„Was ist Reisen? Ein Ortswechsel? Keineswegs! Beim Reisen wechselt man seine Meinungen und Vorurteile.“
(Anatole France, französischer Schriftsteller)
Unterwegs sein! Unterwegs sein? – Der Wunsch des Unterwegsseins und des Reisens besitzt für viele eine herausragende Bedeutung und ist heute omnipräsent: Fernsehen, Werbung, Social Media. Dieses angesprochene Verlangen ist verhältnismäßig leicht zu erfüllen, da die angestrebten Ziele trotz womöglich großer Entfernungen in kurzer Zeit erreicht werden können. Dabei sind die Traumdestinationen höchst unterschiedlich. Strandurlaub in Bali, Tauchen in Ägypten, Polarlichter in Norwegen oder die Freiheitsstatue in New York. Das Streben nach der Ferne bereitet oftmals Freude und weckt Hoffnungen, kann aber im Hinblick auf das Unbekannte zugleich auch mit Befürchtungen und Ängsten verbunden sein.
Das titelgebende Thema dieses Gedichtbandes „unterwegs sein“ eröffnet eine große Vielfalt an individuellen Verstehensmöglichkeiten, sodass unterschiedliche Ansätze und Inspirationen verfolgt werden können. Den direktesten Zugang bietet möglicherweise die Erlebnisreise, welche das Stillen des Fernwehs durch den Besuch gewünschter Orte anspricht. Darüber hinaus kann das Thema jedoch auch als Lebensreise verstanden werden, sodass beispielsweise stärker Zukunftshoffnungen und -ängste sowie Identitätsfindung bedeutsam sind.
Im Zentrum dieses Werkes stehen die Gedichte „Immer unterwegs“ von Anna Esser, „Ein Stück Welt – Ein Stück ich?“ von Julia Krist und „Geflogen, geflüchtet, gelandet“ von Charlotte Supper. Diese entstanden im schulischen Rahmen anlässlich eines Dichterwettstreits zum abiturrelevanten Thema „unterwegs sein – Lyrische Texte vom Barock bis zur Gegenwart“. Die Beiträge konnten das Publikum durch ihren inhaltlichen Gehalt sowie ihre sprachliche Ausdrucksstärke überzeugen und erhielten eine Prämierung. Aufgrund der Resonanz entstand der Wunsch, diese Texte der jungen Autorinnen einer größeren Leserschaft zukommen zu lassen.
Tim Schäfer
Unterwegs zu dir,
einer hoffentlich besseren Version von mir.
Die Sehnsucht nach sich selbst und seiner Identität:
Hat die überhaupt noch Priorität?
Sollten wir es nicht alle wagen
uns selbst und unseren Lebensweg zu hinterfragen?
Unterwegs zu uns,
einer Gesellschaft ohne wahren Grund.
Erfolg, Macht und Geld als die Werke unserer Welt,
welches Streben unseren Charakter als Gesellschaft entstellt.
Rücksichtsloser Egoismus ist schon längst Normalität.
Ist das der wahre Charakter unserer Identität?
Dieses hochgelobte „Uns“ ist alles, aber nicht gesund,
und trotzdem streben wir danach Tag und Stund‘.
Unterwegs zum Sinn,
einer Verwirrung aus Erwartung, Religion und mir mittendrin.
Dabei die von uns selbst gesetzten Grenzen,
als scheinbar unüberwindbare Konsequenzen,
begrenzen unseren Horizont
und wollen verhindern, dass man ankommt.
Die Suche nach dem Sinn des Lebens
scheint durchweg vergebens.
Während der Sinn unserer Existenz
nur noch geprägt ist von Konkurrenz.
Immer unterwegs,
obwohl es keiner versteht.
Zweifel bleiben,
doch die Kunst unserer Zeit liegt darin sie zu vertreiben.
Unsere Reise ins Ungewisse,
geprägt durch unbeschreibliche Erlebnisse,
macht Wagnis zum Synonym unserer Reise
und verkörpert den Mut als einzig wahre Lebensweise.
Eine Welt voll grenzenloser Möglichkeiten,
Sodass wir oftmals denken,
Es gäbe formbare Unendlichkeiten.
Eine Welt so groß, dass wir sie kaum überblicken,
Und aus Angst zu verpassen,
Vergeblich versuchen jeden Teil zu entdecken.
Wie sollen wir uns denn schon selbst definieren,
Wenn wahrer Charakter und Anerkennung
Auf Erfahrungen basieren?
Sag, wo sind nun die Helden dieser Welt,
Wenn sich heutzutage sowieso keiner mehr
An die einfachen Regeln des Lebens hält?
Diese Welt besteht nahezu voll und ganz aus Puzzleteilen,
Welche nach und nach immer mehr Lücken aufweisen.
Unser Dasein ein Ergebnis aus dem,
Wo wir waren,
Oder vielmehr aus dem,
Was unsere Fotos aussagen.
Unsere Identität aus Stücken dieser Welt,
In der schlussendlich
Kein Teil das andere hält.
Bin geflogen,
um zu fliehen,
nur weg von hier.
Der Ort,
der nach Heimat,
doch nie
nach Zuhause schien.
Sehnsucht nach Akzeptanz,
Halt und Zufriedenheit,
verließ ich das Hier
und das Jetzt.
Hoffnung auf eine bessere Zeit.
Angekommen in der Fremde.
Keine Seele,
kein Wort,
kein Mensch
war je so fremd.
Folgte dem Strom
nach links und nach rechts,
Hoffnung auf einen Ort,
der für mich für Zuhause borgt.
Halt, Schutz, Konstante:
Was wusste ich schon?
Gab mein Bestes,
zeigte wer ich bin,
nur um zu erfahren,
dass auch hier,
in der Fremde,
ich nicht akzeptiert bin.
Ich zerbiss, ich verbog, ich verkroch
in den Ort
der Einsamkeit.
Das freie Land,
nach dem Wir alle sehnen,
es zeigte mir,
was mir wirklich fehlte.
Familie, Freunde, Zuhause –
alles so fern.
Was mach‘ ich hier?
Wo ich nicht frei sein kann!
Was mach‘ ich hier?
Wo diese Familie
nicht meine
Familie sein kann!
Was mach‘ ich hier?
Wo diese Menschen,
mich nicht sehend,
niemals meine Hand
halten werden!
Können nicht verstehen,
können mich nicht sehen;
verstecke mich
unter Freude,
unter Lachen,
unter Witze Machen.
Diese Fremde,
die längst Heimat sein müsst‘,
fühlt sich an,
als wäre die Ferne
ein Ort
der Einsamkeit.
Rückblickend
auf die Vorfreude,
die Träume
und den Wunsch –
alle nicht erfüllt.
Die Ferne,
die Fremde
kann nicht füllen,
was die Heimat
nicht gibt.
Sehnsüchtig zurück
zu diesem Ort,
der Heimat und nun
auch irgendwie
für ein Gefühl
von Zuhause
sorgt.
Texte: Anna Esser, Julia Krist, Charlotte Supper, Tim Schäfer
Bildmaterialien: Anna Esser, Julia Krist, Charlotte Supper, Tim Schäfer
Cover: Luna Stanzl Perez
Lektorat: Tim Schäfer
Tag der Veröffentlichung: 19.03.2023
Alle Rechte vorbehalten