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10. Mai.1994 - Hamburg
Es war eine warme Frühlingsnacht, wie sie es lange schon nicht mehr war in Hamburg.
Ein warmer Wind wehte in über den weiten Hafen.
Die Elbe schlug leichte Wellen, welche gegen die Kaimauern schlugen und so ein leichtes plätscherndes Geräusch hinterließ.
Das Hamburger Museumsschiff, die Cap San Diego, wurde von einem hellen Licht umgeben.
Der Himmel war Wolkenlos und die Sterne lachten vom Himmelszelt hinunter auf den Hafen.
Eine Frau Anfang ihres dreißigsten Lebensjahr, saß auf einer Bank und starrte in das schwarze Wasser.
Ihre Augen leuchteten blau im hellen Mondschein.
Die blonden glatten Haare hatte sie zu einem Zopf zusammengebunden und sie fielen in leichten Strähnen über ihre Schulter.
Ihr Gesicht war, trotz ihres jungen Alters, von Sorgenfalten überzogen.
Ihre kleine dünne rechte Hand war auf ihren Bauch gelegt.
Ihren dicken Bauch, in diesem ein Kind lag.
Ein Geräusch ließ sie aufhorchen.
Doch kein weiteres kam.
Sie blieb ruhig und wischte sich Schweißperlen von der Stirn.
Ihre linke Hand erzitterte und die Frau legte sie in ihren Schoß.
Um das Zittern zu ersticken, presste sie die Hand zwischen ihre Beine und drückte diese zusammen.
Wieder war ein Geräusch zu hören.
Dieses Mal sprang sie von der Bank auf.
Ein Mann, Mitte dreißig, sah sie aus verengten Augen an: „ Was ist, warum bist du nicht zuhause, Schatz?
Du bist krank!“.
Die Frau sagte nichts.
Sie sah sich das Gesicht des Mannes genau an.
Die kleinen braunen Augen, das helle blonde Haar.
Das Gesicht, welches langsam Falten vom Alter bekam.
Dieser Mann war nur ein paar Zentimeter größer als die Frau, die gekrümmt auf dem Boden stand.
Er hatte einen gut durchtrainierten Körper, in diesen sich die Frau sofort verliebt hatte.
Jetzt trug er seinen Anzug von der Arbeit.
Die Frau knickte ein.
Der Mann packte sie: „ Emily, du bist krank, du gehörst ins Bett.“.
Sie wehrte sich gegen seinen Griff bis er sie los ließ: „ Was ist los mit dir?“.
Die Frau hielt sich an der Bank fest und entfernte sich ein paar Schritte von ihm.
Die nackte Angst war ihr ins Gesicht geschrieben.
Ihre Hand zitterte immer noch als sie diese gegen diesen Mann erhob: „ Du…mein Kind wird nicht bei dir aufwachsen, dafür sorge ich!“.
Der Mann nährte sich ihr langsam: „ Was redest du für einen Unsinn Emily, du hast Fieber!“.
Die Frau streckte ihre Hand aus.
Stopp, bedeutete sie ihm.
Der Mann blieb stehen und sah sie nur an.
Sie schrie vor Schmerzen auf.
Dann beruhigte sie sich und sah den Mann wieder an: „ Halte dich fern von meinem Kind, es wird überall besser leben als bei dir!“.
Der Mann streckte helfend seine Hand nach der Frau aus, doch sie ging noch weiter zurück.
„ Ich…das Kind…es wird nicht in der Welt leben die du willst André!“, schrie sie außer sich.
Der Mann wich zurück.
Er zog eine Waffe: „ Woher weißt du das?“.
Die Frau atmete schwer: „ Na los, erschieß mich, George wird sich rächen!“.
Der Mann zögerte und schoss.
Der Schuss ging in den Nachthimmel hinauf.
Er sah sie an: „ Du wirst nicht überleben Emily, du wirst sterben, genau wie dein dummes Kind.“.
Der Mann wandte sich zum gehen.
Die Frau brach auf dem Boden zusammen.

Kapitel 1.

Hamburg- 13 Jahre später!
Ich legte meinen Pullover zusammen und legte ihn in meinen Kleiderschrank.
Mein Blick ging verträumt aus dem Fenster.
Jemand klopfte an meine Zimmertür und Julia Bunt trat ein.
Sie war jung und vergeudete ihre Zeit im Waisenhaus.
Obwohl sie Abitur hatte und gute Aussichten auf einen gut bezahlten Job, blieb sie hier im Waisenhaus.
Ihre braunen Haare umrahmten ihr Gesicht als sie sich neben mich auf den Boden setzte.
Ihre braunen Augen nahmen mich in Augenschein.
Dreizehn Jahre war ich alt und würde in zwei Tagen vierzehn werden.
Schon seitdem ich denken kann, war dieses Zimmer mein Heim gewesen.
Im Alter von drei Wochen wurde ich in diesem Waisenhaus nahe am Hamburger Hafen aufgenommen und versorgt.
Mit acht Jahren war ich größtenteils auf mich gestellt.
Keiner ließ mich etwas über meine Mutter in Erfahrung bringen.
Das einzigste was ich über sie wusste, war, dass sie einen Tag nach meiner Geburt gestorben war.
Am vierzehnten Mai 1994war sie gestorben.
Ich war am dreizehnten Mai 1994geboren.
Als Julia ihre Hand auf meine Schulter legte, stand ich vom Boden auf und entfernte mich von ihr.
Ich ging zu dem Fenster und trommelte mit meinen Fingern auf das Fensterbrett.
Julia blieb sitzen: „ Lilly, das Jamie aufgenommen wurde ist doch schön.“.
Ich drehte mich zu ihr herum und schrie sie an: „ Und ich?
Ich lebe schon dreizehn Jahre hier Julia, ich will weg, will eine Familie!“.
Julia seufzte und stand auf.
Sie kam jedoch nicht zu mir als die Heimleiterin in das Zimmer kam: „ Lilly, ich möchte dich bitten leise zu sein, die kleineren halten ihren Mittagsschlaf!“.
Ich sah sie nicht an, sondern sah wieder in den Garten des Waisenhauses.
Kinder im Alter von drei bis zehn Jahren spielten darin.
Die Heimleiterin, Frau Nielsen mochte ich nicht.
Sie war gemein zu mir.
Immer zog sie andere Kinder vor.
Geburtstagsgeschenke bekam ich keine.
Es wäre ja nicht so schlimm, wenn ich wenigstens einen Kuchen bekommen würde.
Doch auch der stand mir nicht zu.
Ich drehte meinen Kopf zu ihr herum.
Ihre rotbraunen Haare wurden langsam grau.
Sie machte sich nichts aus ihrem Aussehen.
Ihre Haut wurde faltig und ihre braunen Augen verschwanden in den tiefen Augenhöhlen.
Jedoch war ihr Blick strenger als sonst.
Ihre Haltung war leicht gekrümmt.
Für mich war sie immer eine Hexe gewesen und sie wird es auch immer bleiben.
Frau Nielsen starrte mich nieder.
Julia verschwand durch die offenstehende Zimmertür.
Ich ging zu meinem Bett und nahm mein Buch, welches ich mir von Nicole ausgeliehen hatte.
Frau Nielsen sah jedoch mehr als Fünf Minuten zu, wie ich auf dem Bett lag und in diesem Buch las.
Dann wandte sie sich um und verschwand aus dem Zimmer.
Erleichtert legte ich das Buch weg und ging zu meinem Schreibtisch.
Mein Hausaufgabenheft lag auf dem Schreibtisch, daneben meine Federtasche.
Ich setzte mich auf den Stuhl vor dem hölzernen Schreibtisch und blätterte in meinem Hausaufgabenheft herum.
Irgendwann fand ich das heutige Datum und las die Hausaufgaben ab, die ich zu morgen brauchte.
Nur Englisch und Mathe.
Englisch.
Keiner weiß warum, nicht einmal ich, warum ich dieses Fach so gut konnte.
Auch wusste keiner, warum ich auch noch Türkisch sehr gut konnte.
Ich erinnerte mich an meine Erfahrung in der Grundschule.
Dort hatte ich eine Mutter angeschrien, die ihren Sohn schlagen wollte.
Die Lehrer waren so verblüfft, dass sie mich zu einem Psychologen schickten.
Während ich in der Schule dann die Aufmerksamkeit der Lehrer und einer Referendarin genoss, wurde Frau Nielsen nur wütender und verbannte mich auf den Dachboden ihres Hauses.
Mich kümmerte es nicht.
Nun hatte ich ein Zimmer alleine und konnte so lange ich wollte wach bleiben.
Selbst die kahlen Wände störten mich nicht.
Oder der Fußboden aus Holzdielen.
Es war mein zuhause geworden.
Hier fühlte ich mich wohl und hierhin zog ich mich gerne zurück.
Mein Blick ging vom Hausaufgabenheft hinauf in den Spiegel.
Meine blauen Augen strahlten mich an.
Mein blondes Haar war wie immer in einem Zopf.
Aber vor allem war mein Haar lang.
Es reichte mir, wenn ich es offen hatte, bis zur Taille.
Leichte Wellen schmückte jede einzelne Haarsträhne.
Mein Gesicht war leicht oval.
Mein Körper selbst war dünn.
Viele Ärzte meinten zu dünn.
Selbst in der Schule meinte man ich sei zu dünn und solle mehr essen.
Aber Essen tat ich nicht viel.
Das Essen im Waisenhaus hatte mir noch nie geschmeckt.
Essen gehen, tat ich nie, weil ich dazu das Geld nicht hatte.
An das Erbe meiner Mutter kam ich auch erst in vier Jahren ran und dann würde ich es wahrscheinlich mehr brauchen als ich jetzt denken kann.
Ich sah vom Spiegel weg und wieder auf meine Schulsachen.
Langsam nahm ich meinen Füller aus der Federtasche und schlug mein Mathematikheft und mein Mathematikbuch auf.
In meiner säuberlichen Handschrift schrieb ich die Aufgaben ab und bearbeitete sie dann im Heft.
Nachdem ich Mathe beendet hatte, machte ich mich an die Englischhausaufgaben.
Gegen sieben Uhr hörte ich die Glocken für das Abendessen läuten.
Ich schlug mein Englischheft zu und stand von meinem Stuhl auf.
Langsam ging ich die Treppen zu dem Speisesaal hinunter.
Doch auf der ersten Treppe noch, hielt ich inne und starrte in die Eingangshalle hinunter.
Eine Frau stand dort und unterhielt sich mit Frau Nielsen.
Die Frau war jedoch kaum zu erkennen.
Außer ihren kurzen Pferdeschwanz, erkannte man nichts von ihrem Körper.
Dennoch trug sie eine schwarze Basecap.
Sie trug eine beige Frühlingsjacke.
Sonst trug sie eine normale Jeans und leicht sitzende Sportschuhe.
Ich machte mich hinter dem Treppengeländer klein und versuchte angestrengt etwas von ihrem Gespräch aufzunehmen.
„ Nun, ich denke wir sollten das nicht zwischen Tür und Angel klären…“, sie verschluckte den Namen der Frau und sagte dann, „ wir gehen lieber in mein Büro.“.
Ich seufzte.
Dann stellte ich mich wieder normal auf und lief die Treppen in den Speisesaal hinunter.
Julia kämpfte mit den siebenjährigen Jannik.
Er wollte einfach nicht auf seinen Stuhl sitzen bleiben und brüllte laut durch die Gegend.
Langsam ging ich an den Tisch, den ich mir immer mit Jamie geteilt hatte.
Doch jetzt war sie bei einer netten und wunderbaren Pflegefamilie und ich saß immer noch hier im Waisenhaus fest.
Julia gab es endgültig mit Jannik auf und half der Köchin.
Jannik saß nun auf dem Boden und schlug mit seiner Faust gegen seinen Stuhl.
Ich fand seine Situation verständlich.
Vor ein paar Wochen war seine Mutter einfach abgehauen, ohne ein Wort zu ihm zusagen.
Sie hatte ihn in der großen Wohnung alleine gelassen.
Jetzt war Jannik sauer auf alles und jeden.
Selbst Julia kam nicht an ihn ran.
Julias liebevolle Art war im Waisenhaus ein Trost.
Jedes Kind vertraute ihr viele Sachen an und zeigte ihr viele Verstecke.
Ich selbst hatte ihr, als ich sechs war, im Garten meinen Lieblingsplatz gezeigt und hatte ihn bis ich zehn war mit ihr geteilt.
Dort hatte sie mir immer aus Büchern vorgelesen.
Julia stellte einen Teller mit heißer Brühe vor mir auf den Tisch und legte einen Löffel daneben.
Ich nickte ihr zu und sie lächelte: „ Lass es dir schmecken.“.
Doch anfangen durfte ich erst, wenn jedes Kind seinen Teller vor sich auf den Tisch stehen hatte.
Als es dann so weit war, fing jeder im Saal an zu essen.
Julia blieb bei der Köchin und redete leise mit ihr, während Kinderstimmen den Saal erfüllten.
Ich aß still meine Brühe und sah nicht von meinem Teller auf.
Gegen halb acht waren dann alle fertig mit essen.
Ich saß nur auf meinem Stuhl und starrte auf den leeren Platz vor mir, den Jamie immer bezogen hatte.
Jetzt war er zu leer.
Das Mädchen was auf ihm saß, hatte immer gelacht und wirklich über jeden Unsinn.
Julia stieß mich an.
Ich sah von dem Stuhl weg und sah in ihre braunen Augen: „ Was?“.
Sie deutete mit dem Kopf auf den Ausgang des Saals.
Die Frau von der Eingangshalle stand dort mit Frau Nielsen.
Ich sah wieder zu Julia hoch: „ Und was willst du mir sagen?“.
„ Sie ist wegen dir hier Dummerchen!“, sagte sie, nahm meinen Teller und verschwand.
Ich sah zu den beiden erwachsenen Frauen.
Sie unterhielten sich nicht.
Während Frau Nielsen Befehle zu den Kindern bellte, sah die Frau zu mir.
Ich senkte meinen Blick und stand vom Stuhl auf.
Als ich am Ausgang war, sah die Frau mich genau an.
Ich konnte ihre schmalen Lippen sehen.
Sie waren zu einem Lächeln verzogen.
Ich sah mich im Saal um.
Außer mir war keiner mehr hier im Raum.
Die Frau lächelte mich an.
Verwirrt schüttelte ich den Kopf und wandte mich zu der Treppe.
Die Frau drehte sich zu mir herum und sah zu wie ich die Treppe hinaufstieg.
Ich beobachtete ihre Bewegungen nur aus dem Augenwinkel.
Sie sah zu Julia, als diese sie ansprach.
Ich ging kopfschüttelnd in meine Zimmer und schloss die Tür hinter mir.

Kapitel 2.

„ Bist du sicher…Julia hat sich schon häufiger geirrt“, sagte Lee leise.
Ich hatte ihr und Nicole, sowie Sheyda, gerade erzählt, was sich gestern Abend im Waisenhaus abgespielt hat.
Wir standen auf dem Schulhof.
Ein kalter Wind fegte über ihn und ließ die Blätter in den Bäumen rascheln.
Ich zuckte die Schultern: „ Sie hat mir zugelächelt!“.
Sheyda meldete sich zu Wort: „ Lilly, jetzt mal echt!
Sie kann auch einem anderen Kind zugelächelt haben!“.
Fassungslos starrte ich sie an.
Schlug sie sich plötzlich auf Lees Seite, die beiden, die sich über alles auf der Welt hassten?
Dann fand ich meine Stimme: „ Es war keiner mehr im Saal!“.
Nicole seufzte: „ Kommt runter.
Lilly, wenn sie dich meinte, kannst du nur hoffen, dass sie dich aus diesem Heim holt.
Lee und Sheyda, lasst sie jetzt in Ruhe!“.
Dankbar sah ich sie an.
Sie schenkte mir eines ihrer seltenen Lächeln: „ Wie sieht sie genau aus?
Ist sie auch nett?“.
„ Man hat ihr Gesicht nicht gesehen, ansonsten ist sie schlank und hat dunkelblondes Haar.
Sie sah schon nett aus“, gab ich leise zu.
Lee stieß ein Ha aus: „ Wusste ich´s doch!
Sie interessiert sich nicht wirklich für dich!“.
Nicole verdrehte die Augen: „ Lee reiß dich zusammen, wir wissen nichts über diese Frau!“.
Zur Bestätigung nickte Sheyda: „ Außerdem sollten wir nicht Vorurteilen.“.
Katrin gesellte sich zu uns: „ Tut mir Leid wenn ich störe!
Lilly hast du Englisch gemacht?“.
Ich nickte: „ Liegt aber oben in der Klasse.“.
Katrin fluchte: „ Verdammt, ich brauch das unbedingt, Herr Lupfen köpft mich!“.
Lee zwang sich zu einem Lächeln: „ Na, so schlimm wird es schon nicht sein!“.
Katrin stieß mich an: „ Hast du morgen eigentlich etwas vor?“.
Ich sah sie mit entsetzten an: „ Du glaubst doch nicht im Ernst, dass Frau Nielsen etwas für mich plant!“.
Katrin zuckte die Schultern: „ Heut´ is´ nicht aller Tage Anfang!“.
Ich schnaubte: „ Wohl eher nicht.“.
Sie sah zu Lee, dann wieder zu mir: „ Schade, können wir dich wenigstens besuchen, oder ist die immer noch so wütend auf uns?“.
„ Du meinst weil ihr eure Schuhe nicht abgeputzt habt?“, fragte ich und Katrin nickte, „ Ich denke sie ist immer noch sauer.“.
Miley kam zu uns: „ Okay, Herr Wegener hat uns wieder im Auge, habt ihr etwas angestellt?“.
Ich sah zu unserem Mathematiklehrer.
Er kam Zielsicher auf uns zu.
Ich sah Lee an: „ Du hattest deine Hausaufgaben nicht.“.
„ Kein Grund mich in der Pause von einem Lehrer nerven zu lassen“, sie sah zu Nicole, „ ich will in die Kantine.“.
Beide Mädchen verschwanden aus unserer Gruppe.
Doch Herr Wegener steuerte immer noch uns an: „ Lilly.“.
Ich drehte mich zu ihm herum: „ Ja?“.
„ Der Schulleiter sucht dich“, sagte er unbeteiligt.
Mit einer hochgezogenen Braue sah ich ihn an: „ Herr Essert?“.
„ Herr Essert“, bestätigte er mir.
Ich sah meine Freunde an.
Sie zuckten die Schultern: „ Geh lieber.“.
Langsam entfernte ich mich von der Gruppe und ging alleine in das Gebäude der Lehrer und des Schulleiters.
Ich klopfte an die Tür von Herr Essert.
Dann trat ich ein.
Der junge Schulleiter sah von seinem Computer zu mir: „ Lilly, hat Herr Wegener dich also gefunden, komm her.“.
Langsam schloss ich die Tür und ging zu ihm: „ Was kann ich für Sie tun?“.
„ Ich möchte dich um einen Gefallen bitten“, er sah mich aus seinen ruhigen hellblauen Augen an, „ morgen kommt ein Transporter, du und noch drei andere Schüler sollen beim ausräumen helfen.“.
Verwundert sah ich ihn an: „ Aber…wann denn, in der Pause?“.
Er schüttelte den Kopf und sah auf einen Zettel: „ Gegen acht Uhr fährt er hier ein, ich möchte, dass du pünktlich bist.“.
Ich nickte: „ Okay.
Aber kann der Hausmeister das nicht machen, wir haben eine Doppelstunde Geschichte und schreiben in der zweiten Stunde eine Arbeit.“.
Herr Essert sah mich interessiert an: „ Lilly, ich denke du wirst die Arbeit auch ohne die erste Stunde schaffen.“.
Ich zog meine Stirn in Falten.
Herr Essert sah auf seine Zettel.
Das Gespräch war also beendet.
Keine weitere Diskussion.
Also ging ich aus dem Büro in Richtung Schulgebäude in dem die siebten bis dreizehnten Klassen untergebrach waren.
Noch auf dem Weg dorthin, traf ich Nicole.
Lee war nicht bei ihr.
Ich lächelte sie an: „ Wo ist Lee?“.
Nicole sah mich wütend an: „ Frag nicht.“.
Ich schüttelte den Kopf: „ Um was ging es dieses Mal?“.
Nicole sah mich wütend an: „ Willst du nicht wissen!“.
Kopfschüttelnd stiegen wir die Stufen bis in den dritten Stock hinauf und gingen dann in unser Klassenzimmer.
Es war laut.
Kenneth, ein Junge mit guter Figur versuchte mit Lee zu reden, die ihn kalt ließ.
Ich musste lächeln.
Seit zwei Jahren versuchte er schon mit ihr auszugehen, aber bis jetzt hatte er es nicht einmal geschafft.
Ich setzte mich auf meinen Platz und hatte meine Englischsachen schon auf dem Tisch liegen als Herr Lupfen den Raum betrat und langsam Ruhe einkehrte.
Er ging zum Pult und legte seine Tasche darauf ab.
Sein gelbes Notizbuch zog er aus der Tasche und ging langsam durch die Klasse um die Hausaufgaben zu kontrollieren.
Als er bei mir als letztes ankam, sah er sich meine Hausaufgaben aufmerksam an und ging wieder vor die Tafel: „ Sechs von achtundzwanzig Schülern haben die Hausaufgaben!“.
Jeder sah sich in der Klasse um.
Natürlich viel der Blick auf mich.
Ich hatte die Hausaufgaben immer.
Aber was blieb mir denn auch anderes übrig.
Das Waisenhaus war für mich nie ein Ort der Freude gewesen.
So hatte ich angefangen mich in den Schularbeiten zu vertiefen.
Somit hatte ich den Ruf des Klassenstrebers.
Doch es machte mir nichts aus.
Ich würde dann später eben einen guten Beruf erlernen.
Doch daran wollte ich jetzt eigentlich nicht denken.
„ Lilly, passt du auf?“, drang Herr Lupfens Stimme an meine Ohren.
Ich drehte meinen Kopf in seine Richtung.
Er musterte mich: „ Würdest du uns bitte einmal den Text im Schulbuch vorlesen Lilly, oder möchtest du lieber dem Englischunterricht fern bleiben?“.
Bei der ersten Ermahnung mich aus dem Unterricht werfen?
Ich sah ihn an und räusperte mich: „ Herr Lupfen, Sie haben mich erst einmal Ermahnt, Sie können mich nicht sofort aus dem Unterricht werfen!“.
Viele brachen in Gelächter aus.
Herr Lupfen brachte sie mit einem Blick zum Schweigen.
Er drehte sich wieder mir zu: „ Frau Matthews, ich habe Sie vier Mal aufgefordert den Text zu lesen!“.
Ich starrte auf den Platz vor mir.
Das Buch lag nicht aufgeschlagen auf meinem Tisch, was ihn wohl auf mich aufmerksam gemacht hatte.
Ich sah meinen Lehrer an.
Seine braunen Augen sahen mich neugierig an.
Seine braunen Haare, in denen sich ein paar Grauspuren abzeichneten, zitterten bedrohlich auf seinem Kopf.
Ich räusperte mich, nahm mein Englischbuch und fragte: „ Welche Seite?“.
„ Page 45!“, sagte er laut.
Ich blätterte im Buch und suchte nach der Seite.
Doch meine zweite Blamage sollte kommen.
Seite 44 und Seite 47 lächelten mich an.
Herr Lupfen hatte seinen Kopf jedoch schon in sein Buch gesteckt und wartete, dass meine Stimme seine Ohren erreichen würde.
Ich zögerte lange: „ Herr Lupfen, mir fehlt die Seite 45.“.
Er sah zu mir.
Sein Blick war nun wütend: „ Nach der Stunde zu mir Lilly Matthews!“.
Mein Blick ging zu Nicole.
Sie saß auf ihrem Platz und hatte einen Stift in der Hand, mit dem sie auf einem Zettel malte.
Ich sah zu Kenneth: „ Kannst du mir dein Buch geben?“.
Herr Lupfen sah mich an: „ Kenneth, read the text!“.
„ Das ist nicht fair!“, brach ich ohne nachzudenken los.
Herr Lupfen sah mich an: „ Was ist nicht fair Lilly?
Dass ich jetzt einen anderen Schüler dran nehme, weil du nicht aufgepasst hast und weil dir die Seite im Buch fehlt?“.
Ich nickte und meine Augen funkelten: „ Genau das!“.
„ Ich möchte dich darauf hinweisen Lilly Matthews, dass ich Grund genug hätte dich jetzt aus der Klasse zu werfen und das werde ich auch machen, wenn du noch einen Ton von dir gibst!“, schrie er.
Ich zuckte zusammen.
„ Herr Lupfen, ich würde den Text aber gerne le…“.
„ Raus!“, knurrte er.
Ich stand von meinem Platz auf und ging zu ihm nach vorne: „ Das ist nicht fair!“.
„ Raus!“, schrie er.
Ich ging zu der Tür, drückte wütend die Klinke hinunter und…
Ich hatte die Türklinke in der Hand.
Mein Blick war auf das Loch in der Tür gerichtet.
„ Bekommen wir die Tür nicht von alleine auf, Fräulein Matthews?“, fragte Herr Lupfen laut und ungeduldig.
Ich drehte mich zu ihm herum: „ Ich denke die Tür geht jetzt ohne einen Schlüssel nicht mehr auf.“.
Ein schwaches Grinsen huschte über mein Gesicht.
Herr Lupfen grabschte seinen Schlüssel vom Pult und warf ihn mir zu.
Heute ging alles schief.
Den Schlüssel fing ich, jedoch fiel mir dann die Türklinke aus der Hand und landete klirrend auf den Boden.
Herr Lupfen verdrehte die Augen und wandte sich Kenneth zu: „ Lies!“.
Ich hob die Klinke langsam vom Boden auf und steckte dann den Schlüssel in das Türschloss.
Dann öffnete ich die Tür und trat hinaus auf den kahlen Flur.
Leise schloss ich die Tür und setzte mich auf den Boden.
Das war ja eben super gelaufen.
Ausgerechnet Herr Lupfen musste ich verärgern.
Ein Lehrer der immer zu mir stand.
Ich sah zu der Tür, die den Flur trennte.
Eine Feuerschutztür.
Ich seufzte und sah zurück auf meine Hände.
Herr Lupfen war ein Lehrer der Erfahrung mit Schülern hatte.
Immer war er für die Schüler da, setzte sich für diese ein, wenn sie ein Problem hatten.
Das machte ihn zum Vertrauenslehrer.
Ihm im Unterricht zu haben, ist pures Glück.
Er hat seit dem letzten Jahr weniger Arbeitsstunden, weil er einen schweren Autounfall hatte.
Soweit ich weiß hatte er sich noch immer nicht ganz erholt.
Die Tür des Klassenzimmers öffnete sich.
Ich sah nicht auf, sondern hockte immer noch auf dem Boden bis ich Herr Lupfens Beine vor mir sah.
Erst dann erhob ich meinen Kopf ein Stück und sah ihn an.
Er ging in die Hocke: „ Also Lilly, was war das eben in der Klasse?“.
Seine Stimme war ruhiger als eben.
Fast väterlich.
Vater.
Ich wusste, ich hatte einen, doch er war nie gefunden worden und er scheint sich nichts aus mir zu machen, da er auf einen Zeitungsaufruf nicht reagiert hatte.
„ Ich bin einfach nur müde“, nuschelte ich bedrückt.
Ich hatte ihn enttäuscht.
Mein Benehmen ihm gegenüber hatte ihn enttäuscht.
Ich sah auf meine Hände: „ Es tut mir leid.“.
Herr Lupfen sah mich prüfend an: „ Müde.
Das ist kein Grund außer Fassung zu geraten Lilly, ich kenn´ dich dazu schon zu lange!“.
Ich sah ihn an: „ Ich bin momentan einfach nicht in der Stimmung zu reden, okay?“.
Herr Lupfen seufzte: „ Lilly, ich weiß, dass dich etwas bedrückt, könntest du mir jetzt bitte einmal sagen, was es ist?“.
„ Eine Frau war im Waisenhaus“, gab ich mich geschlagen, „ sie möchte mich, glaube ich.“.
„ Solange das nicht feststeht Lilly, möchte ich, dass du dich wieder auf den Unterricht konzentrierst!“.
Ich sah ihn an: „ Das sagen Sie so einfach!
Sie sind nicht ohne Eltern aufgewachsen!“.
Herr Lupfen seufzte: „ Lilly, du hast noch einen großen Teil deines Lebens vor dir, du wirst nicht alleine sterben, darum musst du dir keine Sorgen machen!“.
Ich schnaubte.
Herr Lupfen stand auf: „ Also Lilly, ich werde noch einmal ein Auge zudrücken, aber du wirst bis zum Ende der Stunde hier draußen bleiben!“.
Ich warf meinen Kopf gegen die Wand.
Der Lehrer verschwand wieder in die Klasse.

Kapitel 3.

Den Schultag hatte ich geschafft, jetzt saß ich am Grab meiner Mutter und machte meine Hausaufgaben.
Dies war immer mein Lieblingsplatz um diese zu machen.
Außerdem entkam ich so dem Lärm des Waisenhauses.
Ein Mann nährte sich mir von hinten: „ Lilly, was machst du denn schon wieder hier?“.
Ich sah auf.
Lars stand hinter mir und sah auf meine Biologie Hausaufgaben: „ Das mit der Fotosynthese solltest du aber noch mal üben!“.
Ich sah auf meinen Arbeitszettel: „ Wieso?“.
Lars ging neben mir in die Hocke: „ Weil in der Erde kein Traubenzucker ist meine Liebe!“.
Ich sah auf den Zettel.
Tatsächlich!
Ich hatte wirklich geschrieben, dass in der Erde Traubenzucker vorhanden war.
Kopfschüttelnd legte ich den Zettel auf den Boden und sah Lars an: „ Wie geht’s dir?“.
„ Also mir geht’s gut, aber dir wohl nicht wenn du von Traubenzucker in der Erde schreibst!“, sagte er mit einem breiten grinsen auf dem Mund.
Ich haute mit meiner Hand nach ihm: „ Und du bist besser!“.
Ihm viel eine rote Locke in die blauen Augen.
Er wischte sie mit seiner beschmutzten Hand weg: „ Komm ich helf dir!“.
„ Hast du nicht genug zu tun?“, fragte ich.
Er nickte: „ Schon, aber die Blumen werden mich schon nicht anklagen wenn sie ein paar Stunden später in der Traubenzucker besetzten Erde sitzen.“.
Ich lächelte ihn an: „ Und du warst bestimmt immer eine Ass in Englisch.“.
„ Klar, wenn es um die fünfen oder sechsen geht, immer!“, er nahm das Arbeitsblatt und las es sich durch, „ Das ist doch einfach Frau Matthews!“.
Er setzte sich neben mich auf den Boden und hielt mir meinen Bleistift hin.
Mit ihm konnte ich die mir gestellten Aufgaben lösen.
Gegen sechs Uhr am Abend, verließ ich dann den Friedhof.
Doch als ich am Tor des Friedhofes ankam, sah ich die Frau aus dem Waisenhaus.
Ich versuchte erneut einen Blick zu erhaschen, doch ein Mann stellte sich vor sie.
Der Mann war muskulös und trug einen schwarzen Anzug.
Die Frau schien sich in seiner Nähe wohler zu fühlen.
Wer war das bloß?
Ob der Mann ein Bodyguard war?
So sah er aus.
Die Frau drehte sich zu mir herum.
Der Mann neben ihr sah mich.
Ich erhob meinen Kopf und ging an ihnen vorbei.
Mein Tag war schon schlimm genug.
Doch was jetzt passierte, war echt nicht mein Glück.
Ich rannte mitten in eine alte Dame rein.
Sie verlor das Gleichgewicht und fiel zu Boden bevor ich etwas tun konnte.
Sie hatte sich mit ihrer Hand auf dem Boden abgestützt und schrie nun vor Schmerz auf.
Ich kniete mich neben sie auf den Boden: „ Entschuldigung, ich hätte aufpassen sollen!“.
Der Mann sah zu der Frau.
Sie schien mich zu mustern.
Die alte Dame hielt sich das Handgelenk: „ Ich hoffe für dich es hat dir keinen Spaß gemacht!“.
Verdattert kniete ich neben ihr: „ Ich…
Was?“.
„ Euch junges Gesindel ist doch nicht zu trauen!“, protestierte die alte Dame.
Ich blieb nur bemüht ruhig: „ Sehr geehrte Dame, ich möchte Ihnen helfen und nicht auf Ihnen herumreiten und mir einen Spaß erlauben!“.
Sie sah mich an: „ Dann kannst du ja auch den Notarzt rufen!“.
Ich sah zu den beiden Menschen, die das Geschehen aufmerksam verfolgt haben: „ Hat jemand von Ihnen ein Handy?“.
„ Ja stehlen muss man in der Jugend wohl!“, meckerte die alte Dame rum.
Meine Geduld war langsam am Ende: „ Okay, ich kann sie hier auch einfach alleine lassen und gehen, aber so bin ich nicht!“.
Die Dame schnaubte: „ Das sagt jeder Jugendliche!“.
„ Aber ich sage das, weil es stimmt!“, sagte ich immer noch aufgebraust und wütend.
Der Bodyguard nährte sich uns: „ Ein Krankenwagen ist unterwegs die Dame!“.
„ Ein wahrer Mann!“, schwärmte sie.
Ich verdrehte die Augen: „ Muss ich dann noch hier bleiben, wenn Sie hier sind?“.
Die Dame wurde sofort wieder robust: „ Natürlich!“.
Dann schmeichelte sie wieder bei dem Mann: „ Der Herr, würden Sie auch die Polizei rufen?“.
Der Mann sah mich an.
Ich belastete mein Gewicht auf mein linkes Bein und starrte die Frau fassungslos an: „ Was habe ich Ihnen getan?“.
„ Du hast mich auf den Boden geschupst!“, schimpfte sie.
„ Aber das stimmt doch gar nicht, ich habe sie übersehen!“, protestierte ich und hatte keine Lust von der Polizei nach Hause gefahren zu werden.
Die Frau sah den Mann mit einem flehendem Blick an: „ Bitte, dieser Jugend von heute muss mal gezeigt werden was anstand ist.
Und wenn Sie es nicht machen wollen, ich werde sie auch später noch auf einer Polizeiwache anzeigen!“.
Ich sah zu dem Mann.
Er wählte die Nummer der nächsten Polizeistation von hier.
Ich starrte auf die Nummer.
Er rief wirklich die Polizei.
Die Frau bewegte sich leicht und bekam so wieder meine Aufmerksamkeit.
Ihr Mund war zu einem Lächeln verzogen.
Brachte es ihr Spaß zu zusehen wie ich von der alten Dame runter gemacht wurde?
Langsam bewegte sie sich auf den Mann zu und nahm ihm das Handy aus der Hand.
Ihre weiche Stimme kam mir sofort bekannt vor: „ Ich finde die Polizei hat hier nichts zu suchen!“.
Die alte Dame sah sie an: „ Doch das hat sie, das Kind hat mich verletzt, absichtlich!“.
„ Ich denke sie war abgelenkt!“, sagte die Frau.
Ich holte tief Luft: „ Kann ich nicht einfach gehen?“.
Die Frau drehte sich mit ihrem Oberkörper zu mir: „ Ja.“.
Ich schulterte meine Schultasche als ihre Stimme mich zurück hielt: „ Ist dein Name Lilly Matthews?“.
„ Und wenn?“, fragte ich gereizt.
Die Frau formte zu ihrem Mund zu einem weiteren lächeln bei dem sie mir auch ihre Zähne zeigte.
Dann durfte ich gehen.

Kapitel 4.

Wieder saß ich im Speisesaal und starrte auf die Scheibe Brot auf meinem Teller.
Frau Nielsen saß mir gegenüber: „ Die Polizei hat hier angerufen!“.
Ich starrte immer noch das Brot an.
„ Hast du etwas zu sagen?“, fragte sie laut.
„ Die Frau reagiert über!“, nuschelte ich.
Frau Nielsen sah mich überrascht an: „ Sie reagiert über?
Du hast ihr das Handgelenk gebrochen Lilly, das ist Körperverletzung und die Dame hat dich angezeigt!“.
„ Ich bin ausversehen gegen sie gerannt!“, schimpfte ich.
Wenn sie mich auch noch ärgern wollte, dann würde ich platzen.
Frau Nielsen wurde wütend: „ Lilly, ich habe genug von deinen Launen, auf dein Zimmer!“, schrie sie und stand von dem Stuhl auf.
Ich packte die Scheibe Brot, legte eine Scheibe Käse darauf und stapfte wütend aus dem Waisenhaus.
Herr Nielsen kam langsam durch die Eingangshalle.
Sein schwarzes Haar stand zu allen Seite ab.
Er war athletisch gebaut, was ich nicht nachvollziehen konnte, er lebte eigentlich nur hier und arbeitete im Restaurant “Goldfisch“ als Kellner.
Er sah mich an: „ Solltest du nicht im Speisesaal sein?“.
„ Ihre Frau hat mich rausgeworfen!“, fauchte ich.
Herr Nielsen kam auf mich zu: „ Rausgeworfen?“.
„ Ja“, zischte ich.
Herr Nielsen kam langsam auf mich zu: „ Die Polizei, ich weiß Bescheid Lilly Matthews!“.
„ Wollen Sie mir jetzt auch noch eine Predig halten?“, fragte ich gereizt.
Herr Nielsen gab mir eine Ohrfeige.
Ich keuchte auf.
Unsicher fuhr ich über mein Gesicht.
Blut.
Herr Nielsen lächelte: „ Kein Wort darüber Lilly!“.
Es war nicht das erste Mal, dass Herr Nielsen mich geschlagen hatte.
Ich fühlte mich von ihm eingeschüchtert.
Schnell lief ich die Treppe auf den Dachboden hinauf.
Dort schlug ich die Tür zu und nahm mir ein Taschentuch.
Vor dem Spiegel auf meinem Schreibtisch, sah ich, dass das Blut aus meiner Nase strömte.
Ich legte meinen Kopf nach vorne und hielt mir mein Taschentuch gegen die Nase um das Blut aufzufangen.
Nie hatte ich irgendjemanden erzählt, dass Herr Nielsen mich manchmal schlug.
Es tat weh wenn er es tat, jedoch hielt ich meinen Mund.
Hier im Waisenhaus war ich nie willkommen gewesen.
Nie wurde ich mit Respekt behandelt wie die anderen Kinder.
Die Tür meines Zimmers ging auf und Julia kam rein.
Sie sah wie ich vor dem Schreibtisch auf einem Stuhl hockte.
Sie sah das rote Taschentuch und kam zu mir: „ Was ist passiert?“.
„ Nichts!“, nuschelte ich durch das Taschentuch hindurch.
Julia sah mich an: „ Nichts?“.
„ Ich weiß nicht woher es kommt!“, sagte ich laut.
Julia nahm ein weiteres Taschentuch aus seiner Packung und drückte es mir auf die Nase.
Zehn Minuten stillten wir das Blut.
Dann ging ich ins Bett.

Der nächste Morgen brach an und ich stand unten vor dem Schulgebäude.
Meine Freunde hatte ich nur kurz gesehen.
Alle hatten mir gratuliert und die Überraschungsparty würde wohl auch noch stattfinden.
Ich lächelte bei diesem Gedanken.
Sie waren immer echte Freunde gewesen!
Nun stand ich hier unten, alleine.
Kein anderer Schüler war zu sehen.
Es war mittlerweile acht Uhr.
Ich spürte wie meine Nase feucht wurde.
Meine Hand schnellte hoch.
Wieder lief mir Blut aus der Nase.
Ich nahm ein Taschentuch aus meiner Hosentasche und hielt es mir gegen die Nase.
Jetzt fuhr ein Wagen auf einen Parkplatz der Schule.
Ich konnte nicht erkennen, ob es ein Wagen eines Lehrers war, dazu sah es zu teuer aus.
Ein Mann stieg aus und öffnete die hintere Tür des Wagens.
Mir stockte der Atem, verfolgte diese Frau mich nun überall hin?
Doch jetzt trug sie nichts, was sie vermummt erscheinen ließ.
Ihre dunkelblonden Haare wehten im leichten Frühlingswind.
Ihre blauen Augen fixierten mich.
Die dünne Frühlingsjacke hatte sie nicht an.
Sie trug stattdessen nur eine blaue Swaetshirtjacke.
Sie hatte auch ihre Jeans zu einem weißen Rock ausgetauscht.
Ein Transporter bog in die Straße ein.
Doch der war mir egal.
Ich kannte diese Frau aus einer Serie, die Nicole und ich immer zusammen guckten.
Bei ihr verständlich.
Melina Hansen war ihr Name.
Sie war die beste deutsche Schauspielerin die ich kannte.
Sie ging langsam aber sicher auf mich zu: „ So schnell sieht man sich wieder!“.
Ich kam mir dämlich vor mit einem Taschentuch hier zu stehen und darauf zu hoffen, dass meine Nase aufhört zu bluten.
Melina Hansen nahm mir das Taschentuch ab: „ Hast du das häufiger?“.
Ich schüttelte den Kopf.
Ihre Augen verengten sich ein wenig, dann drehte sie sich um: „ Wollen wir ein Stück gehen?“.
Ich deutete auf den Transporter: „ Ich…soll helfen ihn auszuräumen.“.
Melina lächelte: „ Oh ja, das war ein Vorwand dich aus dem Unterricht zu holen.“.
Sie legte ihre Hand auf meine Schulter und führte mich langsam vom Schulgebäude weg, in Richtung des Hafens: „ Ich habe dich seit vier Monaten beobachtet Lilly.“.
Ich sah sie erstaunt an: „ Vier Monate schon?“.
Sie nickte: „ Ja, aber ich denke ein herzlichen Glückwunsch wäre besser dran!“.
Beschämt sah ich auf den Boden: „ Frau Hansen…“.
Melina erhob ihre Hand: „ Es könnte sich als schwierig erweisen, wenn du mich mit Frau Hansen ansprichst, wenn ich dich adoptiere.“.
Mir fiel das Kinn hinunter.
Vollkommen sprachlos stand ich vor ihr.

Kapitel 5.

Melina Hansen legte ihren Finger an mein Kinn und schloss meinen Mund: „ Lilly, ich weiß nicht viel über dich, aber das was ich weiß, reicht mir um zu sehen, dass du das Mädchen bist, was ich haben möchte!“.
Ich schüttelte den Kopf: „ Sie reden so, als ob ich nur eine Sache wäre.“.
Melina seufzte: „ Nein Lilly, für mich bist du mehr als nur ein Mensch.“.
Ich kniff die Augen zusammen und wischte mit dem Taschentuch meine Nase ab: „ Mehr als ein Mensch?“.
„ Du bist ein wunderschönes Kind Lilly, du wünscht dir eine Familie und ich will sie dir geben!“.
„ Woher wissen Sie, dass ich mir eine Familie wünsche?“, mein gereizter Ton von gestern schlug wieder an.
Sie seufzte: „ Lilly, ich habe mit Frau Bunt geredet und sie hat mir viel über dich erzählt!“.
„ Sie haben mir nach spioniert!“, sagte ich laut.
Ich mochte sie auf Anhieb gern.
Aber ich konnte mich ihr nicht öffnen.
Es war unmöglich.
So lange habe ich nach einer Familie gesucht, jetzt stand sie, eine Frau die ich immer respektiert habe, vor mir.
Kopfschüttelnd ging ich ein paar Schritte von ihr weg.
Sie kam sofort zu mir: „ Hast du dir nicht immer eine Familie gewünscht Lilly, ich will sie dir geben.
Auch wenn ich viel mit meiner Arbeit zu tun habe, ich möchte dich bei mir haben!“.
Ich sah sie wieder an, meine Augen schwammen in Tränen: „ Ich…keine Ahnung, ich will einfach nur eine Familie!“.
Melina kam zu mir und nahm mich in den Arm: „ Ist okay Lilly, ich gebe sie dir!“.
Ich weinte los: „ Du…“.
Melina strich mir über den Rücken.
Meine Fassung die ich Jahre lang aufgebaut habe und mich älter erscheinen ließ, als ich war, viel.
Ich weinte in ihre Schulter hinein.
Sie zog mich fester an sich: „ Lilly, du bist mir wichtig und wirst es immer sein!“.
Ich klammerte mich an ihr fest.
Keiner meiner Freunde sollte mich so sehen, ich wollte es nicht.
Warum hatte ich immer so getan als würde ich die Welt besser verstehen als sie?
Ich tat es nicht.
Jetzt verstand ich nicht, warum sie mich adoptierte!
Sie tat es aus freiem Willen.
Eine Schauspielerin vom hohen Ansehen bei vielen Menschen.
Ich war doch nur ein kleines dummes Kind, was seine Mutter verloren hatte, nicht wusste wer sein Vater war.
Ob dieser sich überhaupt für mich interessierte, ob er noch lebte.
Melina strich mir über den Rücken.
Ihre wärme war die Wärme einer Mutter.
Nie hatte ich diese Wärme und dieses Gefühl der Geborgenheit bei jemand anderen wie sie gespürt.
Sie war ein Mensch den ich liebte.
Etwas verband uns.
Es war etwas, was man nicht beschreiben konnte mit Worten.
Das Gefühl, was andere Kinder bei ihren Eltern spürten.
Sie gab mir dieses Gefühl!
Ich beruhigte mich langsam.
Räusperte mich und ließ sie los: „ Deine Jacke.“.
Das Blut meiner Nase war auf ihre Jacke getropft.
Sie zog die Jacke aus.
Darunter trug sie ein rotes T-Shirt.
Sie legte die Jacke über ihren rechten Unterarm: „ Lilly, es wird für uns beide neu werden zusammen zu leben oder gar, dass du mich als dein Vormund akzeptierst.
Aber ich wäre dir echt sehr dankbar, wenn wir uns nicht gleich gegeneinander auf die Füße treten werden und es langsam angehen lassen.
Die Probezeit bei mir, dauert eine Woche, wenn es dir bei mir nicht gefällt, dann möchte ich bitte, deine ehrliche Meinung hören!“.
Verwirrt sah ich sie an: „ Warum tust du das, warum bist du so offen mir gegenüber?“.
Und wieder war es da.
Ich zeigte mich wieder als eine Person, die älter war als vierzehn.
Melina seufzte leicht: „ Lilly, ich kenne dich nicht richtig, ich weiß nicht was du gerne magst oder deine Gewohnheiten.
Ich habe einiges von Frau Bunt gehört, aber ich würde es gerne selbst erfahren.“.
„ Du bist dir sicher?“, fragte ich leise.
Sie nickte: „ Klar und wenn du zu tief in der Pubertät steckst, ich würde deine Laune gerne ertragen!“.
Ich lachte auf: „ Möchtest du nicht lieber eigene Kinder bekommen?“.
Sie sah mich bedrückt an: „ Du hast sicher davon gelesen, dass mein Freund mich verlassen hat?“.
Ich nickte: „ War in der Schule ´n großes Thema.“.
Melina selbst lachte leise auf: „ Nun, der Grund der Presse: Wir haben uns aus den Augen verloren!
Die Wahrheit Lilly: Ich kann keine Kinder bekommen, ich hatte ihm den Vorschlag gemacht ein Kind zu adoptieren, er ging es ein.
Doch er wollte lieber ein kleines Kind haben, ein neugeborenes.
Als ich ihm klar gemacht hatte, dass wir uns ein kleines Baby nicht zu uns holen könnten, weil wir beide viel arbeiteten, ist er ausgerastet.
Er hatte gewusst, dass ich dich im Auge hatte.
Ein Mädchen von dreizehn Jahren.
Nichts für ihn.
Er wollte nichts mit dir zu tun haben, er hatte dich einmal in der Schule gesehen und hatte genug von dir.
Nun, ich habe ihm gesagt, dass ich dich wunderbar finde.
Er ließ mich entscheiden, entweder für ihn, oder für dich!“.
Kopfschüttelnd starrte ich in ihre blau-grünen Augen: „ Du hättest ihn nehmen sollen, ich bin nicht die Tochter die man sich wünscht…“.
„ Wie kommst du darauf?“, seufzte sie.
Mir viel nichts ein, was ich erwidern konnte und sie lächelte: „ Ist damit unsere Diskussion beendet?“.
Ich nickte.
Schüchtern sah ich sie an.
Melina erwiderte meinen Blick: „ Was willst du los werden?“.
Ich warf mich ihr an den Hals: „ Danke!“.
Melina war kurze Zeit völlig regungslos, dann legte sie ihre Hände an meinen Rücken und drückte mich an sich: „ Ist doch in Ordnung.“.

Kapitel 6.

Die eine Woche war vorbei.
Jetzt war ich gesetzlich Melina Hansens Tochter.
Was sie jedoch sehr verwundert hatte, war, dass ich ihren Nachnamen angenommen hatte.
Vor dem Familiengericht war dies die Frage der Richterin gewesen.
Jetzt lag ich in meinem neuen Zimmer im Bett und sah aus dem Fenster.
Das Bett war direkt in der Fensterecke eingebaut.
Es war ein weites Fensterbrett und so konnte ich dort Bücher oder andere Sachen los werden.
Doch jetzt schien die Sonne direkt auf meine Beine.
Die Tür des Zimmers öffnete sich.
Melina steckte ihren Kopf hinein: „ Bist du wach?“.
Ich drehte meinen Kopf zur Tür: „ Sehe ich aus als würde ich schlafen?“.
Sie lächelte und kam zu mir.
Sie beugte sich über das Bett hinüber und öffnete ein Fenster: „ Steh auf, ansonsten kommst du zu spät zur Schule und die Familienrichterin wird es sich noch einmal überlegene!“.
Ich kämpfte mich aus meinem gemütlichen Bett hoch und Melina verschwand aus meinem Zimmer.
Ich sah mich wie in der letzten Woche wieder einmal in meinem Zimmer um.
Die Wände waren teils rot und teils weiß gestrichen.
Der Schreibtisch stand in der Ecke, wo eine Wand rot war.
Die Wand zu den Fenstern war ebenfalls in ein Weinrot gestrichen.
Ich ging zu dem Schrank und holte mir einen Jeansrock raus und ein rotes Top mit einer blauen Bluse.
Dann verschwand ich ins Badezimmer und stieg unter die Dusche.
Als ich in die Küche kam, saß dort Melina.
Eine Frau saß bei ihr und sah mich an: „ Morgen!“.
Ihre blonden Haare hingen ihr im Gesicht und sie wischte sie beiseite.
Diese Frau spielte neben Melina die Hauptrolle in “Meine chaotische Familie“.
Ich erkannte sie als Sahra Schnielsen.
Ihr Lächeln war einfach schön, das gleiche was sie in der Serie gerne aufsetzte.
Melina warf mir ein Brot hin: „ Beeile dich!“.
Ungeschickt fing ich es auf: „ Wie spät ist es?“.
„ Halb acht meine Liebe!“, Melina stand von ihrem Stuhl auf und nahm meine Schultasche vom Boden, „ Und wenn du dich nicht beeilst, dann mach ich dir Beine!“
Ich lachte, Sahra Schnielsen sah Melina jedoch an: „ Und wir sollten uns auch beeilen!“.
„ Aber wenn wir zu spät kommen, reist uns nur Joe den Kopf ab, nicht das Familiengericht oder gar das Jugendamt!“, sagte Melina und hielt mir meine Frühlingsjacke ihn.
Ich schlüpfte in ihr hinein und nahm meine Schultasche.
Dann stürmte ich aus dem Haus.

In der Schule hockte ich über den Mathematikaufgaben.
Leicht beugte sich Nicole zu mir hinüber: „ Und wie ist sie?“.
Ich sah von meinem Mathematikheft auf: „ Wer?“.
Sie verdrehte die Augen: „ Melina Hansen!“.
„ Sie ist toll“, sagte ich leise.
Nicole sah mich an: „ Toll?“.
„ Sie ist super, sie macht viel mit mir!“, sagte ich und wollte nicht weiterreden.
Herr Wegener sah uns nur kurz an, dann sah er wieder zu Miley.
Nicole stieß mich an: „ Sie dreht viel für diese Serie, oder?
Nimmt sie dich mal mit?“.
Ich sah sie an: „ Wir haben darüber nicht einmal gesprochen…
Aber das ist doch gar nicht wichtig!“.
Sie lächelte: „ Natürlich!“.
„ Nicole, mir reicht, dass ich bei ihr lebe, dass ich…“, das letzte Wort blieb mir zum Glück erspart.
Ihr wollte ich nicht unbedingt sagen, dass ich nun wieder ein Kind sein konnte, das was ich Jahre lang nicht war.
Mir blieb das Wort erspart, weil Herr Wegener zu uns kam: „ Habt ihr irgendwelche Fragen zu den Aufgaben?“.
Nicole und ich schüttelten den Kopf.
Herr Wegener lächelte: „ Dann hoff ich, dass ihr weiter machen könnt und aufhören könnt zu reden!“.
Ich senkte meinen Kopf und schrieb wieder in das Heft hinein.
Nicole stieß mich an als Herr Wegener weg war: „ Wo waren wir?“.
Ich schüttelte den Kopf: „ Keine Ahnung.“.
Die Tür öffnete sich.
Ein Junge, den ich hier noch nie gesehen hatte, betrat den Klassenraum: „ Herr Wegener, ich soll hier ein paar Schüler suchen, die in der zweiten Pause bereit wären auf den Sportplatz zu kommen!“.
Sofort sah jeder Schüler zu Herr Wegener.
Er sah den Jungen an.
Ich auch.
Sein blondes Haar fiel ihm leicht ins Gesicht.
Seine blauen Augen waren auf den Lehrer gerichtet.
Meine Augen wanderten an seinem Körper hinunter.
Sein T-Shirt lag eng an seinem Oberkörper.
Er war gut durchtrainiert und Modebewusst.
Seine Jeans saß weit, so, dass man die Beine nur an ihrer Kniebeugung leicht wahr nehmen konnte.
Sein Blick wendete sich von dem Lehrer ab und sah zu mir.
In seinen Augen funkelte es leicht, dann sah er zu den anderen Schülern.
Ich hielt meinen Blick weiter auf ihn gerichtet.
Herr Wegener nickte: „ Gut.“.
Keiner in der Klasse meldete sich.
Der Junge lächelte.
Ich konnte diesem Lächeln kaum wiederstehen.
Dann fing er wieder an zu sprechen: „ Keiner?“.
Lara, eine Zicke in der Klasse, meldete sich: „ Und wofür, ich meine, wenn es um irgendetwas geht was Schule betrifft, dann vergeuden wir unsere Pause!“.
Der Junge schenkte ihr das Lächeln: „ Das ist wahr.“.
Sie schüttelte den Kopf: „ Was ist wahr?“.
„ Das es die Schule betrifft“, sagte er.
Nicole stieß mich entsetzt an: „ Das ist Chris!“.
Ich sah sie an: „ Wer?“.
„ Du hast die letzten Folgen der Serie nicht gesehen Lilly, er spielt neu mit, sein Name ist Chris Schnielsen!“.
Ich sah zu ihm: „ Der Sohn von Sahra Schnielsen?“.
Nicole nickte: „ Das heißt…“.
„ Es hat irgendetwas mit dem Filmen zu tun“, beendete ich ihren Satz.
Nicole grinste mich an und ihre Hand schoss hoch: „ Ich mach gerne mit, bei was auch immer!“.
Dabei zwinkerte sie mir zu.
Kopfschüttelnd schlug ich nach ihrer Hand, die immer noch den Kugelschreiber hielt, welche über ihrem Heft schwebte.
Sie lächelte mich an, dann sah sie zu Chris.
Er musterte sie: „ Wer nichts wagt, der nichts gewinnt!“.
Sie lächelte ihn verliebt an: „ Stimmt!“.
Ich verdrehte die Augen und schrieb weiter auf meinem Heft.
Erst als Chris meinen Namen sagte, sah ich wieder auf.
Er sah direkt in meine blauen Augen: „ Lilly, du musst in der zweiten Pause runter kommen.“.
Sofort meldete Lara sich: „ Dann bin ich auch dabei!“.
Chris nickte ihr zu, ohne den Blick von mir zu wenden: „ Okay.
Sonst noch jemand?“.
Lara lächelte mich hämisch an.
Ich kniff die Augen zusammen.
Wenn Chris Schnielsen hier war, dann war Sahra Schnielsen nicht weit weg.
Das heißt, dass auch Melina hier irgendwo sein muss.
Sheyda meldete sich leicht und lächelte Nicole und mir schwach zu.
Ich erwiderte ihr Lächeln.
Chris nickte: „ Es können noch weitere zwei.“.
Kenneth erhob seinen Arm.
Chris nickte und sah sich noch einmal in der Klasse um.
Doch keiner meldete sich mehr.
Chris ging langsam aus der Klasse raus, dabei war sein Blick immer noch auf mich gerichtet.
Nicole seufzte: „ Sieht er nicht umwerfend aus, wie im Fernsehen!“.
Ich wandte meinen Blick ab als sich die Tür schloss und er verschwand.
Dann sah ich zu Nicole: „ Nicole, übernimm dich nicht, du hast immerhin noch Steven!“.
Sie schüttelte den Kopf: „ Ich würde ihn sofort gegen Chris Schnielsen eintauschen.
Apropos!
Wenn du bei Melina lebst, werdet ihr euch häufiger sehen?“.
„ Und dich in unser Haus einziehen lassen?
Vergiss es!“.
Nicole setzte ihren Schmollmund auf: „ Komm schon, nur ein zwei Tage wenn er zu Besuch kommen sollte!“.
„ Du hast Steven und lass ihn nicht sitzen, er tut alles für dich!“, ich drückte auf ihren Kugelschreiber und die Mine kam unten hinaus, „ Herr Wegener wird sich nicht freuen wenn du nur noch vor dich hin träumst.
Und deine Mutter wird dir die Haut abziehen wenn du dich nicht bald mal wieder auf die Schule konzentrierst!“.
Nicole schnitt eine Grimasse, was ihr ein Tritt unter dem Tisch einhandelte.
„ Ja schon gut Mami!“, grummelte sie und machte sich wieder an ihre Mathematikaufgaben.
Die Mathematikstunden vergingen schnell und Nicole und ich saßen auf einer Bank auf dem Schulhof.
Sie sah immer wieder zu dem Sportplatz, wo ein unaufhörliches Treiben herrschte.
Durch diese ganzen Menschenmassen, sah ich tatsächlich Melina.
Sie stritt mit einem Mann, den ich nicht kannte.
Nicole sah genau das gleiche: „ Was denn, deine Mutter streitet?“.
Ich zuckte die Schultern: „ Keine Ahnung, bis jetzt hat sie das noch nie!“.
Melina warf ihren Kopf zurück, holte tief Luft und redete wieder auf den Mann ein.
Nicole verfolgte ihre Gesten die sie mit den Händen machte.
Dann lachte der Mann und Melina setzte einen wütenden Blick auf.
Doch kurze Zeit später brach auch sie in Gelächter aus.
Nicole schüttelte den Kopf: „ War das nur gespielt?“.
„ Keine Ahnung“, sagte ich ein zweites Mal und sah zurück über den Schulhof.
Zwei Männer sahen verstohlen zu uns.
Ich kniff die Augen zusammen um sie besser zu erkennen.
Doch sie wandten sich sofort ab.
Ich stieß Nicole an: „ Kennst du die zwei?“.
Nicole drehte ihren Kopf zur Seite und sah auch die Männer: „ Nö, sollte ich?“.
Ich schüttelte den Kopf und sah wieder zum Sportplatz.
Melina war aus meinem Blickfeld verschwunden, Chris Schnielsen und seine Mutter jedoch unterhielten sich.
Der Wind trug nur Wortfetzen hinüber, mit denen man nichts anfangen konnte.
Nicole sprang auf: „ Ich geh kurz zu Miley, sie wollte mich sprechen.“.
Überrascht sah ich sie an: „ Warum?“.
Nicole zuckte die Schultern: „ Keine Ahnung, aber ich denke es geht um Jungs.“.
Sie setzte ein verschmitztes Lächeln auf und verschwand in Richtung der Kantine.
Ich seufzte und setzte mich auf die Lehne der Bank.
Meine Ellenbogen stützte ich auf den Beinen ab und legte mein Kinn auf meine Handflächen.
Zwei Minuten blieb ich in dieser Haltung.
Dann stand ich langsam auf.
Ich ging in das kühle Schulgebäude hinein und lehnte mich an eine Wand.
Melina war wunderbar als Mutter.
Auch wenn ich gerne noch einen Vater hätte, war sie beides für mich.
Sie war die Familie, auch wenn sie klein war, die ich mir wünschte.
Sie war für mich da.
Sie hatte mir zugehört als ich mit ihr im Wohnzimmer gesessen hatte und ihr alles aus meiner Kindheit erzählt hatte, woran ich mich erinnerte.
Der Eingang zum Gebäude verdunkelte sich.
Ich sah von der Decke zum Eingang.
Die beiden Männer standen dort.
Ich konnte ihre Gesichter nicht erkennen.
Die Sonne schien von hinten auf die Zwei.
„ Kann ich Ihnen helfen?“, fragte ich unsicher.
Der eine Mann sah zu dem anderen.
Dieser legte seinen Kopf schief: „ Ist dein Name Lilly Emily Matthews?“.
„ Lilly, ja, aber ohne Emily und mein neuer Nachname ist Hansen“, sagte ich leicht verwirrt, dass man meinen Vornamen und Nachnamen mit einem anderem Vornamen vermischte.
Die beiden Männer kamen näher.
Der eine zog eine Flasche aus seiner Hosentasche und nahm ein Taschentuch in seine Hand.
Es gab ein gluckerndes Geräusch als die beiden Männer vor mir standen.
Sie machten mir Angst.
Sie wirkten bedrohlich und groß.
Immer noch konnte ich sie schlecht erkennen, in ihren Gesichtern lagen tiefe Schatten.
Ich stieß mich von der Wand ab und wollte nach links wieder zum Schulhof hinaus.
Doch der linke Mann packte mich so überraschend, dass ich aufschrie.
Sofort legte sich seine Hand auf meinen Mund.
Mein Schrei verstummte.
Der Griff wurde gewechselt.
Mein Mund war für Sekunden wieder frei und ich schrie und trat um mich.
Was passierte hier bloß?
Ein Taschentuch berührte meinen Mund und ein süßlicher Geruch biss sich in meinen Sinnen fest.
Mein Schrei ging durch das Taschentuch hindurch, gedämpft.
Doch plötzlich wurden meine Glieder schwer.
Meine Stimme erstickte.
Meine Augen begannen zu flattern.
Ich versuchte sie offen zu halten, doch ich schaffte es nicht.
Das einzige was ich noch spürte, waren die muskelösen Arme, die mich hoch hoben.

Kapitel 7.

„ Nicole, weißt du wo Lilly ist?“, fragte Herr Klarenhoff.
Unser Klassenlehrer saß vor dem Pult und blätterte immer wieder im Klassenbuch herum.
Nicole schüttelte den Kopf: „ Ich bin in der Pause kurz zu Miley gegangen, danach habe ich sie nicht mehr gesehen!“.
Herr Klarenhoff sah zu Sheyda: „ Weißt du wo sie hin ist?“.
Sheyda schüttelte den Kopf: „ Ich war in der Pause bei meinen Freunden.“.
Herr Klarenhoff seufzte: „ Irgendjemand muss sie doch gesehen haben.
Die Pause ist seit zwanzig Minuten um, so viel zu spät wird Lilly ja wohl nicht kommen!“.
Sheyda und Nicole sahen sich an.
Herr Klarenhoff sah durch die Klasse: „ Mensch Leute, irgendjemand muss sie doch gesehen haben!
Nicole, sieh´ bitte auf der Mädchentoilette nach!“.
Nicole stand von ihrem Platz auf und verließ das Klassenzimmer.
Kurze Zeit später kam sie wieder: „ Sie ist nicht dort.“.
Herr Klarenhoff seufzte und stand von seinem Stuhl auf: „ Arbeitet bitte an euren Aufgaben weiter!“.
Er ging aus dem Klassenzimmer hinunter in das Sekretariat.
Dort wartete er kurz, bevor Frau Eisennach sich an ihn wendete: „ Herr Klarenhoff, was kann ich für Sie tun?“.
„ Hat Lilly Matth…Hansen sich hier abgemeldet?“, fragte er.
Frau Eisennach schüttelte den Kopf: „ Nein, soweit ich weiß ist ihre Mutter auch hier, vielleicht ist sie bei ihr auf dem Sportplatz.“.
Herr Klarenhoff nickte: „ Danke!“.
Er ging aus dem Schulgebäude hinaus und ging auf den Sportplatz.
Zwischen all den Filmleuten fühlte er sich fehl am Platz.
Doch er fand Melina schnell: „ Frau Hansen!“.
Melina drehte sich von einem attraktiven Jungen weg: „ Ja?“.
„ Haben Sie Lilly gesehen?“, fragte mein Klassenlehrer.
Melina sah zu der Bank, wo ich vorhin noch mit Nicole gesessen hatte: „ Das letzte Mal saß sie mit ihrer Freundin auf der Bank.“.
„ Als ich sie das letzte Mal gesehen habe, ist sie ins Gebäude rein gegangen!“, sagte Chris.
Herr Klarenhoff sah ihn an: „ Sicher?
Sie ist nicht in der Klasse, abgemeldet hat sie sich auch nicht.
Außerdem ist ihre Schultasche noch im Klassenzimmer.“.
Melina sah Herrn Klarenhoff an: „ Da muss was passiert sein!“.
„ Melina, sie wird sich schon nicht in Luft aufgelöst haben!“, sagte Chris leise.
Sahra kam langsam über den Sportplatz auf die drei zu: „ Was´n los?“.
„ Lilly ist weg“, sagte Melina in einem hohen Ton.
Sahra sah Herrn Klarenhoff an: „ Wie weg?“.
Herr Klarenhoff zuckte die Schultern: „ Sie ist nicht zum Unterricht erschienen.“.
Melina löste sich von der Gruppe und ging zum Schulgebäudeeingang, wo Chris mich zuletzt gesehen hatte.
Als sie in das Gebäude eintrat, fiel ihr sofort die Brotdose, die mir gehörte, in die Augen.
Daneben lag ein Taschentuch.
Sahra war dicht hinter ihr: „ Gehört die nicht Lilly?“.
Melina hob die Brotdose hoch und roch einen süßlichen Geruch.
Sie nahm das Taschentuch hoch und hielt es sich an die Nase: „ Was zum Teufel ist das?“.
Sahra nahm es ihr ab.
Herr Klarenhoff trat gerade ein.
Sahra roch daran: „ Chloroform.“.
Melinas Augen waren vor entsetzten geweitet: „ Ch-ch-chloro-form?“.
Herr Klarenhoff nahm Sahra das Taschentuch ab und roch selbst daran.
Sofort rümpfte er die Nase und nickte: „ Chloroform!“.

Kapitel 8.

Ich lag auf etwas weichem.
Mein Kopf tat weh.
Sofort führte ich meine Hand zu ihm hinauf.
Jemand berührte meine Hand und nahm sie von meinem Kopf hinunter.
Sofort riss ich meine Augen auf.
Wasser tropfte von einer Wand.
Ich saß Kerzengerade.
Eine junge Frau mit grünen Augen sah mich an.
Ich stand auf und stolperte rückwärts.
Mein Kopf brummte, mir wurde schwindelig und ich knickte ein als ich auch einen Widerstand an meinem Fuß bemerkte.
Ich sah an meinem Bein zu ihm hinunter.
Ein Seil aus dickem Draht führte zu einer Schlaufe im Boden.
Eine zweite Schlaufe war dort, sie führte zum Fuß der Frau.
Sie kam langsam zu mir: „ Wie heißt du?“.
„ Lilly“, nuschelte ich.
Sie setzte sich neben mich auf den Boden: „ Und weiter?“.
„ Hansen“, sagte ich ganz leise.
Die Frau starrte mich an: „ Die Lilly Hansen?“.
Ich zuckte die Schultern: „ Wie heißen Sie denn?“.
„ Emilia Price!“, sagte sie leise, „ Ich bin eine Freundin von Melina!“.
Jetzt starrte ich sie an: „ Melina Hansen?“.
„ Unterhaltet euch schön!“, sagte plötzlich eine Stimme von überall.
Ich zuckte zusammen.
Die Frau deutete mit dem Kopf auf Kameras.
Sie hingen in jeder Ecke.
Emilia hielt mich in ihren Armen: „ Lass sie gehen!“.
„ Nein Emilia, es geht doch um sie!“, sagte die Stimme.
Ihr Griff wurde fester: „ Ihr Idioten!“.
„ Es würde dir besser gehen wenn du deine Klappe halten würdest!“, fauchte die Stimme.
Emilia schrie Beschimpfungen, dann war es still.
Sie legte ihre Hand auf meine: „ Versuch zu schlafen!“.
„ Aber es ist eiskalt hier drinnen“, flüsterte ich.
Emilia zog eine Decke vom Boden und legte sie über mich: „ Versuch es Lilly.“.

Plötzlich wurde ich schnell wach, erst spät registrierte ich, dass Emilia sich bewegt hatte.
Ich kuschelte mich zurück in die warme Decke.
Doch das hätte ich mir sparen können, zwei starke Männerarme packten mich und rissen mich von Emilia weg.
Ich schrie und wollte nicht aufhören.
Emilia wurde wach und wurde von einer anderen dicklichen Gestalt festgehalten, sie schrie nicht wie ich, sondern war eher ruhig.
„ Halt die Klappe du Miststück!“, sagte der Mann der mich hielt.
Ich hörte nicht auf, ich schrie weiter und fing an mich zu wehren.
Der Mann hatte Probleme mich zu fest zuhalten.
Doch er hatte genug und zog er seine Waffe aus seinem Gürtel.
Er drückte sie mir an die Schläfe.
Ich wurde still und wehrte mich nicht mehr.
„ Geht doch“, sagte der andere Mann, er sprach mit einem russischen Akzent.
Ich zitterte vor Angst und vor Kälte.
Emilia starrte mich an.
Der Mann der mich hielt, ließ mich los.
Die Waffe war jedoch immer noch auf meinen Kopf gerichtet.
Unruhig blieb ich stehen.
Meine Beine gaben mir den Befehl zu laufen.
Mein Kopf wehrte sich dagegen, er dachte nur an die Waffe in der Hand des Mannes.
Er nahm aus der Hosentasche des anderen Mannes ein Messer und kam zurück.
Mit einer schnellen Bewegung schnitt er das Seil an meinem Fuß durch.
Mein Herz schlug mir bis zum Hals.
Die Angst war unbeschreiblich.
Angst Melina nicht mehr sehen zu können.
Angst hier zu sterben!
Emilia sah mich ruhig an.
Ihre Augen waren mir eine Hilfe die Angst zu vergessen.
Der Mann, der mich von der Fußfessel befreit hatte, bewegte sich auf Emilia zu.
Sie bekam Angst.
Ich sah es an ihren Augen.
Das grüne Funkeln in ihren Augen sagte es mir.
Ich streckte meine Hand nach ihr aus.
Der Mann mit der Waffe machte diese zum Schuss bereit.
Ich ließ meine Hand zurück schnellen und wich gegen die Wand zurück.
Der Mann lächelte und machte Emilia von ihrer Fußfessel los.
Der andere Mann drückte sie zu Boden und fesselte sie an den Händen.
Emilias Gesicht war in meine Richtung gedreht.
Ihre Augen glänzten vor Tränen.
Der Mann mit der Waffe drehte sich zu mir.
Ich sank auf den Boden und mied seinen Blick.
Der Mann suchte meinen Blick und er sah zu Emilia.
Kopfschüttelnd kam er auf mich zu und packte mich an den Haare: „ Hier wird dich keiner finden Lilly!“.
Ein Messer blitzte auf.
Es war das Messer, womit er Emilia und mich befreit hatte.
Er drehte es hin und her: „ Da man dich hier unten schlecht findet…warum nicht.“.
Plötzlich schnellte sein Arm vor.
Ich hielt mir die Arme vor meinen Kopf und spürte stechenden Schmerz in meinem Bauch.
Emilia schrie.
Ich keuchte auf und sah in das Gesicht des Mannes.
Er lächelte: „ Stirb langsam Hansen!“.
Der Mann entfernte sich von mir.
Ich ging seitlich leicht zu Boden und atmete schwer.
Emilia wurde auf die Beine gezwungen und aus dem Keller gebracht.
Keine Tür fiel zu.
Nichts geschah.
Ich lag auf dem Boden und atmete schwer.
Mein Atem.
Er war das einzige Geräusch in diesem kalten Raum.
Es waren Schmerzen die ich noch nie gespürt hatte.
Als ob etwas ständig in meinen Bauch stechen würde.
Ich wollte mich von dem kalten Boden hochziehen, doch die Schmerzen untersagten es mir.
Melina!
Ich wollte zu ihr!
Ich wollte in ihrer Nähe bleiben, weiter bei ihr Leben, sie Lieben!
Jemand schlurfte über den Boden.
Ich richtete meinen Blick auf Beine eines Mannes.
Er bewegte sich auf mich zu und ging dann in die Hocke, als er vor mir war: „ Meine kleine!“.
Ich erhob meinen Kopf höher und sah in das Gesicht des Mannes.
Er nahm ein wenig von meinem Haar zwischen seinen Zeigefinger und Daumen: „ Wie fühlt es sich an?“.
Schwach schüttelte ich den Kopf.
Was wollte er von mir?
Ich sah ihn genauer an.
Er hatte ein rundes Gesicht, kleine Augen und man sah deutliche Falten.
Er strich über meine Wange und zog ein Handy aus seiner Hosentasche.
Mit seiner Hand schob er es weit weg von mir: „ Wenn du das Handy erreichst, kannst du ja Hilfe rufen!“.
Er erhob sich und lächelte mich dabei höhnisch an.
Ich verstand nicht.
Langsam entfernte er sich von mir und verschwand in der Dunkelheit.
Ich war also wieder alleine.
Aber wer war dieser Mann?
Er sah so vertraut aus.
Aber ich hatte ihn nie gesehen, zumindest nicht, dass ich mich daran erinnern konnte.
Meine Augen schlossen sich.
Ich konnte diese Schmerzen nicht mehr ertragen!
Meinen Kopf schob ich über den Boden und erspähte das Handy, was auf dem Boden lag.
Ich streckte meinen Arm aus.
Doch es fehlten dreißig Zentimeter, bevor ich es erreichen würde.
Ich streckte mich und schrie auf.
Der stechende Schmerz wurde mehr.
Ich wollte mich zusammenrollen.
Doch keine Chance.
Dass ich mehr Schmerzen ertragen müsste, war Grund genug es nicht zu tun.
Aber wie soll ich an das Handy ran kommen?
Erneut streckte ich mich danach.
Mir entfuhr wieder ein Schrei.
Ich machte mich auf noch mehr Schmerzen bereit und robbte ein paar Zentimeter vorwärts.
Mein Atem ging schneller, ich unterdrückte einen neuen Aufschrei und packte mit meiner Hand das Handy.
Ich drückte auf die Taste des Telefonbuches.
Doch hier war keine Telefonnummer eingespeichert.
Meine Finger wählten zitternd die Nummer 110.
Jemand meldete sich: „ Polizei Hamburg, Jansen, wie kann ich Ihnen weiterhelfen?“.
„ Hilfe“, keuchte ich.
„ Hallo?“, fragte die Stimme.
„ Hilfe!“, sagte ich lauter.
„ Können Sie mir Ihren Namen sagen?“, fragte Jansen.
„ Lilly“, keuchte ich, da die Schmerzen unerträglich wurden.
„ Wie heißen Sie weiter?“, fragte er ruhig nach.
„ Hansen.“.
Es war kurze Zeit Stumm, dann meldete sich der Mann wieder: „ Wo sind Sie?“.
Ich sah zu der Decke des Kellers.
Woher sollte ich wissen, wo ich war.
Der Polizist verstand als ich nicht antwortete: „ Hören Sie Frau Hansen, Sie werden gesucht, ich werde Sie jetzt an die zuständige Polizeidienststelle weiterleiten, haben Sie einen Moment Geduld!“.
Ich kniff die Augen zusammen als eine Melodie startete und dann war wieder stille.
„ Landeskriminalamt, Einsatzleiter Martin Flecker“, meldete sich eine Stimme.
„ Hilfe!“, sagte ich erneut.
Was sollte ich sonst sagen?
Wieso eigentlich Landeskriminalamt?
„ Lilly Hansen?“, fragte der Mann sofort.
„ Ja“, hauchte ich.
„ Wo bist du?“, fragte er aufgeregt.
„ Keine Ahh“, ich schrie vor Schmerz auf.
„ Lilly?“, fragte Martin unruhig.
Ich legte mich unter Schmerzen auf den Rücken: „ Ich weiß es nicht!“.
Martin überlegte kurz: „ Was hörst du?“.
„ Nichts“, flüsterte ich.
„ Bist du verletzt?“.
„ Keine Ahnung“, sagte ich.
Ich spürte die Schmerzen, aber war ich wirklich verletzt?
„ Bleib dran Lilly“, sagte Martin.
Es klapperte, dann sagte Martin weit weg: „ Macht eine Handyortung!“.
Ich fühlte mich so allein.
Fühlte mich nicht wohl, mir war schlecht, mein Bauch schmerzte.
Das Wasser tropfte von den Wänden.
Ich bekam Durst.
Es klapperte wieder in der anderen Leitung und Martin war wieder dran: „ Bist du noch da?“.
„ Ja“, flüsterte ich.
„ Lilly, wir versuchen dich über dieses Handy zu orten“, sagte er ruhig.
In meinem Kopf drehte sich alles.
Ich kniff die Augen zusammen, doch es drehte sich weiter.
Unruhig drehte ich mich auf die Seite.
Mein Blick war jetzt ins Dunkle in dem alle verschwunden waren.
Plötzlich waren Schritte zu hören.
Ich erhob meinen Kopf ein wenig: „ Hilfe!“.
Meine Stimme war nur ein Piepen.
Martin meldete sich sofort: „ Lilly, was ist los?“.
Ich ließ das Handy fallen und stemmte mich auf meine Hände: „ Hilfe!“.
Die Schritte verstummten.
Ich sah Füße in der Dunkelheit.
Sie bewegten sich nicht weiter.
Ich streckte meine Hand nach dem Paar Füßen aus.
Sie gingen zurück.
„ Hilfe!“, keuchte ich.
Jetzt blieben sie stehen, dann bewegten sie sich weiter vor.
„ Lilly!“, sagte Martin laut und panisch, „ Hey, Lilly!“.
Der Jemand kniete sich auf den Boden.
Ich sah eine Hand.
In ihr war eine Wasserflasche.
Der Jemand rollte sie über den Boden zu mir hin.
Ich hielt die Flasche auf, als sie meine Hand berührte.
Der Jemand stand auf und entfernte sich von mir.
„ Geh nicht“, flüsterte ich verängstigt.
Doch die Schritte verhallten erst, als der Jemand weit weg war.
Ich senkte meinen Kopf und sah einen Knauf.
Meine Hand ließ die Flasche los und ich packte den Knauf.
Sofort spürte ich heißen Schmerz in meinem Bauch.
Doch ich zog an dem Knauf und schrie auf.
Warm.
Es wurde ganz warm an meinem Bauch.
Ich presste meine Hand auf die schmerzende Stelle.
Dort war es nass.
Ich nahm meine Hand weg und hielt sie mir vor das Gesicht.
Blut!
Rotes warmes Blut.
Viel Blut!
Mir wurde schlecht.
Was war nur passiert?
Ich erinnerte mich an nichts mehr.
Der Schock saß mir zu tief in den Gliedern.
„ Lilly!“, schrie Martin nun in die Leitung.
Mein Blickfeld verschwamm.
Die Wasserflasche verschwamm.
Martins panische Schreie verschwanden.
Ich fiel in eine endlose Leere.

Kapitel 9.

Es war schwarze Dunkelheit um mich herum.
Ich stand an einem dunklen Abgrund.
Was war hier eigentlich los?
Warum war es so dunkel um mich herum.
In der Ferne leuchtete etwas rot.
Meine Beine gingen unkontrolliert los.
Ich bewegte mich mit jedem Schritt vorwärts, doch das Licht, oder was es war, wurde immer undeutlicher.
Meine Hand streckte sich danach aus.
Eine andere Hand nahm meine entgegen.
Ich drehte meinen Kopf zur Seite.
Es war ein Mann.
Er sah mit verlorenen Augen in die Ferne.
Was sah er dort?
Das rote Etwas?
Ich drehte meinen Kopf wieder geradeaus.
Das rote Etwas war weg.
Ich sah hinunter.
Unter mir war ein Abgrund.
Eben stand ich noch am Rand.
Wieso fiel ich nicht?
Ich spürte wie die Hand des Mannes meine fester umschloss.
Ich sah zu ihm.
Er hatte sich zu einer Frau verwandelt.
„ Melina?“, flüsterte ich.
Weißes Licht drang auf mich ein.
Ich kniff die Augen zusammen.
Der Händedruck wurde stärker.
„ Melina?“, fragte ich erneut und lauter.
Ihre andere Hand berührte meine Wange.
Ihr Mund bewegte sich: „ Ist gut Lilly, ich bin hier!“.
Ich wollte meine Hand heben und ihre an meiner Wange anfassen.
Doch etwas hielt mich davon ab.
Ich drehte mich auf die Seite.
Ein stechender Schmerz machte sich sofort in meinem Körper breit.
Etwas piepte laut los.
Melina strich mir durchs Haar: „ Bleib bei mir Lilly, bleib bei mir!“.
An ihrer Wange lief eine Träne hinunter.
Sofort wurden es immer mehr Tränen.
Es blitzte mehrmals.
Was war das.
Meine Hand streckte sich nach Melinas Gesicht aus und erreichte es.
Sie berührte ihre Wange.
Melina legte ihre Hand an meine: „ Bleib bei mir!“.

Es war hell und warm auf meinem Gesicht.
Ich schlug meine Augen auf.
Die Sonne blendete mich.
Ich bewegte vorsichtig meine Beine.
„ Lilly“, sagte jemand leise.
Ich drehte meinen Kopf zur Seite.
In der Hoffnung Melina zu sehen.
Doch sie saß dort nicht.
Es war eine andere Frau.
Sie fuhr sich mit ihrer Hand durch ihr blondes Haar.
Sahra Schnielsen.
„ Melina?“, fragte ich leise.
Sahra legte ihren Arm auf das Kopfkissen und strich mir mit ihrer Hand durch mein Haar.
„ Wo ist sie?“, fragte ich leise als sich eine Tür öffnete.
Sahra drehte ihren Kopf in die Richtung: „ Sie ist gerade erst wach geworden.“.
Eine junge Ärztin nährte sich mir.
Ihre Hautfarbe war ein wenig dunkler als die von Sahra, die von der Sonne so braun war.
Ihre Augen waren fast schwarz, ihre Haare waren schwarz.
Sie war sehr dünn, was man sah, da sie unter ihrem Ärztekittel nur ein weißes T-Shirt trug, was Hauteng saß.
Genauso trug sie eine weiße Hose, durch die ein schwarzer Ledergürtel, an der Hüfte, gezogen war.
Ihre Hand streckte sich nach der Bettdecke aus, die auf meinem Körper lag, und zog sie weg.
Ich trug eines der grünen Krankenhaushemden.
Die Ärztin, Dr. Lockard, schob dieses Hemd hoch und tastete meine Bauchgegend ab.
Als ich Schmerzen spürte, keuchte ich auf.
Sahra sah zu wie die Ärztin wieder das Hemd hinunter schob: „ Hast du dir das Messer rausgezogen?“.
Ich sah sie an.
Das Messer…
Ich erinnerte mich daran, wie ich den Knauf entdeckt hatte und es einfach herausgezogen hatte, ohne nachzudenken.
Ich nickte leicht.
Die Ärztin sah mich ernst an: „ Lilly, das war nicht gut, dadurch hattest du viel Blut verloren.
Du kannst von Glück reden, dass die Polizei dich so schnell gefunden hat und dementsprechend reagiert hat.“.
Ich sah zu Sahra: „ Melina?“.
Sie schüttelte den Kopf: „ Später.“.
Sahra wandte sich an Dr. Lockard: „ Wie lange wird sie hier bleiben müssen?“.
Die Ärztin sah mich prüfend an: „ Ich denke eine Woche, vielleicht auch weniger oder mehr!“.
Sahra nickte leicht und lächelte mich an.
Doch ich erwiderte das Lächeln nicht.
Mir tat der Bauch weh, außerdem wollte ich nur mit Melina reden.
Dr. Lockard sah mich prüfend an: „ Hunger?“.
Durst.
Den hatte ich immer noch, aber ich verspürte keinen Hunger.
„ Durst“, antwortete ich leise und zurückhaltend.
Dr. Lockard nickte Sahra zu und verschwand aus dem Zimmer hinaus.
Sahra nahm eine Wasserflasche und schraubte den Deckel ab.
Die Lehne des Bettes war auf fünfundvierzig Grad erhöht und so konnte ich problemlos aus der Flasche trinken.
Ich trank einen Schluck nach den anderen.
Die Tür öffnete sich ein zweites Mal, nachdem Sahra auf der Flasche den Deckel zugedreht hatte.
Melina trat in mein Blickfeld.
Sahra stand auf und ging hinaus.
Melina selbst setzte sich auf die Bettkante und umarmte mich sofort: „ Ich hatte so eine Angst um dich Lilly!“.
Ihre offenen Haare kitzelten mich im Gesicht.
Ich erhob meine Hände und legte sie auf ihre Schultern.
Dann zog ich mich an ihren Körper.
Melina legte ihren Arm an meinen Rücken und hielt mich aufrecht: „ Ich bin hier Lilly, hab keine Angst!“.
Heiße Tränen vielen auf ihre Schulter.
Melina ließ mich nicht los.
Auch nicht, als ich zu schwach wurde um meine Hände auf ihren Schultern zu halten.
Nun lagen meine Hände auf ihren Beinen und sie hatte mich aus der Umarmung befreit.
Doch ich wäre lieber in ihren Armen geblieben.
Sie strich mir jedoch durchs Haar und sah mir die ganze Zeit in die Augen.
„ Was ist passiert?“, durchbrach ich irgendwann die Stille.
Melina legte ihren Kopf leicht schief und sah mich weiterhin an: „ Du hast Kontakt mit der Polizei aufgenommen Lilly, erinnerst du dich nicht mehr?“.
Ich überlegte.
Dann schüttelte ich den Kopf: „ Da war jemand.“.
Melina sah mich überrascht an: „ Was meinst du?“.
„ Es war jemand da, in dieser Höhle“, nuschelte ich.
Melina strich mir ein paar Strähnen von meinem Haar hinter meine Ohren.
„ Die Polizei hatte dein Handy geortet Lilly, es…es wäre fast zu…“, sie sprach nicht weiter, sondern sah mich stumm an.
Ich senkte meinen Kopf.
Fast zu spät, das hatte sie sagen wollen.
Wie konnte ich nur so dumm sein und das Messer aus meinem Körper ziehen können?
Meine Dummheit hätte mich umbringen können.
Häufig hatte ich mich mit Nicole darüber beschwert, wie die Menschen in Filmen so dumm sein konnten und das Messer rauszuziehen.
Jetzt weiß ich wie es war.
Dieses Gefühl das Messer im Bauch zu haben.
Nicht atmen zu können, nicht schnell genug reagieren zu können, wenn ich keine Schmerzen haben wollte.
Melina wischte mir eine nasse Träne aus dem Gesicht: „ Es ist nicht wichtig was passiert ist Lilly, es ist wichtig, dass du hier bist und ich bei dir!“.
Ich sah in ihre blauen Augen.
Sie war zu freundlich zu mir, sie hatte die Gabe eine gute Mutter zu sein.
Eine Woche waren wir zusammen gewesen, nicht länger und zwischen uns war mehr als nur eine leichte Bekanntschaft die mehr werden sollte.
Nein, zwischen uns war die Harmonie wie sie zwischen Mutter und Tochter war.
„ Versuch zu schlafen Lilly“, sagte sie leise.
Ich wollte dennoch wieder in ihren Arm.
Melina strich durch mein Haar: „ Ist ja gut Lilly, alles ist gut.“.
„ Emilia?“, fragte ich plötzlich.
Ich hatte sie vollkommen vergessen.
Wie konnte ich dies?
Sie war mit mir dort unten gewesen!
Sie hatte mich warm gehalten in dieser Kälte.
Melina wischte sich eine Träne weg die ihr an der Wange hinunterlief: „ Sie ist hier im Krankenhaus Lilly!“.
Ich bewegte mich leicht und rutschte nach links.
Melina sah mich verwundert an.
Ich war gerade etwas von ihr weg gerutscht.
Aber meine Hand legte sich auf die kleine Stelle auf der Matratze, die ich frei gemacht hatte.
Melina lächelte und setzte sich auf das Bett.
Sie schlang ihren Arm über meine Schultern und zog mich an sich ran.
Ich legte meinen Kopf auf ihre Brust und schloss meine Augen.
Der beruhigende Schlaf überkam mich in Sekundenschnelle.
Ich spürte nur noch wie Melina ihren Arm beugte und ihre Hand in meinem Haar verschwand.

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Tag der Veröffentlichung: 31.01.2010

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