1.Buch
Dani Brown
Tödliches Elysium
Die Suche nach dem ›Paradise Killer‹
Wenn du ein Problem hast, versuche es zu lösen. Kannst du es nicht lösen, dann mache kein Problem daraus.
Buddha
Für meine kleine Prinzessin Julia
Vorahnung
17. Mai, 22.01 Uhr
Knud Rasmussen, der norwegische Kapitän von einem der Kreuzfahrtschiffe mit dem berühmten Kussmund am Bug, blickte nervös zu seinem 1. Offizier hinüber. Der hatte ihn unfreundlicherweise den Rücken zugedreht und lauschte einer aufgeregten Stimme, die überlaut aus dem Funkgerät zu hören war. Nach einem kurzen Disput beendete er schließlich das Gespräch und drehte sich mit nachdenklicher Miene zum Vorgesetzten um.
»Und?« Der blonde Skandinavier blickte ihn neugierig an. »Gibt es irgendwelche Schwierigkeiten?«
Der junge Mann erwiderte schulterzuckend: »Eventuell ja.«
»Ich habe eigentlich auf eine eindeutige Antwort gehofft. Deshalb wiederhole ich gerne meine Frage«, erklärte Rasmussen lachend und schüttelte leicht den Kopf.
Juri Sawtschenkow, ein stämmiger 26-jähriger Ukrainer, der erst vor 2 Monaten auf dem Schiff seinen Dienst angetreten hatte, zögerte kurz, ehe er schließlich meinte: »Ein Passagier ist verschwunden, Herr Kapitän.«
Der Angesprochene zog irritiert die Augenbrauen hoch. »So?« Mehr sagte er vorerst nicht, sondern wartete zunächst geduldig auf eine Erklärung des Stellvertreters.
Bisher gab es auf der 7-tägigen Kreuzfahrt der ›AIDAnova‹ die, sämtliche größere Inseln der Kanaren ansteuerte, keinerlei Probleme. Weder ging ein Mitreisender über Bord, noch verspäteten sich Landgänger und verzögerte so die rechtzeitige Abfahrt des Schiffes. Glücklicherweise hatte auch kein einziger unvorsichtiger Tourist eine ansteckende Krankheit aus der Heimat mitgebracht und damit zahlreiche Passagiere infiziert, sodass der Schiffsarzt alle Hände zu tun hatte, die Kranken wieder gesund zu pflegen.
»Der Kreuzfahrtdirektor hat mich gerade darüber informiert, dass ein deutscher Mitreisender fehlt.«
»Hm!« Rasmussen kratzte sich nachdenklich am Hinterkopf, eher er flüchtig auf seine Armbanduhr blickte. »Wer hat das Fehlen gemeldet?«
»Die Ehefrau Eva Wegner.«
»Aha, war sie mit ihrem Ehemann nicht gemeinsam auf Landgang?«
Der Ukrainer nickte leicht mit dem Kopf. »Doch, das Ehepaar hatte einen Ausflug zum Teide-Nationalpark gebucht und sie haben auch daran teilgenommen.«
»Das heißt, sie sind zusammen von der Tour zurückgekommen und danach an Bord gegangen?«
»Ja, das ist richtig. Aber jetzt wird es merkwürdig. Laut Aussage von Frau Wegner, erhielt ihr Mann wenig später einen Anruf auf sein Handy und erklärte ihr, dass er noch mal kurz das Schiff verlassen wird.«
»Und warum, wenn ich fragen darf?« Der Kapitän sah Sawtschenkow ungeduldig an. »Eigentlich möchte ich jetzt ablegen.«
»Die Ehefrau hat leider keine Ahnung, wohin ihr Mann wollte.«
»Auch nicht den kleinsten Verdacht, Juri?« Rasmussen legte seine Schirmmütze ab und strich sich über das kurz geschorene blonde Haar.
Der Angesprochene schüttelte sofort den Kopf und meinte bedauernd: »Sie selbst steht ebenfalls vor einem Rätsel, weil auf ihren Mann bisher wohl immer Verlass war.«
»Wie geht es ihr derzeit?«
»Verständlicherweise nicht allzu gut. Laut Aussage des Kreuzfahrtdirektors hat sie einen Nervenzusammenbruch erlitten. Sie befindet sich zurzeit zur weiteren Behandlung beim Schiffsarzt Dr. Müller.«
Der Norweger nickte, ehe er nach kurzem Zögern zum 1. Offizier sagte: »Okay, wir machen jetzt folgendes. Juri, Sie begeben sich sofort zur Krankenstation und unterhalten sich mit Frau Wegner.« Er sah den Ukrainer nachdenklich an, ehe er leise ergänzte: »Und bitte, so behutsam wie möglich.«
»Ich gebe mir die größte Mühe, Herr Kapitän.«
»Vielleicht gibt es doch irgendetwas, was seine Abwesenheit von Bord erklären könnte. Manchmal sind es ja die Kleinigkeiten, die letztlich zur Auflösung beitragen.«
Sein Stellvertreter nickte schweigend, ehe er kurz salutierte und mit schnellen Schritten die Brücke verließ.
Nachdem er hinter sich die Tür geschlossen hatte, drehte sich Rasmussen zum Steuermann um. »Wir geben dem Herrn noch 30 Minuten Zeit, um an Bord zu kommen. Aber wir machen ihm jetzt unüberhörbar ein wenig Beine. Lösen Sie bitte unser Nebelhorn 3x aus.«
Der schlanke Balinese schmunzelte, ehe er den Befehl umgehend bestätigte: »Aye aye, Käpt'n!« Dann drückte er auf einen blanken Metallknopf, der sich direkt vor ihm befand.
Sofort war ein ohrenbetäubender tiefer Ton zu hören. Er pflanzte sich, beginnend vom Kreuzfahrtterminal, wie ein immer breiter werdender Kegel, über die gesamte Hauptstadt Teneriffas fort. Kurz darauf erreichte er die Höhenrücken und die steilen Hänge der gewaltigen Vulkancaldera, die sich im Hintergrund von Santa Cruz erhoben. Von dort wurden sie, vielfach gestreut, verzögert zurückgeworfen. Wenig später trafen die Schallwellen auf die »AIDAnova« und vermischten sich schließlich mit dem zweiten und dritten Signalton des Nebelhorns zu einer enormen Geräuschkulisse, die vermutlich auch den letzten Schlafenden aufweckten.
Nachdem wieder Ruhe eingekehrt war, meinte der Kapitän lachend zur Brückencrew: »Also, wenn Herr Wegner dieses deutliche Signal jetzt nicht gehört hat, dann sollte er dringend zum Ohrenarzt gehen.«
Lautes Gelächter übertönte fast seine letzten Worte und er lag auf jeden Fall nicht verkehrt.
Stadtzentrum Santa Cruz de Tenerife
Langsam kehrte nach dem dritten Tuten des Nebelhorns, das vom Kreuzfahrtterminal aus, die gesamte Innenstadt mit seinem tiefen Klang überzogen hatte, wieder die typische abendliche Stille in der Hauptstadt Teneriffas ein. Im Zentrum selbst herrschte um diese Zeit noch ziemlich viel Betrieb. Zahlreiche Bars, Cafés und Restaurants hatten geöffnet und die meisten Außenbereiche der Etablissements waren mit einer großen Anzahl junger Leute und vor allem Touristen gut besucht. Das lag natürlich auch an der tropischen warmen Nacht, die sich seit knapp einer Stunde über die Stadt gelegt hatte und einen prachtvollen Sternenhimmel präsentierte. Leider war dieser Anblick in der Innenstadt selbst kaum zu beobachten, da zahlreiche Lichtquellen, die Ausfallstraßen, Boulevards und schmalen Gassen mit einem angenehmen Lichtschein ausleuchteten.
Für all das hatte der ältere Herr, der soeben die breiten ›Rambla de Santa Cruz‹ überquerte keinen Blick übrig. Mit schnellen Schritten lief er in den ›Parque García Sanabria‹ hinein, um eine Abkürzung zum Hafen zu nehmen.
Der 67230 m ² große Park mit seinen exotischen Blumen und Palmen, sowie zahlreichen Skulpturen war einer der Hauptattraktionen der Stadt. Aber um diese Zeit war in den Grünanlagen nicht mehr viel los. Nur junge Paare hatten eine Vielzahl weißlackierter Holzbänke in Besitz genommen und genossen die gemeinsame Zweisamkeit, weit weg von der elterlichen Aufsicht. Sie nahmen kaum Notiz von dem Mann, der schnell an ihnen vorbeieilte.
Kurt Wegner beschleunigte unterdessen nochmals seinen Schritt, denn er vermutete, dass das gerade verklungene Signal des Nebelhorns nur ihm alleine galt. Nicht auszudenken wäre, falls er wegen dieser unangenehmen Sache, die Abfahrt des Kreuzfahrtschiffes verpasste. In Gedanken durchspielte er schon einmal das Horrorszenario, wie er bis morgen Mittag die Nachbarinsel Gran Canaria erreichen konnte, wenn das Schiff bereits abgelegt hatte. Soweit er sich erinnerte, startete um kurz nach 13.00 Uhr das Flugzeug in Richtung Deutschland.
Er schob die unangenehmen Gedankenspiele vorerst zur Seite und beschloss, erst dann darüber ernsthaft Überlegungen anzustellen, falls der Supergau tatsächlich eingetroffen war.
Schwer atmend blieb er mitten auf dem asphaltierten Hauptweg stehen und holte mehrfach tief Luft. Gerade, als er weitergehen wollte, hörte er hinter sich eine leise Stimme: »Señor Wegner?«
Überrascht drehte er sich um und gewahrte auf einem der schmalen Kieswege, die noch weiter in die Parkanlage hineinführten, einen schlanken hochgewachsene Mann, der ihm aufgeregt zuwinkte.
»Ja?«
»Kann ich Sie bitte mal kurz sprechen?«
Der Angesprochene nickte flüchtig und murmelte: »Klar!« Dann ging er rasch zum Unbekannten.
»Es tut mir leid Señor, dass ich unseren Termin verpasst habe. Aber es gab unerwartete Komplikationen, die meine Anwesenheit erforderten.«
Der Deutsche blickte ihn mit nachdenklicher Miene an, ehe er leise fragte: »Sind Sie etwa Herr Meyer, der mich unbedingt sprechen wollte?«
Sein Gegenüber nickte sofort. »Sie haben recht.«
»Um was geht es überhaupt?«
»Am besten, wir gehen einige Schritte. Es muss ja nicht sein, dass uns hier Leute sehen.«
Sein Gesprächspartner zuckte mit den Schultern. »Wenn Sie meinen.« Dann folgte er dem Fremden.
Wenig später blieb er schließlich stehen und drehte sich um. »So, das müsste ausreichen.«
Obwohl der Park in der Innenstadt von Santa Cruz lag, war es auf dem Seitenweg stockfinster, sodass sogar der Sternenhimmel in voller Pracht zwischen den Wedeln der hoch aufgeschossenen Palmen und Blätterkronen der zahlreichen Laubbäume zu sehen war. Deshalb konnte er auch das Gesicht seines Gegenübers wenigstens schemenhaft erkennen.
Kurt Wegner räusperte sich, ehe flüsternd meinte: »Jetzt mal Butter bei die Fische. Warum wollen Sie mich so dringend sprechen?«
Meyer schien zu lächeln und es dauerte einen Augenblick, bis er schließlich mit angenehm dunkler Stimme antwortete: »Kennen Sie sich ein wenig mit lateinischen Sprichwörtern aus?«
Wegner trat einen Schritt zurück und meinte anschließend irritiert: »Nein, eigentlich nicht. Worauf wollen Sie überhaupt hinaus? Zuerst lotsen Sie mich vom Schiff herunter, dann verpassen Sie Ihren eigenen Termin und nun fragen Sie, ob ich irgendwelche Idiome aus dem Altertum kenne.«
»Es hätte ja sein können oder?«
»Okay, Herr Meyer. Kommen Sie endlich auf den Punkt, sonst fährt der Kreuzliner noch ohne mich los.«
»Sie meinen die AIDAnova?«
»Ja!«
»Quod tibi fieri non vis, alteri ne feceris!«
Wegner blickte ihn verwundert an, ehe er kaum hörbar murmelte: »Bitte was?«
»›Was du nicht willst, dass man dir tut, das füg‘ auch keinem anderen zu!‹ Das sagte bereits Kaiser Alexander Severus und das Zitat hat bis zum heutigen Tag nichts von seiner Bedeutung eingebüßt.« Ohne eine Antwort abzuwarten, stach er mit einem Bajonett, dass er hinter der rechten Hand verborgen hatte, kraftvoll zu.
Die 14,8 cm lange Klinge drang von unten her in die Oberhaut ein und durchstach auf ihrem Weg in die obere Körperhälfte die komplette Milz. Kurz darauf erreichte die Messerspitze, oberhalb des Rippenbogens, das eigentliche Ziel der heimtückischen Attacke, die linke Herzkammer. Ohne auf großen Widerstand zu stoßen trat sie ein und kam schließlich abrupt zum Stehen, weil der Schaft des Bajonetts inzwischen auf der Hautoberfläche des Opfers angekommen war.
Die ganze Aktion dauerte knapp 2 Sekunden und es wurde ziemlich schnell deutlich, dass der Angreifer sein Handwerk verstand.
Erst jetzt realisierte Kurt Wegner, dass er tödlich getroffen war. Sein Gegenüber zog lächelnd mit einer kurzen Rechtsdrehung das scharfe Messer wieder aus dem Körper heraus, sodass eine klaffende Wunde zurückblieb, aus der sofort Blut austrat. Das beige/grün geringelte Poloshirt des Opfers färbte sich an dieser Stelle rasch rot.
»Warum?«, flüsterte er konsterniert, derweil er langsam zurücktaumelte, bis er sich schließlich laut stöhnend auf die Knie hockte. Seine rechte Handfläche drückte er dabei auf die blutdurchtränkte Fläche des Hemdes in der Hoffnung, dass der Blutstrom nachließ. Er schien noch immer nicht verstanden zu haben, was gerade passiert war.
Der Angreifer beobachtete, ohne jede Gefühlsregung, sein Opfer. Er wusste ganz genau, dass er den alten Mann tödlich getroffen hatte. Nachdem er kurz gezögert hatte, meinte er schließlich: »Auch dafür gibt es einen passenden Spruch.«
»Okay«, murmelte Wegner kaum verständlich, ehe er plötzlich nach links fiel und auf der Seite regungslos liegen blieb.
»Ja, ob Sie es glauben oder nicht.«
Das Opfer reagierte nicht auf diese Äußerung.
»Man trifft sich immer zweimal im Leben.« Anschließend bückte Meyer sich schnell und ergriff die Beine der Leiche. Fast geräuschlos zog er den Körper weiter in das dichte Unterholz hinein, das sich auf beiden Seiten des schmalen Weges ausgebreitet hatte, bis er schließlich den Stamm einer Washington-Palme erreicht hatte. Mit einem leisen Seufzen ließ er die Füße los und drehte den Leichnam auf den Rücken. Dann legte er den Zeigefinger an die Halsschlagader und prüfte den Pulsschlag. Aber wie erwartet, war keiner vorhanden. Der Mann war tatsächlich tot, so wie er es auch verdient hatte.
Nun gab es für den Mörder nur noch eines zu tun. Aus der Tasche seiner Jacke holte er eine kleine Dose Schuhcreme hervor und öffnete sie. Er fuhr mehrmals mit dem linken Daumen über die Oberfläche der Putzcreme, bis der obere Bereich des Fingers völlig schwarz war.
Dann nahm er eine Taschenlampe und leuchtete Kurt Wegner direkt in das leicht verzerrte Gesicht, ehe er auf der Stirn einen markanten Daumenabdruck zurückließ. Skeptisch begutachtete er sein Werk, denn er legte großen Wert darauf, dass sein Erkennungsmerkmal deutlich erkennbar war, sodass das Opfer nur ihm zugeordnet werden konnte. Schließlich war er zufrieden und schaltete die Taschenlampe aus, ehe er sich geräuschlos erhob. Er hielt kurz inne und lauschte. Glücklicherweise war nur aus weiter Entfernung lautes Lachen zu vernehmen, während um ihm herum völlige Stille herrschte.
Jedes unnötige Geräusch vermeidend begab er sich zurück zum Weg und verließ wenig später den Park in Richtung ›Calle Méndez Núñez‹, die den östlichen Teil der Anlage begrenzte. Als er an einer Straßenkreuzung zum Hafen herunterblickte, sah er ein hell erleuchtetes Kreuzfahrtschiff, das gerade dabei war abzulegen. Vorne am Bug war deutlich ein roter Kussmund zu erkennen. Die ›AIDAnova‹ begab sich langsam auf ihren Weg nach Gran Canaria. Zwar mit einem Passagier weniger an Bord, aber danach wird spätestens in 2 Tagen kein Hahn mehr krähen. Da war sich der Mörder absolut sicher.
Mit einem zufriedenen Lächeln im Gesicht, ließ er einen weißen Fiat 500 passieren, die auf der Insel hauptsächlich an Touristen vermietet wurden. Anschließend überquerte er mit schnellen Schritten die Fahrbahn und setzte auf der anderen Straßenseite seinen Weg fort, ehe er schließlich in eine der zahlreichen Querstraßen einbog, die direkt zum Hafen hinunterführten.
3 Tage später
Es dauerte immerhin nahezu 72 Stunden und einen ständig zunehmenden Verwesungsgeruch, bis die Leiche endlich durch zwei 12-jährige Jungs entdeckt wurde, die neugierig im Dickicht der Parkanlage Ausschau gehalten hatten, was so unangenehm stank. Schließlich waren sie fast über die Überreste eines menschlichen Körpers gestolpert, der direkt neben dem dicken Stamm einer Washington Palme lag. Den schrecklichen Anblick werden die Finder vermutlich ihr Leben lang nicht mehr vergessen, als sie den Leichnam nur kurz anschauten, der mit zahlreiche kleinen weißen Maden bedeckt war, während die Teenager von aufgescheuchten grünlich schimmernde Schmeißfliegen umflogen wurden. Geschockt waren sie sofort wieder zurückgewichen und mussten sich erst einmal übergeben, ehe sie laut schreiend den schmalen Weg zurückliefen, um Hilfe zu holen.
Zwei Stunden später saßen sie auf dem hinteren Trittbrett eines Krankenwagens, der auf der einen Seite des asphaltierten Hauptweges der Parkanlage abgestellt war. Vor den Jungs stand ein Kripobeamter der Policia Nacional und befragte sie, während er schriftlich ihre Aussagen aufnahm.
Im Umkreis von 50m um die entdeckte Leiche herum, war das gesamte Gebiet mit einem gelben Plastikband abgesperrt worden und wurde darüber hinaus von Beamten der Policía Canaria bewacht. Das war auch notwendig, denn unter den Medienvertretern der größten Insel der Kanaren hatte sich das Ereignis natürlich längst herumgesprochen. Mindestens ein Dutzend Presseleute und drei Kamerateams warteten direkt vor der Absperrung auf Interviewpartner, die mit ernsten Gesichtern den Tatort verließen, um weitere Untersuchungsgeräte aus ihren geparkten Transportern zu holen.
Die einzigen beiden Wörter, die sie den wartenden Journalisten, immer wieder gebetsmühlenartig sagten, hießen: »Kein Kommentar.« Dann schlüpften sie rasch unter dem Absperrband durch und verschwanden im Unterholz, das so dicht war, dass man nichts vom eigentlichen Fundort sah.
In der Mitte des Epizentrums, direkt bei der Leiche, hielten sich nur ein Mann und eine Frau auf. Während der eine neben dem Körper hockte und aus einem aufgeklappten Koffer, der verschiedene Untersuchungsgeräte enthielt, immer wieder Teile herausnahm oder hineinlegte, stand der andere schweigend daneben und machte sich Notizen. Aus der Entfernung waren die beiden Beamten kaum voneinander zu unterscheiden, denn sie trugen den gleichen weißen Einweganzug, der für sämtliche Mitarbeiter, die an Tatorten zu tun hatten, vorgeschrieben war.
Schließlich räusperte sich der ältere Mann und meinte zu seiner Kollegin, die sich gerade erhoben hatte: »Ich muss ehrlich zugeben, dass ich bereits angenehmere Leichen gesehen habe.«
»Was du nicht sagst, Carlos?«, erwiderte sie ein wenig schnippisch.
»Kannst du schon Näheres zur Todesursache sagen?«
Marta Moreno Lopez blickte den Kriminalbeamten mit nachdenklicher Miene an. »Es sieht ganz so aus, als ob ein einziger Stich direkt ins Herz zum Tod des männlichen Opfers geführt hat. Aber wie du ja weißt, ein abschließendes Urteil erlaube ich mir natürlich erst, wenn ich den Körper eingehend in der Gerichtsmedizin untersucht habe.«
»Ist schon klar«, brummte der erfahrene Kriminalkommissar und strich sich etwas nervös über seinen imposanten Schnauzbart, der an den Bartenden bereits beträchtlich ins Grau überging. »Was könnte die Tatwaffe gewesen sein?«
Die Ärztin bückte sich rasch und klappte ihren schwarzen Lederkoffer zu, ehe sie ihn sorgsam verschloss und senkrecht hinstellte. Dann meinte sie lächelnd zum geduldig wartenden Kollegen: »Die Eintrittswunde, die gleichzeitig auch die Austrittswunde ist, sieht etwas ausgefranst aus. Das hängt wohl damit zusammen, dass der Täter die Waffe um 90° gedreht hat, eher er sie wieder aus dem Körper herausgezogen hat.«
»Okay.«
»Ich vermute, dass eine breite lange Klinge benutzt wurde, die auf der Oberseite ein Sägemuster besaß.«
»Also ein Küchenmesser?«
»Über diese Brücke möchte ich derzeit noch nicht gehen, Carlos. Das muss ich in jedem Fall detaillierter untersuchen. Beim Tatwerkzeug kommen alle möglichen Stichwaffen für mich in Frage. Vielleicht war es ein schlichtes Messer aus einem Messerblock, der weltweit in vielen Küchen vorhanden ist. Aber auch Seitengewehre aus dem militärischen Bereich will ich zurzeit nicht ganz ausschließen. Eines kann ich dir allerdings mit ziemlicher Sicherheit schon jetzt sagen.«
»Oh, das höre ich doch gerne«, erwiderte der erfahrene Kriminalist schmunzelnd.
»Der oder die Täter verstanden ihr Handwerk. Das war kein Zufallstreffer, der das Opfer getötet hat. Der Angreifer wusste ganz genau, wie man einen tödlichen Stich ansetzt.«
»Ist der Fundort auch der Tatort?«
Die zierliche Frau schüttelte umgehend den Kopf: »Das werden dir nachher sicherlich noch die Forensiker mitteilen, aber der Körper wurde eindeutig bewegt. Der Angriff selbst fand höchstwahrscheinlich auf dem schmalen Weg statt, der in circa 15m Entfernung durch den Park führt. Dort jedenfalls wurde eine größere Menge Blut gefunden, die vermutlich vom Opfer stammt. Erst nach der Tat wurde die Leiche hierher verbracht, um wahrscheinlich das rasche Auffinden zu erschweren.«
Carlos zeigte auf den schwarzen Abdruck, der trotz fortschreitender Verwesung mitten auf der Stirn zu erkennen war. »Was hältst du davon?«
Marta zögerte einen kurzen Moment, ehe sie leise meinte: »Für mich persönlich sieht das so aus, als hätte der Täter auf diese Weise, die Leiche als seine Trophäe eindeutig gekennzeichnet. Das ist ja geradezu ein typisches Verhalten von Serienmördern, das sie irgendetwas von ihren Opfern mitnehmen, sei es eine Haarsträhne, eine Uhr, Kette oder sogar Unterwäsche.«
»Und dann gibt es andere Mörder, die kennzeichnen ihre vermeintliche Beute, damit sie nur ihnen zugeordnet werden kann«, ergänzte er mit nachdenklicher Miene.
»Genau.«
Der Kriminalist sah nicht gerade glücklich aus, als er schließlich grimmig erklärte: »Das fehlt jetzt noch, dass hier auf der Insel ein Serienmörder sein Unwesen treibt. Kurz vor Saisonbeginn wäre das eine touristische Katastrophe. Ist das eigentlich ein Fingerabdruck, mit dem die Leiche markiert wurde?«
»Ja und ein richtig detaillierter Abdruck dazu. Dein Kollege von der Spurenermittlung war jedenfalls begeistert, als er ihn sichergestellt hat. Er meinte, es handelt sich um einen 1a Daumenabdruck.«
»Kannst du die Todeszeit bereits näher eingrenzen, Marta?«
Die Ärztin nickte leicht mit dem Kopf, ehe sie mit leiser Stimme erklärte: »Der Zustand der Leiche, örtliche Wetterbedingungen, Madenbefall und Eiablage der Schmeißfliegen deuten auf einen Todeszeitpunkt zwischen 64 und 72 Stunden hin. Ich persönlich tendiere auf den früheren Zeitpunkt, denn ich kann mir nicht vorstellen, dass die Tat am helllichten Tag begangen wurde, weil dann im gesamten Park viele Einheimische und Touristen unterwegs sind. Ich vermute, der Täter hat den späteren Abend oder die Nacht für seine Tat genutzt.« Sie schaute ihren langjährigen Kollegen lächelnd an, ehe sie süffisant meinte: »Ich hoffe, ich habe nun sämtliche Fragen zur vollsten Zufriedenheit beantwortet, Carlos.«
Der Angesprochene murmelte etwas geistesabwesend: »Ja, das stimmt.« Schließlich ergänzte er leise: »Vielen Dank, Marta.«
»Gern geschehen. Wenn du nichts dagegen hast, lasse ich jetzt die Leiche abholen, damit noch heute die Obduktion durchgeführt wird. Falls sich dabei Relevantes ergeben sollte, melde ich mich danach bei dir. Ansonsten, wie gehabt, spätestens morgen früh. Ist das so okay?«
Carlos blickte die Ärztin kurz an, ehe er schmunzelnd sein Einverständnis gab: »Erlaubnis erteilt.«
3 Stunden später
Direkt vor Kriminalkommissar Garcia lag eine Plastiktüte, in dem sich deutlich sichtbar eine Geldbörse und eine kleine Plastikkarte befanden. Letzteres war ein Personalausweis. Ein Kollege der Spurensicherung hatte mit einem schwarzen Faserstift kurz und knapp vermerkt, wem die Gegenstände gehörten und wo sie sichergestellt wurden.
»Wir haben es also mit einem Deutschen zu tun«, meinte Garcia gerade zu seinem engsten Mitarbeiter, der ihm direkt gegenübersaß.
Luis Alonso nickte schweigend, ehe er nach der Tasse griff und einen Schluck Kaffee trank.
»Wissen wir inzwischen etwas mehr über das Opfer?«
»Ja, eine ganze Menge. Es liegt sogar seit Tagen eine Vermisstenanzeige vor.«
»Wer hat sie gestellt?«
»Die Ehefrau des Toten.«
»Wurde sie bereits von uns befragt?«
»Ja, Luisa hat sich mit der Frau unterhalten.«
Der Leiter der Mordkommission lehnte sich zurück und gähnte laut, ehe er schließlich meinte: »Haben die Aussagen etwas Relevantes für uns gebracht?«
Sein Gegenüber nickte. »Ja, das Ehepaar hat auf der AIDAnova an einer Kreuzfahrt teilgenommen. 2 Stunden, bevor das Schiff zu seiner letzten Etappe nach Gran Canaria ablegen wollte, bekam ihr Mann einen Anruf.«
»Augenblick, Luis. Er wurde also angerufen.«
»Ja, das ist richtig.«
»Konnten wir das Handy sicherstellen?«
»Ja, es wird gerade von den Experten untersucht.«
»Ausgezeichnet«, brummte Garcia zufrieden, »es wäre ja nicht schlecht, zu erfahren, wer ihn angerufen hat. Was passierte nach dem Anruf?«
»Das Opfer hat umgehend das Schiff verlassen und ist nicht mehr zurückgekehrt. Bevor du fragst, die Ehefrau hat keinen blassen Schimmer, mit wem ihr Mann gesprochen hat und wohin er gegangen ist.«
»Wie wirkte er emotional auf sie?«
»Sehr nervös und aufgeregt. Aber er hat ihr nicht gesagt, was der Grund dafür war.«
»Okay, fassen wir mal zusammen. Das Opfer ist der 72-jährige deutsche Staatsbürger Kurt Wegner, der mit seiner Ehefrau an Bord der AIDAnova eine Kreuzfahrt rund um die Kanaren unternommen hat. Am 17. Mai erhielt er gegen 20.00 Uhr einen Anruf auf sein Handy, worauf er ohne Begründung das Schiff verlassen hat und nicht mehr zurückgekehrt ist. Gibt es sonst etwas Wesentliches hinzuzufügen, Luis?«
Sein Stellvertreter überlegte kurz, ehe er schließlich meinte: »Mithilfe von AFIS findet noch heute ein Datenabgleich mit dem sichergestellten Daumenabdruck statt. Vielleicht bekommen wir ja einen Treffer?«
Sein Freund schüttelte sofort den Kopf. »Dafür lege ich meine Hand ins Feuer, das wir nichts finden werden.«
»Hauptsache, du verbrennst dich nicht«, frotzelte Alonso.
»Wurden bereits das deutsche BKA und Europol informiert?«
»Nein, das erledige ich nachher gleich.«
Carlos richtete sich langsam auf. »Gut, gibt es sonst noch etwas Wichtiges?«
Sein Kollege überlegte kurz, ehe er leicht mit dem Kopf schüttelte. »Derzeit nicht.«
Kriminaltechnisches Labor, 1 Stunde später
Neben der DNA Analyse ist AFIS (Automatisierte Fingerabdruck Identifizierung System) die sicherste Methode, um Personen eindeutig zu ermitteln. Sämtliche von den nationalen und internationalen Polizeidienststellen übermittelten Daten werden dabei in den einzelnen Ländern zentral erfasst und zur Personenidentifizierung eingesetzt. Die seit vielen Jahren zuverlässige Praxis basiert auf der Codierung der anatomischen Merkmale, die im jeweiliger Finger- oder Handflächenabdruck abgebildet sind. AFIS erkennt diese einzigartigen Charakteristika automatisch und vergleicht sie mit dem Code von Millionen abgespeicherten Fingerspuren. Tatverdächtige können somit rasch identifiziert, Unschuldige entlastet, sowie Taten, die zusammengehören ermittelt werden.
Manuela Torres hatten den auf der Leiche von Kurt Wegner gefundenen linken Daumenabdruck bereits in AFIS eingegeben und löste in diesem Augenblick die Suche aus. Sie wusste aufgrund ihrer langjährigen Erfahrungen, dass es Stunden dauern könnte, bis endlich ein aussagefähiges Ergebnis vorlag oder eben auch nicht.
Um sich die Wartezeit abzukürzen, begann sie umgehend mit der Untersuchung der schwarzen Substanz, in dem der Daumenabdruck gefunden wurde.
Einige Zeit später, AFIS lief im Hintergrund immer noch, war sie in dieser Frage ein Stückchen weitergekommen. Es handelte sich um eine wässrige Emulsion auf Basis von Wachsen, der Silikonemulsion, Verdicker, Konservierungsmittel, sowie Farb- und Duftstoffen hinzugefügt waren.
Ein leichtes Lächeln überzog das Gesicht der attraktiven Forensikerin, als sie die Zusammensetzung der unbekannten Substanz auf dem ausgedruckten Zettel überflog. Schnell gab sie einige Begriffe in den Computer ein und las sich aufmerksam die Vorschläge durch, die auf dem Display angezeigt wurden.
Schließlich nickte sie kurz und murmelte: »Das habe ich mir fast schon gedacht.«
Wenig später druckte sie das endgültige Untersuchungsergebnis aus. Dann nahm sie rasch ihr Telefon und wählte eine Nummer.
Nach zweimaligen Klingeln wurde endlich abgenommen: »Ja, hier Alonso!«
»Ich bin es Manuela.«
»Grüß dich, hast du schon etwas herausgefunden?«
»Bei der unbekannten Substanz, in der wir den Daumenabdruck gefunden haben, handelt es sich um schwarze Schuhcreme.«
Einen Augenblick war Ruhe am anderen Ende, ehe ihr Kollege meinte: »Aha und welche Firma stellt sie her?«
Torres schien einen kurzen Moment überrascht, ehe sie spöttisch erwiderte: »Ich bin Forensikerin und keine Zauberin, Luis. Hast du eine Ahnung, wie viele Sorten schwarze Schuhcreme auf dem Markt sind? Ich schätze mal Tausende! Du wirst dich noch etwas gedulden müssen, bis ich den Hersteller identifiziert habe.«
»Okay, das war wirklich nicht abschätzig gemeint. Ich weiß doch, was für eine wichtige Arbeit ihr im Labor leistet.«
»Sollte das eben eine Entschuldigung gewesen sein, dann nehme ich sie an.«
Alonso beschloss, nicht noch mehr Öl ins Feuer zu gießen und die temperamentvolle Frau damit weiter zu reizen. Stattdessen meinte er nur: »Melde dich einfach, wenn du ein Ergebnis hast.«
»Klar, das werde machen.«
Der Kriminalist wechselte das Thema: »Was macht AFIS?«
Torres drehte sich rasch zum Computerdisplay um, ehe sie kurz und knapp sagte: »Die Suche läuft noch immer.«
»Gut. Halte mich auf dem Laufenden und vielen Dank für deinen Anruf.«
»Gern geschehen«, erwiderte sie lächelnd, bevor beide fast gleichzeitig das Gespräch beendeten.
1 Stunde später
Die Gerichtsmedizin der Kanaren befand sich in der Nähe des Campus Ofra der Universität La Laguna. Wie der Name schon sagte, wurde die Hochschule nicht direkt in der Hauptstadt angesiedelt, sondern weiter westlich. Obwohl die Vororte beider Städte mittlerweile übergangslos ineinander übergehen, sind die klimatischen Bedingungen trotzdem sehr unterschiedlich. Das lag vorrangig am Höhenunterschied von 550m über dem Meeresspiegel. Das bedeutete, dass die Temperaturen im Zentrum von Santa Cruz im Durchschnitt 4-7°C ganzjährlich höher waren, als in San Cristóbal de La Laguna, wie die Stadt offiziell heißt.
Diese klimatischen Wetterbedingungen kannte Hauptkommissar Carlos Sanchez Garcia natürlich, denn er lebte einige Jahre in der ehemaligen Hauptstadt Teneriffas. Er war soeben an der Gerichtsmedizin eingetroffen und stellte sein Dienstfahrzeug auf einem reservierten Parkplatz direkt vor dem Eingang ab.
Gerade als er aussteigen wollte, begann sein Handy in der Hosentasche zu klingeln. Etwas ungnädig zog er es heraus und blickte neugierig auf das Display. Mit einem leisen Seufzen ging er schließlich auf Empfang. »Was gibt es, Luis?«
Sein Kollege legte sofort los. »Nicht viel. Die Forensik hat mittlerweile herausgefunden, in welcher Substanz sich der Daumenabdruck befand.«
»Aha.«
»Es handelt sich um schwarze Schuhcreme.«
»Ich habe, ehrlich gesagt, so etwas erwartet. So leicht will es uns der Täter nicht machen, in dem er eine seltene Substanz benutzt hätte.«
»Ja, da hast du leider recht. Und was sagt Marta?«
»Keine Ahnung. Ich bin erst gerade angekommen«, erklärte Carlos lachend.
»Hoffentlich hat sie ja etwas Neues zu berichten.«
»Wir werden sehen, Luis. Aber ansonsten hätte sie mich bestimmt nicht angerufen.«
»Kommst du danach noch zur Dienststelle?«
Der Leiter der Mordkommission überlegt kurz, ehe er zurückhaltend meinte: »Hängt alles vom Gespräch hier ab und ob Kriminaltechnik sowie Forensik bahnbrechende Erkenntnisse vermelden können. Wenn nicht, findest du mich heute Abend mit Frau, Kindern und Enkeln auf der Terrasse meines Hauses beim Barbecue.«
»Das klingt gut.«
»Du kannst gerne mit Ines zum Essen kommen.«
»Mal sehen, was sie dazu sagt.«
»Gibt es noch etwas, sonst lege ich jetzt auf!«
»Nein, der Fingerabdruck und die sichergestellte DNA konnten bisher keiner Person zugeordnet werden.«
»Okay, halte mich auf dem Laufenden.« Garcia beendete das Gespräch und steckte das Handy wieder in die Hosentasche. Dann schloss er rasch sein Fahrzeug ab und betrat den kühlen Flur des Gebäudes. Er winkte dem Pförtner nur kurz zu, denn natürlich kannte er den Weg zur Leiterin der Gerichtsmedizin.
45 Minuten später
Die Obduktion von Kurt Wegner war nun endgültig beendet. Sämtliche Urin und Blutproben, sowie ein Teil des Mageninhalts waren für weitere mikroskopische, mikrobiologische und toxikologische Untersuchungen entnommen worden. Der Y-Schnitt in der Haut, der die inneren Organe des Toten für die Begutachtung und Entnahme, freigelegt hatte, wurde gerade durch einen der Assistenten mit grobem Garn vernäht. Schließlich war auch das geschafft und über den Leichnam wurde ein weißes Leinentuch ausgebreitet. Zu guter Letzt wurde er auf eine Tragbahre gehoben, zu einer leeren Kühlkammer gebracht und hineingeschoben. Mit einem leisen Klick schloss sich die Tür.
»Klappe zu, Affe tot«, murmelte Carlos, der fast die gesamte Zeit geschwiegen hatte, während ihm die Gerichtsmedizinerin ausführlich ihre Herangehensweise und vorläufigen Ergebnisse erläutert hatte.
»Das habe ich gehört«, erklärte Marta Moreno Lopez lachend und droht ihm mit dem Finger. Dann schlüpfte sie elegant aus ihrer Bekleidung und warf diese zusammen mit dem Mundschutz und den gebrauchten Einmalhandschuhen in eine schwarze Recyclingtonne. Danach ging sie zu einem der Waschbecken und wusch sich akribisch ihre Hände, während sich ihr Gast ebenfalls seiner Kleidung entledigte.
10 Minuten später saßen sie gemeinsam im Büro der Gerichtsmedizinerin und tranken einen Kaffee.
Mit einem verschmitzten Lächeln stellte Garcia die Tasse auf den Tisch und lehnte sich zurück. Dann nahm er das Gespräch wieder auf, was sie im Umkleideraum der Gerichtsmedizin begonnen, allerdings noch nicht beendet hatten. »Letztlich hast du mich nur hierher eingeladen, um mir stolz zu zeigen, dass das Opfer einen kleinen Tumor an der rechten Niere besaß.«
»Ja, ich fand es zumindest so wichtig, dass ich dich lieber sofort informiert habe.«
»Dafür gibt es auch Telefone, das weißt du hoffentlich oder? Aber mal Spaß beiseite, war der Krebstumor für Wegner bereits lebensgefährlich?«
Marta Moreno Lopez schüttelte den Kopf. »Nein, er befand sich noch im Anfangsstadium und hatte darüber hinaus bisher keine Metastasen gebildet. Der Mann hätte also sehr gute Heilungschancen gehabt.«
»Ja, leider hatte der Mörder etwas dagegen. Du hast vorhin erwähnt, dass du bei der Klingenlänge des eingesetzten Messers circa 14,8 cm zugrunde legst.«
»Das ist richtig. Von der Eintrittswunde bis zur Unterseite des Herzbeutels sind es bereits 13 cm.«
»Der Täter hat tatsächlich nur einmal zugestoßen?«
»Genauso ist er vorgegangen, Carlos. Die Herzwand wurde nur an einer Stelle durchstochen. Das reichte allerdings völlig aus, um das Opfer so schwer zu verletzen, dass er letztlich innerlich verblutet ist. Er hatte von vornherein nicht die Spur einer Chance, den Angriff zu überleben und ich nehme an, der Täter hatte das auch so geplant.«
Garcia blickte Marta nachdenklich an, ehe er nach seiner Tasse griff, und einen Schluck Kaffee trank. Nachdem er sie wieder abgestellt hatte, meinte er zur Ärztin: »Gehe ich richtig in der Annahme, dass du einen Profi hinter der Tat vermutest?«
»Es muss zumindest eine Person gewesen sein, die sich mit der Anatomie des menschlichen Körpers auskannte. Messerstiche, die durch Laien ausgeführt werden, richten sich zumeist zentral auf den Oberkörper des Angegriffenen. Glücklicherweise wird das Herz in diesem Bereich durch eine Vielzahl von Rippen geschützt, sonst würden deutlich mehr Opfer bei mir in der Gerichtsmedizin liegen.«
»Der Täter hat allerdings die schützende Barriere elegant umgangen.«
Lopez nickte. »Richtig, er hat von unterhalb des Rippenbogens hochgestochen und dabei nicht eine einzige Rippe beschädigt. Ich glaube deshalb kaum, dass da ein Laie am Werk war und wenn man abschließend summa summarum alle Werte zusammenrechnet kommt man auf eine Klingenlänge von circa 14,8 cm.«
Carlos kratzte sich nervös am Hinterkopf, ehe er meinte: »So welche Messer gibt es doch wie Sand am Meer. Die sind in sämtlichen Messerblöcken, die in zahlreichen Küchen herumstehen, zu finden.«
Die Ärztin lachte laut auf. »Ja, mein Lieber, so etwas nennt sich auch Suche nach der berühmten Nadel im Heuhaufen.«
»Du hast verdammt recht«, brummte der Kriminalbeamte frustriert.
»Kopf hoch, Carlos, ich gehe davon aus, dass ich die Spezifikationen der Tatwaffe weiter eingrenzen kann.«
Ein Hoffnungsschimmer überflog das Gesicht von Garcia, während er murmelte: »Da bin ich jetzt mal gespannt, was kommt.«
»Ich gehe davon aus, dass der Messerangriff mit einer beträchtlichen Kraftanstrengung durchgeführt wurde. Der menschliche Körper besteht ja nicht aus Butter, sondern aus Haut, Organen und Knochen, die einem Messerstich einen wesentlich größeren Widerstand, als die meisten Angreifer vermuten, entgegensetzen. Bei zahlreichen Obduktionen konnte ich deshalb nachweisen, dass viele Haushaltsmesser bei Angriffen verbogen beziehungsweise gleich ganz abbrachen, sodass sich häufig noch Messerreste im Körper der Opfer befanden. Ich bin überzeugt, dass der Täter kein Messer aus einem Holzblock genutzt hat.«
»Sondern?«
»Vermutlich benutzte er ein Tauchermesser oder irgendein militärisches Kampfmesser, denn die sind wesentlich robuster.«
»Das heißt, wenn ich die Tatwaffe finde, kannst du sie eindeutig identifizieren?«
Marta lachte. »So einfach ist das natürlich nicht, mein Lieber und das weißt du auch ganz genau. Falls weder Blut noch DNA des Opfers anhaften, ist nur die Identifizierung des Messertyps möglich.«
»Hm«, Carlos sah die Ärztin nachdenklich an, »hatte die eingesetzte Messerklinge irgendwelche Besonderheiten?«
Sie nickte. »Ja, das habe ich bereits am Tatort kurz erwähnt. Die Klinge besitzt auf der Oberkante eine sogenannte Sägefunktion.«
»Okay, das deutet ebenfalls auf ein Spezialmesser hin oder?«
»Genau. Deshalb empfehle ich dir ja auch, dein Hauptaugenmerk nicht auf ein simples Küchenmesser zu richten.«
10 Minuten später
Noch immer lief AFIS im Hintergrund und es gab bisher leider keinen Treffer. Das beunruhigte allerdings Manuela Torres keineswegs, weil die Software Millionen Datensätze weltweit durchsuchen musste.
Sie hatte die Zeit genutzt, um die genaue Zusammensetzung der Schuhcreme zu ermitteln. Das war ihr mittlerweile gelungen und sie suchte gerade in einem langen Verzeichnis nach der verwendeten Marke. Glücklicherweise wurde sie bereits beim Buchstabe E fündig. Sicherheitshalber ging sie auch noch die restliche Liste durch, doch das Ereignis blieb das gleiche. Sie hatte tatsächlich das Produkt eindeutig identifiziert. Einerseits freute sich die Forensikerin über den Treffer, andererseits hatte sie ein gängiges Massenprodukt ermittelt. Mit einem orangefarbigen Marker kennzeichnete sie die betreffende Zeile, ehe sie erneut zum Telefon griff, um Alonso anzurufen.
Diesmal hob der Kommissar bereits nach dem ersten Klingeln ab und meinte lachend: »Wenn du jetzt kein Erfolgserlebnis für mich hast, lege ich gleich wieder auf.«
Manuela Torres schmunzelte, ehe sie schließlich erklärte: »Na ja, der Durchbruch ist es zwar nicht gerade, aber ich konnte wenigstens die Marke der Schuhcreme identifizieren.«
»Was macht eigentlich AFIS?«
»Das Programm arbeitet unermüdlich.«
»Es gab also bisher keinen einzigen Treffer.«
»Leider nicht.«
»Na ja, die Hoffnung stirbt ja bekanntlich immer zuletzt oder?«
Die junge Frau lachte. »Wenn du es sagst, wird es wohl stimmen.«
»Dann erzähle mal, was du herausgefunden hast.«
»Das verwendete Produkt heißt ›Erdal Dosencreme schwarz‹.«
»Ach du meine Güte. So einfach wollte es uns der Täter nun doch nicht machen. Wäre auch zu schön gewesen.«
»Ja, da hast du leider recht.«
»Er hat also ein schnödes Massenprodukt verwendet, dass es in jedem Supermarkt und Drogerie zu kaufen gibt.«
»Ja«, sie warf nebenbei einen kurzen Blick auf das Computerdisplay, auf dem, seit Stunden, AFIS lief. Aber das Programm war stehen geblieben und zeigte ein Ergebnis an. Aufgeregt sagte sie zu ihrem Gesprächspartner: »Ich glaube, ich habe einen Treffer.«
»Was hast du?«, fragte er verwundert und als sie nicht sofort antwortete, meinte er ungeduldig: »Manuela, sprich mit mir.«
Die Forensikerin hatte mittlerweile einen Blick auf die Anzeige geworfen und den Text überflogen. Sie war auffällig blass geworden, bis sie schließlich zum wartenden Luis Alonso sagte: »Das Ergebnis hat es in sich. Am besten, du kommst ganz schnell in mein Labor.«
»Warum?« Er verstand noch immer nicht.
»Ich habe nicht nur einen Treffer, sondern insgesamt 6 und die europaweit verteilt.«
»Das heißt, überall wurde der gleiche Daumenabdruck gesichert, sowie dieselbe Schuhcreme eingesetzt.«
»So sieht es jedenfalls aus.«
Nach einem kurzen Zögern platzte es schließlich aus dem Kriminalbeamten heraus: »Verdammt, wir haben einen Serienmörder auf der Insel herumzulaufen und das gefällt mir überhaupt nicht.«
»Kommst du jetzt zu mir oder nicht?«
»Bin schon unterwegs«, rief er laut und unterbrach die Verbindung.
Vorzeichen
23.00 Uhr, Observatorio del Teide
Die berühmte Sternwarte Teneriffas befand sich auf dem Berg Izaña auf rund 2400m Meereshöhe. Sie gab es bereits seit einigen Jahrhunderten und wurde von Augustinermönchen um 1701/02 gegründet.
Die ausgezeichneten Bedingungen für die Beobachtung des nächtlichen Sternenhimmels hatten sich allerdings im Laufe der Zeit deutlich verschlechtert. Die stetig wachsende Bevölkerung und die damit verbundene fortschreitende Elektrifizierung der Insel waren für astronomischen Forschungen in der Nacht nicht sehr förderlich.
Deshalb spezialisierte sich das Teide-Observatorium auf die Sonnenbeobachtung in einem Netzwerk mit zahlreichen weiteren Observatorien, die sich weltweit auf sämtlichen Kontinenten verteilten. Nur so war es überhaupt möglich, den Heimatstern rund um die Uhr zu überwachen. Das war beispielsweise für die rechtzeitige Warnung vor Sonnenstürme außerordentlich wichtig, weil diese je nach Stärke eine erhebliche Gefahr für Satelliten, Stromnetze und Kommunikationssysteme darstellten. So kam es wegen der Stürme bereits mehrfach zu sogenannten ›Blackouts‹ in den stromführenden Netzen, was letztlich zu großflächigen Stromausfällen führte.
GREGOR war mit einem 1,5-Meter-Hauptspiegel, das größte Sonnenteleskop. Es wurde hauptsächlich zur Untersuchung kleinerer Strukturen auf der Sonne eingesetzt und war in der Lage Gebilde auf der Oberfläche ab 70 km Durchmesser detailliert darzustellen.
2006 installierte das Leibniz-Instituts für Astrophysik Potsdam (AIP) ein Doppelteleskop mit zwei 1,2-Meter-Hauptspiegel für die Beobachtung magnetisch aktiver Sterne. Diese STELLA-Teleskope wurden autonom, mithilfe von ›Künstlicher Intelligenz‹ (KI), gesteuert.
Der große Vorteil der eingesetzten Technik war, dass eine persönliche Anwesenheit von Wissenschaftlern vor Ort nicht mehr nötig war, um das System zu beaufsichtigen. Sämtliche Steuerungsaufgaben führte im Hintergrund eine spezielle automatisierte Software durch. Ihre Aufgaben beim ordnungsgemäßen Einsatz der Teleskope waren dabei sehr vielfältig. Eine Wetterstation überprüfte ständig Temperatur, Niederschlag, Luftfeuchte und Windgeschwindigkeit, während eine Kamera den gesamten sichtbaren Himmel nach Wolken absuchte. Erst nachdem alle Ergebnisse vorlagen und die Nacht langsam den Tag ablöste, wurde endgültig entschieden, ob sich das Dach der Sternwarte für Beobachtungen öffnete oder nicht. Sollten die Wetterbedingungen tatsächlich akzeptabel sein, übernahm die eingesetzte ›Künstliche Intelligenz‹ die gesamte Steuerung der Teleskope, beginnend von der exakten Positionierung und Fokussierung der Instrumente, bis einschließlich der Nachführkontrolle.
15 Minuten später, Leibniz-Institut für Astrophysik
Die Stille war fast mit den Händen zu greifen. Nur manchmal wurde die Ruhe durch das leise Klicken auf einer Tastatur oder einer Computermaus unterbrochen. Heute hatten insgesamt drei Wissenschaftler, zwei angehende Doktoranden für Astrophysik sowie ein erfahrener Wartungstechniker Dienst. Konzentriert beobachteten die Forscher auf den Displays, die auf jedem Schreibtisch standen, eine Abbildung eines offenen Sternhaufens. Die Aufnahme war sehr detailliert, sodass die Sterne, die unterschiedliche Farbnuancen besaßen, einzeln dargestellt wurden. Wenig später vergrößerte einer der Astronomen den Bildausschnitt noch weiter, bis schließlich in der Mitte des Bildschirms eine winzige Scheibe zu sehen war, die in einem rötlichen Licht strahlte.
Es handelte sich um einen Überriesen vom Typ M mit 20-fache Größe der Sonne und einer Temperatur von 2295 K (2021,85 °C). Das war für Sternenverhältnisse ein sehr niedriger Wert. Allerdings war seit Jahren genau dieser Sternentyp ein vorrangiges Forschungsobjekt der Wissenschaftler. Das lag vor allem daran, dass bereits zahlreiche Sterne vom Spektraltyp M entdeckt wurden, die Planetensysteme besaßen. Durch die geringe Oberflächentemperatur war zumindest theoretisch die Chance gegeben, dass sich Leben auf einem Planeten herausgebildet hatte, vorausgesetzt er umkreiste seinen Heimatstern auf einer nahen Umlaufbahn.
Genau das wollten die Wissenschaftler des Leibniz-Instituts heute Nacht erforschen. Leider wurde ihre Hoffnung bisher nicht erfüllt, ein weiteres Planetensystem zu entdecken. Allerdings musste man bei astronomischen Beobachtungen schon immer eine Menge Geduld aufbringen und häufig hatte es viele Jahrzehnte gedauert, bis endlich ein abschließendes Ergebnis vorlag.
Die Wissenschaftler arbeiteten hochkonzentriert und werteten, jeder für sich, zahlreiche unterschiedliche Daten aus. Nur manchmal rollte einer von ihnen mit dem Bürostuhl zu einem Kollegen hinüber, um sich kurz auszutauschen. Aber das dauerte meistens nicht allzu lange, dann kehrte er wieder zu seinem Arbeitsplatz zurück. Es war abgesprochen, dass sie sich zur Halbzeit ihrer Schicht zusammensetzen wollten, um die neuesten Beobachtungen zu erörtern und die weiteren Schritte festzulegen. Doch bis zur Besprechung waren es noch rund 2 Stunden hin.
Genau in diesem Moment wurden plötzlich die Displays schwarz.
Professor Dr. Markus Lewerenz, der Leiter der Forschungsgruppe, drehte sich sofort zum Wartungstechniker um, der die Funktionsfähigkeit der Teleskope über 3 Monitore überwachte. »Was ist los, Alex? Liegt eine technische Störung vor?«
Der Angesprochene schüttelte den Kopf und erwiderte: »Nein, das Dach der Sternwarte schließt sich gerade automatisch.«
»Warum?«
»Kann ich derzeit noch nicht genau sagen, Professor. Eine Funktionsstörung liegt jedenfalls laut Anzeige nicht vor.«
»Dann bleiben ja nicht mehr allzu viele Möglichkeiten, entweder der Wind ist zu stark oder es zieht Bewölkung auf. Das kommt ja in dieser Jahreszeit relativ häufig vor. Welche Ursache ist es denn nun?«, fragte er ungeduldig.
»Keine von beiden.«
Lewerenz sah seinen Mitarbeiter verwundert an. »Dann verraten Sie mir mal den Grund.«
»Es findet gerade ein Erdbeben statt, Professor.«
Der Forscher erwiderte überrascht: »Oh, das hatten wir lange nicht mehr und welche Stärke?«
»Laut Richterskala 4,5. Ich werde den angezeigten Wert sicherheitshalber auf der Webseite der US-Erdbebenwarte USGS überprüfen.«
Nach einigen Augenblicke meldete sich Alexander Boll endlich wieder zurück: »So, die Magnitude hat sich sogar noch leicht erhöht auf 4,7. Das Epizentrum befand sich unterhalb der Caldera in circa 8 km Tiefe. Das Beben selbst dauerte nur knapp 20 Sekunden.«
»Was heißt das nun für unsere Arbeit?«
»Falls es in der nächsten Zeit zu keinen größeren Nachbeben kommt, wird sich das Dach der Sternwarte bald wieder öffnen.«
»Hoffen wir es«, brummte der Wissenschaftler etwas unzufrieden. Schließlich drehte er sich zu seinem Computerterminal um, um kurz darauf einige Daten einzugeben.
09.00 Uhr, Polizeipräsidium in Santa Cruz
Das nächtliche Erdbeben spielte während der Beratung der Kriminalpolizei nur eine völlig untergeordnete Rolle. Das hing vor allem natürlich damit zusammen, dass der Mord an Kurt Wegner, das siebte Verbrechen eines noch unbekannten Serientäters war.
»Guten Morgen«, begrüßte Carlos Sanchez Garcia mit ernster Miene, die vollzählig versammelten Mitarbeiter der Abteilung. »Wie ist der aktuelle Stand der Ermittlungen?« Er blickte seinen Stellvertreter nachdenklich an.
Luis Alonso räusperte sich kurz, ehe er anfing, mit leiser Stimme zu sprechen: »Wir haben es mit insgesamt 7 Opfern zu tun, die alle aus Deutschland stammen. Im Einzelnen sind das: Kurt Wegner, 72 Jahre, wohnhaft in Stuttgart; Anneliese Möller, 66 Jahre alt aus Berlin; Ralf Vogelsang, 80 Jahre alt aus Cottbus; Mandy Adams, 63 Jahre alt aus Dresden; Jens Nowotny, 70 Jahre alt aus Hamburg; Joachim Müller, 66 Jahre alt aus München und zu guter Letzt Bertram Vogel, 76 Jahre alt aus Schwerin. Sämtliche Opfer weisen die gleichen Tatmerkmale auf. Die Tötung erfolgte jeweils mit einem einzigen Stich direkt ins Herz der Geschädigten, sodass innerhalb kurzer Zeit der Tod durch inneres Verbluten eintrat. Das zweite Kennzeichen ist der auffällige Daumenabdruck auf der Stirn der Leichen. Ein Vergleich hat ergeben, dass es sich immer um denselben Fingerabdruck handelte und die dabei eingesetzte Schuhcreme stets vom gleichen Hersteller stammte.«
»Welche Marke wurde genutzt?«
Anstelle von Alonso beantwortete Manuela Torres die Frage: »Das Produkt selbst heißt ›Erdal Dosencreme schwarz‹ und wird jedes Jahr millionenfach hergestellt und weltweit verkauft.«
»Hm«, Garcia fasste sich kurz an sein Kinn, »so leicht will es uns der Täter wohl nicht machen. Luisa, wie weit seid ihr mit den Befragungen in Tatortnähe?«
Navarro war die jüngste Mitarbeiterin in der Mordkommission. »Zurzeit sind mehrere Kollegen der Policía Canaria in der Gegend unterwegs und interviewen sämtliche Anwohner. Mal sehen, was dabei herauskommt.«
Carlos nickte. »Gut. Denke bitte daran, dass heute Abend direkt im Park weitere Befragungen durchgeführt werden müssen.«
»Ist bereits organisiert, Boss.«
»Ausgezeichnet. Ich persönlich vermute, dass die jungen Leute, die als Zeugen infrage kommen könnten, erst nach Einbruch der Nacht im Park anzutreffen sind.«
»Ja, das sehe ich genauso.«
»Was wissen wir über die einzelnen Tatorte?«
»Sie befinden sich in Deutschland, Holland, im Vereinigten Königreich, in der Schweiz und in Spanien.«
»Wo genau bei uns?«
»In Madrid, auf Mallorca, und zu guter Letzt auf Teneriffa. Die Angriffe selbst fanden überwiegend im Freien statt, meistens in größeren Parkanlagen.«
»Und die Übrigen?«
»Das war nur einer und der wurde in einem Hotelzimmer verübt.«
»Hast du dich bereits mit den örtlichen Behörden in Verbindung gesetzt?« Garcia blickte seinen Kollegen neugierig an.
»Selbstverständlich. Sämtliche Institutionen stellen uns schnellstmöglich alle ihnen vorliegenden Informationen zur Verfügung. Außerdem hat uns das deutsche Bundeskriminalamt angeboten, umgehend Mitarbeiter zur Unterstützung zu schicken.«
»Der Vorschlag ist gar nicht mal so schlecht. Aber ob wir tatsächlich das Hilfsangebot annehmen, das werde ich vorab lieber mit unseren Vorgesetzten besprechen. Nicht, dass sich noch irgendeiner übergangen fühlt«, erklärte Carlos spöttisch und alle Kollegen im Raum wussten natürlich, was er konkret damit meinte. Nicht die kompetentesten Leute waren in den höheren Positionen bei der Polizei tätig. Sie bremsten eher mit ihrer Unfähigkeit die tägliche Polizeiarbeit mit einem völlig übertriebenen Bürokratismus aus.
»Ach, bevor ich es vergesse«, mischte sich Luisa Navarro ein, »jeder von euch erhält bis zum Mittag sämtliche Informationen in schriftlicher Form.«
Garcia richtete sich auf und streckte sich. »Gibt es sonst noch etwas Wichtiges?« Er blickte seine Kollegen nacheinander an.
Als alle bedauernd den Kopf schüttelten, meinte er schließlich: »Kommen wir nun zur Aufgabenverteilung. Manuela, du wirst die eintreffenden Informationen von den anderen Dienststellen schnellstmöglich auswerten und speziell auf Parallelen zu unserem Fall überprüfen.«
Die erfahrene Forensikerin nickte. »Alles klar.«
An Navarro gerichtet meinte er: »Luisa, du bist mir verantwortlich für die Durchführung der Befragungen in und um das Parkgelände herum. Morgen früh möchte ich den ersten Zwischenbericht auf meinem Schreibtisch haben.«
»Kein Problem«, murmelte die junge Kollegin und machte sich als Gedankenstütze rasch einige Notizen.
»Luis, du wirst eine Aufstellung mit sämtlichen persönlichen Daten der Opfer erstellen. Ich vermute, dass sie in der Vergangenheit irgendeine Beziehung zum Mörder hatten. Aus Langeweile wird er die Leichen nicht speziell gekennzeichnet haben.«
»Wie weit soll ich zurückgehen?« Er blickte seinen Freund und Vorgesetzten neugierig an.
Garcia zögerte kurz, ehe er sagte: »Vorerst bis 1980.« Anschließend klappte er sein ledernes Notizbuch zu, das aufgeschlagen vor ihm lag und erhob sich langsam, ehe er abschließend meinte: »Dann lasst uns die Spiele endlich beginnen.«
»Und hoffentlich zu einem erfolgreichen Ende führen«, ergänzte Manuela leise den Satz.
21.45 Uhr, Parque García Sanabria
Das blutjunge Paar war noch nicht lange zusammen, dafür umso verliebter. Sie hatten es sich auf einer der zahlreichen Holzbänke, die auf beiden Seiten des Hauptweges zum Verweilen einluden, gemütlich gemacht. Sie waren natürlich nicht die Einzigen, denn keiner von den jungen Leuten hatte Lust mit seinem Partner den Abend entweder unter den wachsamen Augen der Eltern oder in einem winzigen Kinderzimmer zu verbringen.
»Ich habe gerade eine Sternschnuppe gesehen«, rief Antonella laut und zeigte hoch zum wolkenlosen Sternenhimmel. Sie hatte es sich auf der Bank liegend bequem gemacht, während ihr Kopf auf dem Schoß ihres Freundes lag, der sacht durch ihr hellblond gefärbtes kurzes Haar strich.
»Dann darfst du dir etwas wünschen!«
»Habe ich bereits. Soll ich es dir verraten?«
Der kaum ältere Jose schüttelte den Kopf, ehe er ihr flüsternd erklärte: »Das musst du für dich behalten, sonst geht es nicht Erfüllung.«
Sie blickte ihn mit großen Augen an. »Glaubst du an diesen Quatsch? Das ist doch nur Aberglauben.«
»Ich bin mir nicht ganz sicher. Außerdem kann ich mir gut vorstellen, was du dir gewünscht hast.«
»So?«
»Na klar, du möchtest, dass ich dir einen Heiratsantrag mache, und zwar so schnell wie möglich.« Er blickte sie verschmitzt an.
Sie richtete sich auf und zeigte ihm entrüstet einen Vogel. »Glaubst du das wirklich?«
Er lachte laut los, ehe er sich vorbeugte und ihr einen Kuss auf die Stirn gab. Dann flüsterte er ihr ins Ohr: »Du bist ziemlich heißblütig. Aber jetzt kannst du dich bitte wieder abregen, denn das war eben nur Spaß.«
Das Mädchen setzte sich aufrecht hin und kuschelte sich an ihn. »Mir ist kalt.«
»Du kleine Frostbeule!« Er drohte ihr schmunzelnd mit dem Finger, ehe er schnell seine Jacke auszog und sie über die Schulter von Antonella legte.
»Danke, lieber Gentleman. Jetzt geht es mir schon viel besser.«
In diesem Moment sahen sie zwei Leute, die aus einem der zahlreichen Nebenwege herauskamen und dann suchend umherblickten. Schließlich zeigte einer von ihnen direkt zum Liebespaar.
Beim Näherkommen entpuppten sie sich als Polizeibeamte, ein älterer Mann und eine wesentlich jüngere Frau.
»Was wollen die denn von uns?«, flüsterte sie aufgeregt.
»Keine Ahnung. Warten wir einfach ab«, entgegnete ihr Freund ruhig.
Wenig später standen die Polizisten direkt vor dem sichtlich überraschten Paar. Der breitschultrige Mann zückte einen Dienstausweis und stellte sich freundlich vor: »Ich bin Enrique Gómez von der Policía Canaria und das«, er zeigte zu seiner lächelnden Kollegin, »ist Filipa Pérez. Dürfen wir Ihnen einigen Fragen stellen?«
Jose nickte. »Klar. Tun Sie sich keinen Zwang an.«
»Sehr schön. Sind Sie öfters hier im Park?«
»Wenn das Wetter es erlaubt, fast jeden Abend.«
»Wie sah es gestern aus?«
»Ja, da waren wir auch hier.«, mischte sich Antonella, die ziemlich genervt wirkte, ein. Plötzlich schlug sie sich lachend an die Stirn und meinte zu den überraschten Beamten: »Es geht um den gestrigen Mord oder?«
Filipa Pérez, die bisher nur zugehört hatte, nickte. »Sie haben völlig recht. Von welchem Zeitpunkt an hielten Sie sich denn hier auf?«
Die beiden jungen Leute sahen sich kurz an, ehe Jose leise meinte: »Ich habe meine Freundin gegen 18.00 Uhr abgeholt und spätestens 30 Minuten später erreichten wir den Park.«
»Okay, wo haben Sie sich die Zeit über aufgehalten? Ich vermute mal, auf dieser Holzbank hier.«
Antonella schüttelte den Kopf und erklärte lachend: »Sie liegen ein wenig falsch, Señor.« Sie zeigte in Richtung eines Seitenweges, der weiter in das Parkgelände hineinführte. Genau am Abzweig zum Hauptweg befand sich ebenfalls eine Bank, die deutlich erkennbar, auch besetzt war. »Dort saßen wir.«
»Wann haben Sie den Park wieder verlassen?«
»Um Mitternacht.«
»Sind Sie sich da sicher?«
»100%ig. Meine Freundin muss immer spätestens um 0.30 Uhr zu Hause sein. Sonst gibt es Ärger.«
Pérez sah die junge Frau verwundert an, ehe sie neugierig fragte: »Darf ich Sie nach Ihrem Alter fragen?«
»Na klar, 23 Jahre.«
»Sie sind doch volljährig und trotzdem bestimmen Ihre Eltern, wann Sie zu Hause sein müssen.«
Statt Antonella beantwortete ihr Freund spöttisch schmunzelnd die Frage: »Sie ist halt Papas Liebling und der ist in ständiger Sorge, um seine einzige Prinzessin. Außerdem traut er mir nicht über den Weg.«
Die Polizistin nickte und erklärte verständnisvoll: »Ja, Väter und Töchter haben meist ein ganz besonderes Verhältnis. Mir ist es in jungen Jahren ähnlich ergangen.«
Ihr Kollege mischte sich abrupt ins Gespräch ein: »Gut, nachdem das geklärt ist, möchte ich gerne wissen, ob Ihnen gestern Abend im Park irgendetwas aufgefallen ist?«
Das Paar sah sich kurz an, ehe Antonella bedauernd meinte: »Es war eigentlich wie immer. Allerdings haben wir auch nicht so genau auf die Umgebung geachtet, denn wir waren eher mit uns beschäftigt.« Sie lächelte scheu.
Enrique Gómez wurde deutlicher. »Okay, sind Ihnen vielleicht irgendwelche Personen aufgefallen, die eigentlich nachts nicht hierhergehören?«
»Sie meinen Spanner oder Pädophile?«
»Nicht nur. Wir haben uns bereits mit einigen Leuten unterhalten und allen sagten aus, dass sich normalerweise ab 19.00 Uhr nur noch die jüngere Generation im Park aufhält.« Der erfahrene Polizeibeamte sah die beiden nacheinander mit ernster Miene an.
»Sie haben recht,« murmelte Jose kaum hörbar.
Filipa Pérez horcht auf und fragte überrascht: »Wie meinen Sie das?«
»An unserer Bank kam mehrfach ein wesentlich älterer Mann vorbei. Es hatte den Anschein, als suchte er etwas.«
»Können Sie ihn näher beschreiben?« Gomez sah ihn hoffnungsvoll an.
Jose überlegte eine Weile. »Die Lichtverhältnisse waren nicht optimal, denn wir saßen im Halbdunkel. Aber genauso wollten wir es ja auch.« Mit einem Seitenblick lächelte er seine Freundin an, die den Blick erwiderte und ihn liebevoll über den Oberarm strich. Schließlich holte er tief Luft und begann zu erzählen: »Ich schätze, er war in den 50ern oder 60ern, schlank und höchstens mittelgroß?«
»Hautfarbe?«
»Weiß, aber etwas gebräunte Haut?«
»Augenfarbe?«
»Konnte ich leider nicht erkennen, Señor.«
»Trug er lange Haare?«
Der junge Mann zögerte, bis er schließlich meinte: »Eher kurz und die Haarfarbe selbst war bereits völlig grau.«
Die Beamtin machte sich rasch einige Notizen, dann sah sie den Augenzeugen nachdenklich an. »Er hatte weder Glatze noch Halbglatze?«
»Nein, auf gar keinen Fall.«
»Wie spät war es, als sie ihn gesehen haben?«
Er schüttelt den Kopf und meinte bedauernd: »Tut mir leid, das kann ich Ihnen nicht genau sagen.«
Enrique Gómez übernahm übergangslos wieder das Gespräch. »War etwas an diesem Abend anders, als sonst?«
Antonella sah ihn verwundert an. »Wie meinen Sie das?«
»Laute Musik, ein Feuerwerk oder ein ohrenbetäubender Knall?«
Das Mädchen richtete sich sofort auf und rief aufgeregt: »Ein Nebelhorn war zu hören und das sogar mehrfach. Ich habe mich richtig erschrocken.«
Ihr Freund schlug sich lachend an die Stirn. »Ich Idiot, das war tatsächlich nicht zu überhören. Ich leide wohl bereits an Alzheimer.«
»Hoffen wir mal nicht, junger Mann. Wann haben sie die unbekannte Person gesehen? Vor oder nach dem Signalton?«
Erneut überlegte Jose eine Weile, bis er schließlich überzeugt sagte: »Beides.«
Filipa Pérez fragte sofort: »Wirklich?«
»Ja, Señora.«
Die Angesprochene lachte herzlich. »Das mit der Anrede war eben ein Schuss ins Blaue oder?« Ehe der junge Mann antworten konnte, erklärte sie schmunzelnd: »Aber Sie haben recht. Sie können mich gerne auch mit Filipa ansprechen.«
»Kommen wir mal lieber zurück zum eigentlichen Thema«, drängte ihr Kollege. »Ich möchte nicht die gesamte Nacht im Park zubringen. Also Jose, wie war das jetzt mit dem Nebelhorn?«
Der junge Mann antwortete sofort: »Der Typ ist vor dem Signalton zweimal hier vorbeigekommen.«
»Alleine?«
»Ja, Señor.«
»Und danach?«
»Da war er in Begleitung eines zweiten Mannes und sie haben dann den Seitenweg da vorne genutzt.« Er zeigte auf den Weg, der in 20m Entfernung noch tiefer in das Parkgelände hineinführte.
»Haben sich die beiden unterhalten?«
»Ja, aber ziemlich leise?«
»Auf Spanisch?«
Er schüttelte den Kopf. »Nein, das war eine sehr harte Aussprache.«
Filipa Pérez lächelte. »Vielleicht so?« Dann wechselte sie von der Landessprache zu einer Fremdsprache und sagte laut: »Ich freue mich, Sie hier im Park zu treffen.«
Jose unterbrach sie sofort. »In dieser Sprache haben sie sich unterhalten.«
»Das war eben deutsch«, erklärte sie leise.
Ihr Kollege übernahm wieder die Befragung. »Die beiden Männer haben also den Weg genutzt?«
»Genau und bevor Sie fragen, das war auch das letzte Mal, dass ich sie gesehen habe.«
»Verstehe, der Weg führt direkt zum Tatort und der Täter wird diesen vermutlich auf der anderen Seite des Parkgeländes wieder verlassen haben«, erklärte der Polizeibeamte mit ernster Miene. »Können Sie den zweiten Mann beschreiben?«
Jose schien sich nicht sicher zu sein. »Es war ziemlich dunkel, aber er war kleiner und schlanker als sein Begleiter.«
»Okay und sein Alter?«
»Er sah aus, wie ein betagter Senior. Sein Haar war ähnlich kurz und ebenfalls schon grau.«
Ein leichtes Lächeln huschte über das Gesicht von Enrique Gómez. »Wir haben es gleich geschafft und dann sind Sie uns bereits wieder los?«
»Das hoffen wir auch«, frotzelte Antonella und man sah ihr an, dass sie es nicht allzu ernst meinte.
»Wie waren die beiden bekleidet?«
»Der erste Typ trug kurze Hosen und ein dunkles T-Shirt ohne auffälligen Aufdruck. Bei den Schuhen möchte ich mich nicht so genau festlegen. Entweder er handelte sich um Sportschuhe oder Clogs.«
»Okay und sein Begleiter?«
Jose lachte. »Der Opa war angezogen wie ein typischer Tourist. Helle kurze Hosen, beige/grün gestreiftes Poloshirt und dazu trug er weiße Tennissocken.«
»Schuhe?«
Er schüttelte bedauernd den Kopf. »Keine Ahnung, Señor. Aber zu diesem Outfit würden nach meiner Meinung orthopädische Sandalen passen.«
Alle schmunzelten, bis schließlich Filipa Pérez sagte: »Ob Sie es glauben oder nicht, genau die hat er auch getragen.«
»Ein typisch deutscher Rentner im Urlaub. Also stimmt dieses Klischee.« Antonella lachte laut los.
Enrique Gómez wollte allmählich zum Schluss kommen. »Haben Sie sonst noch ungewöhnliche Beobachtungen gemacht?« Er sah das junge Paar mit ernster Miene an.
Beide überlegten kurz, ehe sie fast gleichzeitig ihre Köpfe schüttelten.
»Vielen Dank für die ehrlichen Auskünfte!« Er überreichte ihnen seine Visitenkarte und meinte dazu: »Kommen Sie bitte morgen früh ins Polizeipräsidium, damit wir ihre Aussagen protokollieren können. Außerdem erstellen wir mit Ihrer Hilfe auch noch ein Phantombild. Bekommen Sie das hin?«
»Ja, ich werde meinen Chef informieren, dass ich später anfange«, erklärte die junge Frau sofort, während ihr Freund meinte: »Ich lasse einfach die 1. Vorlesung ausfallen.«
»Das ist bestimmt nicht das erste Mal oder?« Die Polizistin sah ihn lächelnd an.
»Kein Kommentar.«
»Vielen Dank und noch einen schönen Abend.« Die beiden Polizeibeamten hoben zum Abschied kurz die Hand, ehe sie gemächlich davongingen.
In diesem Augenblick begann der Erdboden leicht zu zittern, wobei die Erdstöße allmählich immer mehr zunahmen, bis sie sich auf einem hohen Level einpegelten und einige Zeit anhielten. Antonella klammerte sich ängstlich an ihren Freund, während sie flüsterte: »So stark war es noch nie?«
Dann beobachtete sie konsterniert, dass die beiden Polizeibeamten, wegen der wellenförmigen Bodenbewegungen stürzten. Sicherheitshalber blieben sie gleich auf dem Boden sitzen und warteten das Ende des Erdbebens ab.
20 Sekunden später war es endlich soweit, die Erdstöße nahm rasch ab und waren schließlich nicht mehr wahrzunehmen.
Filipa Pérez und Enrique Gómez hatte sich währenddessen bereits wieder erhoben und klopften sich den Staub von der Uniformen ab.
Dann drehte sich der stämmige Polizist zum jungen Paar um und rief ihnen laut zu: »Alles in Ordnung?«
»Ja, Señor.«
Er nickte und erklärte lachend: »Wir leben halt auf einer Vulkaninsel. Da kommt so etwas manchmal vor. Bis morgen.« Er hob nochmals zum Abschied den Arm hoch, ehe er gemeinsam mit seiner Kollegin zum Ausgang des Parkgeländes ging.
»Aber nicht allen ist das Erdbeben gut bekommen«, flüsterte Antonella leise.
»Wie meinst du das?« Er sah sie verwundert an.
Sie zeigte wortlos in die entgegengesetzte Richtung.
Jose drehte sich neugierig um und dann sah er, was sie meinte. Eine der verschnörkelten Straßenlaternen hatte sich beträchtlich zur Seite geneigt, ähnlich wie der berühmte ›Schiefe Turm von Pisa‹.
1 Stunde später, Instituto Geográfico Naciona
Zum IGN, dessen Hauptquartier sich in der spanischen Hauptstadt befand, meldeten seismische Messstellen, die über das gesamte Staatsgebiet verteilt lagen, sämtliche Erbeben, die aufgezeichnet wurden. Dabei spielte die Stärke der Erschütterungen nur eine ungeordnete Rolle.
Eine 10 m² große interaktive Tafel nahm fast die komplette Vorderfront des kleinen Saales ein, in dem Wissenschaftler im Schichtsystem, sämtliche seismische und vulkanische Aktivitäten des Landes, aber auch weltweit, überwachten. Seit einiger Zeit leuchtete direkt über Teneriffa rhythmisch ein hellblauer Stern auf und kennzeichnete die exakte Lage des letzten Erdbebens.
Das fand vor knapp einer Stunde statt und hatte die Stärke von 6,0 auf der Richterskala. Die Aktivität selbst war derzeit jedoch längst nicht beendet, denn weitere Nachbeben mit einer ständig abnehmenden Magnitude erschütterten, die kanarische Insel, nahmen aber glücklicherweise rasch ab.
»Das gefällt mir ganz und gar nicht«, brummte Hugo Alvarez mehr zu sich und öffnete einen weiteren TAB im Browser. Eine Aufnahme, die Teneriffa aus der Vogelperspektive zeigte, erschien auf dem Display. Sofort griff er nach seiner Computermaus und vergrößerte das Bild so lange, bis nur noch der Nationalpark ›Parque Nacional del Teide zu sehen war. Er umfasste im Inselinneren, die gesamten ›Las Cañadas‹, an deren nördlichen Rand der Nationalstolz der Spanier und Kanaren aufragte, der 3718 m hohe Vulkan Pico del Teide.
Aber die Aufmerksamkeit des Geologen galt in diesem Moment nicht dem berühmten Berg, sondern 2 roten Kreisen, die weiter südlich nahe dem Hotel ›Parador‹ und somit mitten in der Caldera zu erkennen waren.
»Das seismische Signal wandert in Richtung Nordwesten«, meinte er schließlich laut und winkte einen Kollegen energisch heran.
Pedro Diaz stand sofort auf und kam zu ihm herüber: »Was liegt an, Hugo?«
»Schau dir das bitte mal an.« Er zeigte auf die Detailkarte der Caldera.
Der gebürtige Katalane beugte sich neugierig vor, ehe er nickte, und fragte: »In welcher Tiefe befand sich das Hypozentrum?«
Während sein Kollege einen weiteren TAB im Browser öffnete, holte er sich schnell einen Drehstuhl vom Nachbartisch und setzte sich neben ihn.
»6,5 km unterhalb des Epizentrums.«
»Das heißt, der Erdbebenherd befand sich 1,5 km höher als beim gestrigen Erdbeben. Er wandert weiter und das ist meist nicht gut.«
»Das sehe ich genauso. Ich vermute, tektonische Verschiebungen mit plötzlichem Spannungsabbau kommen diesmal als Ursache nicht infrage.«
Pedro sah ihn kurz von der Seite an. »Wie sieht es bei den Gasemissionen im Gipfelbereich aus?«
»Die habe ich vorhin gerade gecheckt.« Alvarez überreichte dem Kollegen eine grafische Darstellung, die er vor wenigen Minuten ausgedruckt hatte.
Diaz überflog die Zahlen und die zugrunde gelegten Diagramme, ehe er das Blatt wieder zurückgab. »Die Temperatur hat sich um 5,6 °C auf 276,3°C erhöht.«
Sein Kollege nickte. »Hast du dir die Gaszusammensetzung näher angesehen?«
»Ja und die Zunahme von Schwefeldioxid macht mir echt Sorgen!«
»Sehe ich genauso. Der Ausstoß von 360 kg SO2 ist schon außergewöhnlich.«
»Das sind 150 kg mehr, als noch vor 24 Stunden.«
»Nur, um mal einen Vergleich zu haben, der isländische Vulkan Bardarbunga hat auf dem Höhepunkt seiner Eruption 2014 nur die doppelte Menge ausgestoßen.«
»Der Aufenthalt im Gipfelbereich ist derzeit, ohne Gasmaske, lebensgefährlich. Das sollten wir der Inselverwaltung umgehend mitteilen. Wie viele Correlation Spectrometer haben wir zurzeit auf dem Vulkan installiert.«
»Insgesamt 4.«
»Ich glaube, das reicht bei Weitem nicht mehr aus und es ist dringend erforderlich, vor Ort Gasproben zu entnehmen.«
Die beiden Geologen sahen sich nachdenklich an, ehe Hugo Alvarez murmelte: »Für mich deuten die Erdbeben und die Änderung der Gaszusammensetzung darauf hin, dass derzeit eine Magmasäule aus der tieferliegenden Magmakammer aufsteigt.«
»Hm, damit liegst du vermutlich nicht verkehrt, wobei noch nicht eindeutig klar ist, ob sie die Oberfläche überhaupt erreicht.«
»Du hast recht, das ist einer der Unsicherheitsfaktoren und ich frage mich gerade, ob wir zu diesem Zeitpunkt bereits schlafende Hunde wecken sollten?«
Pedro Diaz lachte laut, sodass die übrigen Kollegen, die im kleinen Saal des IGN derzeit Dienst taten, verwundert zu ihm hinüberschauten und die Köpfe schüttelten. Nachdem er sich wieder beruhigt hatte, flüsterte er Alvarez zu: »Es gibt für uns doch nur 2 Möglichkeiten. Entweder wir sind die Helden oder die Deppen der Nation.«
»Toll, wie du meiner ernsthaften Frage ausgewichen bist. Bekomme ich wenigstens noch eine vernünftige Antwort?« Diaz sah den Kollegen mit ernster Miene an.
»Die Chance das der Teide ausbricht, liegt für mich derzeit bei 50:50.«
»Okay und was wollen wir jetzt machen?«
Pedro überlegte kurz, ehe er lächelnd meinte: »Wozu sind eigentlich Vorgesetzte da?«
»Du meinst, ich soll die Chefin informieren.«
Sein Kollege klopfte ihm aufmunternd auf die Schulter. »Früher oder später musst du das sowieso. Also hole sie aus dem Bett und dann darf sie selbst entscheiden, wie es weitergeht.«
»Manchmal hast du richtig tolle Ideen, Pedro.«
»Ich habe immer super Vorschläge. Das weißt du doch«, konterte der Katalane gut gelaunt.
»Nicht gleich übertreiben«, erwiderte Hugo Alvarez kopfschüttelnd und drohte ihm schmunzelnd mit dem rechten Zeigefinger. Anschließend nahm er sein Handy vom Schreibtisch, um die Leiterin anzurufen.
10.00 Uhr, Santa Cruz
Die Gerüchteküche schwappte durch die Straßen und Gassen der Inselhauptstadt, nachdem die Verwaltung offiziell bekannt gegeben hatte, dass die Besteigung des Teide bis auf Weiteres untersagt war. Als Begründung wurde mitgeteilt, dass die Wetterverhältnisse einen ungefährlichen Aufstieg derzeit nicht zuließen. Besonders ärgerlich war das Verbot für diejenigen Wanderer, die eine Genehmigung für die Gipfelbesteigung erhalten hatten und die nun hinfällig war.
Natürlich war es nicht das erste Mal, dass der Vulkan selbst oder sogar der gesamte Nationalpark, der große Teile der Las Canadas umfasste, für den Publikumsverkehr gesperrt wurde. Das lag größtenteils an den vorherrschenden Wetterbedingungen, beispielsweise Schneefall und Sturm innerhalb der Caldera. Allerdings herrschte seit einigen Tagen auf Teneriffa Traumwetter, bei 25°C und Windstille.
Über das Warum der Maßnahme machten sich die Kriminalisten des Teams von Hauptkommissar Carlos Sanchez Garcia keinerlei Gedanken. Sie hatten es gerade mit einer Mordserie zu tun, dessen letztes Opfer vor Kurzem auf der Insel entdeckt wurde.
Der Leiter eröffnete in diesem Augenblick die Teamberatung: »Guten Morgen, allerseits. Vorab möchte ich euch mitteilen, dass die Kollegen von der Policia Nacional Filipa Pérez und Enrique Gómez ab sofort zu unserem Team gehören.« Er nickte den neuen Mitgliedern freundlich zu, ehe er fortfuhr: »Den Beiden haben wir es vor allem zu verdanken, dass uns jetzt ein detailliertes Phantombild des mutmaßlichen Verdächtigen vorliegt.« Rasch verteilte er das Bild unter den Anwesenden.
Schweigend betrachteten die Polizisten die Aufnahme, bis schließlich Luisa Navarro meinte: »Der Täter scheint wesentlich jünger, als die Opfer zu sein.«
Manuela Torres nickte. »Du hast recht, ich tippe auf Mitte 50. Ansonsten wirkt er auf mich sehr gepflegt, wie der nette Onkel von nebenan, der keiner Fliege etwas zuleide tun kann.«
Luis Alonso erwiderte kurz angebunden: »Ja, mehr Schein, als sein.«
Carlos sah seinen Stellvertreter rasch von der Seite an, ehe er an die Runde gewandt meinte: »Der Verdächtige auf diesem Phantombild wurde inklusive einer detaillierten Personenbeschreibung bereits zur Fahndung ausgeschrieben. Aber das ist ja noch längst nicht alles.« Er blickte mit nachdenklicher Miene die neuen Kollegen direkt an, ehe er anwies: »Eure Aufgabe wird es sein, schnellstmöglich Fahndungsplakate an sämtliche Hotels, Vermieter von Ferienwohnungen, Taxis, Mietwagenfirmen und die beiden Flughäfen zu verteilen und gleichzeitig natürlich Befragungen durchzuführen. Vielleicht geht uns der Täter ja auf diese Weise schnell ins Netz.« Das sollte wohl optimistisch klingen, allerdings drückte sein Gesichtsausdruck etwas anderes aus.
Filipa Pérez meldete sich zaghaft zu Wort.
»Bitte.«
»Das schaffen wir aber nicht alleine, Carlos.«
Der Angesprochene schmunzelte. »Keine Sorge, ihr bekommt ausreichend Verstärkung von der Policia Nacional. Ich habe mich vorhin mit dem Polizeipräsidenten unterhalten und er wird uns 15 Beamte speziell für diese Aufgabe zur Verfügung stellen. Ihr seid vor allem für die Organisation und die Koordination der Maßnahme verantwortlich. Ich möchte spätestens jeden Morgen einen Zwischenbericht auf meinem Schreibtisch haben. Bekommt ihr das hin?«
Pérez und Gómez nickten sofort und Enrique meinte lächelnd: »Kein Problem, Boss.«
»Gut. Wie sieht es bei dir aus, Luis? Hat dir das deutsche Bundeskriminalamt (BKA) bereits Unterlagen geschickt?«
Sein Stellvertreter bestätigte: »Ja, mir wurden heute Morgen insgesamt 6 GB Daten per Mail zugesandt.«
»Oh, das klingt nach sehr viel!«
»Was du nicht sagst«, erwiderte er spöttisch. »Um ehrlich zu sein, alleine schaffe ich es nicht, diese Masse an Informationen innerhalb eines kurzen Zeitraumes durchzusehen.«
Carlos lächelte. »Keine Sorge, Luisa wird dir tatkräftig unter die Arme greifen und außerdem treffen heute Abend zwei Kollegen vom BKA mit einem Linienflug bei uns ein.«
»Oh, das klingt gut. Du hast dich also bereits mit dem Boss darüber unterhalten?« Alonso sah zufrieden aus.
»Natürlich. Wo du vermutlich mit dem Morgenkaffee in der Hand erst langsam wach wurdest, saß ich bei unserem Chef schon längst auf dem Schoß.«
Alle lachten laut los und wer weiß, was für Bilder gerade in ihren Köpfen entstanden. Nachdem wieder Ruhe eingekehrt war, fragte Luis skeptisch: »Können die Deutschen wenigstens ein wenig spanisch, denn meine Deutschkenntnisse sind arg schlecht oder eher nicht vorhanden.«
»Keine Sorge, sie sprechen neben Englisch, auch unsere Sprache fließend.«
»Das klingt gut. Dann brauche ich ja den Google-Translater nicht zu nutzen«, erklärte er spitzbübisch.
»Kannst du uns schon etwas zu den Informationen des BKA sagen.«
Luis nickte: »Na klar, die Deutschen haben freundlicherweise eine kurze Zusammenfassung mitgeschickt.«
»Bringt sie uns irgendwie voran?«
»Nicht wirklich, aber zumindest gibt es eine Gemeinsamkeit bei sämtlichen Opfern. Sie stammen alle aus Ostdeutschland, allerdings nicht aus der gleichen Stadt.«
Manuela Torres hob kurz die Hand, ehe sie meinte: »Wann lebten sie denn allesamt im östlichen Teil von Deutschland?«
»Da muss man sehr weit zurückgehen.«
»Geht es vielleicht ein wenig genauer, Luis?«, fragte die Forensikerin spöttisch.
»Ende 1989.«
»Das heißt, sie haben alle in der DDR gelebt und nachdem die Grenze geöffnet wurde, sind einige nach Westdeutschland übergesiedelt.«
»Genau, das erfolgte bis Mitte der 1990er Jahre.«
»Aber zumindest ein Teil wohnte weiter in Ostdeutschland.«
»Ja, das stimmt. Das BKA vermutet deshalb, das sich Täter und Opfer noch aus DDR Zeiten kannten.«
Erregt mischte sich Luisa Navarro in die Diskussion ein: »Es muss damals etwas vorgefallen sein, das sämtliche Protagonisten auf tragische Weise miteinander verbunden hat.«
Alonso nickte. »Ja, davon gehen die deutschen Ermittler derzeit aus.«
»Das heißt, wenn wir dieses Ereignis zeitlich eingrenzen können, dann finden wir auch den Täter.«
»Ja, das ist allerdings leichter gesagt, als getan«, schränkte der erfahrene Kriminalist achselzuckend ein, »denn ansonsten hätte ich keine 6 GB an Daten erhalten.«
Luisa sah ihn verwundert an: »Wo liegt überhaupt das Hauptproblem der deutschen Kollegen?«
»Sie konnten bisher keinerlei Beziehungen zwischen den einzelnen Opfern ermitteln, weil es sie vermutlich gar nicht gab.«
»Okay und was sagen die Profiler des BKA dazu?«, meldete sich Carlos gähnend zu Wort, der inzwischen einige Strichmännchen zu Papier gebracht hatte, anstatt sich Stichpunkte zu machen. Er mochte keine eintönigen Dienstberatungen mit ermüdenden Diskussionen, die letztlich nichts brachten.
»Die vermuten genau das Gegenteil. Bei den meisten Serientäter, die nach der Festnahme ausführlich befragt wurden, gab es häufig einen Zusammenhang zwischen den einzelnen Opfern. Mal war es das Aussehen, das den Delinquenten an die verhasste Mutter oder den alkoholkranken und gewalttätigen Vater erinnert hat. Ein anderer Mörder wurde von gleichaltrigen Jugendlichen gehänselt, erniedrigt und vor den Mädchen lächerlich gemacht. Manchmal wurde auch nur die Liebe des Täters nicht erwidert. Gründe gab es viele und einer von ihnen war letztlich der Auslöser für die grausamen Straftaten.«
»Zusammengefasst, unsere Kollegen in Deutschland stecken mit ihren Ermittlungen in einer Sackgasse«, erklärte Carlos, während er ein weiteres Männchen, diesmal sogar mit Hut zeichnete.
»Ja, so kann man das auch ausdrücken.«
»Welche konkreten Probleme gab es denn?«, fragte Luisa verwundert, ehe sie kurz auf die Malkünste von Garcia blickte und schmunzelnd feststellte: »Ein zweiter Leonardo da Vinci wirst du aber nicht.«
Luis Alonso überflog inzwischen seine Notizen, ehe er bedauernd meinte: »Leider geht aus der Zusammenfassung nicht viel hervor. Allerdings konnte bereits ermittelt werden, dass es zwischen den Opfern keinerlei verwandtschaftliche Beziehungen gab. Die deutschen Kollegen sind sich außerdem ziemlich sicher, dass sie sich untereinander überhaupt nicht kannten.«
»Wo genau befindet sich nur der berühmte Gordische Knoten, den wir durchschlagen müssen?«, murmelte Enrique Gómez mehr zu sich.
Aber die Kollegen hatten es trotzdem gehört und nickten ihm schweigend zu.
»Das ist die große Frage und ob wir den überhaupt auf unserer Insel finden, ist ziemlich fraglich«, erklärte Carlos mit nachdenklicher Miene.
»Ich kann mir gut vorstellen, dass der Täter Teneriffa längst wieder verlassen hat und wir haben damit einen unaufgeklärten Mord mehr«, erwiderte Manuela Torres frustriert.
»Abwarten. Nicht gleich die Flinte ins Korn werfen«, beruhigte der Hauptkommissar die Kollegin. Dann wandte er sich erneut an seinen Stellvertreter: »Gibt es sonst etwas Wichtiges?«
Luis überlegte eine Weile, ehe er zurückhaltend meinte: »Um noch einmal auf die Beziehungen der Opfer untereinander zurückzukommen. Ihr Alter liegt zwischen 63 und 80 Jahren, das heißt, einige waren bereits in Rente gegangen und die anderen standen kurz davor. Der Täter war laut Aussagen der Augenzeugen ein Mittfünfziger, also wesentlich jünger.«
»Und weiter?«, fragte Carlos provozierend.
»Aufgrund der unterschiedlichen Anzahl von Berufsjahren könnten Probleme zwischen Vorgesetzten und Angestellten vorgelegen haben.«
»Hast du für diese Aussage bereits einen Beweis gefunden?« Luisa blickte ihn skeptisch an.
Ihr Kollege hob entschuldigend die Hände hoch. »Das war jetzt nur eine laut gedachte Theorie von mir. Näheres kann ich vermutlich erst sagen, wenn ich gemeinsam mit den Deutschen die vorliegenden Informationen durchgearbeitet habe.«
Carlos nickte zufrieden. »Auf jeden Fall ist das ein interessanter Gedanke von dir, Luis. Vielleicht gibt es tatsächlich Bezugspunkte, die bisher übersehen wurden. Ich denke da beispielsweise an Kindergarten, Schule, Studium oder Berufsleben.«
»Du vermutest also, nur weil eine Kindergärtnerin einem Kind das Buddeln im Sand verboten hat, bringt er sie jetzt aus Rache um«, erklärte Enrique mit ernster Miene, aber seine Augen lachten dabei.
Carlos tippte sich schmunzelnd an die Stirn und konterte: »Nicht, dass ihr mir sämtliche Kindergärtnerinnen und Lehrer der Insel anschleppt und unter Polizeischutz stellen wollt.«
Alle fingen sofort laut an zu lachen.
Nachdem sich die Anwesenden wieder beruhigt hatten, fragte der Hauptkommissar, direkt an die Runde gewandt: »Gibt es sonst noch etwas Relevantes. Ich will die Beratung nicht unnötig ausdehnen.«
Manuela Torres meldete sich sofort und meinte zu ihrem Vorgesetzten: »Wenn du nichts dagegen hast, möchte ich kurz ein paar Worte zu den aktuellen Untersuchungsergebnissen sagen.«
Garcia nickte und murmelte: »Selbstverständlich.«
»Danke. DNA und Daumenabdruck stimmen bei sämtlichen Tatorten überein. Leider gibt es in keiner der Datenbanken weltweit einen Treffer, nicht mal beim FBI.«
»Also trat er bisher überall als unbescholtener Bürger auf?«
»Ja, das ist bei Serientätern geradezu typisch. Viele führen ein Doppelleben zwischen Dr. Jekyll und Mr. Hyde. Deshalb sind sie ja auch so schwer zu fassen.«
»Ein weiteres Problem ist, das nach deutschem Recht nur zur Durchführung des Strafverfahrens oder des Erkennungsdienstes Lichtbilder aufgenommen, sowie DNA, Fingerabdrücke, Messungen und ähnliche Maßnahmen beim Beschuldigten vorgenommen werden dürfen«, erklärte Alonso mit nachdenklicher Miene.
»Letztlich kann er trotzdem strafrechtlich längst auffällig geworden sein.«
»Wie meinst du das konkret?« Die Forensikerin sah Filipa Pérez verwundert an.
»Wenn ich beispielsweise bei ›Rot‹ gefahren bin, erhalte ich ein Fahrverbot und eine Ordnungsstrafe, aber die DNA und Fingerabdrücke brauche ich nicht gleich abzugeben.«
»Da hast du natürlich recht.«
»Wie sieht es eigentlich mit der Tatwaffe aus. Bist du ein Stückchen weitergekommen?«
»Ich habe mich nochmals mit Marta zusammengesetzt und wir sind der Auffassung, dass es sich um ein militärisches Kampfmesser gehandelt hat.«
»Eine Idee, wer der Hersteller sein könnte?«
»Es gibt so viele Anbieter, es wäre schön, wenn wir die Tatwaffe finden. Erst dann ist auch eine Identifizierung möglich.«
Luis hob kurz die Hand. »Die Deutschen vermuten übrigens, dass bei den Straftaten ein Bajonett der russischen AK-47 eingesetzt wurde.«
Carlos zog überraschend die Augenbrauen hoch und murmelte nur: »Oh.«
Bevor er etwas sagen konnte, kam ihm Manuela Torres bereits zuvor. »Das Messer steht mit auf unserer Liste.«
Der Hauptkommissar lächelte freundlich. »Na, dann weißt du ja, was du zu tun hast.«
Gerade, als er die Beratung endgültig beenden wollte, begann der Boden zu schwanken und die Erdstöße wurden sekündlich immer stärker.
Luisa Navarro reagierte als Erste und brüllte: »Alle sofort unter die Tische.«
Ihre Anweisung kam keinen Augenblick zu früh, denn mehrere größere Putzflächen lösten sich von der Stuckdecke des altehrwürdigen Gebäudes und stürzten krachend auf die Konferenztische, wobei sie jede Menge Staub aufwirbelten.
Geschockt warteten die Polizeibeamten unter dem schützenden Dach der zusammengeschobenen Tische das Ende des Erdbebens ab. Aber die Erschütterungen zogen sich hin. Noch mehrfach fiel Putz von der Decke und krachte mit ohrenbetäubendem Lärm auf die Tischoberflächen, sodass sie immer wieder zusammenzuckten.
Endlich nach über einer Minute wurden die Erdstöße schwächen und es dauerte nicht mehr lange, bis sie ganz aufhörten.
Langsam krochen die Konferenzteilnehmer unter den Tischen hervor und klopften sich den Putzstaub aus der Kleidung und den Haaren.
Kopfschüttelnd blickte Luis an die, vor wenigen Sekunden, noch prachtvolle Decke. Doch davon war nach dem Beben nicht mehr viel übriggeblieben, denn über ¾ des Putzes fehlte und lag, als große und kleine Brocken, auf den Konferenztischen herum. »Was ist bloß auf der Insel derzeit los?«, meinte er frustriert und ging mit langsamen Schritten zum Fenster, um hinauszuschauen.
Schließlich drehte er sich um und sagte zu seinen Kollegen, die sich immer noch vom Staub befreiten: »Übrigens, die Häuser gegenüber haben zahlreiche Risse in den Fassaden und quer über unsere Straße zieht sich eine ziemlich breite Spalte, die bis zu den Gehwegen reicht. Ehrlich gesagt, ich habe ein mulmiges Gefühl bei der ganzen Sache.« Dann sah er weiter schweigend hinaus.
Carlos blickte nachdenklich zu seinem Freund, ehe er leicht mit dem Kopf nickte und murmelte: »Nicht nur dir geht es so!«
Er sagte es so leise, dass es keiner der Kollegen hören konnte und das war vielleicht auch besser so.
Instituto Geográfico Nacional (IGN) in Madrid
Die große interaktive Tafel, die fast komplett die Vorderfront des kleinen Saales einnahm, zeigte den Wissenschaftlern der Tagesschicht, die aktuellsten seismischen und vulkanischen Aktivitäten des Landes, aber auch weltweit, an. Seit einigen Augenblicken leuchtete direkt über Teneriffa erneut rhythmisch ein hellblauer Stern auf und kennzeichnete die exakte Lage, des letzten Erdbebens.
Das fand vor knapp 60 Sekunden statt und hatte die Stärke von 6,3 auf der Richterskala. Die Aktivität selbst war noch nicht beendet, denn weitere Nachbeben mit einer ständig abnehmenden Magnitude erschütterten, die kanarische Insel, nahmen aber glücklicherweise kontinuierlich ab.
Als einer der verantwortlichen Wissenschaftler das Bild des Inselinneren beträchtlich vergrößerte, stellte er sofort fest, dass das Hypozentrum des Bebens weiter in Richtung Nordwesten gewandert war. Es hatte mittlerweile den Fuß des Teide, der sich am Rand, innerhalb der Caldera, erstreckte, erreicht. Aber nicht alleine das beunruhigte den erfahrenen Geologen. Der Ursprung des starken Erdbebens befand sich nur noch 5,3 km unter dem Epizentrum. Es wurde Zeit zu handeln. Deshalb griff er schnell nach seinem Handy, um die Institutsleiterin über die dramatischen Veränderungen zu informieren.
Vorwarnung
20.50 Uhr, Puerto de la Cruz, Teneriffa
Langsam senkte sich die Dämmerung über die Stadt herab, die auf der nordwestlichen Seite der Insel lag. Fast gleichzeitig gingen sämtliche Straßenlaternen automatisch an und verbreiteten einen angenehmen Lichtschein, der sich auf dem Asphalt und den Gehwegen ausbreitete. Auch der Straßenverkehr nahm abseits der Autobahn und der wenigen Hauptstraßen des Küstenortes immer mehr ab. Ganz selten fuhr ein Taxi mit tief brummendem Motor die sehr steile ›Calle Manuel Yanes Baretto‹ hoch, um meistens direkt vor dem Eingang des langgestrecken ›Hotel Diamant Suites‹ zu halten. Dort stiegen die letzten verspäteten Gäste aus und liefen nach dem Aussteigen mit schnellen Schritten quer durch die große Empfangshalle in Richtung Restaurant zum Abendessen.
Ein älterer Mann dagegen hatte sich die Taxikosten zur 4-Sterne Unterkunft erspart und ging, schwer atmend, die zweite Hälfte des steilen Gehweges hoch, der unweit der berühmten Bucht ›Playa Maria Jiménez‹ mit ihrem schwarzen Sandstrand begann. Er hatte ein Faible für diese Seite der Insel. Während im Süden Teneriffas, rund um den Flughafen und den bekannten Badeorten, ein trockenheißes Wüstenklima mit nur spärlichem Pflanzenwuchs herrschte, hatte sich hier die Natur ausgebreitet. Unzählige Palmen und blühende Gewächse gaben der Stadt und der Umgebung ein eher tropisches Aussehen.
Die einmalige Tropenpracht hatte wohl auch einen der spanischen Könige inspiriert, auf einer Anhöhe einen Park voller wärmeliebender Palmenarten anlegen zu lassen, in der Hoffnung, diese später in Madrid anzusiedeln. Das gut gemeinte Experiment allerdings misslang, weil das Klima in der Hauptstadt zu kalt war. Die Parkanlage hingegen war geblieben und lockte jedes Jahr viele Touristen und Einheimische an.
Doch daran verschwendete der schwer atmende Mann derzeit keinen Gedanken. Er machte gerade eine Pause und stützte sich an einer halbhohen Mauer ab, während er sich neugierig umschaute. Auf der gesamten rechten Seite der Fahrbahn zog sich eine Bananenplantage hin, an deren baumähnlichen Stauden bereits grünliche Büschel der kleinen, aber gutschmeckenden, Früchte hingen, die mit Plastefolie abgedeckt waren, um sie vor Schädlingen zu schützen. Ganz hinten am Ende der abschüssigen Straße sah er einen winzigen Teil des Strandes, der komplett aus schwarzen Lavasand bestand und künstlich angelegt worden war. Dahinter erstreckte sich, im letzten Licht der untergehenden Sonne, der Atlantische Ozean bis zum fernen Horizont.
Leise seufzend setzte er sich wieder in Bewegung.
Wenig später fuhr ein weiteres Taxi die Straße hinauf und kam circa 50m vor ihm zum Stehen. Ein Paar stieg aus und schlug die Türen des Autos zu, das kurz darauf weiterfuhr.
Rasch beschleunigte er die Schritte, während die anderen beiden zu einem versteckten Seiteneingang gingen, der vermutlich mit zum Hotel gehörte. Die Frau kramte in ihrer kleinen Umhängetasche und holte schließlich eine Chipkarte heraus, die sie danach auf eine Stelle hielt, die sich unterhalb der Wechselsprechanlage befand. Mit einem leisen Klicken öffnete sich die Tür, die ihr Begleiter sofort weit aufriss, um ihr, wie ein Gentleman, den Vortritt zu lassen.
In diesem Moment kam der Spaziergänger ebenfalls an und meinte außer Atem: »Können Sie mich bitte mit hereinlassen.«
Das Paar musterte ihn kurz, ehe sie neugierig fragte: »Wohnen Sie denn auch hier?«
Er nickte sofort. »Ja, ich habe nur die Chipkarte und den Zimmerschlüssel vergessen.«
Ihr Begleiter schmunzelte. »Oh, wenn sie alles liegengelassen haben, dann werden Sie wohl ein Problem haben, um überhaupt in Ihr Zimmer zu kommen.«
»Nein, keine Sorge meine Frau ist ja da.«
»Seit einiger Zeit gibt es bereits Abendessen.«
»Sie wartet auf mich.«
»Dann kommen Sie mal mit rein.«
Während sie einen langen Gang entlangliefen, fragte sie neugierig: »In welchem Haus wohnen Sie denn?«
»Im 3. Gebäude, sozusagen im Keller.«
»Ach, Sie Ärmster.«
Er winkte lächelnd ab. »So schlimm ist es gar nicht, wie es sich zunächst anhört. Immerhin habe ich einen schönen Blick auf die Palmen, die an der Straße stehen und auf die Bananenplantage. Außerdem sind wir fast den ganzen Tag unterwegs.«
»Wohl zu spät gebucht?«
»Genau.«
»Wie lange bleiben Sie noch?«
»Bis Anfang Juni, wir sind bereits seit Ende Oktober hier.«
»Aha, Sie verbringen den Winter auf Teneriffa und den Sommer in der Heimat.«
»Ja.«
Mittlerweile waren sie an einem Fahrstuhl angekommen, dessen Tür offenstand. Nacheinander gingen sie hinein und drückten auf unterschiedliche Knöpfe.
Nach kurzer Fahrt stieg ihr Begleiter bereits wieder aus und verabschiedete sich: »Schönen Urlaub noch.«
Das Paar lächelte ihn freundlich an: »Für Sie auch! Vielleicht sieht man sich mal!« Dann schlossen sich die Türen des Aufzuges.
Während er sich umdrehte und einen endlos erscheinenden Flur entlanglief, murmelte er: »Hoffentlich nicht!«
Schließlich stand er vor dem Appartement 385. Er legte sein Ohr auf die Holzoberfläche der Tür und lauschte. Aber kein Ton war im Zimmer zu hören. Etwas verwundert zog er beide Augenbrauen hoch und klopfte laut, während er seine Hand in die Hosentasche steckte.
Es dauerte einen kurzen Moment, bis endlich Schritte zu vernehmen waren und sich ein Schlüssel im Schloss drehte. Schließlich öffnete sich die Tür einen Spalt und ein Gesicht, das dezent geschminkt war, wurde sichtbar. Als sie den Mann vor der Tür sah, riss sie die Tür weit auf und ließ ihn ins Zimmer. Dann fragte sie ihn erbost: »Wo kommst du jetzt her?«
»Ich habe mich ein wenig am Strand umgesehen?«
»So lange? Weißt du überhaupt, wie spät es ist?«
Er schüttelte den Kopf. »Nein, leider nicht, Liebling.«
»Es gibt nur noch 35 Minuten Abendbrot.« Seine resolute Frau sah ihn wütend an.
»Oh, da muss ich mich ja beeilen.«
»Ich bitte darum, aber ich gehe lieber voraus. Möchtest du den Wein von gestern weitertrinken?«
Ihr Mann überlegte kurz. »Nein, bestelle mir ein Bier.«
»0,33 oder 0,5 l?«
»Je größer, umso besser.«
Sie trat rasch an ihn heran, küsste ihn sacht auf die Wange, während sie ihm gleichzeitig einen leichten Klaps auf den Hintern gab. »Okay, ich gehe jetzt und du beeilst dich bitte.«
»Versprochen. Ich komme, so schnell wie möglich, nach«, rief er ihr hinterher. Dann zog er Hose und T-Shirt aus und verschwand pfeifend im Bad, um sich zu duschen.
Wenige Minuten später, er hatte sich sogar noch rasiert und die Haare geföhnt, verließ er nackt das Bad, um sich im Schlafzimmer anzuziehen. Auf dem Weg dorthin warf er einen kurzen Blick ins beleuchtete Wohnzimmer und erschrak.
In einem der tiefen Sessel saß ein Mann, der ihn von unten nach oben betrachtete und schließlich sagte: »Nicht schlecht.« Was er damit konkret meinte, blieb erst einmal rätselhaft.
»Wer sind Sie?«
»Ich möchte mich mit Ihnen unterhalten, Herr Neumann oder darf ich Sie Guntram nennen. Das durften wir doch alle, damals vor vielen Jahren.«
»Von mir aus«, rief er wütend. »Wie sind Sie hier eigentlich hereingekommen?«
Der Fremde zeigte lächelnd hinter sich. »Ich habe einfach den halbhohen Zaun überklettert und bin dann über die Terrasse reingekommen. Und ist es toll, so monatelang im Keller zu hausen? Obwohl, dort haben Sie ja schon immer reichlich Zeit verbracht.«
Guntram Neumann war völlig verunsichert und wusste nicht so richtig, wie er sich verhalten sollte. Schließlich meinte er unwirsch: »Was meinen Sie damit?«
»Na Kellerräume, was denn sonst«, erwiderte der Fremde ungnädig. »Leiden Sie eventuell bereits an Demenz?«
»Natürlich nicht. Es gab keine anderen Appartements mehr zu buchen. Deshalb mussten wir notgedrungen dieses hier nehmen.«
Sein Gast lachte laut auf, ehe er süffisant meinte: »Sie wissen, dass das eben eine Lüge war oder? Aber Sie waren ja schon immer ein schrecklicher Geizkragen, der damals für uns nicht einmal ein Eis zum Trost übrighatte.«
Allmählich fing sich Neumann wieder. Er zeigte zur Terrassentür und fragte irritiert: »Haben Sie den Vorhang vorgezogen!«
»Natürlich. Ich wollte nur zufällig vorbeikommenden Fußgängern den Anblick Ihres Alabasterkörpers ersparen.«
Sein Gegenüber schien die Pointe nicht verstanden zu haben, denn er murmelte nur: »War das jetzt alles? Ich muss nämlich gleich los zum Abendessen.«
»Ich weiß, Ihre resolute Ehefrau ist bereits als Vorauskommando unterwegs. Trägt sie immer noch Tomaten auf ihren Augen?«
»Wollen Sie mich etwa provozieren?« Der Gastgeber wirkte ziemlich wütend, denn auf seine Frau ließ er nichts kommen und von einem Fremden schon gar nicht.
In diesem Moment erhob sich der Eindringling seufzend aus dem tiefen Sessel. »Okay oder andersherum gefragt, deckt sie immer noch ihre ekelhaften Taten?«
»Ich weiß wirklich nicht, worauf Sie hinauswollen, junger Mann«, erklärte Neumann, der sich inzwischen ein Badetuch um die Hüften gelegt hatte.
Sein Gegenüber schüttelte den Kopf. »Ihr Typen seid alle gleich und euch selbstverständlich keinerlei Schuld bewusst, was ihr anderen Menschen angetan habt. Ich habe deinen weiteren Lebensweg seit den damaligen Ereignissen aufmerksam verfolgt. Du warfst häufig vor Gericht angeklagt, nicht wahr?«
»Ich wurde immer freigesprochen!«
»Ja, aber nur aus Mangel an Beweisen, weil Kläger die Anzeigen zurückgezogen haben, deine Frau für dich ausgesagt hat und vermutlich jede Menge Schweigegeld geflossen war.« Er blickte Neumann zornig an. »Ich habe doch recht oder?«
»Verlassen Sie umgehend das Appartement, sonst rufe ich die Polizei?« Er zeigte wütend in Richtung der Tür.
Der ungebetene Besucher macht tatsächlich den Eindruck, als wollte er gehen. Direkt vor Neumann stoppte er plötzlich und meinte lächelnd: »Ich muss noch kurz etwas erledigen.«
»Was denn?«
»Dich töten, Guntram!« Dann rammte er das Messer, von unten her, in die Eingeweide seines Opfers, bis es schließlich im linken Herzbeutel zum Stehen kam. Mit einer 90° Grad Drehung zog er die robuste Stichwaffe schmatzend wieder aus dem Körper heraus und beobachtete anschließend schweigend den Todeskampf des Mannes. 60 Sekunden später ließen das leise Stöhnen und die Körperzuckungen nach, während aus der Wunde ein langsamer Strom Blut floss, der kurz darauf auf das Linoleum tropfte und dort einen kleinen roten See hinterließ.
Schließlich war das Opfer tot. Der Mörder legte den Zeigefinger an die Halsschlagader und prüfte den Pulsschlag. Aber wie erwartet, war keiner vorhanden. Der Mann war tatsächlich in der Hölle, wohin er auch für immer gehörte.
Aus der Tasche seiner Jacke holte er eine kleine Dose Schuhcreme hervor und öffnete sie. Er fuhr mehrmals mit dem linken Daumen über die Oberfläche der Putzcreme, bis der obere Bereich des Fingers völlig schwarz war. Anschließend hinterließ er auf der Stirn von Guntram Neumann einen markanten Daumenabdruck. Er erhob sich langsam und begutachtete sein Werk, denn er legte großen Wert darauf, dass sein Erkennungsmerkmal deutlich erkennbar war, sodass sein Opfer nur ihm zugeordnet werden konnte. Schließlich war er zufrieden und schaltete das Licht überall im Appartement aus, bis alles im Dunklen lag. Erst dann zog er die schweren Vorhänge zur Seite und öffnete die Terrassentür. Er lauschte aufmerksam in die Dunkelheit. Doch außer weit entferntem Straßenverkehr war nichts zu hören. Lautlos schlüpfte er durch die Tür nach draußen, lief die wenigen Stufen zur Terrasse hoch, bis er Sekunden später bereits den Maschendrahtzaun, der das Hotelgelände vom Gehweg abgrenzte, mit einem Satz überwand. Dann ging er gemächlichen Schrittes die Straße herunter, bis er sein Auto erreicht hatte, das er unauffällig auf dem Seitenrand abgestellt hatte. Er startete den Motor und fuhr sofort los. Schließlich stand er blinkend an der Küstenstraße, ehe er nach links in Richtung Loro Park abbog, weil das der kürzeste Weg zur Autobahn war.
3 Stunden später
Die drei Kollegen der Spurensicherung verließen in ihren weißen Einmalanzügen das Appartement 385 und entledigten sich im Flur des Hotels schnell der schweißtreibenden Anzüge.
»Und hat sich bei euch etwas ergeben?« Carlos Sanchez Garcia sah ziemlich müde aus. Kein Wunder, immerhin hatte er bereits 2 Stunden geschlafen, ehe ihn der Anruf seines Stellvertreters aus allen Träumen gerissen hatte.
Einer der Techniker nickte. »Wir haben außerhalb des Appartements Fußspuren auf dem Rasenstück zwischen der Terrasse und dem Gehweg gefunden. Außerdem konnten wir DNA an einer größeren Fläche des Maschendrahtzaunes sicherstellen.«
»Das heißt, der Täter ist über den Zaun geklettert und nach der Tat den gleichen Weg zurückgegangen?«
»Genau das sagt derzeit die Spurenlage aus.«
»Wie sieht es innerhalb des Zimmers aus?«
»Wir haben diverse Fingerabdrücke, DNA Spuren und Fasern sichergestellt. Wir werden wohl in der nächsten Zeit vollauf damit beschäftigt sein, die Spreu vom Weizen zu trennen«, erklärte der Kriminaltechniker sichtlich angefressen.
Der Hauptkommissar wollte den Kollegen nicht länger aufhalten. Deshalb nickte er ihm freundlich zu und meinte: »Halte mich auf dem Laufenden.«
»Keine Sorgen, wir vergessen dich nicht.«
Mit nachdenklicher Miene betrat er das Zimmer, in dem sich derzeit nur noch die Rechtsmedizinerin aufhielt.
Als sie sah, wer hereingekommen war, erhob sie sich seufzend. »Na, wurdest du auch aus dem Bett geholt?«
Der Kriminalist nickte. »Sieht man mir das so an? Ich war gerade eingeschlafen.«
»Ja, du siehst müde aus, Carlos.«
»Hm, aber zurück zum Geschäft. Was ist dein erster Eindruck?«
»Ich vermute mal, wir haben es mit dem gleichen Täter zu tun.« Sie deutete auf die Einstichstelle und danach auf die Blutlache neben dem Körper, die an den Rändern bereits eingetrocknet war. »Ich habe äußerlich nur eine einzige Verletzung gefunden und du siehst ja, wie viel Blut er schon verloren hatte, als er noch lebte.«
»Er wurde also tödlich verletzt.«
»Ja.«
»Tatwaffe?«
»Konnten die Kollegen im Appartement nicht sicherstellen. Die wird der Täter mit Sicherheit mitgenommen haben.«
»Also, wie beim ersten Mal.«
»Genau.«
»Handelt es sich um die gleiche Stichwaffe.«
Marta Moreno Lopez überlegte kurz, ehe sie nickte. »Die äußeren Merkmale der Einstichwunde sprechen eher dafür, als dagegen.«
Carlos kratzte sich nachdenklich am Hinterkopf. »Das gefällt mir alles nicht. Er tanzt uns frech auf der Nase herum und wir haben bisher nichts gefunden, um ihn eindeutig zu identifizieren.«
Die Ärztin lachte laut. »Da hast du natürlich recht und dabei hinterlässt er uns sogar noch freundlicherweise seinen Daumenabdruck auf der Stirn des Opfers.« Sie zeigte auf den Kopf der Leiche.
»Okay, wurde der Abdruck bereits überprüft?«
»Natürlich und es handelt sich um den identischen Fingerabdruck, wie beim ersten Toten.«
»Bist du jetzt hier fertig?«, fragte er freundlich seine Kollegin.
»Ja, ich lasse die Leiche gleich abholen, damit ich morgen früh etwas zu tun habe. Wenn du willst, kannst du ja auf einen Kaffee vorbeikommen.«
Garcia schien nicht abgeneigt zu sein. »Ich schaue mal, was sonst noch anliegt.« Er nickte der Ärztin freundlich zu und verließ das Appartement. Im Flur wurde er bereits von Luis Alonso erwartet. »Gibt es irgendetwas Positives zu berichten?«
Sein Stellvertreter schüttelte bedauernd mit dem Kopf. »Bisher leider nicht. Immerhin kennen wir ja den Namen des Toten.«
»Okay.«
»Er heißt Guntram Neumann, 74 Jahre alt, verheiratet und kommt aus Düsseldorf.«
»Wie lange wohnte er bereits im Appartement?«
»Seit dem 28. Oktober.«
»Er war also Langzeiturlauber?«
»Genau, dass Ehepaar überwinterte zum ersten Mal auf Teneriffa.«
»Hast du dich schon mit der Ehefrau unterhalten?«
»Ja, bevor sie zur Behandlung zum Hospital gefahren wurde. Absolut nachvollziehbar hatte sie nach dem persönlichen Auffinden der Leiche einen Nervenzusammenbruch erlitten. Deshalb habe ich nur kurz mit ihr gesprochen.«
»Und was ist dabei herausgekommen?«
»Er war der beste und tollste Ehemann, den man sich vorstellen konnte.«
»Okay, dann verstehe ich nicht, warum sie bereits beim Abendessen war, ihr Supermann allerdings nicht. Gab es dafür einen wichtigen Grund?«
»Laut ihrer Aussage kam er sehr spät von einem Spaziergang zurück und da das Abendbuffet nur noch 45 Minuten geöffnet war, ist sie vorausgegangen. Er wollte kurz darauf nachkommen.«
»Wann hat sie die Leiche entdeckt?«
»Um 22.00 Uhr.«
»Ist ihr irgendetwas Verdächtiges aufgefallen?«
»Nein.«
»Wurden die Mitarbeiter der Rezeption befragt?«
»Ja, das habe ich nach meinem Eintreffen sofort als erstes gemacht. Allerdings kann sich keiner der Empfangsleute an einen Mann, der dem Phantombild ähnelte, erinnern.«
»Hast du ihnen ein Bild übergeben?«
Luis Alonso nickte und während er sein Notizbuch zuschlug, sagte er mit ernster Miene: »Selbstverständlich, Carlos und meine Visitenkarte habe ich natürlich auch dagelassen. Vielleicht fällt den Hotelangestellten ja noch etwas Wichtiges ein.«
Garcia blies die Wangen auf und überlegte. Schließlich meinte er: »Sämtliche Hotelgäste und die übrigen Angestellten müssen ebenfalls befragt werden.«
Sein Stellvertreter winkte ab. »Das läuft längst. Ich habe Navarro, Pérez und Gómez damit beauftragt, sowie zusätzliche Kollegen der Policia Nacional angefordert.«
Der Leiter der Mordkommission nickte. »Auch wenn der nachfolgende Spruch bereits einen ellenlangen Bart hat, bleibt er trotzdem sehr aktuell. Derzeit ist die Spur noch heiß und der Täter hat nur wenige Stunden Vorsprung.«
»Keine Sorge, wir versuchen unser Möglichstes.«
»Dessen bin ich mir bewusst, Luis. Gibt es sonst etwas, was ich wissen sollte?«
Der Angesprochene überlegte kurz, bis er lächelnd meinte: »Das hätte ich fast vergessen. Ich habe einen Spürhund angefordert.«
»Ausgezeichnete Idee. Vielleicht bringt uns das ein Stückchen weiter.«
»Was hast du jetzt vor, Carlos?«
Sein Freund sah ihn mit nachdenklicher Miene an, bis er leise meinte: »Du bist hier weiterhin der verantwortliche Ermittler und Ansprechpartner für die eingesetzten Kollegen. Ich fahre gleich nach Hause und lege mich für ein paar Stunden aufs Ohr, damit ich halbwegs munter an der Autopsie teilnehmen kann. Mein Handy lasse ich für alle Fälle an. Also, dann bis morgen und mache mir keinen Ärger.« Er klopfte Alonso freundschaftlich auf die Schulter, ehe er sich umdrehte und den langen, hell erleuchteten Gang, in Richtung Ausgang entlanglief.
Luis blickte ihm schweigend hinterher, bis der Hauptkommissar schließlich links abbog und endgültig aus seinem Gesichtsfeld verschwand. Dann seufzte der erfahrene Kriminalist leise auf, steckte das Notizbuch weg, ehe er sich auf die Suche nach den Kollegen machte, um bei den Befragungen zu helfen.
1 Stunde später, Außenbereich vor Appartement 385
›Zorro‹ war ein 7-jähriger Deutscher Schäferhund Rüde und der heimliche Star der Policía Canaria. Er war der erfolgreichste Hund, der auf sämtlichen Kanarischen Inseln für die Personensuche eingesetzt wurde. Jahrelang trainierten Hundeführer das intelligente Tier speziell für Mantrailing und als Fährtenhund. Seine Erfolgsquote von nahezu 98% konnte sich wirklich sehen lassen.
Alle Hoffnungen der Polizei ruhten jetzt auf den Spürsinn des erfahrenen Hundes und er enttäuscht sie auch nicht. Er hatte längst die Spur des Täters aufgenommen und folgte ihr zunächst über die höher gelegene Holzterrasse des Appartements. Elegant überwand er danach den Zaun des Hotelgeländes und sprang auf den Gehweg, der neben der steil abfallende ›Calle Manuel Yanes Baretto‹ hinabführte, bis die Nebenstraße schließlich in die verkehrsreiche Küstenstraße mündete. Geduldig wartete er, bis sein Hundeführer und die Kriminalistin Luisa Navarro ebenfalls leise fluchend den mannshohen Metallzaun überstiegen hatten. Dann setzt ›Zorro‹ seinen Weg unbeirrt fort. Nach circa 200m verließ er den eigentlichen Gehweg, überquerte die Straße und lief direkt auf eine kleine bepflanzte Verkehrsinsel zu, die eine Parkfläche vom übrigen Fahrdamm abtrennte. Nur ein einziger Platz war deutlich sichtbar frei und auf den rannte der Hund schnurstracks zu. Nachdem er den Parkplatz erreicht hatte, schnüffelte er noch einige Zeit umher, wobei er den Bereich mehrfach umkreiste. Schließlich gab er auf, hockte sich hin und blickte sein Herrchen direkt an. Jose Domingos lobte ihn sofort und strich dem Tier beruhigend über den Kopf. Erst dann drehte er sich zu seiner Begleiterin um und meinte bedauernd: »Hier endet leider die Spur. Ich vermute, der Täter ist in einen Wagen gestiegen und weggefahren.«
Luisa nickte. »Das sehe ich genauso. Ich werde mal die Kollegen der Spurensicherung informieren. Vielleicht finden sie hier verwertbare Reifenspuren oder Schuhabdrücke.«
Während sie noch sprach, hatte der Hundeführer eine Taschenlampe hervorgeholt und leuchtete den Bereich ab, ehe er meinte: »Also, auf jeden Fall sind Reifenprofile vorhanden.«
»Stimmt«, erwiderte die Kollegin kurz angebunden. Dann griff sie nach ihrem Handy und telefonierte eine Weile mit der Kriminaltechnik. Wenig später beendete sie das Gespräch und sagte zu Jose: »Sie kommen gleich. Wir bleiben aber so lange hier.«
Er nickte. »Alles klar.«
In diesem Moment begann der Schäferhund leise zu winseln, bis er schließlich anfing laut zu bellen.
»Was hat er denn?« Navarro sah ihren Begleiter verwundert an.
»Keine Ahnung«, erwiderte er irritiert, ehe er dem Hund befahl: »Aus ›Zorro‹!«
Obwohl er diesen Befehl mehrfach wiederholte, wurde das Tier immer nervöser. Bellend sprang er auf und wollte in Richtung Küstenstraße laufen. Domingos hatte erhebliche Mühe, die Hundeleine stückchenweise einzurollen, um den Bewegungsradius des Schäferhundes kontinuierlich einzuengen. Dabei murmelte er verärgert: »Merkwürdiges Verhalten.«
»Hat er schon mal so reagiert?«
Jose überlegte fieberhaft, während er den Hund zu bändigen versuchte. Dann fiel ihm wohl etwas ein, denn er rief aufgeregt: »Doch, das hat er und es ist noch gar nicht lange …«
Er verstummte mitten im Satz, weil in diesem Augenblick eine schwere Erschütterung die Erdoberfläche erreichte und die völlig überraschten Polizisten zu Boden warf. Selbst ›Zorro‹ musste sich auf den Bauch legen, um nicht umzufallen. Trotzdem bellte er unentwegt weiter.
Inzwischen nahmen die Erdstöße kontinuierlich zu und die Straße wurde dabei wellenförmig hin- und herbewegt. Diese Spreizbewegungen, die aufgrund der einwirkenden horizontalen Dehnungskräfte entstanden waren, trugen dazu bei, dass sich zahlreiche Risse im Asphalt bildeten, die ständig größer wurden, je länger die Bewegungen andauerten. Eine Straßenlaterne, die sich circa 30m entfernt bergauf befand, hielt den Erschütterungen nicht mehr stand und fiel mit Getöse um. Einige weitere Lampen folgten. Die Luft war erfüllt von einem ohrenbetäubenden Klirren und Poltern. Es hörte sich so an, als ob Putz und Teile von Fassaden sich ablösten und auf den Boden stürzten. 90 Sekunden später ließen die Erdstöße endlich nach und waren kurz darauf nicht mehr wahrzunehmen.
Langsam erhoben sich Luisa und Jose und klopften sich den Staub aus der Kleidung. ›Zorro‹ hatte sich glücklicherweise wieder beruhigt. Er saß und blickte hechelnd mit herausragender Zunge sein Herrchen aufmerksam an. Vermutlich wollte er ein Leckerli haben, da er ja rechtzeitig vor dem Beben gewarnt hatte. Nachdem er einen kleinen Snack erhalten hatte, meinte der Hundeführer zu seiner Kollegin: »Um den Satz von vorhin zu beenden. Tiere haben einen viel höheren Spürsinn, als wir Menschen. Deshalb hatte ›Zorro‹ auch die Erdbeben der letzten Tage wesentlich früher angekündigt, ehe wir sie mitbekamen.«
»Das habe ich mir fast gedacht«, erwiderte Luisa Navarro leise.
Dann blickten sie gemeinsam schweigend auf die Straße oder was davon übrig geblieben war. Direkt vor ihnen zog sich ein 1m großer Spalt quer über die Fahrbahn und verschwand schließlich im Dickicht des angrenzenden Hotels. Endlich waren Polizei, - Feuerwehr- und Krankenwagensirenen in der Ferne zu hören. Rasch nahm die Lautstärke zu und es würde wohl nicht mehr lange dauern, bis die Rettungskräfte eintrafen.
3 Stunden später, Instituto Geográfico Naciona
Der 55 Zoll Bildschirm, der an der rechten Seitenwand im Büro der Leiterin des IGN hing, zeigte deutlich die dramatische Entwicklung innerhalb der Las Canadas. Wieder war das seismische Signal des Hypozentrums mehrere hundert Meter in nordwestliche Richtung gewandert. Es befand sich nun direkt zwischen der Basis- und Endstation der Seilbahn, die an der südlichen Flanke des Teide bis auf 3555 m hinaufführte und nur 163 Höhenmeter unterhalb des Gipfels endete.
»Die Stärke nimmt kontinuierlich zu, genauso die Anzahl der Nachbeben. Das ist nicht gut«, meinte Professorin Dr. Amanda Nunez gerade zu ihren beiden Kollegen, die ihr mit ernsten Gesichtern gegenübersaßen.
Hugo Alvarez nickte und erklärte: »Die Tiefe des Erdbebenherdes verringert sich ebenfalls immer weiter. Wir sind derzeit«, er warf einen kurzen Blick auf den LCD-Bildschirm, »bei 4,2 km unterhalb des Epizentrums.«
Pedro Diaz ergänzte: »Ein Erdbeben der Stärke 6,5 gab es schon lange nicht mehr auf der Insel.«
Die erfahrene Geologin sah ihn nachdenklich an, ehe sie schließlich meinte: »Die Erdstöße werden beträchtliche Schäden angerichtet haben. Wir müssen reagieren, aber trotzdem nicht schlafende Hunde wecken.«
Der Katalane lächelte und erwiderte spöttisch: »Diesen Spagat dürfen wir Vulkanologen doch schon immer machen. Warnen wir rechtzeitig die Bevölkerung und die Verwaltungen vor einem Ausbruch sind wir die Helden der Nation. Geben wir aus Sicherheitsgründen die Warnstufe ›Rot‹ aus, lassen sämtliche Bewohner im Umkreis von zig Kilometer um den Vulkan herum evakuieren und es passiert nichts, dann sind wir die Deppen und Panikmacher.«
»Sie möchten lieber ein strahlender Sieger sein oder?«
Er lachte laut los und nickte zustimmend. »Natürlich, was denn sonst, Amanda?«
Die Professorin lehnte sich zurück und überlegte einen Moment. Anschließend beugte sie sich vor und meinte mit ernster Miene: »Es gibt ja nur zwei Möglichkeiten. Im ersten Fall endet das Aufsteigen des Magmas aus der tieferliegenden Magmakammer, ohne dass es die Oberfläche überhaupt erreicht. Bei der zweiten Variante steigt die Magmasäule infolge der ständigen Zufuhr von Magma immer höher und es kommt letztlich zu einem Ausbruch, wobei wir derzeit nicht genau sagen können, ob der im Gipfelkrater beziehungsweise an einer der Bergflanken stattfindet.«
»Es gibt noch ein zusätzliches Problem«, erklärte Alvarez leise.
»Worauf wollen Sie hinaus, Hugo?«
»Der Gipfelbereich des Teide besteht zum größten Teil aus rhyolithischer Lava mit einem Siliziumdioxidanteil von nahezu 75%. Deshalb bildete sich ja auch innerhalb des kleinen Gipfelkraters ein Lavadom aus, der ja, wie wir alle wissen, wie ein Sektkorken den Vulkanschlot verstopft, und zwar auf mindestens 1000m Länge.«
Sie nickte. »Vermutlich war das die Ursache, dass der letzte Vulkanausbruch 1909 am Chinyero an einer Flanke des Teide stattfand.«
Der Geologe erwiderte sofort: »Aber genau darum geht es. Das war damals nur ein kleiner Ausbruch, weil nur eine überschaubare Menge Magma aufgestiegen war. Als sie schließlich auf die rhyolithischer Lava traf, hatte sie nicht genügend Kraft das Hindernis beiseite zu räumen und hat stattdessen ihre Richtung radikal geändert. Letztlich brach sie als unbedeutender Flankenvulkan, weit weg vom Gipfelkrater, aus.«
Amanda Nunez sah ihn mit nachdenklicher Miene an: »Ich vermute, so etwas befürchten Sie jetzt auch.«
»Es ist jedenfalls nicht von der Hand zu weisen, genauso wenig, dass die eigentliche Caldera zum Norden hin offen ist und die gesamte nördliche Vulkanflanke vor langer Zeit in den Ozean gerutscht ist.«
»Sie meinen das sogenannte Amphitheater.«
»Ja, genau. Darüber wird ja nun bereits seit Jahrzehnten gestritten, ob es sich überhaupt um eine Vulkancaldera handelt oder vielleicht doch um einen gewaltigen Hangrutsch.«
Die Professorin nickte. »Ein schwieriges kontroverses Thema. Aber bei der entdeckten Trümmerfläche auf dem Meeresgrund, wird es sich vermutlich um die Überreste eines Bergrutsches gehandelt haben.«
Pedro Diaz der bisher nur schweigend der Unterhaltung gefolgt war, mischte sich ein und meinte erregt: »Selbstverständlich müssen wir auch dieses Szenario mit in unsere Überlegungen einfließen lassen. Allerdings spielt für mich persönlich das angesprochene Thema nur eine untergeordnete Rolle. Haben Sie die Angelegenheit bereits mit den amerikanischen Kollegen vom USGS erörtert?«
Amanda Nunez schüttelte den Kopf und erwiderte kurz angebunden: »Nein, dazu besteht derzeit noch keine Veranlassung.«
»Aha, Sie wollen also nicht die Pferde scheu machen oder wie soll ich sonst Ihre zurückhaltende Reaktion interpretieren?«, fragte er süffisant.
»So kann man das natürlich auch nennen, Pedro«, erwiderte sie kühl.
Der Katalane sah mit seinem hochroten Kopf so aus, als würde er gleich explodieren. Doch er riss sich zusammen und erklärte mit leiser Stimme: »Darf ich Sie freundlichst daran erinnern, dass die Kollegen 1980 beim Ausbruch des Mount St. Helens eine Flankeneruption völlig ausgeschlossen hatten.«
»Zeitweilig«, schränkte Amanda lächelnd ein, »denn die Umgebung rund um den Vulkan wurde vorausschauend weiträumig gesperrt.«
Er nickte. »Das stimmt zwar, trotzdem kamen 57 Menschen beim Ausbruch ums Leben, darunter unser hochverehrter Kollege David A. Johnston. Der hatte nämlich diese Gefahr völlig unterschätzt und hielt sich zum Zeitpunkt der Eruption auf einem Beobachtungsposten auf, der nur 10 km entfernt vom Vulkan lag, um die Gase einer Fumarole zu messen. Er saß also zumindest in der 1. Reihe, aber verlor wegen einer Fehleinschätzung sein Leben. Genau das will ich auf Teneriffa auf jeden Fall vermeiden.«
Seine Chefin nickte. »Ich kann Sie gut verstehen. Trotzdem ist es zu früh, den Teufel an die Wand zu malen.«
Hugo Alvarez erkannte, dass es derzeit zwecklos war, die Professorin vom Gegenteil zu überzeugen. Deshalb meinte er zu ihr: »Sie sollten auf jeden Fall die Inselverwaltung vor einem möglichen Ausbruch warnen.«
Sie nickte. »Das veranlasse ich nachher sofort. Außerdem muss die gesamte Las Canadas inklusive des Teide aus Sicherheitsgründen für den Publikumsverkehr gesperrt werden. Wie sieht es zurzeit bei den Gasemissionen im Gipfelbereich aus?« Amanda Nunez sah mit ernster Miene ihre Kollegen nacheinander an.
»Die habe ich vorhin überprüft.« Alvarez überreichte ihr eine grafische Darstellung, die er einem Ordner entnommen hatte, der direkt vor ihm lag.
Die Wissenschaftlerin sah sich die Vergleichsdaten und die zugrunde gelegten Diagramme eine Weile an, ehe sie das Blatt Papier zurückgab. »Die Temperatur hat sich um weitere 6,8 °C auf 283,1°C erhöht.«
Ihr Kollege nickte. »Die Zunahme von Schwefeldioxid macht uns echt Sorgen!«
»Sehe ich genauso. Der Ausstoß von 440 kg SO2 ist schon außergewöhnlich.«
»Das sind 80 kg mehr, als noch vor 24 Stunden.«
»Deshalb beabsichtigen wir, persönlich nach Teneriffa zu fliegen, um weitere Messinstrumente direkt im Gipfelbereich aufzustellen, sowie einige Seismometer, Überwachungskameras und GPS-Empfänger an den Flanken des Teide zu installieren. Was meinen Sie dazu, Chefin?«
Während er sprach, nickte die Professorin bereits. »Ja, das ist eine ausgezeichnete Idee und Sie bleiben anschließend, bis auf Widerruf, auf der Insel.«
»Von Vorteil wäre, wenn uns dann ein Hubschrauber ständig zur Verfügung steht.«
»Das lässt sich arrangieren.«
Da sie nicht nachfragte, warum dieser überhaupt benötigt wird, setzte er zu einer Erklärung an: »Der kann uns nämlich mit den zusätzlichen Messinstrumenten immer an den betreffenden Standorten absetzen und wir ersparen uns die mühselige Herumkraxelei mit schweren Rucksäcken.«
Die Professorin lächelte. »Mehr als verständlich. Bis wann haben Sie ihre Sachen gepackt?«
Die Geologen sahen sich kurz an, bis der Katalane schließlich meinte: »Morgen früh sind wir abmarschbereit.«
»Okay, ich werde den Transport zum Flughafen durch mein Sekretariat organisieren lassen und das ein Flugzeug extra für Sie bereitsteht.«
»Ausgezeichnet, Amanda«, lobte Alvarez.
Nunez sah die beiden Männer mit ernster Miene an. »Da wäre nur noch eines, liebe Kollegen.«
»Okay.«
»Das, was wir eben besprochen haben, bleibt bis auf Weiteres in diesem Raum. Also bitte keinerlei Kommentare, Bilder oder Videos in den sozialen Medien hochladen und natürlich kein Sterbenswörtchen an die Presse. Die überschlägt sich derzeit sowieso mit wilden Vermutungen wegen der Erdbebenserie auf Teneriffa. Da brauchen wir nicht zusätzlich Öl ins Feuer zu gießen. Haben wir uns verstanden, meine Herren?«
Alvarez nickte sofort und Diaz murmelte: »Klar und deutlich, Chefin.«
Sie lächelte. »Dann haben wir ja jetzt alle zu tun!«
Während sich ihre Gäste langsam von ihren Stühlen erhoben, griff Amanda Nunez bereits nach einem Telefon. Sie wollte umgehend die Inselregierung (Cabildo Insular) über die neueste geologische Entwicklung informieren und gleichzeitig die Sperrung des Teide und der gesamten Las Canadas für den Publikumsverkehr empfehlen. Ob sich die Verwaltung letztlich daranhielt, lag dann nicht mehr in ihrem Verantwortungsbereich.
10.00 Uhr, Santa Cruz
Viele Gebäude der Stadt wurden beim letzten Erdbeben stark beschädigt. Der Putz ganzer Häuserfassaden war herabgefallen und hatte sich auf den Gehwegen zentimeterhoch verteilt. An mehreren Stellen war die Hauptwasserleitung geborsten und erzeugte dort meterhohe Wasserkaskaden, die als breite Bäche am Rinnstein entlangliefen, ehe sie in der Kanalisation verschwanden, die diese Wassermassen glücklicherweise aufnehmen konnte. Einige Straßenzüge im Zentrum der Inselhauptstadt waren kaum passierbar, da zahlreiche Risse und metertiefe Spalten die Fahrbahn durchzogen. Trotz der großen Schäden, gab es erfreulicherweise keine Opfer zu beklagen und das war letztlich auch das Wichtigste, denn Gebäudeschäden ließen sich beseitigen, der Tod aber nicht.
In diesem Moment öffnete sich die Tür zum Konferenzraum und Carlos Sanchez Garcia kam herein. Nachdem er seine Kollegen und die beiden Deutschen vom BKA per Handschlag begrüßt hatte, setzte er sich an die Stirnseite des U-förmigen Konferenztisches. Er schlug einen mitgebrachten Ordner auf und meinte dann freundlich: »Schön, dass ihr alle da seid. Das ist ja nicht selbstverständlich nach diesem schweren Erdbeben. Ganz besonders begrüße ich unsere deutschen Kollegen, die ich euch bereits vorhin persönlich vorgestellt habe.« Er nickte den BKA-Beamten lächelnd zu, ehe er mit ernster Miene fortfuhr: »Kommen wir jetzt zum eigentlichen Thema, das sich für uns allmählich zum Albtraum entwickelt. Die Obduktion der Leiche, hat heute Morgen eindeutig ergeben, dass wir es mit hoher Wahrscheinlichkeit mit dem gleichen Täter zu tun haben. Neben dem Daumenabdruck auf der Stirn, der vermutlich das Erkennungszeichen des Mörders ist, konnte die Rechtsmedizin dieselbe DNA, wie beim ersten Opfer, sichern. Die einzelne Stichverletzung, die in diesem Fall letztlich zum Tod führte, weist ähnliche Merkmale auf, die bereits bei der vorangegangenen Obduktion festgestellt wurden. Ob es weitere Auffälligkeiten gibt, werden die mikrobiologischen und toxikologischen Untersuchungen zeigen, deren Ergebnisse allerdings erst in einigen Wochen vorliegen. Aber das ist euch ja alles bekannt. Ich persönlich erwarte da sowieso keine großen Überraschungen. Noch Fragen?« Er schob den Ordner zur Seite und lehnte sich zurück.
Hauptkommissar Jürgen Schulte vom BKA meldete sich und meinte im akzentfreien spanisch: »Ich möchte etwas zur Tatwaffe anmerken.«
»Gerne.« Carlos nickte ihm lächelnd zu.
»Wir haben uns in Deutschland intensiv mit der Stichwaffe beschäftigt und sind mittlerweile zur Auffassung gelangt, dass der Täter immer das gleiche Tatwerkzeug eingesetzt hat.«
Luis Alonso unterbrach ihn sofort. »Sie gehen also davon aus, dass der Straftäter die Waffe nicht irgendwo entsorgt, sondern mitgenommen hat.«
»Ja, das vermuten wir.«
»Das ist aber mit einem gewissen Risiko verbunden.«
Der Deutsche schmunzelte. »Inwiefern? Der Täter ist nach meiner Meinung so von sich überzeugt, dass er davon ausgeht, uns stets mehrere Schritte voraus zu sein. Wenn man sich die Liste seiner Opfer ansieht, die kontinuierlich immer länger wird, hat er leider nicht einmal unrecht.«
»Sie haben recht. Aber Sie wollten uns noch etwas zur Tatwaffe sagen.«
»Ich lasse als erstes ein Bild sprechen.« Er entnahm einem Schnellhefter einige Kopien einer Aufnahme und verteilte sie rasch unter den Anwesenden. Dann fragte er die anderen: »Kommt Ihnen das Messer vielleicht bekannt vor?«
»Ich habe es schon irgendwo gesehen«, murmelte Luisa Navarro unsicher.
»Lange Rede, kurzer Sinn. Sie sehen hier ein Seitengewehr beziehungsweise Bajonett, das zur Standardausrüstung einer russischen AK-47 gehört. Diese Schusswaffe wurde in den Armeen der damaligen Sowjetunion und den Satellitenstaaten als Standardwaffe eingesetzt.«
»Also auch in Ostdeutschland?«, unterbrach ihn Filipa Pérez neugierig.
»Ja, die Nationale Volksarmee der DDR besaß die Waffe ebenfalls als Standardgewehr.« Er hielt kurz inne, ehe er weitersprach: »Bereits die Aufnahme zeigt deutlich, dass dieses Messer äußerst robust ist. Es kann für zahlreiche Aufgaben genutzt werden, beispielsweise als Kampfmesser, aufgepflanzte Stich- und Hiebwaffe am AK-47, Drahtschere oder Multifunktionswerkzeug.«
»Wie sicher sind Sie, dass es sich tatsächlich, um die Tatwaffe handelt?« Carlos sah ihn skeptisch an.
»Ziemlich. Wie werden natürlich Ihren beiden Obduktionsergebnisse mit in unsere Expertise einarbeiten, doch das wird kaum etwas an meiner Grundüberzeugung ändern.«
»Konnten Sie bereits den Lebensweg von Guntram Neumann zurückverfolgen?«
Ralf Wegner, der zweite BKA-Beamte, nickte sofort und erklärte lächelnd: »Ja. Auch das letzte Opfer lebte in der DDR und wohnte in Potsdam. Erst 1992 zog er nach Düsseldorf um.«
»Also stammen sämtliche Tote aus Ostdeutschland. Das ist zumindest ein gemeinsamer Ansatz«, brummte Luis Alonso.
Wegner sah ihn kurz an, ehe er meinte: »Außerdem ist Neumann vermutlich nicht der unbescholtene Bürger, für den er sich wahrscheinlich selbst gehalten hat. Der Herr ist nämlich bei uns aktenkundig.«
»Weswegen?«
»Auffälliges pädophiles Verhalten gegenüber Schutzbefohlenen.«
»Oh«, Sanchez richtete sich kerzengerade auf, »können Sie schon Näheres dazu sagen?«
»Ja, ich habe mir heute Morgen die Akten per Mail schicken lassen. Aus denen geht hervor, dass gegen Neumann insgesamt drei Gerichtsverhandlungen anhängig waren. Leider wurden sämtliche Verfahren aus Mangel an Beweisen eingestellt.«
»Das besagt manchmal überhaupt nichts.«
Der Deutsche nickte und zeigt mit dem Zeigefinger lächelnd auf die Stichwortgeberin Manuela Torres. »Da gehe ich 100%ig mit.« An alle gewandt, meinte er dann: »Neumann war zeitlebens als Hausmeister an zahlreichen Schulen beschäftigt. In Düsseldorf gab es einige Anzeigen gegen ihn. Er soll mehrfach Grundschüler in seine Arbeitsräume, die sich meistens im Kellergeschoss der Gebäude befanden, gelockt haben, um an den Kindern sexuelle Handlungen vorzunehmen.«
Nachdem er das gesagt hatte, herrschte vollkommene Stille im Raum. Schließlich seufzte Carlos Sanchez Garcia leise und fragte: »Was ich nicht verstehe, warum er nicht rechtskräftig verurteilt wurde?«
Ralf Wegner sah ihn traurig an, ehe er bitter sagte: »Anzeigen wurden zurückgezogen, Augenzeugen konnten sich an nichts mehr erinnern und die Ehefrau hat ausgesagt, dass ihr Mann zum Tatzeitpunkt bei ihr gewesen war.«
»Was vermuten Sie, was hinter den Kulissen passiert war?«
»Um es ganz klar vorwegzusagen, das ist jetzt meine persönliche Meinung und keine offizielle Aussage des BKA.«
»Okay.«
»Ich nehme an, dass im Hintergrund Schweigegeld in beträchtlichem Umfang an die Opferfamilien geflossen war und dass die Ehefrau Falschaussagen vor Gericht getätigt hat.«
»War der Frau überhaupt bewusst, dass dieses Verhalten strafrechtliche Konsequenzen nach sich ziehen konnte?«
»Ja, aber nur, wenn man ihr die Lügen eindeutig nachweist und eben das hat leider nicht geklappt.«
»Gab es gegen Neumann noch weitere Vorwürfe wegen Pädophilie? Ich denke da speziell an die DDR.«
Der BKA-Beamte schüttelte bedauernd den Kopf. »Darüber liegen uns derzeit keine Erkenntnisse vor. Ich habe deshalb meine Kollegen in Deutschland gebeten, die Nachforschungen in dieser Frage zu intensivieren. Ich persönlich bin davon überzeugt, dass Neumann auch vor der Wende aktiv war, denn pädophile Neigungen kommen ja nicht plötzlich von heute auf morgen, sondern zeigen sich sehr häufig bereits im Teenageralter.«
»Danke für die ausführlichen Erläuterungen, Ralf«, meinte Carlos anerkennend zu seinem deutschen Kollegen.
Der Angesprochene unterbrach ihn lächelnd: »Eins noch. Die gesamten Ermittlungsergebnisse werden Ihnen allen bis heute Nachmittag, komplett in spanisch übersetzt, zur Verfügung gestellt.«
12.30 Uhr, nördliche Einfahrt zur Las Canadas
Das laute Brummen des Autos, das derzeit die steilen Serpentinen der Bergflanke hochfuhr, war bereits seit langer Zeit zu hören. Schließlich hatte das Auto die letzte Kurve passiert und kam vor der rot/weiß gestrichene Schranke, die die Fahrbahn auf der ganzen Breite absperrte, zum Stehen. Einer der beiden Nationalpark-Ranger, die für die Überwachung des Verbotes zuständig waren, löste sich aus dem Schatten der tiefhängenden Lorbeerbäume und ging langsamen Schrittes zum blau lackierten VW Golf hinüber. Der Fahrer hatte mittlerweile das Seitenfenster heruntergelassen und schnauzte ihn in akzentfreiem Spanisch an: »Warum ist die Straße gesperrt, verdammt noch mal?«
»Aus Sicherheitsgründen, Señor.«
»Wer hat das veranlasst?«
»Die Sperre der Las Canadas wurde von der Inselregierung angewiesen?«
»Und seit wann?«
»13.00 Uhr, Señor.«
Der Fahrer lachte laut los und schüttelte den Kopf. Dann meinte er süffisant: »Sie benötigen unbedingt eine neue Uhr!«
»Warum, wenn ich fragen darf?«
»Wollen sie mich auf den Arm nehmen?«
Der erfahrene Ranger schüttelte den Kopf. »Nein, ganz und gar nicht.«
»Oh doch, es sind noch 30 Minuten hin bis zum Verbot. Also geben Sie sofort den Weg frei. Ich habe es eilig.«
Sein Gegenüber lief langsam rot im Gesicht an. Es war bisher sehr selten vorgekommen, dass er angeschnauzt wurde. Um die Situation nicht weiter eskalieren zu lassen, meinte er schließlich: »Aber nur auf Ihre eigene Gefahr, Señor! Ich informiere meine Kollegen am südlichen Ausgang, dass sie unterwegs sind.«
»Machen Sie doch, was Sie wollen. Ich muss jetzt weiterfahren«, erklärte er wütend und fuhr das Seitenfenster wieder hoch.
Der Ranger rief seinem Kollegen etwas kopfschüttelnd zu. Wenig später öffnete sich die Schranke, der Fahrer gab sofort Gas und der Wagen raste mit aufheulendem Motor davon.
Die beiden Wachposten blickten irritiert hinterher, bis er hinter der nächsten Kurve verschwunden war.
»Was war denn mit dem eben los?«
»Keiner Ahnung, aber wie der aufgetreten ist, hatte er für mich nicht mehr alle Latten am Zaun.«
»Merkwürdiger Typ.«
»Na ja, letztlich hatte er jedoch recht, denn noch gilt das Verbot nicht.«
»Ja, man kann das aber auch netter sagen«, erklärte der andere Ranger und ließ die Schranke wieder herunter. »Wir stehen ja hier nicht aus Langeweile.«
»Ach, beruhige dich. Er hat seinen Willen bekommen und wir haben unsere Ruhe.« Dann griff er zum Handy, um die Kollegen am südlichen Ausgang über die baldige Ankunft des blauen VW zu informieren.
Vorbote
18.03 Uhr, innerhalb der Las Canadas
Der gecharterte Hubschrauber, der direkt vom Flughafen ›Tenerife Sur‹ gestartet war, hatte die steil aufragenden Bergwände überflogen und steuerte nun mit hoher Geschwindigkeit den mittleren Teil der Caldera an. Mitten in der Einöde der vulkanischen Ablagerungen, Magmakuppeln und Lavafeldern befand sich das Hotel ›Parador de Las Cañadas del Teide‹ mit angeschlossenem Restaurant, das weit und breit die einzige Unterkunft war. Für die beiden Geologen des IGN, die als Passagiere in der Maschine saßen, war die Herberge der ideale Ausgangspunkt für die zahlreichen Untersuchungen, die sie in den darauffolgenden Tagen zu bewältigen hatten.
»Sieht alles ziemlich einsam hier oben aus«, meinte Hugo Alvarez zu seinem Kollegen und deutete nach unten. Dort schlängelte sich die Straße entlang, die quer durch den gesamten gewaltigen Kessel führte.
Pedro Diaz nickte. »Du hast recht. Weder Touristen, noch irgendwelche Autos sind zu sehen. Aber das ist ja auch kein Wunder, denn seit Stunden ist die Zufahrt zum Nationalpark für den Publikumsverkehr gesperrt.«
»Das heißt, wir sind bald die einzigen Menschen weit und breit.«
»Ja, der Pilot fliegt nachher gleich zum Flughafen zurück und kommt morgen Vormittag wieder, damit wir mit unseren Untersuchungen am Gipfelkrater beginnen können.«
»Hauptsache der Koch hat auch etwas zu essen zurückgelassen?«
Der Katalane lachte laut auf, sodass sich der Hubschrauberpilot verwundert zu ihnen umdrehte. Nachdem er sich beruhigt hatte, meinte er: »Keine Sorge, du verhungerst nicht. Wir dürfen uns frei bedienen. Die Rechnung wird dann direkt zum IGN geschickt.«
»Das klingt gut, denn ein wenig Hunger habe ich schon. Der Snack an Bord des Flugzeuges war ja mehr als lächerlich.«
»Ja, eher nicht vorhanden. Wenn das mit dem Service so weitergeht, werden die Fluggesellschaften bald Stehplätze verkaufen.«
Hugo sah ihn schmunzelnd von der Seite an. »Ob du es glaubst oder nicht, der Geschäftsführer von Ryanair hat diese Idee bereits zur Diskussion gestellt.«
»Nicht überraschend. Für noch mehr Profit würde er auch über Leichen gehen.«
Ohne Überleitung begann der Hubschrauber auf der Stelle zu schweben und sank allmählich immer tiefer. Schließlich setzte er sacht auf einer Betonfläche neben dem Hotel auf und ließ seine Rotoren langsam auslaufen, bis sie kurz darauf zum Stehen kamen. Alle Insassen nahmen ihre Kopfhörer ab und schoben die Tür der Maschine auf. Während die Geologen ausstiegen, blieb der Pilot in der Kabine und reichte ihnen nacheinander die Ausrüstungsgegenstände und Messinstrumente hinaus, die sie für ihre späteren Untersuchungen benötigten. Ganz zum Schluss übergab er den Wissenschaftlern ihre persönlichen Reisetaschen. Draußen stapelten sich die Kisten und Pakete, als er zu den zurückbleibenden Männern sagte: »Ich komme morgen wieder.«
»Na, das hoffen wir doch! Wenn möglich bitte gegen 10.00 Uhr«, erklärte Pedro lachend.
»Das lässt sich einrichten.«
»Ausgezeichnet, dann guten Rückflug.«
»Danke.« Er hob zum Abschied die Hand, ehe er von innen die Schiebetür schloss.
Wenig später hob der Hubschrauber wieder ab, drehte sich in circa 20m Höhe um 180° und flog in südlicher Richtung davon. Die Motorengeräusche wurden immer leiser, bis die Maschine schließlich endgültig hinter den steil aufragenden Kraterwänden verschwand.
»So, dann lass uns mal die Sachen reinbringen und danach essen wir etwas«, schlug Hugo Alvarez vor, ehe er nach der ersten Kiste griff und mit ihr zum Haupteingang des Hotels ging.
2 Stunden später
Der kalte Wind hatte deutlich zugenommen und die beiden Männer merkten sofort, dass sie sich in 2000 m Höhe über dem Meeresspiegel befanden. Rasch knöpften sie ihre wattierten Jacken zu, ehe sie ihren Weg am Rand der schmalen Straße fortsetzten. Die Sonne war bereits seit Längerem hinter den westlichen Bergwänden der Caldera verschwunden. Es war die Zeit der blauen Stunde, während der sich die Dämmerung allmählich auf die apokalyptische Landschaft senkte, die nur von wenigen kälteresistenten Pflanzen besiedelt wurde, die ein kümmerliches Leben zwischen den Lavafeldern und Geröllfeldern führten.
Aber für die karge Pflanzenwelt interessierten sich die beiden Wissenschaftler nicht sonderlich. Sie wollten bei ihrem kleinen Abendspaziergang einer berühmten geologischen Sehenswürdigkeit einen Besuch abstatten, um zu überprüfen, inwieweit sie die heftigen Erdbeben der letzten Zeit unbeschadet überstanden hatte. Diese rund 5 Meter hohe Felsformation sah von Weitem wie ein Stöckelschuh aus und wurde deswegen ›Schuh der Königin - Zapatilla de la Reina‹ genannt. Die beeindruckende Formation war ein Überbleibsel des vor etwa vier Millionen Jahren aktiven Urvulkans der Insel und erhielt ihre derzeitige Form durch das ständige Wirken der Erosionskräfte Regen, Eis, Frost und Wind.
Schließlich erreichten sie einen kleinen Parkplatz, von dem aus, ein schmaler Weg direkt zum geologischen Meisterwerk führte. Je näher sie kamen, umso mehr Details traten hervor und es sah von Weitem so aus, als hätte der ›Schuh der Königin‹ die Erdbeben bisher unbeschadet überstanden.
»Ich bin überrascht, dass nichts beschädigt wurde. Das wäre auch zu schade gewesen«, meinte Hugo zu seinem Freund, der hinter ihm ging.
»Das Beben vor knapp einer Stunde war ebenfalls ziemlich stark.«
»Ich vermute, die Magnitude lag bei 5,7.«
»Ja, da gehe ich auf jeden Fall mit.«
Schließlich erreichten die beiden Männer den kleinen Begrenzungszaun, der die Formation vor dem Betreten und der mutwilligen Zerstörung schützen sollte.
»Irgendetwas liegt da zwischen Absatz und Schuhspitze, dass da nicht hingehört«, murmelte Pedro.
Hugo hatte es trotzdem verstanden und sah genauer hin. Schließlich meinte er: »Sieht wie eine Puppe aus.«
Diaz nickte, ehe er irritiert sagte: »Wie kommt so etwas denn hierher? Hier hat sich wohl einer einen Scherz erlaubt.« Er schüttelte den Kopf.
»Kann ja nur ein Tourist gewesen sein«, erklärte sein Kollege verärgert. »Merkwürdig, dass die Ranger es nicht längst weggeräumt haben.«
»Na, die sind ja derzeit mit anderen wichtigen Sachen beschäftigt.«
»Das stimmt natürlich. Dann übernehmen wir eben halt den Part.« Ohne die Reaktion seines Freundes abzuwarten, überstieg er die flache Absperrung und ging zur eindrucksvollen Formation hinüber.
Langsam kroch die Dunkelheit die steilen Hänge der Caldera herunter und würde bald die beiden Männer erreichen.
»Wir sind doch nicht die Müllabfuhr«, brummte Pedro missmutig. Aber die Neugier siegte und schnell folgte er Hugo, der schon einige Meter Vorsprung hatte.
Plötzlich blieb er stehen und drehte sich um. Als Diaz ihn schließlich erreicht hatte, flüsterte er erregt: »Das ist keine Puppe.«
»Was soll es denn sonst sein? Eine Mülltüte? Geh mal zur Seite, ich sehe überhaupt nichts.« Er drängelte sich vor.
Etwas unwillig machte ihm Alvarez Platz.
»Verdammt, du hast recht. Da liegt ein Mensch. Wie kommt der hierher?«
»Keine Ahnung.«
»Ist ja auch völlig egal. Wir müssen überprüfen, ob er noch lebt.«
»Wollen wir nicht zuerst die Polizei informieren?«
»Das machen wir sofort danach.«
Die beiden Geologen kletterten über einige verdorrte halbhohe Büsche, bis sie schließlich vor dem Körper standen, der sich als älterer Mann mit Halbglatze und wenigen grauen Haaren entpuppte und dessen Augen halb geöffnet waren. Er lag mit ausgestreckten Armen unterhalb des Schuhs und es sah ganz danach aus, als ob er dort hingebracht worden war.
»Was für ein Wahnsinn«, erklärte Pedro kopfschüttelnd und hockte sich neben den leblosen Unbekannten hin. Anschließend tastete er den Halsbereich ab, um an der Halsschlagader den Puls zu messen. Kurz darauf drehte er sich wieder zu Hugo um und meinte mit trauriger Miene: »Hier kommt leider jegliche Hilfe zu spät, er ist bereits kalt und tot.«
»Aber die Leichenstarre scheint völlig ausgeprägt zu sein. Was ist das überhaupt für ein schwarzer Abdruck auf seiner Stirn?«
Sein Kollege beugte sich vor und begutachtete die Stelle. »Sieht wie ein Fingerabdruck aus.«
»Okay, dann lass uns mal die Polizei informieren.«
»Ich glaube kaum, dass es hier ein Funknetz gibt.«
Hugo sah auf das Display des eigenen Handys, ehe er meinte: »Du hast recht. Ich habe Null-Empfang. Wir müssen zurück zum Hotel und über das Festnetztelefon anrufen.«
Als sie zur Straße zurückgingen, brach endgültig die Nacht herein. Diaz aktivierte die Taschenlampe seines Smartphones und leuchtete den schmalen Weg vor ihnen aus. Während er zügig vorausging, meinte er zu Alvarez: »Weißt du, was mir bereits auf dem Hinweg aufgefallen ist und jetzt schon wieder?«
»Ich kann deine Gedanken leider nicht lesen«, konterte dieser lachend.
»Stimmt. Ich sehe hier keinerlei Schleifspuren.«
»Hm, außerdem gibt es keine Blutspuren, obwohl sein T-Shirt ziemlich blutgetränkt war.«
»Vielleicht wurde irgendein Hilfsmittel zum Transport der Leiche eingesetzt oder das war vorhin auch der Tatort und nicht nur der Ablageort.«
»Das herauszufinden, überlassen wir mal lieber der Polizei, denn die werden dafür bezahlt.« Diaz hatte überhaupt keine Lust, sich an irgendwelchen Spekulationen zu beteiligen.
Wenig später erreichten sie die Straße und beschleunigten ihre Schritte, während gleichzeitig der Lichtkegel der Taschenlampe ihnen vorauseilte.
Unvermittelt war ein lautes Knacken zu vernehmen, dass von einem dumpfen Grollen, das aus dem Erdinnern zu kommen schien, abgelöst wurde. Sofort blieben die erfahrenen Geologen stehen und hocken sich hin. Geradeso rechtzeitig, denn in diesem Moment trafen die tektonischen Urgewalten aus der Tiefe kommend auf der Erdoberfläche ein und breiteten sich rasend schnell, beginnend vom Epizentrum, in sämtliche Himmelsrichtungen aus. Die Erschütterungen nahmen sukzessive zu und erreichten nach 30 Sekunden ihren Höhepunkt, ehe sie rasch abflachten. In einiger Entfernung war ein lautes Gepolter zu hören, dass schließlich ohrenbetäubend wurde, so als ob Geröllmassen zu Tal rutschten. Plötzlich kehrte wieder Ruhe ein und außer dem Wind, war kein weiteres Geräusch mehr zu vernehmen. Die beiden Geologen erhoben sich und wurden in diesem Moment von einer Staubwolke erfasst, die von der herabstürzenden Steinlawine erzeugt wurde. Leise fluchend setzten sie ihren Weg in Richtung Hotel fort, das sie schließlich 10 Minuten später erreichten. Vor dem Haupteingang klopften sie sich den Staub aus der Kleidung und den Haaren, ehe sie die winzige Halle betraten, in der sich auch die kleine Rezeption befand.
»Ich werde jetzt mal die Polizei anrufen. Hoffentlich hat die Gerölllawine nicht die Straße verschüttet«, erklärte Pedro Diaz und verschwand hinter dem Tresen der Anmeldung. Er hob den Telefonhörer ab, ehe er lächelnd zu seinem Kollegen und Freund sagte: »Die Festnetzverbindung funktioniert.« Dann wählte er schnell die 092 und wartete geduldig, bis endlich nach dem dritten Läuten am anderen Ende abgenommen wurde. Eine dunkle Stimme stellte sich vor: »Policía Canaria. Was kann ich für Sie tun?«
»Oh, eine ganze Menge, Señor.« Der Geologe holte tief Luft und begann zu erzählen.
3 Stunden später, Zapatilla de la Reina
Eine Vielzahl unterschiedlicher Mittelklassewagen, SUV und Transporter parkten wild durcheinander auf beiden Seiten der ziemlich schmalen Straße. Einige Polizeiwagen hatten ihre Rundumleuchten angelassen, sodass ihre Lichtkegel die nähere Umgebung immer wieder aus der Dunkelheit rissen.
Die gesamte Strecke vom kleinen Parkplatz bis zur Formation, die einem Schuh ähnelte, wurde durch zahlreiche Halogenstrahler taghell ausgeleuchtet. Mehrere Mitarbeiter der Spurensicherung, gut erkennbar an ihren weißen Overalls, waren gerade dabei signifikante Spuren zu sichern. Dafür hatten sie Dutzende Plastikkärtchen, die jeweils eine andere Nummer trugen, auf dem gesamten Weg zum und rund um den Fundort der Leiche verteilt, die deutlich sichtbar diese wichtigen Standorte kennzeichneten.
Vor der Absperrung standen die beiden Geologen, die vor über drei Stunden den Toten gefunden hatten und wurden gerade von Luis Alonso befragt. Während die Männer ausführlich seine Fragen beantworteten, machte sich der erfahrene Kriminalist einige Notizen. 10 Minuten später beendete er die Befragung und die Wissenschaftler konnten wieder in ihre Unterkunft zurückkehren.
In diesem Moment fuhr ein einzelnes Fahrzeug aus südlicher Richtung kommend die Straße entlang und näherte sich mit hoher Geschwindigkeit dem hell erleuchteten Fundort. Beim Näherkommen entpuppe sich der Wagen als Polizeifahrzeug der ›Policía Canaria‹. Schließlich stoppte er direkt vor dem kleinen Parkplatz und Carlos Sanchez Garcia stieg auf der Beifahrerseite aus und ging gemächlichen Schrittes zu seinem Stellvertreter hinüber, der ihn vor dem Absperrband erwartete.
»Oh, heute mal mit Fahrer«, begrüßte er den Freund lächelnd.
»Ja, ich war mit meiner Frau zur Geburtstagsfeier eines guten Kumpels eingeladen und hatte bereits einige Gläser Wein getrunken, als dein netter Anruf kam.« Er wechselte seufzend das Thema. »Was liegt diesmal an?«
»Ein Toter, männlich, weiß, circa 60 bis 70 Jahre alt. Er wurde von zwei Geologen, die im Hotel Quartier bezogen haben, bei einem Spaziergang entdeckt.«
»Todesursache?«
»Vermutlich Messerstich. Näheres kann dir bestimmt Marta sagen.«
»Ist sie schon vor Ort?«
»Ja, seit knapp einer Stunde?«
»Gibt es sonst Auffälligkeiten?«
Luis nickte. »Ja, leider. Auf der Stirn der Leiche befindet sich wieder ein schwarzer Daumenabdruck.«
»Verdammt«, stöhnte Carlos auf und schoss einen kleinen Kiesel über die Straße, bis er am Reifen eines geparkten Polizeiwagens abprallte und mitten auf dem Asphalt liegen blieb. »Der Täter erhöht seine Schlagzahl. Aber warum? Hast du eine Idee?« Er blickte den Kollegen nachdenklich an.
Der zuckte bedauernd mit den Schultern und meinte: »Vielleicht liegt es ja an den Erdbeben.«
»Ist der Fundort auch der Tatort?«
»Vermutlich nicht, die Kleidung ist zwar rund um die Einstichstelle blutgetränkt, aber in der Umgebung der Leiche konnten bisher keinerlei Blutspuren sichergestellt werden.«
»Das heißt, im Umkehrschluss, das Opfer wurde hierher transportiert und abgelegt. Die Sache wird immer verworrener. Was machen unsere Kollegen gerade?«
»Sie befragen derzeit die Ranger des Nationalparks. Danach kommen sie zur Berichterstattung zurück. Es gibt hier nämlich kein Funknetz.«
»Auch das noch«, murmelte Carlos frustriert, »uns bleibt heute nichts erspart. Dabei ging der Abend für mich so wunderbar los.«
»Tja und nun endet er wieder einmal in einer menschlichen Tragödie.«
»Du sagst es. Hast du die Deutschen ebenfalls informiert?«
»Nein, ich wollte sie nicht aus dem Feierabend holen. Außerdem können sie uns hier draußen sowieso nicht helfen. Ich werde sie gleich morgen früh Briefen.«
»Okay, ich möchte mir mal den Fundort anschauen!«
»Ich frage die Jungs mal, ob das möglich ist.« Luis schlüpfte unter dem Absperrband durch und winkte einen Techniker der Spurensicherung zu sich heran. Die Männer wechselten kurz einige Worte miteinander. Dann nickte Alonso und rief seinem Freund zu: »Alles in Ordnung, du kannst kommen.«
Wenig später erreichte er die beiden Kollegen und fragte neugierig: »Und habt ihr bereits etwas Relevantes gefunden?«
Der Techniker nickte. »Wir haben einige Profilabdrücke von schmalen Rädern sowie Schleifspuren sichergestellt.« Er zeigte auf die nummerierten Plastikkärtchen, die wie auf einer Perlenkette aufgereiht dem Weg folgten, der zur geologischen Formation führte.
»Das heißt was?«
»Vermutlich wurde auf diese Weise die Leiche zum Fundort transportiert. Ich zeige dir mal die Spur.«
Die drei Männer hockten sich direkt an eine Stelle hin, wo zwei Radspuren deutlich zu erkennen waren.
»Die Profilbreite der beiden Reifen beträgt jeweils 4 cm und der Abstand 48,5 cm.«
Garcia deutete auf den erkennbaren Abdruck. »Ein Profil ist aber nicht zu sehen.«
»Es ist auch keines vorhanden«, erwiderte sein Kollege und erhob sich langsam. »Ich persönlich vermute, hier wurde eine Sackkarre zum Transport der Leiche eingesetzt.«
Die beiden Kriminalisten standen ebenfalls auf und Luis meinte skeptisch: »Die könnten jedoch bereits deutlich früher entstanden sein oder?«
»Wenn dem so wäre, dann hätten beispielsweise andere Fußabdrücke, die Radspuren zumindest teilweise überdecken müssen. Haben sie aber nicht.«
»Als Letztes begaben sich doch die beiden Geologen zum Fundort.«
Der Techniker lachte und drohte Carlos scherzhaft mit dem Zeigefinger. »Ich ahne, worauf du hinauswillst. Keine Sorge, diese Schuhabdrücke haben wir bei der Spurenanalyse außen vorgelassen und gleichzeitig die Abdrücke des vermutlichen Täters gesichert. Die übrigen Profilspuren befinden sich allesamt unterhalb der Radspur.«
Alonso kratzte sich gedankenverloren am Hals. »Das heißt, die Leiche wurde erst kurz vor der Sperrung des Nationalparks hier abgelegt.«
»Sieht ganz so aus«, murmelte der Techniker.
Carlos nickte. »Vielleicht bringen ja die Befragungen der Ranger etwas. Ich werde jetzt mal unserer Rechtsmedizinerin meine Aufwartung machen. Ihr habt ja hier noch genug zu tun.« Ohne eine Antwort abzuwarten, drehte er sich um und ging den schmalen Weg entlang in Richtung des taghell erleuchteten Fundortes.
Centro de Visitantes El Portillo
Das Besucherzentrum befand sich am nördlichen Eingang des Nationalparks, direkt am Straßendreieck der TF 21 und der TF 24. Vor wenigen Stunden hatte eine Gerölllawine, hervorgerufen durch ein starkes Erdbeben, die Straße verschüttet, die quer durch die Caldera führte.
Deshalb mussten die Kriminalisten einen gewaltigen Umweg fahren, um die Ranger, als Augenzeugen, befragen zu können.
Vor einer halben Stunde waren sie endlich am fast verwaisten Parkplatz angekommen und wurden vom Leiter des Zentrums, der hier die Stellung hielt, freundlich begrüßt. Nun warteten sie mit ihm gemeinsam in der Cafeteria bei einem Espresso auf ihre Gesprächspartner. Die beiden Männer, mit denen sie sich unterhalten wollten, hatten den Auftrag erhalten, die tatsächlichen Ausmaße der abgegangenen Gerölllawine festzustellen. Vermutlich keine leichte Aufgabe, da es in der Caldera stockfinster war, außer direkt am Leichenfundort, der taghell ausgeleuchtet wurde.
Nach einer Weile waren draußen Motorengeräusche eines ankommenden Autos zu hören, die schließlich verstummten.
»Da sind die Jungs«, erklärte Alejandro Fernandez lächelnd, ehe er von seinem Stuhl aufstand, um den Kollegen entgegenzugehen.
»Hoffentlich können sie uns weiterhelfen«, flüsterte Luisa Navarro.
»Du weißt doch, die Hoffnung stirbt immer zuletzt«, erwiderte Enrique Gómez und sein Gesicht sprach Bände, das er davon nicht so recht überzeugt war.
Kurz darauf ging die Tür zur Cafeteria auf und die Ranger betraten gemeinsam mit ihrem Leiter den Raum.
Die beiden Polizisten erhoben sich rasch, zeigten ihre Ausweise und stellten sich vor. Dann schüttelte sie sich untereinander der Hand, während Fernandez die Kollegen vorstellte: »Das sind Pablo Perez und David Marti, die zum Beginn der Sperrung an der Schranke in Richtung Puerto de la Cruz Dienst hatten.« Er deutete auf die stämmigen Mittzwanziger, von denen einer einen markanten schwarzen Vollbart trug.
Gómez fragte die Männer neugierig: »Und ist die Straße tatsächlich verschüttet?«
»Ja, leider.«
»Also haben wir keine Chance von hier aus zum südlichen Ende der La Canadas zu kommen.«
Beide schüttelten sofort den Kopf, ehe David, der mit seinen blonden kurzen Haaren nicht wie ein klischeehafter Spanier aussah, meinte: »Die gesamte Fahrbahn ist auf einer Länge von mindestens 300m bis zu 4m hoch durch die Gerölllawine verschüttet worden. Ein Durchkommen ist derzeit unmöglich. Da muss auf jeden Fall schwere Technik eingesetzt werden, um die Geröll- und Lavabrocken von der Straße zu räumen. Das wird garantiert einige Wochen dauern, bis wir die Zufahrt wieder freigeben können.«
»Das ist nicht schön«, murmelte die Kriminalistin.
Der Ranger zuckte bedauernd mit den Schultern. »Tut mir leid, dass ich keine besseren Nachrichten für, Sie habe.«
»Das ist halt Pech, aber wir möchten Sie wegen einer ganz anderen Sache befragen.«
»Okay.«
»Vielleicht ist ihnen bereits zu Ohren gekommen, dass unterhalb der Zapatilla de la Reina eine Leiche gefunden wurde.«
»Unsere Ablösung hat uns darüber informiert. Fragen Sie mich bitte jetzt nicht, woher die Kollegen ihre Informationen hatten«, erklärte Pablo zurückhaltend.
»Vermutlich Polizeifunk«, äußerte Enrique Gómez einen Verdacht.
Sein Gegenüber hob bedauernd die Hände hoch. »Keine Ahnung.«
»Alejandro hat uns vorhin erzählt, dass Sie für die Räumung des Nationalparks, speziell an der Touristenroute, verantwortlich waren.«
»Das ist richtig.«
»Was haben Sie konkret gemacht und vor allem wann?«
David blies die Wangen auf und murmelte: »Wo soll man da anfangen? Nach der Nachricht, dass der Nationalpark ab 13.00 Uhr für den Publikumsverkehr gesperrt wird, haben wir ab circa 10.30 Uhr begonnen, die Leute höflich aufzufordern, das Gebiet umgehend zu verlassen. Unsere Absicht war, den Park schon früher zu schließen.«
»Gab es bei der durchgeführten Evakuierung irgendwelche Probleme?«
Die beiden jungen Männer sahen sich kurz an, dann sagte Pablo lächelnd: »Das Übliche halt. Es gibt immer vereinzelt Leute die querschießen und sich widersetzen wollen. Aber die bekommen von uns eine individuelle Ansage inklusive Androhung einer hohen Geldstrafe bei Zuwiderhandlungen und damit sind die Machtverhältnisse auch schon eindeutig geklärt.«
»Wann haben die letzten Personen den Park endgültig verlassen?«
»Gegen circa 11.45 Uhr. Wir sind danach noch einmal alle markanten Sehenswürdigkeiten, die direkt an der Strecke lagen, abgefahren, haben aber niemanden mehr angetroffen.«
»Auch an der Zapatilla de la Reina nicht?«
David schüttelte sofort den Kopf. »Keine einzige Menschenseele.«
»Danach sind sie gleich zur Schranke gefahren?«
»Ja, das stimmt.«
»Ist Ihnen auf der Fahrt dorthin ein Fahrzeug entgegengekommen?«
»Nein.«
»Busse oder Wanderer?«
»Ebenfalls nicht.«
Luisa Navarro machte sich fleißig Notizen. Zwischendurch griff sie zu ihrem Glas und trank einen Schluck Mineralwasser. Dann setzte sie die Befragung fort und fragte mit ernster Miene: »Wann genau haben Sie den Nationalpark abgesperrt?«
»Das war gegen 12.05 Uhr.«
»Ein wenig zu früh oder?«
»Das stimmt, aber wir haben da eher an die Sicherheit der Besucher gedacht, denn aus Langeweile wird der Park ja nicht gesperrt.«
»Da haben Sie natürlich recht. Mussten sie während dieser Zeit Fahrzeuge beziehungsweise Leute an der Sperre abweisen?«
Die beiden Ranger schüttelten den Kopf, bis schließlich Pablo plötzlich sagte: »Augenblick mal. Da gab es doch einen einzelnen Wagen, dessen Fahrer unbedingt weiterfahren wollte und sehr unfreundlich war.«
Sein Kollege nickte. »Stimmt, der hatte auf jeden Fall keinen Clown gefrühstückt.« Die jungen Männer lachten laut los.
Die Kriminalistin blickte sie etwas ungnädig an. »Was passierte mit diesem Fahrer weiter?«
»Wir haben ihn durchgelassen«, gab David kleinlaut zu.
»Warum, wenn ich fragen darf? Sie sehen mit Ihren Körperstaturen ziemlich bedrohlich aus. Für Sie müsste es doch ein leichtes sein, so einen unfreundlichen Typ in die Schranken zu weisen.«
»Das mag ja alles sein, allerdings stand das Recht auf seiner Seite und er hat darauf hingewiesen, dass bis 12.59 Uhr eine Einreise in den Nationalpark möglich ist.«
»Zusammengefasst, Sie haben ihn deshalb weiterfahren lassen.«
»Ja, das stimmt.«
»Das war das letzte Fahrzeug, das die Sperre passiert hat?«
»100%ig«, erklärte Pablo, dem das Gespräch sichtlich unangenehm war.
»Können Sie sich wenigstens noch an den Fahrer erinnern?«
Die beiden Ranger nickten und David meinte: »Ich denke schon.«
In diesem Moment mischte sich Enrique Gómez, der die gesamte Zeit geschwiegen hatte, in die Diskussion ein. Er entnahm einem Ordner ein Phantombild und schob es zu Perez und Marti hinüber. »Sah der Mann vielleicht so aus?«
Die beiden sahen sich die Aufnahme eine Weile an, bis schließlich David meinte: »Eine gewisse Ähnlichkeit ist auf jeden Fall vorhanden oder siehst du das anders?« Er sah seinen Kollegen fragend von der Seite an.
Pablo schüttelte den Kopf. »Das Bild kommt dem Original schon ziemlich nahe.«
»Okay, was meinen Sie damit?«
»Sein Gesicht war nicht so schmal. Außerdem trug er einen 3-Tage-Bart und sah ein wenig ungepflegt aus.«
»Also stimmten Person und Phantombild überein?«
»Im Großen und Ganzen ja. Die Augenbrauen waren noch etwas voller, aber ansonsten ist die Ähnlichkeit nicht von der Hand zu weisen.«
»Kommen wir mal zum Fahrzeugtyp.«
Pablo Perez antwortete sofort: »Das war ein Golf mit dunkelblauer Lackierung.«
»Kennen Sie zufällig das Autokennzeichen?«
»Leider nicht«, er schüttelte bedauernd den Kopf und fragte Marti: »Oder hast du dir das Kennzeichen gemerkt, David?«
»Bedauerlicherweise nicht. Aber vielleicht können die Kollegen, die am südlichen Ausgang für die Sperrung zuständig waren, mehr dazu sagen?«
»Danke für den Hinweis. Die werden wir ebenfalls noch befragen.« Die Kriminalistin sah ihn lächelnd an.
Enrique Gómez mischte sich erneut ein und fragte die Ranger neugierig: »Haben Sie Ihre Kollegen darüber informiert, dass ein VW auf dem Weg zu ihnen war?«
Pablo Perez erwiderte sofort: »Selbstverständlich, wir mussten den Wagen doch im Auge behalten.«
»Gab es auch eine Rückmeldung, nachdem das Fahrzeug den gesperrten Bereich wieder verlassen hatte?«
»Ja, das war«, er hielt kurz inne, »gegen 12.55 Uhr.«
»Das heißt, der Fahrer war circa 50 Minuten innerhalb des Parks unterwegs.«
»Wenn Sie das sagen, wird es wohl stimmen«, frotzelte David Marti.
»Ja, ich habe nur eins und eins zusammengezählt, Schulstoff der 1. Klasse«, konterte Luisa Navarro schmunzelnd. »Benötigt man durchschnittlich immer so lange, um die Caldera zu durchqueren?«
»Es geht wesentlich schneller. Der Herr hat sich wohl Zeit gelassen.«
»Kam Ihnen das nicht merkwürdig vor, denn sein Verhalten deutete doch eher darauf hin, dass er es sehr eilig hatte.«
David sah sie mit nachdenklicher Miene an, ehe er murmelte: »Sie haben recht, das hat mich auch gewundert, wie viel Zeit er letztlich brauchte, um den Park zu durchfahren. Ich habe angenommen, dass er mit Höchstgeschwindigkeit da durchbrettert.«
»Nehmen wir mal an, er wäre, ohne irgendwo anzuhalten, mit hoher Geschwindigkeit gefahren. Wie lange hätte er für die Fahrt benötigt, um die südliche Sperre zu erreichen.«
Die beiden überlegten kurz, bis Pablo Perez meinte: »Circa 25 Minuten.«
»Er hat sich also sehr viel Zeit gelassen.«
»Das stimmt, das reichte zwar nicht aus, um den Teide zu besteigen, aber um sich Sehenswürdigkeiten, die in der Nähe der Straße lagen, anzusehen.« Er lachte über seinen eigenen Scherz.
»Sie stimmen mir dahingehend zu, dass es möglich war, innerhalb dieses Zeitrahmens, eine Leiche zur Zapatilla de la Reina zu transportieren.«
Beide Ranger nickten. »Auf jeden Fall.«
»Okay, gibt es sonst noch etwas, was Ihnen aufgefallen beziehungsweise merkwürdig war?«
Pablo und David schüttelten gleichzeitig den Kopf. »Ansonsten gab es keine weiteren Probleme und Zwischenfälle.«
Luisa Navarro klappe ihr Notizbuch zu und steckte es weg. Anschließend meinte sie freundlich lächelnd: »Wir bedanken uns bei Ihnen für die interessanten Aussagen. Sie werden uns auf jeden Fall ein Stück weiterbringen.«
»Geht es um den Mörder, der bereits zwei Deutsche umgebracht hat?«, fragte David unvermittelt.
»Das dürfen wir Ihnen leider nicht sagen. Aber woher haben Sie diese Information?«
Der junge Ranger lächelte. »Teneriffa ist eine kleine Insel, da verbreiten sich Neuigkeiten rasend schnell, auch wenn die Medien darüber bisher kaum berichtet haben.«
»Es gibt derzeit eine Nachrichtensperre, an die wir uns halten müssen.« Die Kriminalistin und ihr Kollege erhoben sich von ihren Stühlen. »Nochmals vielen Dank für die Hilfe und sollte Ihnen doch noch etwas einfallen, dann rufen sie mich bitte an.« Sie überreichte den drei Männern ihre Visitenkarte.
unterhalb der Zapatilla de la Reina
Hauptkommissar Carlos Sanchez und Marta Moreno Lopez standen direkt neben der Leiche und unterhielten sich leise.
Der Kriminalist fragte die Rechtsmedizinerin gerade: »Kannst du den Todeszeitraum näher eingrenzen?«
Sie nickte leicht mit dem Kopf. »Die Leichenstarre ist, wie man an den ausgestreckten Armen deutlich sieht, derzeit voll ausgeprägt. Ich habe darüber hinaus auch die Körperkerntemperatur ermittelt und lege mich auf einen Todeszeitpunkt zwischen 8.30-10.00 Uhr fest.«
»Es handelt sich hier aber nicht um den eigentlichen Tatort?«
»Nein, dafür ist die Blutmenge, die vor Ort aus der Wunde gesickert ist, viel zu gering. Bei der erlittenen Stichverletzung hat das Opfer eine Menge Blut verloren. Nur wurden weder unter dem Körper, noch in der näheren Umgebung Blutspuren gefunden.«
»Das heißt, der Täter hat die Leiche hierher transportiert und abgelegt.«
Sie blickte ihn mit nachdenklicher Miene an, ehe sie mit leiser Stimme antwortete: »Ja, das vermute ich ebenfalls.«
»Die Spurensicherung hat Radspuren gefunden, die von einer Sackkarre stammen könnten.«
»Damit sagst du mir nichts Neues, mein Lieber. Auf jeden Fall erleichtert so ein Hilfsmittel den Transport einer 80 kg schweren Leiche ungemein.«
»Der Daumenabdruck auf der Stirn bringt uns derzeit auch nicht weiter oder?«
Die Rechtsmedizinerin lächelte. »Es handelt sich wieder um den gleichen Fingerabdruck, den wir bereits an den anderen beiden Opfern festgestellt haben. Nur leider ist er, trotz ständiger Aktualisierungen, immer noch nicht mit einem konkreten Namen in unserem System verbunden und das ist echt frustrierend.«
»Gibt es etwas Neues zur Tatwaffe?«
»Den Spuren und Merkmalen nach zu urteilen, wurde erneut dieselbe Stichwaffe eingesetzt.«
»Laut der deutschen Kollegen vom BKA soll es sich dabei um ein Seitengewehr des AK-47 handeln. Siehst du das ähnlich?«
Die erfahrene Rechtsmedizinerin überlegte eine Weile, während sie sich eine blonde Strähne aus dem Gesicht strich. Schließlich murmelte sie: »Schwer zu sagen. Ich möchte mich derzeit noch nicht festlegen.«
Carlos sah seine Kollegin etwas verwundert an. »Bist du etwa verunsichert? So kenne ich dich gar nicht.«
Sie schüttelte sofort lachend den Kopf. »Hast du eine Ahnung, wie viele Stichwaffen es von diesem Messertyp gibt?«
»Nein, nicht wirklich«, gab er zerknirscht zu.
Sie tätschelte zärtlich seine Wange und flüsterte: »Aber zu deiner Beruhigung, das russische Bajonett gehört mit zu meinen Favoriten.« Dann trat sie schmunzelnd einen Schritt zurück und hinterließ einen Hauch ›Coco Mademoiselle‹ von Chanel. Der Duft des Parfüms war genauso sinnlich und betörend, wie die Frau, die ihm direkt gegenüberstand und aufmerksam beobachtete. Am liebsten hätte er sie jetzt umarmt und geküsst. Aber er traute sich nicht, denn er befürchtete, eine schallende Ohrfeige von einer wütenden Rechtsmedizinerin zu bekommen und das auch noch ausgerechnet neben einer Leiche. Das wäre mehr als peinlich und garantiert nicht der Weisheit letzter Schluss. Er merkte, dass er langsam im Gesicht rot wurde, während er gleichzeitig sein Gehirn hektisch nach Fragen durchforstete, um den Gesprächsfluss aufrechtzuerhalten.
Marta ahnte wohl, in welchem Zwiespalt er gerade steckte, denn sie meinte: »Dir ist garantiert auch schon aufgefallen, dass der Täter ein wahnsinniges Tempo bei seinen Straftaten vorlegt. Ich habe mich bereits gefragt, ob die Zunahme der Erdbeben, damit zusammenhängt?«
Er blickte sie irritiert an. »Wie kommst du darauf?«
»Ganz einfach Carlos, er will hier etwas beenden, was er in Deutschland begonnen hat, und zwar, bevor der Vulkan ausbricht.«
»Es ist ja noch gar nicht gesagt, ob es überhaupt zu einer Eruption kommt.«
»Die Chancen stehen wohl bei 50 zu 50.«
»Wer sagt das?«
»Die Kollegen der Spurensicherung haben sich vorhin kurz mit den beiden Geologen unterhalten, die unsere Leiche entdeckt haben.«
»Aha.«
Plötzlich waren ein lautes Knacken und Poltern zu hören, das aus dem Erdinnern zu kommen schien. Marta und Carlos sahen sich erschrocken an, eher der Hauptkommissar reagierte und ihr zurief: »Wir müssen sofort weg von der Formation.« Er griff nach der schmalen Hand der Rechtsmedizinerin, die immer noch in Einmalhandschuhen steckte und zog sie von der Leiche weg. Keine Sekunde zu früh. Ein schwerer Schlag traf die beiden Flüchtigen und riss sie förmlich auf den Boden, der glücklicherweise an dieser Stelle nur aus Sand bestand. Dann begann der gesamte Bereich rhythmisch auf und ab zu schwanken, während aus Richtung des Teide ein ohrenbetäubendes Poltern zu vernehmen war.
»Was war das?«, schrie sie geschockt.
Garcia war sich nicht sicher. »Wahrscheinlich eine Gerölllawine.«
So schnell, wie die Erdstöße gekommen waren, so rasch nahmen sie wieder ab. Vorsichtshalber warteten sie auf Knien noch einige Minuten ab, ehe sie langsam aufstanden.
Auch die Kollegen der Spurensicherung hatten das Erdbeben scheinbar gut überstanden und begannen gerade ihr umfangreiches Equipment zusammenzupacken. Am hellausgeleuchteten Parkplatz konnte man in diesem Augenblick eine graue Staubwolke sehen, die wahrscheinlich von der abgegangenen Lawine aufgewirbelt worden war.
»Ich lasse jetzt die Leiche abtransportieren. Hoffentlich ist der südliche Bereich noch frei«, erklärte die Rechtsmedizinerin und winkte hektisch zwei Kollegen heran, die eine Krankentrage in der Hand hielten.
Die beiden Männer reagierten sofort und begaben sich direkt zum Fundort. Dort rollten sie einen schwarzen Leichensack auseinander und legten den Toten hinein, ehe sie den Reißverschluss zuzogen und den schweren Sack auf die Trage hievten. Keine Sekunde zu früh, denn in diesem Moment erreichte die Staubwolke die geologische Formation und hüllte sie völlig ein.
Bei sehr eingeschränkter Sicht ging Carlos langsam zum Parkplatz zurück und suchte nach seinem Chauffeur. Als er das Polizeifahrzeug endlich entdeckt hatte, öffnete er schnell die Beifahrertür und setzte sich seufzend hinein.
Der Fahrer blickte ihn fragend an: »Wo soll es jetzt hingehen?«
»Zum Präsidium.«
Der junge Polizist startete umgehend den Motor und wollte gerade wenden, als der Hauptkommissar ihn zurückhielt. »Warten Sie bitte kurz.« Dann öffnete er seine Tür und rief Marta zu, die soeben mit den Trägern am Transporter der Rechtsmedizin angekommen war: »Hast du bei der Leiche irgendein Dokument gefunden, damit wir ihn identifizieren können?«
Sie schüttelte den Kopf. »Er hatte nichts bei sich?«
»Keinen Personalausweis, Führerschein oder Chipkarte der Krankenkasse?«
»Nein.«
»Okay danke.« Er hob zum Abschied die Hand und schlug die Beifahrertür wieder zu.
»Und jetzt zum Präsidium, Señor Garcia?«
Überraschenderweise schüttelte der Hauptkommissar den Kopf. »Später, zuerst fahren Sie mich bitte zum Hotel, in dem die Geologen untergebracht sind.«
Der Chauffeur sah ihn verwundert an und meinte leise: »Hauptsache, die Lawine hat die Straße nicht verschüttet.«
»Das werden wir bald wissen, junger Mann. Fahren Sie höchstens Schrittgeschwindigkeit.«
»Das hatte ich sowieso vor, da die Sicht durch den aufgewirbelten Staub äußerst schlecht ist.«
Hotel ›Parador de Cañadas del Teide‹
Im Restaurant brannte noch Licht, als der Wagen auf dem Parkplatz zum Stehen kam. Die Sicht hatte sich mittlerweile wieder deutlich gebessert, sodass immer mehr Sterne am wolkenlosen Nachthimmel zu erkennen waren.
Der Hauptkommissar öffnete die Beifahrertür, während er gleichzeitig zum Fahrer sagte: »Sie warten bitte hier. Ich bin gleich zurück.«
»Alles klar, Señor.«
Dann schlug er die Autotür von außen zu und lief sofort zum Hoteleingang, der sich etwas versteckt auf der linken Seite des Gebäudes befand. Im Foyer angekommen, begab er sich umgehend zum Restaurant, dessen Eingangstür nur leicht angelehnt war. Er klopfte an, ehe er sie öffnete und den Raum betrat. Die beiden Geologen, die nebeneinander vor mehreren Computerbildschirmen saßen, blickten überrascht zur Tür, als der Kriminalist eintrat.
Hugo Alvarez erhob sich von seinem Platz und fragte ihn verwundert: »Können wir etwas für Sie tun, Señor?«
»Das hoffe ich.«
»Und wer sind Sie, wenn ich fragen darf?«
»Sorry«, murmelte der Kriminalist. Er kramte seinen Dienstausweis aus der Jackentasche hervor und hielt sie dem Wissenschaftler hin. »Ich bin Hauptkommissar Garcia von der hiesigen Kriminalpolizei.«
»Hugo Alvarez.«
»Pedro Diaz«, stellte sich sein Kollege vor, der vor den Bildschirmen sitzen geblieben war. Anschließend meinte er irritiert: »Wir haben Ihrem Mitarbeiter bereits alles gesagt, was wir wissen.«
Carlos nickte. »Das ist mir bekannt. Deshalb bin ich nicht hier.«
Die beiden Geologen wirkten überrascht. »Und weswegen dann, Herr Hauptkommissar?«
»Ich lebe bereits seit meiner Geburt auf der Insel, aber solche starken Erdbeben, wie in den letzten Tagen, habe ich hier noch nicht erlebt.«
Alvarez nickte. »Das kann ich nur bestätigen, Señor. Deshalb wurde ja auch, auf unserer Veranlassung hin, der gesamte Nationalpark für den Publikumsverkehr gesperrt.«
»Wie gefährlich ist die derzeitige Situation?«, fragte der Polizist leise.
Die Wissenschaftler sahen sich kurz an, ehe Diaz meinte: »Da sind wir uns noch nicht ganz sicher.«
Garcia bemerkte natürlich die auffallende Zurückhaltung der beiden, die er ein wenig merkwürdig fand. Hatten sie vielleicht etwas zu verbergen oder wurde ihnen ein Maulkorb von offizieller Stelle verpasst? Er beschloss deshalb, in die Offensive zu gehen. »Wie gefährlich sind diese Erdbeben für die Insel?«
»So lange es so bleibt, wie bisher haben Sie nichts zu befürchten, Señor.«
Carlos schüttelte mit nachdenklicher Miene den Kopf, ehe er leise entgegnete: »Ich habe das unangenehme Gefühl, dass Sie mir Informationen vorenthalten und das gefällt mir ganz gar nicht. Deshalb frage ich mal andersherum. Steht ein Vulkanausbruch unmittelbar bevor?«
Alvarez nickte leicht, ehe er erwiderte: »Das ist derzeit keinesfalls auszuschließen.«
Dem Hauptkommissar reichte es jetzt. »Ich möchte ehrliche Antworten haben und ich vermute, dass ich sie von Ihnen erhalten kann. Ich bin auch nicht in meiner Funktion als Kriminalist gekommen, sondern als besorgter Familienvater, dem die Sicherheit der eigenen Angehörigen sehr am Herzen liegt.«
»Verstehe«, murmelte Diaz und lehnte sich zurück.
»Ich verspreche Ihnen, alles, worüber wir uns hier unterhalten, bleibt unter uns und wird den Raum nicht verlassen. Deshalb wiederhole ich nochmals meine Frage. Steht ein Vulkanausbruch unmittelbar bevor?«
Hugo lächelte, ehe er sich räusperte und mit leiser Stimme sagte: »Ob es zu einem Ausbruch kommt, ist zurzeit noch völlig unklar. Wir registrieren allerdings seit einigen Tagen, dass eine Magmasäule, die ihren Ursprung in einer großen Magmakammer unterhalb der Insel hat, derzeit ziemlich schnell in Richtung der Erdoberfläche aufsteigt. Sie ist gleichzeitig auch für die Erdbeben verantwortlich.« Er drehte ein LCD-Display direkt zum Hauptkommissar. Es zeigte eine Satellitenansicht der gesamten Caldera, in der sich mehrere rote Punkte befanden, die wie auf einer Perlenkette aufgereiht waren.
»Was bedeuten diese Markierungen?«
»Sie zeigen die Epizentren der einzelnen Beben an und wie man gut erkennen kann, wandern sie vom Zentrum der Las Canadas aus in Richtung Teide.«
»Das heißt, der letzte rote Punkt, knapp neben dem Gipfel kennzeichnet das aktuelle Erdbeben?«
»Völlig richtig. Es hatte übrigens eine Stärke von 5,9 und das Hypozentrum befand sich 3,9 km unterhalb des Epizentrums.« Pedro Diaz sah ihn mit ernster Miene an.
»Das heißt, es kommt in absehbarer Zeit zu einem Ausbruch?«
Hugo Alvarez lachte, ehe er meinte: »Sie werden von uns derzeit keine eindeutige Antwort dazu bekommen. Noch ist alles möglich. Wenn beispielsweise der Materialzufluss aus der Magmakammer endet, steigt die Magmasäule nicht mehr höher, sondern das Magma erstarrt weit unterhalb der Oberfläche. Anders sieht es natürlich aus, falls kontinuierlich frische Gesteinsschmelze nachgeliefert wird. Dann kann es in der Tat zu einem Vulkanausbruch kommen.«
Carlos nickte und überlegte einen kurzen Moment, ehe er schließlich die Wissenschaftler ehrlich fragte: »Was meinen Sie, soll ich die Familie von der Insel evakuieren oder ist das nur Panikmache?«
Alvarez lächelte: »Um es nochmals zu sagen, von uns bekommen Sie derzeit keine 100%ige Prognose, was eintreffen könnte. Ich mache Ihnen allerdings einen Vorschlag. Ich werde sie informieren, wenn die Sache hier akut wird. Okay?« Er sah den Hauptkommissar freundlich an.
Garcia nickte. »Vielen Dank für das Angebot.«
»Gern geschehen.«
Carlos griff in seine Jackentasche und holte eine zerknitterte Visitenkarte heraus, die er vorsichtig glattstrich, ehe er sie dem Geologen dann doch nicht übergab, sondern wieder wegsteckte. Stattdessen zeigte er nochmals auf das Satellitenbild: »Sind das die Livebilder vom Satelliten?«
»Ja, warum?«
»Kann man das Bild näher heranzoomen.«
»Das ist möglich, dann muss ich allerdings eine zusätzliche Kamera aufrufen, weil diese hier hauptsächlich die Wanderung der Erdbeben auf der Oberfläche zeigt.« Er wechselte rasch zu einer neuen Satellitenaufnahme, die völlig anders aussah, wie die vorherige Ansicht. »Oh, das ist die falsche.«
Ehe der Geologe die Seite wieder in der Taskleiste ablegte, fragte Garcia neugierig: »Was ist hier zu sehen?«
»Es handelt sich um ein Radarbild, das die Erdverschiebungen in der Umgebung des Teide zeigt.« »Es sind unterschiedliche Höhenangaben in der Nähe des Berges zu erkennen.«
»Ja, das bedeutet, dass sich der Boden in einem begrenzten Bereich innerhalb der Caldera gehoben hat.«
»Ich vermute, weil Magma noch oben steigt.«
»Herr Hauptkommissar, ich bin begeistert. Wollen Sie nicht bei uns anfangen? Das Gehalt ist zwar nicht üppig, dafür aber ist der Job abwechslungsreich und spannend«, meinte Alvarez lachend zu ihm.
Der Kriminalist winkte schmunzelnd ab. »Ich muss das Angebot leider ablehnen, denn wer soll sonst die Kriminellen auf Teneriffa hinter Schloss und Riegel bringen?« Er wechselte das Thema und fragte den Geologen: »Wie genau ist eigentlich diese Methode?«
»Die Messgenauigkeit liegt bei wenigen Zentimetern und gleichzeitig entwickeln wir aus den Radarbildern aussagefähige 3-D-Modelle der Erdoberfläche.« Während er noch sprach, öffnete er einen weiteren Tab, der fast völlig schwarz war. Nur am äußersten linken Rand waren einige helle Lichtquellen deutlich zu erkennen.
»Viel zu sehen ist ja nicht. Sind das da die Lampen, die am Fundort der Leiche stehen?« Er zeigte auf das Display.
»Ja, das ist richtig.«
Carlos überlegte, ehe er fragte: »Der Satellit schwebt also ständig über Teneriffa und macht Aufnahmen.«
Die beiden Geologen nickten schweigend.
»Seit wann ist das so?«
»Circa 1 Woche.«
»Das heißt, es gibt über den gesamten Zeitraum von der Las Canadas einschließlich Teide Bilder?«
»Sie haben recht?«
»Aber die Kamera nimmt auch Menschen und Fahrzeuge auf, die sich in diesem Gebiet aufhalten oder?«
Pedro Diaz reichte das Frage- und Antwortspiel. Direkt an Garcia gewandt meinte kopfschüttelnd: »Sie schleichen, wie die Katze, um den heißen Brei herum. Die optische Satellitenkamera fotografiert alle 30 Sekunden den vorher festgelegten Bereich auf der Erdoberfläche und wer gerade dort unterwegs ist, erscheint natürlich auch auf dem Bildausschnitt. Ist es das, was Sie wissen wollten?«
»Ja und ob die Bilder gespeichert werden?«
»Selbstverständlich in unserer Cloud und bevor Sie fragen, wir können auf alle Aufnahmen jederzeit zurückgreifen.«
Der Hauptkommissar ging zu einem Stuhl, schob ihn neben Hugo Alvarez und setzte sich ächzend. Er klopfte dem Geologen auf die Schulter und meinte freundlich zu ihm: »Dann zeigen Sie mir mal bitte die Fotografien, die heute zwischen 11.00 Uhr und 13.30 aufgenommen wurden.«
»Nichts leichter als das!« Er klickte auf eine bestimmte App, wählte sich anschließend mit seinem Passwort in die Cloud ein und suchte den betreffenden Ordner. Als er ihn nach kurzem Suchen gefunden hatte, ließ er die enthaltenden Bilder, als Diashow abspielen.
Der Aufnahmebereich umfasste den kleinen Parkplatz an der Zapatilla de la Reina, sowie die gewaltigen Lavafelder, die einst die südlichen Hänge des Teide hinuntergeflossen waren und große Fläche der Caldera bedeckten. Zuerst drängten sich am ›Schuh der Königin‹ zahlreiche Autos und Busse. Das Bild änderte sich allmählich, als ein Jeep des Nationalparks auftauchte, aus dem 2 Ranger ausstiegen und sich mit den Touristen unterhielten. Vermutlich forderten sie die Leute zum Verlassen der Las Canadas auf.
15 Minuten später verließ der letzte Bus den Parkplatz und fuhr die TF 21 in Richtung Südküste davon. Dann lag der Bereich einige Zeit menschleer da, ehe ein einzelner schwarzer SUV die Straße entlangfuhr.
Das Bild, das um 12.29 Uhr aufgenommen wurde, zeigte am rechten Bildrand einen dunkelblauen PKW, der aus Richtung Puerto de la Cruz kam. Der Fahrer wollte wohl kurz vor Schließung des Nationalparks, die Abkürzung quer durch die Caldera nehmen.
Die nächste Aufnahme widersprach dieser Annahme deutlich. Der Wagen hatte direkt auf dem kleinen Parkplatz gehalten. Die Diashow lief gnadenlos weiter, als eine Person ausstieg, danach die Kofferklappe öffnete, eine Sackkarre herausholte und an die Seite stellte.
»Was macht der da?«, flüsterte Alvarez irritiert.
Carlos hatte eine dunkle Vorahnung. »Das werden wir gleichsehen. Können Sie mal bitte zur letzten Aufnahme zurückgehen und diese vergrößern.«
»Kein Problem«, erklärte der Geologe schnell und stoppte das automatische Abspielen. Er ging einen Schritt zurück und zoomte den Parkplatz beträchtlich heran, bis sich die Person im Mittelpunkt befand. Bei dem Autofahrer handelte es sich um einen schlanken Mann mit hellgrauem kurzem Haar. Bekleidet war er völlig unauffällig mit einer dunkelblauen Hose und einem dunklen Anorak. Obwohl sein Gesicht kaum zu erkennen war, trug er vermutlich keine Brille und es war ein Weißer.
»Können Sie noch etwas näher heranzoomen?«
»Ich versuche es.«
Kurz darauf wurde das Bild unscharf und die Konturen verschwammen farblich immer mehr.
»Schade«, murmelte der Kriminalist enttäuscht, »es wäre auch zu schön gewesen.« An Hugo gewandt flüsterte er: »Sie können die Diashow jetzt weiterlaufen lassen.«
Auf den nächsten Aufnahmen war zu sehen, wie der Mann einen länglichen Gegenstand aus dem Kofferraum zog. Dieser war vielleicht 1,80m lang und in einem schwarzen Umhang oder in Folie eingewickelt. Der Unbekannte benötigte einige Kraftanstrengungen, um das Objekt auf die liegende Sackkarre zu schieben. Danach zog er die Karre auf den kleinen Weg, der direkt zur geologischen Formation führte und verschwand schließlich aus dem Blickwinkel der Kamera.
»Ist das der Mörder?«, fragte Pedro Diaz leise.
»Was würden Sie denn sagen?«, entgegnete Carlos mit ernster Miene.
»Ich denke schon. Wer soll sonst, um diese Zeit, einen schweren Gegenstand zum ›Schuh der Königin‹ transportieren. Das ergibt doch keinen Sinn, jedenfalls für mich nicht.«
Der Hauptkommissar nickte. »Sie haben völlig recht, aber der Täter verfolgt irgendeinen Plan. Wir fragen uns derzeit, um was es ihm tatsächlich geht?«
»Ihren Job möchte ich nicht machen. Ich will nicht wissen in was für menschliche Abgründe sie ständig schauen müssen.«
Der erfahrene Ermittler winkte ab und meinte bescheiden: »Man gewöhnt sich daran und man darf das Grauen nur nicht an sich heranlassen. Wem das nicht gelingt, der hat bereits verloren. Oh, er kommt wieder.«
Der Hauptkommissar hatte recht. Mit einer leeren Sackkarre in der einen und dem Umhang in der anderen Hand kehrte er zum Parkplatz zurück.
»Wenn er die Kofferklappe geöffnet hat, können Sie bitte den Wagen heranzoomen.«
»So wollen wahrscheinlich herausfinden, welchen Fahrzeugtyp er benutzt.«
»Genau.«
Einen Augenblick später zeigte die Vergrößerung ein deutliches ›VW‹ Zeichen. Dann ließ Alvarez die Diashow weiterlaufen, bis der unbekannte Mann wieder eingestiegen war und schließlich in südlicher Richtung aus dem Blickfeld der Kamera verschwand. Zur Sicherheit überprüften sie alle Aufnahmen bis genau 13.30 Uhr. Doch die Straße und der Parkplatz blieben menschenleer. Es sah ganz so aus, als ob der Mörder kurz vor Sperrung des Nationalparks die Leiche abgelegt hatte. Nur warum gerade dort? Carlos hatte keine Idee. Aber er musste jetzt auch los.
Er stand rasch auf und schob den Stuhl wieder zum benachbarten Tisch zurück. Dann überreichte er den Geologen endlich seine zerknitterte Visitenkarte. »Bitte schicken Sie die Aufnahmen schnellstmöglich an die angegebene Mailadresse und vergessen Sie auf jeden Fall nicht, mich zu informieren, wenn tatsächlich der Ernstfall eintreten sollte. Meine Privatnummer steht ganz unten auf der Karte.«
»Kein Problem.«
»Ach, bevor ich es vergesse. Ist der südliche Ausgang passierbar?« Garcia blickte Diaz neugierig an.
Der Katalane nickte. »Die beiden Gerölllawinen haben nur den Bereich zwischen Hotel und Tabonal Negro verschüttet. In Richtung Boca Tauce ist derzeit alles frei.«
»Vielen Dank für Ihre Hilfe.« Carlos hob die Daumen hoch.
Hugo Alvarez winkte bescheiden ab. »Das haben wir doch gerne gemacht. Je schneller sie diesen Typ fangen, umso besser.«
»Das sehe ich genauso«, ergänzte sein Kollege lächelnd.
Kurze Zeit später saß er wieder im Polizeiwagen. Die Staubwolke hatte sich mittlerweile gelegt und über ihnen erstreckte sich ein klarer Sternenhimmel. Aber dafür hatte der Hauptkommissar keinen Blick übrig, er musste nachdenken.
Mit einem Seufzen startete der junge Polizist den Wagen und lenkte ihn vom Parkplatz herunter. Als er an der Straße angekommen war, blinkte er kurz, ehe er nach links abbog und sofort beschleunigte. Sie hatten noch eine lange Strecke vor sich.
Vorsprung
10.30 Uhr, Hospiten Bellevue, Puerto de la Cruz
Jürgen Schulte ließ seiner spanischen Kollegin galant den Vortritt, damit sie den Fahrstuhl des Krankenhauses zuerst betreten konnte. Nachdem er selbst hineingegangen war, drückte er auf den Knopf, der mit einer 3 gekennzeichnet war.
Als sich gerade die Türen schließen wollten, drängelten sich noch mehrere Frauen hinein, sodass es in der Kabine ziemlich eng wurde.
Wenig später setzte sich der Fahrstuhl endlich in Bewegung und hielt an jeder Etage an. Schließlich erreichte er das Stockwerk, in dem sich die neurologische und psychiatrische Abteilung der Klinik befand.
Genau dorthin wollten die beiden Kriminalisten. Als sie sich der geschlossenen Tür der Fachabteilung näherten, hielt der Deutsche seine spanische Kollegin kurz an der Schulter fest.
Als Luisa Navarro stehen blieb und ihn fragend anblickte, fragte er sie höflich: »Wie wollen Sie überhaupt bei der Befragung vorgehen?«
»Auf jeden Fall nicht wie die Axt im Walde«, antwortete sie lächelnd.
»Das ist schon mal ein guter Ansatz.« Er hielt zustimmend seine beiden Daumen hoch. »Aber mal Spaß beiseite. Was ist ihr Plan?«
Die attraktive Spanierin, die ihr schwarzes langes Haar zu einem Zopf gebunden hatte, sah ihn kurz mit ihren braunen Augen an. Schließlich meinte sie: »Señora Neumann wird vermutlich noch unter Schock stehen, was ja mehr als verständlich ist. Sie mit Fragen förmlich zu bombardieren wäre äußerst kontraproduktiv. Ich denke, wir müssen uns ganz langsam zum Ziel vortasten. Eine Äußerung zur falschen Zeit und wir können eine Zusammenarbeit mit ihr vergessen. Dann wird sie eher nach einem Anwalt verlangen, denn dass sie tatsächlich von den pädophilen Neigungen ihres Mannes gewusst hat, ist derzeit nur eine unbewiesene Vermutung. Oder sehen Sie das anders?«
Schulte schüttelte den Kopf. »Sie haben völlig recht. Ich schlage vor, Sie unterhalten sich einfach von Frau zu Frau mit ihr und ich höre nur zu.«
»Jedenfalls vorerst«, murmelte die Kriminalistin.
»Okay, sollte ich mitbekommen, dass meine Hilfe erforderlich ist, dann melde ich mich zu Wort. Versprochen.«
»Außerdem haben Sie vermutlich einige spezielle Informationen mitgenommen.« Sie deutete auf einen dicken Aktenordner, denn der BKA-Beamte unter dem linken Arm trug.
»Oh ja, spätestens dann muss Frau Neumann Farbe bekennen. So oder so.«
»Hoffentlich verlangt sie nicht nach einem Anwalt.«
Er sah sie mit nachdenklicher Miene an. »Tja, sollte das passieren, haben wir sehr schlechte Karten. Ich gehe davon aus, dass sie wesentlich mehr von Straftaten ihres Mannes mitbekommen hat, als sie bisher zugegeben hat.«
»Die DDR ist noch immer ein völlig weißer Fleck im Lebenslauf von Neumann.«
»Sie sagen es. Vielleicht finden wir genau dort die Antwort, warum es überhaupt zu dieser schrecklichen Mordserie gekommen ist.«
Sie sah ihn zweifelnd an. »Seien Sie mir nicht böse, dass ich skeptisch bleibe.«
Er strich ihr sanft über die Schulter. »Alles gut.«
Sie lächelte und drückte auf den Knopf neben der Wechselsprechanlage, damit die Tür automatisch geöffnet wurde und sie die geschlossene Abteilung betreten konnten. Anschließend drehte sie sich zu ihrem deutschen Kollegen um und meinte überzeugt: »Dann wollen wir mal die Würfel rollen lassen.«
oberhalb der Las Canadas
Aus mehreren hundert Meter Höhe sahen die beiden Lawinenabgänge noch viel dramatischer aus. Auf circa 1,2 Kilometer Länge war die Straße, die quer durch die gesamte Caldera führte, meterhoch von Geröllmassen verschüttet worden. Erst auf einem alten Lavafeld, das sich großflächig neben der Fahrbahn erstreckte, war die Lawine endgültig zum Stillstand gekommen. Als der Hubschrauberpilot die Maschine immer höher am Berghang entlang in Richtung Gipfel steuerte, konnten die Geologen deutlich erkennen, dass die Trag- und Zugseile der Seilbahn gerissen waren, sowie zwei der vier Seilstützen sich beträchtlich zur Seite neigten.
»Da haben die Erdbeben aber ganze Arbeit geleistet«, stellte Hugo nüchtern fest.
»Ja, der Wiederaufbau wird wohl Millionen Euro kosten«, erwiderte Pedro und schüttelte den Kopf. »Was für eine Katastrophe.«
»Falls es überhaupt dazu kommen wird«, erklärte Alvarez und es war deutlich, Skepsis herauszuhören.
»Na ja, wenn der Vulkan tatsächlich ausbrechen sollte, hat sich dieses Thema wohl in der Tat unwiderruflich erledigt.«
»Ich bin gespannt, wie es hier zukünftig weitergeht.«
»Die Hoffnung zumindest stirbt immer zuletzt.«
Während sich die Geologen unterhielten, erreichten die Maschine die ziemlich zerstörte Bergstation der Seilbahn, dessen Dach eingestürzt war und einen Blick in das Innere freigab. Dort lag eine der Kabinen auf der Seite, nachdem sie infolge der Zerstörung der Tragseile abgestürzt war.
Wenig später näherte sich der Hubschrauber den ersten Fumarolen, deren Dampfwolken gleich oberhalb der Station, aufstiegen, ehe sie vom Wind mitgerissen und in östliche Richtung davongetrieben wurden.
»So weit unterhalb des Gipfelbereiches habe ich sie noch nie gesehen«, erklärte der Katalane mit nachdenklicher Miene, »ein deutliches Zeichen, dass die vulkanische Tätigkeit beträchtlich zugenommen hat.«
Sein Kollege sah sich unterdessen die aktuellen Messwerte der Correlation Spectrometer an, die rund um den kleinen Gipfelkrater verteilt standen und die Gaszusammensetzung und Temperatur der Gasaustritte automatisch registrierten und diese umgehend zum IGN nach Madrid sendeten. Erfreulicherweise gab es hier Mobilfunkempfang, sodass der Geologe auf die Daten mithilfe eines Tabletts zurückgreifen konnte.
Pedro rückte das Mikrofon seines Headsets zurecht, ehe er neugierig fragte: »Wie sieht es aus, Hugo?«
Sein Freund schüttelte
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Texte: Dani Brown
Bildmaterialien: Dani Brown
Cover: Dani Brown & Julia Hennings
Tag der Veröffentlichung: 26.11.2019
ISBN: 978-3-7487-2197-0
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Für meine Prinzessin Julia