Wasser und Stromanschluss. Es gab auf dem Grundstück sogar eine eigene Kläranlage.

„Könnt ihr euch waschen?“, fragte Heribert, während er an der heißen Kartoffel herumzupfte.

„Klar“, sagte Moritz genervt.

„Stinken wir vielleicht?“, fragte Franziska gereizt.

„Das hab ich nicht gesagt“, wiegelte Heribert ab. „Das sagen Manuela und ein paar andere.“

„Ich weiß schon wer“, meinte Franziska.

„Bole und dieser Hans Hässlich“, sagte Moritz grimmig. „Die beiden und Manuela erzählen doch überall herum, dass wir stinken würden.“

„Hans Haselich“, korrigierte Heribert pikiert, so als wäre Hans Hässlich sein bester Freund.

„Für uns heißt er Hans Hässlich“, unterstützte Franziska ihren Bruder.

Heribert Raffze ließ die Sache auf sich beruhen.

„Eigentlich ganz spannend hier“, meinte er. Dann pustete er heftig auf die heiße Kartoffel, ehe er sie stückweise aß.

Franziska beobachtete ihn wie ein fremdes Wesen, von dem man nicht so recht wusste, ob es gefährlich war oder nicht.

„Meinst du das im Ernst, was du da sagst?“, fragte sie.

„Klar“, kaute Heribert und nickte dabei so heftig, dass er sich fast verschluckt hätte. „So in der Wildnis leben. Ohne Handys. Und ohne Computer.“

„Handys brauchen wir nicht“, meinte Franziska.

„Uns ruft eh keiner an“, ergänzte Moritz und biss sich gleich darauf auf die Zunge.

„Ehrenfried hat einen Computer, den wir auch benutzen können“, fügte Franziska hinzu und ließ ihren Blick eine Weile mahnend auf ihrem Bruder ruhen.

„Und wo sind eure Zimmer?“

„Da drüben.“

Moritz zeigte auf den Wagen, in dem er und Franziska ihre Zimmer hatten.

„Ist das schön, in so einem Zirkuswagen zu leben?“

„Ich möchte nirgends anders leben“, meinte Franziska.

„Unser Onkel war schließlich Zirkusdirektor“, warf Moritz ein, der etwas Vertrauen zu Heribert gefasst hatte. „Das ist alles, was von seinem Zirkus übrig ist.“

„Ich weiß“, sagte Heribert. „Meine Mutter hat mir vom Zirkus ’Thomas‘ erzählt. Euer Onkel hat ihn heruntergewirtschaftet.“

Franziska stand auf.

„So einfach ist das auch nicht“, sagte sie „So ein Zirkus hat es schwer. Die Leute gehen nicht so oft in den Zirkus. Außerdem ist es ganz schön teuer, die ganzen Tiere zu versorgen.“ Franziska steckte die Hände in die Hosentaschen. „Willst du nun unsere Zimmer sehen?“, fragte sie etwas unwirsch.

Sie hatte offensichtlich genauso wenig Lust wie Moritz, sich Heribert Raffze aufzudrängen. Heribert sprang wie von einer Feder abgeschossen hoch.

„Klar.“

Franziska schlenderte hinüber zu dem Wagen, den sie erst vor zwei Jahren frisch gestrichen hatten, in Franziskas Lieblingsfarbe - grün. Mit roten Punkten! Die Punkte waren Ehrenfrieds Idee gewesen. Moritz hatte keine Vorlieben, was den Anstrich des Wagens betraf. Hauptsache Farbe. Onkel Thomas hatte ihnen damals gezeigt, wie man so etwas machte und hatte sie dann alleine malern lassen. Moritz und Franziska hatten jede Menge Spaß dabei gehabt, aber das wollte er Heribert Raffze nicht erzählen. Der Wagen, und die Farbe, und der Spaß den sie damit hatten, den alten Zirkuswagen anzumalen, das alles gehörte nur seiner Schwester und ihm.

Heribert ging neben Franziska, dabei leckte er sich die Finger von den Kartoffelresten frei. Moritz folgte den beiden. Er wusste noch nicht so recht, was er von der neuen Aufgeschlossenheit Heribert Raffzes halten sollte. Trotz der Skepsis hatte sich eine gewisse Vorfreude in seinem Bauch breit gemacht. Wenn sie mit Heribert in der Schule nun einen Verbündeten gewinnen würden, würde die Mauer der Ablehnung, die gegen ihn und Franziska bestand, seit sie zur Schule gingen, vielleicht zu bröckeln beginnen. Vielleicht. Zu viel wollte Moritz nun auch nicht erwarten. Bisher hatte es immer nur Enttäuschungen gegeben.

Der Zirkuswagen hatte zwei Türen, die von außen in die jeweiligen Zimmer führten. Alledings waren Franziskas und Moritz' Zimmer durch eine Zwischentür miteinander verbunden. Da Moritz seine Behausung – wie immer – nicht aufgeräumt hatte, zeigte Franziska dem unerwarteten Gast ihr Zimmer.

„Und wie heizt ihr im Winter?“, fragte Heribert. Er schien wirklich interessiert daran zu sein, wie die beiden Außenseiter lebten.

„Mit Holz“, sagte Franziska. „Hier ist ein Holzofen. Wenn es draußen kalt ist und Schnee liegt und hier drinnen der Holzofen prasselt, dann ist das richtig gemütlich.“

„Du kannst gerne einmal kommen im Winter“, meinte Moritz. „Dann – “

Er kam nicht dazu den Satz zu Ende zu sprechen. Heribert hatte etwas aus seiner Hosentasche gezogen und fallen gelassen. Nun trat er mit dem Fuß darauf. Im nächsten Augenblick war er aus der Tür, sprang die drei Holzstufen hinab und rannte auf das Tor zu. Ein fauliger Geruch stieg Moritz in die Nase. Franziska verzog ebenfalls das Gesicht. Stinkbombe. Heribert Raffze hatte eine Stinkbombe zertreten.

Moritz donnerte aus der Tür. Fast wäre er die Holzstufen hinab gestolpert. Er verwünschte sein Übergewicht und rannte so gut es ging hinter Raffze her.

„Du Wildsau“, keuchte er wütend. „Du Schwein.“

Das aufmüpfige Kichern Heribert Raffzes spornte Moritz zwar an, aber gegen die Natur seines Körpers war er machtlos. Er war zu schwerfällig, um Raffze gewachsen zu sein. Franziska war schneller. Sie raste an ihm vorbei und folgte Heribert Raffze, als dieser außerhalb des Grundstückes den Feldweg entlang sprintete. Sein Fahrrad hatte er stehen lassen. Franziska war ihm zu dicht auf den Fersen gewesen, als dass er es sich hätte erlauben können auf das Rad aufzusteigen.

Da das Fahrrad nicht abgesperrt war, nutzte Moritz die Gelegenheit, schwang sich so gut es ging in den Sattel und folgte den beiden. Heribert sprintete auf das nahe Wäldchen zu. Franziska hatte ihn fast schon eingeholt. Obwohl Heribert den Feldweg verlassen hatte und nun quer über die Wiese lief, gelang es Moritz seine Schwester einzuholen. Das Rad wurde immer schneller, da die Wiese hier ein Stück abfiel. Moritz keuchte mit hochrotem Gesicht. Schließlich erreichte er Heribert und rollte neben ihm her. Das verdutzte Gesicht Raffzes entlockte Moritz ein Grinsen, dann warf er sich während der Fahrt vom Fahrrad und riss Heribert Raffze mit sich zu Boden. Die beiden Jungen rollten wie Puppen über die Wiese, während sich das Fahrrad nicht weit von ihnen entfernt überschlug. Schließlich blieb Moritz auf Heribert Raffze liegen. Dieser keuchte zunächst verwirrt, dann begann er wieder dämlich zu kichern. Nun war auch Franziska bei ihnen.

„Schämst du dich nicht, Raffze?“, rief sie völlig außer Atem.

Moritz sah, dass seine Schwester den Tränen nahe war und das machte ihn noch wütender. Er spuckte Raffze auf die Haare und machte sich besonders schwer.

„Warum hast du das gemacht?“

„Ich krieg keine Luft mehr, Fettsack“, keuchte Raffze.

„Warum hast du das gemacht?“, fragte nun auch Franziska.

„Das war eine Wette“, Raffze kicherte. „Dafür krieg ich zehn Euro. Bei euch stinkt‘s doch sowieso.“

Franziska war so außer sich , dass sie am liebsten nach Heribert Raffze getreten hätte. Aber sie konnte sich beherrschen. Das wäre unfair gewesen, lag er doch eingeklemmt unter ihrem gewichtigen Bruder am Boden.

„Wir wollen dich nie wieder sehen, Raffze“, blaffte sie.

„Dann müsst ihr in der Schule die Augen zumachen“, kicherte Raffze.

„Ich meine hier bei uns auf dem Grundstück“, korrigierte sich Franziska verärgert.

In diesem Augenblick schoss etwas auf den Wald zu. Das merkwürdige Fluggerät drehte sich einmal um die eigene Achse und krachte dann in ein Dickicht am Waldrand. Danach war nichts mehr zu sehen.

„Was war das?“, fragte Franziska verdutzt.

Moritz und Raffze hatten nichts bemerkt.

„Wenn du noch einmal vor unserem Grundstück herumlungerst, gibt’s Saures“,

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Texte: Jan David Clavijus
Cover: Gestaltung: Walter Brunhuber
Tag der Veröffentlichung: 15.04.2020
ISBN: 978-3-7487-3621-9

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