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Der Moorkönig

 

Die dunkle Zeit hat begonnen und mein Vater ist noch nicht zurück. Ich kümmere mich um das Haus, bessere das Dach aus und sorge dafür, dass der Lehmverputz der Wände, dort wo es nötig ist, erneuert wird. Im alten Teil des Hauses ist an manchen Stellen sogar das Flechtwerk brüchig und muss ausgebessert werden. Aber das muss warten, bis Vater wieder da ist. Auch um die Tiere muss ich mich kümmern. Zwei Kühe, ein Ochse, Hühner. Mehr ist es nicht, wenn man von Irdis, unserem Hund einmal absieht. Zum Überleben reichts, für Vater und mich. Wir haben schließlich auch die Torfziegel. Ziegel werden immer gebraucht. Ettsum wächst. Jedes Jahr kommen neue Siedler ins Dorf. Seit mein Bruder Baldur und seine Frau Josta uns vor vier Jahren verlassen haben, fehlt uns natürlich die Arbeitskraft der beiden. Aber wir haben dadurch auch zwei Esser weniger. Vor allem in den Wintermonaten werden die Vorräte häufig knapp. Baldur hat sich mit seiner Frau einem Zug nach Süden angeschlossen, um dort ein besseres Leben zu finden, um dem Regen und der Kälte zu entkommen, die hier im Norden das Überleben schwierig machen.

Vater ist es nicht leicht gefallen, mich für längere Zeit alleine zu lassen, um das Haus zu hüten. Jetzt, wo Baldur und Josta fort sind. Doch er konnte die Reise nach Osten nicht länger aufschieben. Er hat dafür gesorgt, dass ich Hilfe bei der Ernte hatte. Mit dem Rest muss ich alleine zurecht kommen. Er wollte nur sechzig Tage fortbleiben. Nun sind es fast hundert. Sie sind zu viert losgezogen. Wenn sie vor Einbruch des Winters nicht nach Hause zurückkehren, dann haben er und seine Freunde kaum Chancen zu überleben.

Die Nacht hat sich über das Land gesenkt. Draußen bläst ein heftiger Nordwind. Ich sitze am Feuer in unserem Haus und blicke in die Flammen. Wie so häufig stelle ich mir die Frage, wo Vater sich jetzt befindet. Ist es dort, wo er sich aufhält, ebenfalls kalt und windig? Ich nehme einen Löffel von dem gekochten Gerstenbrei und behalte die Masse eine Weile im Mund, ehe ich sie schlucke. Der Gerstenbrei ist warm und nahrhaft und ich habe mir den Luxus gegönnt, ihn mit ein wenig Salz zu würzen. Neben mir liegt eine Axt, mit der ich in den letzten Monaten viel geübt habe. Vater hat mich dazu angehalten. Wir bekommen manchmal Besuch von Händlern und von Leuten aus Ettsum, dem Dorf unten am Fluss. Menschen, die wir kennen und von denen wir nichts zu befürchten haben. Manchmal kommen aber auch Fremde, und ein junges Mädchen, alleine in einem Haus, kann schnell zu einer leichten Beute werden. Als Sklavin bringt ein Mädchen in meinem Alter viel ein. Auch sonst gibt es manches zu holen. Tiere, Hausrat, Vorräte – brauchbare Dinge. Eine gute Beute. Gerade jetzt, in dieser Jahreszeit. Jedes Mal wenn ich mir eine Situation vorstelle, in der ich mich verteidigen muss, setze ich auf einen Überraschungseffekt. Niemand wird damit rechnen, dass ihm ein eher zierliches Mädchen wie ich mit einem Hieb das Beil in den Leib schlagen kann. Von meinem Vater weiß ich, wo ich hinschlagen muss. Die Klinge ist geschärft und meine Schläge sind lange geprobt.

Dass Irdis mir vor Kurzem einen verzierten Stock neben das Feuer gelegt hat, lässt mir keine Ruhe. Er hat an der Tür unseres Langhauses gekratzt, und als ich ihn hereinließ, hatte er diesen Stock im Maul. Seine Pfoten sind feucht und schmutzig und jetzt sieht er mich an, als wollte er von mir erfahren, was das für ein Stock sei. Als ich meinen Gerstenbrei aufgegessen habe, nehme ich den Stock in die Hand und betrachte ihn. Es ist ein Birkenstock, so viel sehe ich. Die Rinde hat jemand entfernt, so dass er im Halbdunkel hell schimmert. Er ist gerade mal so lang wie mein Unterarm und vollständig mit Schnitzereien bedeckt. Sie zeigen Bäume und grob skizzierte Häuser. Auch die Sonne ist eingraviert und einige gezackte Formen, die wohl Blitze darstellen sollen. Dazu finde ich schmale Striche, die ich zunächst nicht einordnen kann. Dann denke ich mir: das könnte Regen sein. Der Stock wird sicherlich für ein Ritual gebraucht. Es muss der Kultstab eines Priesters sein.

„Wo hast du den her?“, frage ich Irdis.

Der Hund gähnt und winselt. Dann trottet er zurück zur Tür, die ich hinter ihm geschlossen habe, und kratzt daran. Er will mir etwas zeigen. Ich zögere. Soll ich das Haus verlassen? Soll ich hinausgehen in den immer stürmischer werdenden Wind und die Finsternis? Klug ist es sicherlich nicht, doch meine Neugierde ist stärker als die Furcht.

Ich ziehe meinen Wollmantel mit den bunten Karomustern über die Baumwolltunika und schließe ihn mit einer Gewandnadel aus Bronze. Dann lege ich mir ein rotes Schultertuch um, und ziehe es über meinen Kopf, um mich vor dem Wind zu schützen. Zur Sicherheit nehme ich ein primitives Messer an mich, das Vater vor vielen Jahren bei einem Händler gegen Nahrungsmittel eingetauscht hat, und folge Irdis nach draußen. Der Wind zerrt an meinen Kleidern. Er bringt einige Regentropfen mit sich. Am Himmel treiben Wolkenfetzen und verdecken immer wieder die Sterne. Das Feuer im Haus habe ich etwas zerstreut und mit Steinen gesichert, so wie ich es von Vater und Großvater gelernt habe. Die Hühner, die nachts und bei schlechtem Wetter in unserem Haus in einem Verschlag untergebracht sind, gackern und flattern, als hätten sie bemerkt, dass ich das Haus verlassen habe. Auch die beiden Kühe geben dumpfe Geräusche von sich.

Mit klopfendem Herzen folge ich Irdis. Er läuft über die flache Wiese, bis wir einen lichten Erlenwald erreichen. Bald darauf sind wir am Rand des Moores, in dessen Nähe unser Gehöft steht und von dessen Torfvorkommen wir Ziegel formen, die wir verkaufen. Die Büsche kommen mir jetzt, im Dunkeln, vor wie geduckte Hexen und die Äste der Bäume können kaum etwas anderes sein als die Greifarme eines Ungeheuers. Ich beginne wütend zu werden auf mich selbst. Weshalb habe ich das Haus verlassen? Weshalb renne ich jetzt durch die Nacht, ohne zu wissen, was mich dort erwartet, wohin mich der Hund führt? Die Nacht ist gefährlich. In der Nacht kriechen die Geister aus ihren Verstecken, und Räuber lauern in der Nähe von Siedlungen um Beute zu machen.

Nach einiger Zeit erreichen wir, Irdis und ich, die ersten Ausläufer des Moores. Das feuchte Gras gibt unter meinen Schritten merkwürdige Geräusche von sich. Tümpel schimmeren in der Dunkelheit und die Äste knorriger Bäume wackeln im Wind. Ich kenne diese Gegend. Ich bin hier aufgewachsen. Hier habe ich meinem Vater häufig beim Torfstechen geholfen, habe Kräuter gesammelt und Blumen. Doch bisher bin ich nur selten in der Dunkelheit hier gewesen. Und niemals alleine. Ich gehe nie tief ins Moor hinein. Im Moor sind schon viele verschwunden, die jetzt tot sind oder in Bäume verhext wurden, wenn man den alten Geschichten glauben darf.

Die Nacht lässt die Landschaft fremd erscheinen. Das, was ich an Natur kenne, scheint nicht mehr vorhanden zu sein. Dafür gibt es riesige schattenhafte Gestalten, die mich ansehen. Irdis folgt unverdrossen seinem Weg und ich folge ihm, bis ich mit einem Fuß abrutsche und in das schlammig Wasser eines schmalen Baches tauche. Entsetzt ziehe ich meinen Fuß aus dem kühlen Wasser zurück. Die ledernen Schuhe, die ich mir im letzten Jahr gefertigt habe, sind nass und mit Schlamm bedeckt.

„Irdis“, rufe ich, um den Hund zurückzuholen.

Ich habe genug. Unvernünftig zu sein ist das eine. Strohdumm das andere. Ich will umkehren. Doch Irdis läuft noch einige Schritte weiter, um dann unter einem abgestorbenen Baum stehen zu bleiben. Er beschnuppert etwas, das am Boden liegt. Zwischendurch sieht er immer wieder zu mir zurück.

Vorsichtig gehe ich zu ihm. Auf dem Boden liegt ein alter Mann. Sein graues Haar fällt verfilzt über seine Schultern und sein Bart, der genauso grau ist, reicht ihm fast zum Bauch. Er trägt einen Mantel aus Wolle, der schmutzig ist und nass. Darunter erkenne ich eine lange Jacke aus Fell. Ich beuge mich über ihn und suche nach einem Lebenszeichen. Die magere Brust hebt und senkt sich. Seine Wangen glühen. Vorsichtig befühle ich seine Stirn und stelle fest, dass er Fieber hat.

Plötzlich reißt er die Augen auf. Stahlgraue Augen starren mich an. Ich will die Hand zurückziehen, doch seine knochigen Finger umklammeren bereits mein Handgelenk mit einer Kraft, die ich nicht für möglich gehalten habe. Blitzschnell greife ich mit der linken Hand nach dem Messer unter meinem Mantel, das im schlichten Ledergürtel meiner Tunika steckt. Als der Alte die kurze Klinge sieht, lässt er mich los. Seine Augen werden sanfter und apathischer.

„Du kannst hier nicht liegen bleiben“, sage ich. „Wenn es heute Nacht kälter wird, dann erfrierst du.“

Der Alte reagierte nicht.

„Setz dich auf.“

Ich ziehe seinen Oberkörper hoch und lehne ihn gegen den Baum. Seine Zähne klappern und sein Körper zittert. Die Lippen bewegen sich, doch es dauert eine Weile, ehe er einige Worte formt.

„Sie kommen.“

„Wer?“

Ich sehe mich um. Mein Herz schlägt bis zum Hals. In der Dunkelheit

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Texte: Jan David Clavijus
Cover: Jan David Clavijus
Tag der Veröffentlichung: 10.10.2019
ISBN: 978-3-7487-1752-2

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