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Dreitausendvierhundert

Schritte, wenn das nicht reicht! Bald könnte es regnen und so ist es gut, dass ich heute mein Bewegungspensum bereits erfüllt habe. Ich verstaute meinen Schrittzähler und begab mich schnurstracks dorthin zurück wo ich herkam. Ich war noch keine drei Minuten gegangen, als ein Elch unerwartet die Straße überquerte. Nun aufgrund dieser Tatsache könnte man meinen, wir befänden uns irgendwo in Kanada oder Alaska, doch dem ist nicht so. Dieser Elch überquerte die Straße, indem er genau am 23. Breitengrad entlang spazierte. Er tat dies, als folgte er einer unsichtbaren, magnetischen Linie die die Städte Miami, Rom, Abu Dhabi und Mumbai miteinander verband. Ich befand mich in Rom, der unsichtbare Linie meines Lebensweges folgend und sprang als Reaktion auf die Begegnung mit dem Elch zur Seite und landete dabei mit einem Fuß in einem Haufen Hundescheiße. Nun könnte man glauben, das sei nicht ungewöhnlich. Doch dazu sollte man wissen, dass es in Rom`s Innenstadt seit einigen Jahren nicht mehr erlaubt war Hunde zu halten.


Ich wusste also nicht, was in diesem Moment ungewöhnlicher war, entschied mich aber aufgrund seiner imposanten Erscheinung für den Elch. Als wollte mich das Schicksal in dieser Situation prüfen, begann es in diesem Moment auch noch zu regnen. Nun, dies ist für diesen Breitengrad allerdings üblich. Den Regen zu verbieten, erdreisten die sich sonst ziemlich abgehobenen Stadtväter Roms anscheinend doch nicht. Der Regen beruhigte mich.
Viel half er allerdings nicht, denn gerade als ich mich ein wenig erholt hatte, kam der Elch von der anderen Richtung wieder. Er überquerte zielgerichtet die Straße, als hätte er den Befehl zur sofortigen Umkehr erhalten, den er nun ausführte. Er tat dies mit jener Gelassenheit, die diesen nordischen Tieren ins elchische Gesicht geschrieben steht. Dann war der Spuk vorbei. Ich war langsam wieder klar genug, um das, noch immer in der theoretisch gar nicht vorhandenen Hundescheiße stehende Bein, samt dazugehörigem Schuh, wieder auf das sichere Straßenpflaster zu stellen.
Ich nahm einen tiefen Atemzug. Die Luft drang tief in meine Lunge und ich fühlte mich kräftig.

Drei Straßen weiter, unter dem gleichen Regen, stand ein Mann an einer Haltestelle. Außer ihm warteten noch eine alte Frau und ein kleiner Junge auf den Autobus. Sie brauchten sich nicht wegen eines Elches wundern, denn dessen Route verlief 200 Meter weiter nördlich. Auch Hunde, oder deren Scheiße waren hier kein Thema und so verlief ihre Wartezeit harmlos und langweilig. Der Mann wäre wahrscheinlich dankbar gewesen, wenn ihm ein Elch die Wartezeit verkürzt hätte. Seine Unterhose zwickte. Das brachte ihm die Erinnerung vom letzten Wochenende zurück, wo allerdings eine Frau für die Empfindungen in seinem Genitialbereich zuständig war. Automatisch zogen sich sein Mundwinkel höher und seine Augen verengten sich ein wenig. Für Vorübergehende musste er in diesem Moment wie ein glückseliger Idiot ausgesehen haben. Nur dass es keinen Vorübergehenden gab. In gewisser Weise ähnelte sein Gesichtsausdruck dem des Elches. Der Mann, er hieß Emilio, war fast enttäuscht, als ihn der bremsende Bus aus der Erinnerung holte. Er seufzte und fühlte sich müde und erschöpft.


Zwei Minuten später stieg ich in diesen Autobus.
Der Schreck saß mir noch in den Knochen und so zuckte ich
unwillkürlich zusammen, als ich an dem Typ vorbeiging, dessen Gesichtsausdruck mich sofort an den Elch erinnerte. Kurz dachte ich, dass dieser fremde Mann und das Erscheinen des Elches zusammenhingen, verwarf aber diesen Gedanken rasch wieder und setzte mich an einen Fensterplatz. Ich liebte es stundenlang aus dem Fenster zu blicken. Es regnete nicht mehr. Mit der Dauer der Fahrt entspannte ich mich zusehends und bald lies mich die Erinnerung an den Elch schmunzeln. Zwei scheinbar glückselige Idioten, in einen Bus der durch ein Rom fährt, indem es nicht mehr regnete.


Als

ich drei Wochen später in London, indem es sehr wohl regnete, aus dem Zug stieg, war mir schlecht. Das hatte zumindest den Vorteil, dass ich nicht sofort den ersten Fish & Chips Laden betrat der auf meinem Weg lag. Ich liebte Fish & Chips. Diese langen schlappen Chips wie sie wohl


nur in Großbritannien zu finden sind, die so ganz im Gegensatz zu jenen knusprigen Chips der übrigen Welt standen, aufgeweicht in Essig, der auf Wunsch darauf geträufelt wird und zusammen mit dem gebratenen Fischfilet eingewickelt in Zeitungspapier. So good, so britisch. Ein andermal, jetzt war mir schlecht. Außerdem hatte ich nicht viel Zeit. In einer Stunde sollte mich schon der Reisebus abholen. Ich wechselte Geld und besorgte eine Flasche Wasser für die bevorstehende Fahrt. Massen von schwarz gekleideten Londoners strömten an mir vorbei und obwohl ich eine orangefarbene Lederjacke trug, würdigte mich niemand eines Blickes. Mit britischer Pünktlichkeit fuhr mein Bus am Busbahnhof ein. Froh dem Gewühle wieder zu entkommen, stieg ich ein. London – Edinburgh, 15 Stunden Fahrt standen mir bevor. Als ich die Sitzreihen entlang ging, streifte mein Blick kurz ein Gesicht, das mir irgendwie bekannt vorkam. Ich ließ mich im hinteren Teil in einen freien Fenstersitz fallen und schloss im nächsten Moment die Augen.
Draußen zog das verregnete London vorüber und in der Parallelwelt hinter meinen geschlossenen Lidern, spielten

sich Szenen aus den letzten Tagen in Rom ab. Die hübsche Seniora, deren Auto an einem all zu hohen Gehsteig hängen geblieben war, weiß Gott wie sie da hinaufkam, ich half ihr, indem ich den Kleinwagen Zentimeter für Zentimeter hinunter hob. Sie hatte wunderschöne Augen und wie ich später feststellen durfte, ein süßes Muttermal auf der rechten Pobacke.
Der fluchende Briefträger – ich hörte ihn, lange bevor ich ihn sah. Seinen eigenen Wortschwall folgend bog er in die Straße in der ich saß und an meinem Capuccino schlürfte. Daran erkennt man, dass ich kein Einheimischer war. Kein Italiener trinkt Capuccino. Das ist das klassische Getränk der Touristen während der Local seinen Espresso doppio in einem Ansatz hinunterkippt, und ich hörte den Briefträger noch fluchen, als ich bereits mit meinem Touristenkaffee fertig war und mein zweites dulce zur Hälfte gegessen hatte. Ich bevorzugte im Grunde Espresso, doch dieser eignete sich schlecht, wenn man länger sitzen wollte um das rege Treiben zu beobachten.
Ich hatte Zeit, war weder am Weg zur Arbeit, noch wartete jemand auf mich. Ich war unterwegs. Unterwegs zu sein

bedeutet für mich, weder am Ausgangspunkt, noch am Ziel zu sein, sondern irgendwo dazwischen, ohne zu wissen wie lange es noch dauern würde bis das Ziel erreicht ist, und ohne zu wissen. was genau das Ziel ist.

Das verregnete London glitt langsam in die Dunkelheit während der Bus nordwärts fuhr. Ich fühlte mich zunehmend besser. Da ich der ersten Fish & Chips Bude widerstanden hatte, meldete sich nun mein Hunger. Doch ich konnte nur feststellen, dass ich es wieder einmal versäumt hatte, für Reiseproviant zu sorgen. So holte ich meinen MP3 Player aus dem Rucksack und glitt alsbald mit leerem Magen und Musik in den Ohren
in einen philosophischen Halbschlaf.
„Ungleichmäßig tropft es von tiefgrünen Blättern. Blättern von der Größe einer Badewanne. Ein wahres Blätterdach dämpft das Tageslicht. Es ist warm, so um die 25°c. Die warme feuchte Luft strömt wie Balsam durch meine Atemwege. Ich lausche arabischen Klängen. Fremdartige Rhythmen weben einen orientalischen Klangteppich, entführen mich in ferne Oasen wo sich Dattelpalmen im


Wüstenwind wiegen und Tropfen von Kamelmilch mit wildem Honig in schwarzen Männerbärten hängen. Und es riecht nach Erdbeeren. Künstlichen Erdbeeren von den Gummibärchen die der Junge hinter mir kaut. Ich brauche die Augen gar nicht zu öffnen, die künstlichen Aromastoffe entfalten voll ihre Wirkung. Ein Lob der Chemieindustrie, sie versteht es Illusionen zu erzeugen. Wo ist die nun die Realität? Ist der Kamelmilchtropfen echt, der sich vor meinem geistigen Auge wie ein Juwel von dem schwarzen Bart eines Arabers abhebt? Sind es die Tropfen die satt auf fleischige Blätter klatschen? Ist es am Ende gar die graue Stadt, die eingehüllt in Nebel außerhalb des Busses lauert?
Realität – sie scheint so eindeutig, doch nicht einmal mein Zahnschmerz vermag sich lange genug als Wirklichkeit behaupten. Sie scheint überall zu sein, wie könnte man da vor ihr flüchten. Da sie scheinbar überall ist, stimmt es wohl auch. dass sie nirgendwo ist. So kann ich wählen unter vielen Scheinrealitäten, wechseln von einer zur anderen ohne den Ort zu verlassen.
Kann ohne die Zeit zu verdrehen vom Mittelalter ins 22. Jahrhundert blicken und den Kamelmilchtropfen einem

Eskimomädchen die kalte Wange runterlaufen lassen. Und doch zieht es mich immer wieder an einen Ort. An die Stelle, wo alle Fäden zusammenlaufen.
Da focusiert sich meine Aufmerksamkeit, sammelt sich in diesem Behältnis Körper, und dieses Mal ist es mein Harndrang, der das Rennen um die wahre Wirklichkeit macht und Männerbärte, Eskimotränen und Dattelpalmen verblassen als Einbildung am Ereignishorizont.“
Ich muß wohl richtig eingeschlafen sein, denn als der Bus ein paar Stunden später an einer Tankstelle hielt, blickte ich verschlafen aus dem Fenster und sah gerade noch, wie ein Elch, im Kegel eines Autoscheinwerfers vom Straßenrand verschwand. Sofort war ich hellwach und war wohl ohne es zu merken aufgesprungen, denn ein dumpfer Schlag auf den Kopf lies mich wieder in den Sitz sinken. Im nächsten Moment nahm ich aus den Augenwinkeln wahr, wie mein Rucksack von der Ablage oben, an mir vorbei und dem Kind nebenan in den Schoß fiel. Dieses schrie hell auf, was die bisher noch schlafenden im Handumdrehen ins Wachsein beförderte. Da schon alle wach waren knipste der Fahrer gleich die volle Beleuchtung an und so starrten

sich 39 Reisende gegenseitig verwirrt an. Ich als vierzigster hatte die Augen schnell wieder geschlossen. Natürlich wollten nun alle gleichzeitig auf die Toilette, was mich veranlasste nicht dorthin zu gehen, sondern meine Notdurft unter dem Sternenhimmel von Sussex zu verrichten. Dies war eine Ausnahme. Nicht das ich sonst nur die dafür vorgesehenen Orte aufsuche, nein die Ausnahme war der Sternenhimmel. denn üblicherweise verdeckt in Sussex eine Dunstschicht oder Wolkendecke den Blick auf die Sterne.
Sternenhimmel hin, Elch her, Notdurft hat Vorrang und ich verrichtete ich sie mit Blick auf die Stelle, an der vor wenigen Minuten das Tier verschwunden war. Insgeheim rechnete ich damit, dass dieses, wie damals in Rom, wieder zurückkommen würde. Tatsächlich bemerkte ich eine Bewegung an jener Stelle. Ich vernahm auch ein Geräusch und im nächsten Augenblick sah ich im Schein der schwachen Straßenbeleuchtung einen Mann aus dem Gebüsch kommen. Den Mann, dessen Gesicht mir beim Einsteigen in London bereits bekannt vorgekommen war. Ich erkannte, dass dies auch jener Mann war, der mir ein

paar Wochen zuvor in Rom aufgefallen war. Damals, kurz nach meiner ersten Begegnung mit dem Elch.
„ Hallo Elchmann“, sprach ich ihn an.
Er blickte mich leicht verwirrt an und stellte sich vor „Ich bin Emilio, Emilio Schönborn, nicht Elchmann, woher weißt du, dass ich deutsch spreche?“ Überrascht ein vollkommen menschliches Wesen vor mir zu haben das sogar meine Sprache spricht, erwiderte ich etwas stockend „War geraten, ich dachte du wärst ein Faun, so halb Mensch, halb Elch da mein Faunisch ziemlich mies ist, habe ich es mit meiner Muttersprache probiert.“
„Ein Faun! Alles in Ordnung bei dir, oder hast du dir bei deinem Aufweckmanöver den Kopf zu fest angeschlagen?“ fragte Emilio. Er schien nicht gerade glücklich über die unsanfte Methode, mit der er im Bus geweckt wurde. Erleichtert antwortete ich ihm „Mir geht’s gut, hast du Lust mit mir ein Bier zu trinken?“ Es war zwei Uhr Morgens, da ist es nicht verwunderlich, dass Emilio das Angebot ausschlug, doch wir konnten uns auf Tee einigen und strebten zur Kneipe. Lieber wäre mir ein starker Espresso gewesen, ich war jedoch schon wach genug um mich zu

erinnern, dass die Engländer, die Nation der Teetrinker, zwar keinen guten Tee zubereiten konnten, ja, in der Regel nicht einmal losen Tee kannten, sondern bloß den minderwertigen Teestaub in vorgefertigten kleinen Teebeuteln tranken, aber Kaffee brauen, dass konnten sie noch viel weniger. Daher war ich mit Tee als Kompromiss einverstanden. Der Reisebus stand in der Nähe des Raststätteneingangs, genauer gesagt hatte er dort gestanden. Jetzt stand dafür ein Ausdruck höchster Irritation in unseren Gesichtern, denn der Bus war weg.
Ein Blick genügte um mir auf der kleinen Raststation Gewissheit zu verschaffen: Eine halb beleuchtete, menschenleere und vor allem autobusleere Raststation, ein Mann, der zweimal einen Elch gesehen hatte, und ein anderer der Schönborn hieß, beide mit einem fassungslosen Gesichtsausdruck unter einem ausnahmsweise klarem Himmel.
Ich atmete tief durch und die klare Luft erfüllte mich mit Schaudern.
Wir nahmen doch Bier. Das erste tranken wir schweigend. Beim zweiten redeten wir gleichzeitig fluchend und

gestikulierten als sprächen wir Gebärdensprache. Für das dritte Bier brauchten wir ziemlich lange, da wir vor lauter Lachen kaum zum Trinken kamen. Zu reden begannen wir beim vierten, was jedoch nur eine Bierlänge funktionierte, weil dann der Alkohol die Wörter schluckte und verzerrte. Bis zum Anbruch der Dämmerung verging noch ein Bier und ins erste Tageslicht traten zwei Freunde, die sich drei Liter vorher noch nicht einmal kannten.

Impressum

Texte: Selbstfindung - wer ist der Suchende und wer der Finder? Der Text in diesem Buch ist alleinges geistiges Eigentum von Harald Hummer. Jegliche Form der Vervielfältigung bedarf einer schriftlichen Zustimmung des Autors. www.innerjourney.at
Tag der Veröffentlichung: 30.01.2009

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